Die gesellschaftliche und politische Relevanz des Themas Teilhabe von MB lässt sich an geltenden nationalen und internationalen Rechtsansprüchen und Verpflichtungen festmachen. Gemäß dem ICF-Modell der WHO (2005) stützt sich die UN-BRK auf den Begriff Behinderung als Teilhabebeeinträchtigung. Ein Prinzip der Konvention ist die „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (s. Art. 3c UN-BRK 2017).

In Deutschland ist die Gleichstellung von MB sowohl in Artikel 3 des Grundgesetzes [GG] als auch im BGG von 2002 festgehalten (GG 1949; BGG 2002). Bereits im Jahr 2001 wurde der Schlüsselbegriff Teilhabe in der Reform des Behindertenrechts, mit der Einführung des SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – verankert (SGB IX 2019). Mit der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2006 wurden diese Zielsetzungen auch im internationalen Kontext in Form der UN-BRK niedergeschrieben. Mit der Ratifizierung im Jahr 2009 bestärkt auch Deutschland seine Verpflichtung, Teilhabeformen von MB im Rahmen dieser Grundsätze zu fördern und umzusetzen. Vor allem Artikel 19 zeigt mit der Stellungnahme zur Gestaltung einer unabhängigen Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft eine für das vorliegende Erkenntnisinteresse relevante politische Weichenstellung (Bartelheimer et al. 2020). Zudem verpflichtet die UN-BRK seit dem Inkrafttreten im Mai 2008 unter anderem die Bundesrepublik Deutschland dazu, MB an der Welt teilhaben zu lassen. So fordert beispielsweise Artikel 3 „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft; […] die Chancengleichheit […] [und] die Zugänglichkeit […]“ ein ((s. UN-BRK 2017). Die UN-BRK bestärkt die staatliche Verpflichtung, „Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern“ (s. Art. 4, Abs. 1 ebd.).

In der UN-BRK ist der Teilhabeanspruch universell und mehrdimensional dargelegt und adressiert somit alle MB und umfasst alle Teilhabedimensionen. „Teilhabe am bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben“ (s. Präambel ebd.) betrifft gesellschaftliche Lebensbereiche. Hierzu gehören Wohnen und Gemeinde (Art. 19 ebd.), Bildung (Art. 24 ebd.), Politik und Öffentlichkeit (Art. 29 ebd.) sowie Kultur, Freizeit und Sport (Art. 30 ebd.). Diese Konvention manifestiert jedoch lediglich Grundrechte, dessen konkrete Umsetzung den verpflichteten Ländern überlassen ist (ebd.). Um die Teilhabe und Selbstbestimmung von MB zu stärken, wurde im Jahr 2016 in Deutschland das BTHG im SGB IX verabschiedet. Dementsprechend ist Teilhabe durch die Reform zu einem zentralen Rechtsbegriff geworden. Das konkrete Ziel des BTHG ist es, konkrete Handlungsmaßnahmen für die Gestaltung der Leistungen in der Eingliederungshilfe zu geben, um eine selbstbestimmtere Lebensführung des Leistungsempfängers zu ermöglichen (BTHG 2019).

Mit der Reformation des BTHG am 29.04.2019 gestaltet sich der gesetzliche Rahmen rund um die Teilhabemöglichkeiten für MB neu. Dieses Gesetz gibt einen rechtlichen Rahmen für die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der Thematik Selbstbestimmtes Leben und Teilhabe von MB hinsichtlich unterschiedlicher Lebensbereiche vor. Die Verabschiedung des BTHG stärkte die gesellschaftliche Teilhabe und die Mitbestimmungsmöglichkeiten von MB in Deutschland:

„Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen […], um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“ (s. Art. 1 ebd.).

Zudem wird darauf hingewiesen, dass MB Leistungen zustehen, „die erforderlich sind, um eine durch die Behinderung bestehende Einschränkung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugleichen“ (s. § 84, Abs. 1 SGB IX 2019).

In der Forschung zu Behinderung und Beeinträchtigung fungiert der Begriff Teilhabe als zentraler Bezugspunkt für inhaltliche und konzeptionelle Ausrichtungen von Forschungsfragen, Methoden und Ansätzen, wobei die unterschiedliche Betonung des Teilhabebegriffs in verschiedenen Anwendungsbereichen eine Herausforderung darstellt (Bartelheimer et al. 2020).

Somit können die angeführten rechtlichen Unterscheidungen in der UN-BRK, dem SGB IX und dem BTHG genutzt werden, um die Teilhabepositionen von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu beleuchten. Der Diskurs über theoretische und konzeptionelle Ansätze des Begriffs Teilhabe ist jedoch keineswegs eindeutig, sondern kontrovers (Bartelheimer & Henke 2018; Bartelheimer et al. 2020), sodass dieses Kapitel dem Begriffsverständnis von Teilhabe und der Betrachtung grundlegender wohlfahrtstheoretischer und sozialwissenschaftlicher Konzepte wie dem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung und Gesundheit (ICF), dem Lebenslageansatz und dem Konzept der Befähigung (capability) dient. Daran anknüpfend werden die im Kontext der Teilhabe verwendeten Begrifflichkeiten Integration, Inklusion und Partizipation theoretisch bestimmt. Abschließend werden Erfassungsansätze von Teilhabe in der Eingliederungshilfe näher aufgeschlüsselt.

3.1 Konzeptionelles Verständnis

Wie in Abschnitt 2.1 (s. S. 9) dargelegt, entspricht das Verständnis von Behinderung und Teilhabe in dieser Forschungsarbeit dem Begriffsverständnis der UN-BRK und dem SGB IX. Dieses rekurriert auf dem vorgestellten bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung und Gesundheit der WHO (s. Abb. 2.1, S. 11). Die ICF bildet den sozialpolitischen und konzeptionellen Rahmen, um den Leistungsbedarf in der Teilhabeplanung festzustellen (Bartelheimer & Henke 2018).

Um Diversität und Ungleichheit zu untersuchen, können die wohlfahrtstheoretischen Konzepte der Lebenslage und der Befähigung (capability) herangezogen werden. Zudem dienen sie der Sozialberichterstattung sowie der Evaluation von sozialstaatlichen Programmen und Leistungen. Die beiden Ansätze entstanden, bevor sich der Teilhabebegriff im deutschsprachigen Raum als sozialstaatliche Leitidee etabliert hat und die UN-BRK das Begriffspaar Partizipation und Inklusion für Gleichstellung, Diversität und allgemeine Geltung der Menschenrechte einführte (Bartelheimer et al. 2020). Die Bedeutung der beiden Konzepte für die Teilhabeforschung ergibt sich jedoch aus dem paradigmatischen Gehalt. Der Lebenslagenansatz stellt ebenso wie der Befähigungsansatz kein vollständiges Modell für Wohlfahrt oder soziale Schichtung dar, sondern dient dem Begriff der Teilhabe als normatives Leitbild und zeigt sich für verschiedene Analyseziele offen (Engels 2015; Robeyns 2016).

Mit der Betrachtung dieser wissenschaftlichen Konzepte lässt sich beantworten, an welchen Kriterien und Handlungsmöglichkeiten Teilhabe gemessen werden kann und welche Rolle soziale Positionen und individuelle Lebensbedingungen dabei spielen. Die Frage nach dem zu gewährleistenden Maß an Teilhabe sowie nach den Schwellen, an denen Teilhabeansprüche verletzt werden und in Folge Ausschlüsse entstehen, bleibt Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Aushandlung und kann letztlich nur normativ beantwortet werden (Bartelheimer et al. 2020).

Wie Bartelheimer et al. (2020) bereits herausgestellt haben, bilden drei Konzepte grundlegende Bezugspunkte für eine sozialwissenschaftliche Fundierung des Teilhabebegriffs: Das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung und Gesundheit, der Lebenslagenansatz und das Konzept der Befähigung (capability). Die wohlfahrtstheoretischen und sozialwissenschaftlichen Konzepte Lebenslageansatz und Konzept der Befähigung (capability) tragen zur Erklärung von Teilhabe bei, finden in der Teilhabeplanung in der Eingliederungshilfe jedoch kaum Anwendung. Da das Verständnis von Teilhabe aus dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF in der UN-BRK aufgegriffen wird, wird das konzeptionelle Verständnis von Teilhabe im bio-psycho-sozialen Modell der ICF nachfolgend näher erläutert.

Wie in Abschnitt 2.1 (s. S. 9) dargestellt, bindet das bio-psycho-soziale Modell der ICF ((WHO 2005) den Teilhabebegriff eng an den Behinderungsbegriff, der einem funktionellen Gesundheitsbegriff entspringt (s. Abb. 2.1, S. 11).

Die funktionale Gesundheit einer Person lässt sich nach dem bio-psycho-sozialen Modell und vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogenen Faktoren) wie folgt darstellen:

  1. 1.

    Die körperlichen Funktionen (mentaler Bereich eingeschlossen) und Körperstrukturen der Person entsprechen denen eines gesunden Menschen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),

  2. 2.

    die Person kann all das tun, was ein Mensch ohne Gesundheitsproblem (Diagnose gemäß der ICD) tun kann (Konzept der Aktivitäten),

  3. 3.

    die Person kann sich in gewünschter Weise und gewünschten Umfang in allen Lebensbereichen entfalten, so wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung von Körperfunktionen oder -strukturen oder den Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen) (ebd.; Wenzel & Morfeld 2016).

Diesem Verständnis nach löst sich der Behinderungsbegriff von einem rein medizinischen Modell und begreift Behinderung als eine gesundheitsbedingte Teilhabestörung und nicht als körperliche Schädigung und einem individuellen Problem, das beispielsweise unter Einsatz von Hilfsmitteln zu lösen gilt.

Im Weiteren werden vor allem die Komponenten der umwelt- und personenbezogenen Faktoren sowie der Partizipation (Teilhabe) an Lebensbereichen näher beleuchtet. In der ICF stellen die umwelt- und personenbezogenen Faktoren den Lebenshintergrund eines Menschen dar und bilden somit die Kontextfaktoren ab. Diese Kontextfaktoren beeinflussen den Gesundheits- und gesundheitsbezogenen Zustand eines Menschen ((WHO 2005). Dabei wird in Bezug auf die Kontextfaktoren ein ausdrücklicher inhaltlicher Unterschied zwischen dem Vorhandensein bzw. Fehlen von Förderfaktoren und dem Vorhandensein bzw. Fehlen von Barrieren gemacht (Schuntermann 2018).

Als umweltbezogene Faktoren gelten Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung von außen, sie werden als „fördernde oder beeinträchtigende Einflüsse von Merkmalen der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Welt“ (s. DIMDI 2005, S. 17) beschrieben. Die Umweltfaktoren beeinflussen dabei die Leistung des Menschen als Mitglied der Gesellschaft, seine Leistungsfähigkeit zur Erledigung von Aufgaben und seine Handlungsfähigkeit. Zudem können sie Körperfunktionen sowie -strukturen positiv oder negativ beeinflussen. Die Einteilung des Kontextfaktors Umwelt, kann dabei auf zwei Ebenen erfolgen. Die Ebene des Individuums wird beschrieben als „die unmittelbare, persönliche Umwelt eines Menschen einschließlich häuslicher Bereich, Arbeitsplatz und Schule“ (s. ebd., S. 22) und umfasst dementsprechend sowohl physikalische und materielle Gegebenheiten der Umwelt als auch soziale Gegebenheiten, wie Kontakte zu dem sozialen Umfeld. Die Ebene der Gesellschaft wird hingegen beschrieben als „die formellen und informellen sozialen Strukturen, Dienste und übergreifende Ansätze oder Systeme in der Gemeinschaft oder Gesellschaft“ (s. ebd., S. 22). Dabei stehen die Umweltfaktoren mit den anderen Komponenten des Modells in einer Wechselwirkung. Es wird darauf verwiesen, dass die Gesellschaft die Umweltfaktoren beeinflussen kann, indem Barrieren abgebaut und Förderfaktoren bereitgestellt werden. Die Umweltfaktoren werden in der ICF weiter klassifiziert und wie folgt unterteilt:

  • Produkte und Technologien,

  • natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt,

  • Unterstützung und Beziehungen,

  • Einstellungen,

  • Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (ebd.).

Personenbezogene Faktoren stellen hingegen Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung von ‚innen‘ dar und werden als „Einflüsse von Merkmalen der Person“ (s. ebd., S. 17) beschrieben. Sie umfassen demnach die Lebensführung eines Menschen und die Gegebenheiten eines Menschen, wie Geschlecht, Alter, ethische Zugehörigkeit, Fitness, Lebensstil, Verhaltensmuster, Gewohnheiten, Bewältigungsmechanismen, Erziehung, Bildung oder Ausbildung, Beruf, sozialer Hintergrund, Erfahrungen, Charakter sowie psychisches Leistungsvermögen. Dabei sind die personenbezogenen Faktoren nicht in der ICF klassifiziert (ebd.).

Partizipation [Teilhabe] wird in dem bio-psycho-sozialen Modell als „Einbezogensein in eine Lebenssituation“ (s. ebd., S. 16) definiert, jedoch wird es nicht als ein eigenständiges Konzept herausgestellt (Schuntermann 2011). Auch wird nicht näher erläutert, was mit Lebenssituationen gemeint ist. Mit dem dadurch entstehenden Interpretationsrahmen wird deutlich, dass sich die Einschränkung von Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben individuell durch die komplexen Wechselwirkungen zwischen der Beeinträchtigung einer Person (im Kontext der körperlichen Strukturen und Funktionen) und den personenbezogenen sowie sozialen Kontextbedingungen definiert (Grafe 2020).

Nach dem Modell der WHO realisiert sich Teilhabe durch die Ausübung von Aktivitäten in unterschiedlichen Lebensbereichen. Dabei werden die Komponenten Aktivitäten und Teilhabe in der grafischen Darstellung des Modells (s. Abb. 2.1, S. 11) zwar einzeln aufgeführt, jedoch in der sprachlichen Beschreibung miteinander gekoppelt:

„Die Domänen für die Komponente der Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe] sind in einer einzigen Liste enthalten, die alle Lebensbereiche umfasst […]. Die Komponente kann verwendet werden, um Aktivitäten (a) oder Partizipation [Teilhabe] (b) oder beides zu bezeichnen. Die Domänen dieser Komponente werden näher bestimmt durch das Beurteilungsmerkmal für Leistung und das für Leistungsfähigkeit (Kapazität)“ (s. DIMDI 2005, S. 95).

In der ICF gilt zum einen die Leistung und zum anderen die Leistungsfähigkeit als Beurteilungsmerkmal. Dabei bezieht sich das Beurteilungsmerkmal der Leistung auf die Durchführung von Aufgaben des Individuums in der gegenwärtigen und tatsächlichen Umwelt. Das Beurteilungsmerkmal der Leistungsfähigkeit betrachtet hingegen die Leistung in einer standardisierten Umwelt und erfasst das höchstmögliche Niveau der Funktionsfähigkeit eines Menschen (ebd.). Durch diese Bindung des Teilhabebegriffs an den Begriff der Aktivitäten wird Teilhabe mit Leistung gleichgesetzt bzw. als ergänzender Aspekt eines identischen Sachverhalts betrachtet (Schuntermann 2018).

Dabei wird das Konzept der Aktivitäten ausführlich beschrieben und kodiert, das Konzept der Teilhabe hingegen bleibt weitgehend unbestimmt (DIMDI 2005).

Die ICF-Komponente Aktivitäten/Teilhabe, wird in neun Lebensbereiche ausdifferenziert, die sich jedoch zum Teil aufeinander beziehen und sich teilweise überschneiden (Deutscher Bundestag 2018):

  1. 1.

    „Lernen und Wissensanwendung,

  2. 2.

    Allgemeine Aufgaben und Anforderungen,

  3. 3.

    Kommunikation,

  4. 4.

    Mobilität,

  5. 5.

    Selbstversorgung,

  6. 6.

    häusliches Leben,

  7. 7.

    interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,

  8. 8.

    bedeutende Lebensbereiche und

  9. 9.

    Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben“ (s. DIMDI 2005, o. S.).

Unter Berücksichtigung der aufgezeigten konzeptionellen Verwendung des Teilhabebegriffs stellen Barteheimer et al. (2020) sieben Kriterien heraus, die den Begriffskern sowie die angeführten Inhalte des konzeptionellen Verständnisses von Teilhabe widerspiegeln:

  1. 1.

    Wechselwirkung zwischen personenbezogenen und gesellschaftlichen Faktoren

  2. 2.

    Betrachtung des Individuums aus Perspektive des Individuums

  3. 3.

    Ausschöpfung einer selbstbestimmten Lebensführung

  4. 4.

    Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten in der Lebensführung

  5. 5.

    Gerechte Verteilung von Wahlmöglichkeiten in der Lebensführung

  6. 6.

    Geschützte Möglichkeitsräume der Lebensführung

  7. 7.

    Multidimensionalität im Sinne der Verwobenheit von Teilhabe in Lebensbereichen (Bartelheimer et al. 2020, S. 43 ff.).

Für die gesellschaftliche Zugehörigkeit und die soziale Stellung von Individuen oder Gruppen finden neben dem Begriff Teilhabe in sozialwissenschaftlichen und politischen Diskussionen auch die Begrifflichkeiten Inklusion, Integration sowie Partizipation als sozialpolitische Ziele, als Rechtsansprüche und als Ziele professioneller Intervention Verwendung (Bartelheimer et al. 2020). Im Folgenden werden diese Begriffe in Abgrenzung zum Begriff Teilhabe dargestellt.

3.2 Abgrenzung zu den Begriffen Integration, Inklusion sowie Partizipation

Der vorliegenden Forschungsarbeit liegt das Verständnis zugrunde, dass zwischen den zuvor angeführten Begriffen Inklusion, Integration sowie Partizipation ein Zusammenhang besteht. Um diese von Teilhabe abzugrenzen, ist eine Bestimmung der Begriffe notwendig und wird folgend vorgenommen.

Für die Abgrenzung werden zunächst die zusammenhängenden Begriffe Integration und Inklusion erläutert. Hierzu existieren verschiedene Ansätze, die eine historische Einordnung vornehmen. Entlang des Stufenmodells zur Ausprägung der Qualitätsstufen der Sonderpädagogik von Wocken (2009) (s. Abb. 3.1, S. 32) sowie der Abbildung in Anlehnung an Heider-Winter (2014) (s. Abb. 3.2, S. 33) werden die Begriffe Integration und Inklusion voneinander differenziert. Nach diesem Stufenmodell bilden die Begriffe Integration und Inklusion im Kontext der Sonderpädagogik einzelne Qualitäts- und Entwicklungsstufen (Wocken 2009). Sander (2004) führt als Zielsetzung der Sonderpädagogik die Selbstverständlichkeit der Vielfalt als eine 5. Stufe an. Diese Stufe stellt die Verankerung von Vielfalt in der Gesellschaft als normalen Sachverhalt dar und terminiert somit den Bedarf von Inklusionskonzepten (ebd.).

Abb. 3.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Wocken [2009], S. 14, ergänzt durch Sander [2004])

Qualitäts- und Entwicklungsstufen in der Sonderpädagogik.

Zunächst gilt es die unterste der Qualitätsstufen – die Extinktion (‚Auslöschung‘) – zu erläutern, die historisch bedingt ist. Dieser Begriff beschreibt die systematische Ermordung von Menschen, die extrem von der gesellschaftlichen Norm abweichen, wie beispielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus, als MB aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht als Teil der Gesellschaft galten und Opfer der Euthanasiemorde wurden (Antor & Bleidick 2006). Mit dem Ende des Nationalsozialismus und einem politischen Umdenken standen MB auf der ersten Qualitätsstufe – der Exklusion – da in Bezug auf MB das Recht auf Leben verankert wurde und das Individuum eine emotionale Zuwendung erfuhr (Wocken 2009). Die Exklusion kann hier als konträr zur Teilhabe betrachtet werden, da MB auf dieser Stufe durch ungleiche Chancen im Zugang zu gesellschaftlichen Teilhabeprozessen, vor allem im Bildungs- und Erziehungssystem, ausgeschlossen werden (Kronauer 2006; Wocken 2009; Wesselmann 2022; Kronauer 2021). Exklusion ist dabei jedoch nicht als „Randgruppentheorie“ (ebd., S. 420) zu betrachten, da sie zur Aufdeckung sozialer Ungleichheiten eine gesellschaftsbezogene Perspektive einnimmt (ebd.).

Mit Einführung der Schulpflicht für Kinder mit Beeinträchtigung wurde ihnen Ende des 19. Jahrhunderts das Recht auf Bildung zuteil, sodass sie auf der Stufe Segregation (Separation) standen. Diese Stufe beinhaltet die Umsetzung des Bildungsrechtes gemäß der Zwei-Schulen-Theorie in Form von separaten Sonderschulformen (Wocken 2009). Die dritte Entwicklungs- und Qualitätsstufe tritt mit Umsetzung der Zwei-Gruppen-Theorie ein, der gemäß dem Gedanke von zwei separaten Schulen abgelöst wird und eine integrative Schulform geschaffen wird, in welcher die Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigung und ohne Beeinträchtigung eine gemeinsame Schulform besuchen (ebd.). Die Integration über solche Schulformen steht dabei in Abhängigkeit zu dem Ressourcen- und Professionsvorbehalt und lebt von der solidarischen Zustimmung und Freiwilligkeit. Entsprechend können nur fachlich geeignete Schulen für Integrationsvorhaben die Umsetzung einer vollintegrativen Schulform durch kooperative Organisationsformen realisieren (Biewer 2005). Die Besonderheit der letzten Entwicklungs- und Qualitätsstufe Inklusion ist die Auflösung von Gruppenzugehörigkeiten und -ausschluss. Schüler mit einer Beeinträchtigung können ihr Recht auf eine inklusive Bildung einfordern (Wocken 2009).

Abb. 3.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Heider-Winter [2014], S. 69)

Ausprägung der Qualitätsstufen der Behindertenpolitik.

Der Begriff Integration wird häufiger im Diskurs um Teilhabe verwendet. Integration kann zum einen aus der gesellschaftlichen Perspektive und zum anderen aus der individuellen Perspektive betrachtet werden (Soeffner & Zifonun 2005). Die Systemintegration bezeichnet dabei den Zusammenhalt sozialer Einheiten, während die Sozialintegration die Beziehungen und Handlungen von Individuen in ihrem sozialen Umfeld meint (Kastl 2017). Die Systemintegration ist dementsprechend eine Eigenschaft sozialer Kollektive und steht somit nicht alternativ zur Teilhabe, jedoch zur Inklusion:

„Ein soziales System ist dann (gut) integriert, wenn seine Teile koordiniert sind, in strukturierter Weise zusammenwirken und einen hohen Grad an Vernetzung aufweisen“ (s. Esser 2000, S. 269).

Gemäß dem Begriff der Sozialintegration ist eine Person integriert, wenn sie als Mitglied in einer Gemeinschaft aufgenommen wurde. Nach Bartelheimer et al. (2020) sind folgende Kriterien für das Individuum für die Integration in einer Gruppe von großer Bedeutung: (1) subjektiver Nutzen, (2) Werte und Normen, (3) interne Regelwerke, (4) Distanz zu anderen Gruppen und (5) Ausschlusskriterien für die Mitgliedschaft (ebd.). Die Stellung des Individuums innerhalb oder zu einer Gruppe sowie die Funktionssysteme unterscheiden sich und können dabei durch Aushandlungsprozesse mit Freiräumen gestalten oder auf Zwangsmechanismen beruhen (Soeffner & Zifonun 2005). Sobald Integration Anpassungs- und Ausgleichsaufträge an das Individuum stellt und die sozialstaatliche Unterstützung von Anpassungsleistungen abhängig ist, steht Integration in einem Gegensatz zum Teilhabekonzept. Dieses geht von einem normativen und dem Individuum garantierten sozialen Grundrecht aus (BMAS 2016a).

Neben dem Integrationsbegriff kann nach Speck (2011) ebenfalls der Begriff Inklusion bedeutungsgleich verwendet werden (ebd.). Hinz (2002) stellt hingegen eine kritische Perspektive auf das Konzept der Integration heraus. Ausgehend von der separaten Betrachtung von Menschen mit und ohne Behinderung in der Gesellschaft, werden Konzepte und Maßnahmen entwickelt, die diese Separation aufheben sollen. Der Begriff Inklusion geht jedoch über diese separate Betrachtung hinaus und betrachtet die Menschen als eine Gesellschaft (ebd.). Entsprechend befürwortet Hinz (2002) die Verwendung des Inklusionsbegriffs. Dem zustimmend verwendet Sander (2004) den Begriff der Inklusion, der über das inhaltliche Konzept der Integration hinausgeht (ebd.). Wissenschaftlichen Konsens über ein konvergierendes oder divergierendes Verständnis von Integration und Inklusion gibt es entsprechend nicht.

Inklusion und Teilhabe stehen in vielen Handlungsfeldern jedoch konträrer zum Begriff der Integration. Integration reduziere den Begriff der Teilhabe auf einen Prozess der individuellen Anpassung und Eingliederung (Bartelheimer et al. 2020). Der Begriff Inklusion beinhaltet den Aufbau von Strukturen, die allen Individuen die Einbeziehung in verschiedene Bereiche der Gesellschaft ermöglichen, bzw. den Abbau von Strukturen, welche eine Einbeziehung verhindern (Marcantoni & Polzonetti 2011; Kastl 2017). Im Kontext von Teilhabe befasst sich die Inklusion demnach mit der Frage einer gerechten Verteilung von Zugangschancen zu Teilhabemöglichkeiten (Schluchter 2015; Jochim 2020). Inklusion bezieht sich auf die strukturelle Einbeziehung von Individuen in gesellschaftlichen Kontexten (z. B. in Organisationen, Gruppen oder Institutionen). Diese strukturelle Einbeziehung unterliegt dabei zuverlässigen und gegenseitig erwartbaren Maßnahmen und Vorkehrungen (Kastl 2017; Bartelheimer et al. 2020) und berücksichtigt die Heterogenität und Diversität in Bedürfnissen und Belangen der Individuen. Dementsprechend kann Inklusion sowohl ein Ziel darstellen als auch einen Prozess (Schluchter 2015; Kastl 2017; Jochim 2020).

Unterschieden wird beim Inklusionsbegriff zwischen einem engen Verständnis, dass sich allein auf die Perspektive Behinderung bezieht und einem breiten Verständnis, das über das Konstrukt Behinderung hinaus auch weitere Konstruktionen wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft und Sprache berücksichtigt (Lindmeier & Lütje-Klose 2015). Das Ziel von Inklusion ist es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass diese den Ausschluss von Gesellschaftsmitgliedern erst gar nicht zulässt. Dafür müssen gesellschaftliche Vorstellungen von Standard und Normalität hinterfragt werden (Scherr, El-Mafaalani & Yüksel 2017). Für die Umsetzung von Inklusion werden dementsprechend Rechtsnormen sowie Ressourcen und Rollenoptionen der Individuen analysiert, die eine strukturelle Einbeziehung ermöglichen, hemmen oder gar verhindern. Im Anschluss der Analyse werden auf Basis der Ergebnisse notwendige, inklusionsfördernde Veränderungen von Systemstrukturen und -praktiken, die das Individuum tangieren, identifiziert und angestrebt. Dabei spielt eine möglichst barrierefreie Gestaltung von Infrastrukturen, Institutionen und Programmen eine bedeutende Rolle (Kastl 2017).

Im deutschsprachigen Raum ist die Verbreitung des Begriffs Inklusion vorrangig auf die Debatten zur Umsetzung der UN-BRK zurückzuführen. Hierdurch hat der Inklusionsbegriff in einem sozialpolitischen sowie pädagogischen Kontext einen normativen, d. h. wertebasierten und richtungsweisenden Charakter erhalten (Wansing 2015). Teilhabe und Inklusion bilden im englischsprachigen Original der UN-BRK ein gemeinsames Begriffspaar: „full and effective participation and inclusion in society“ (s. United Nations 2006, S. 1).

Ein weiterer Begriff, der in enger Verbindung zum Begriff der Teilhabe verwendet wird, ist die Partizipation. Die synonyme Verwendung ist darauf zurückzuführen, dass der im internationalen Diskurs genutzte Begriff participation im deutschen Diskurs mit Teilhabe oder Partizipation übersetzt wird und somit nur im deutschsprachigen Diskurs eine Unterscheidung stattfindet. Das Verständnis und die Verwendung der beiden Begriffe unterscheiden sich dabei nach dem jeweiligen Fachkontext. Im Gegensatz zu anderen Fachkontexten werden die Begriffe Teilhabe und Partizipation in dem hier thematisierten Feld der Teilhabe bei MB häufig synonym verwendet (Kastl 2017; Bartelheimer et al. 2020). Um sich von dem Begriff der sozialen Benachteiligung zu distanzieren, verwendet die ICF den Begriff der Partizipation (Päßler-Van Rey 2011). Die kontextbezogenen Verwendungen des Begriffs haben jedoch gemein, dass der Grundgedanke der Partizipation, ähnlich wie auch der des Teilhabebegriffs, auf einer demokratisch denkenden und handelnden Gesellschaft beruht (Linden 2016a; Nieß 2016; Richter 2018; Schnurr 2018; Stark 2019; Bartelheimer et al. 2020). Nach Richter (2018) ist mit Partizipation konkret eine mögliche Einflussnahme auf gesellschaftliche sowie politische Prozesse gemeint, die sich auf mehreren Dimensionen erstreckt (ebd.).

Schnurr (2018) erweitert dieses Verständnis um den Zielgedanken für das im Mittelpunkt stehende Individuum und manifestiert Partizipation „als grundlegendes und nicht austauschbares Merkmal demokratischer Gesellschafts-, Staats- und Herrschaftsformen“, welches dem Individuum vor allem in sozialen Zusammenhängen „persönliche Freiheit, Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (s. ebd., S. 633) als Teil seines Grundrechts verleiht. Damit ein solcher Partizipationsgedanke im gesellschaftlichen und vor allem politischen Kontext als Wert und Ziel wirksam wird, ist das Einbinden der Bürgerschaft in ihre Bürgerpflichten Voraussetzung, wie beispielsweise die Beteiligung an politischen Mandaten zur Signalisierung und Berücksichtigung der eigenen und gesellschaftlichen Interessen (Stark 2019; Bartelheimer et al. 2020). Nur so kann die Äußerung des Individuums bei der bürgerlichen Beteiligung in gesellschaftsrelevante Entscheidungsprozesse bzgl. diverser Lebensbereiche einbezogen werden und in diesem Prozess langfristig erhalten bleiben (Linden 2016a; Bartelheimer et al. 2020).

Vor diesem Hintergrund gibt es eine grundlegende Parallele zwischen dem Begriff Teilhabe und Partizipation. Beide beleuchten multidimensional das Individuum und die sozialen Verknüpfungen, die jedes Individuum mitbringt. Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen lässt sich ebenso in diesem Kontext erkennen. Das Konzept der Partizipation bezieht sich auf die vorhandenen Nutzungsmöglichkeiten von Teilhabechancen eines Individuums, die dieses dazu befähigen, sich an gesellschaftsrelevanten Entscheidungsprozessen zu beteiligen und diesbezüglich mündig zu sein (Linden 2016a; Stark 2019; Bartelheimer et al. 2020). Nach dem Verständnis der Partizipation sind diese Nutzungsmöglichkeiten von Teilhabechancen durch das Individuum selbst beeinflussbar und können nach Belieben individuell gestaltet werden (Scheu & Autrata 2013; Bartelheimer et al. 2020). Entscheidungsprozesse und somit auch die Wahrnehmung und Nutzung von Partizipationsmöglichkeiten können dabei in einer zwischenmenschlichen Interaktion entstehen und sichtbar werden (Hitzler 2011; Dobslaw & Pfab 2015). Vor diesem Hintergrund sind auch die Rollen und das Verhältnis der interagierenden Personen zueinander wichtig und implizieren eine immanente Einflussnahme der personenbezogenen Machtverhältnisse auf die Partizipationsmöglichkeiten des Einzelnen. Die Entscheidungsmacht einer Person erhält demnach eine Schlüsselfunktion: sie kann Partizipation fördern oder hemmen (Dettmann 2017).

Allgemein bezieht sich der Begriff Teilhabe nicht auf durch das Individuum veränderbare Chancen, vielmehr rahmt das Konzept Teilhabe das grundlegende Recht für den Einzelnen sowie die Gewährung von Leistungen, welche gesellschaftlich bzw. politisch sowie rechtlich geformt werden (Beck 2013; Beck, Nieß & Siller 2018).

Über das allgemeine Verständnis hinaus gibt es jedoch auch in der Verwendung des Teilhabebegriffs Unterschiede. In dem deutschsprachigen bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung und Gesundheit (dem ICF-Modell) nach der WHO (2005) wird die in dem englischen Modell enthaltene Komponente participation mit dem Ausdruck Teilhabe übersetzt (ebd.). Die internationale UN-BRK (2017) erweitert den englischen Begriff participation unter Berücksichtigung sozialer Ungleichheit um die Herstellung von gleichen Zugangschancen und die Selbstbefähigung, sich für seine eigenen Interessen einzusetzen (ebd.). Dabei haben sich in verschiedenen Forschungskontexten Partizipationsmodelle mit unterschiedlichen Fachschwerpunkten als theoretisches Fundament in der Forschung etabliert. Hierzu gehören beispielsweise die Partizipationsmodelle von Beukelman & Mirenda (1998) sowie (2013) sowie das Modell für partizipative Gesundheitsförderung von Wright, Block & Unger (2010).

Unter Berücksichtigung der Begriffsverständnisse von Inklusion, Integration und Partizipation lässt sich das Verständnis des Begriffs Teilhabe wie folgt einordnen (s. Abb. 3.3, S. 38):

„Inklusion beschreibt eine Blickrichtung von gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen auf den Menschen und stellt sich aus dessen Sicht zunächst eher als ein passives Sich-Ereignen von Gesellschaft dar. Teilhabe ist hingegen stärker als aktiver Begriff gefasst, der am handelnden Subjekt ansetzt und dessen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse fokussiert“ (s. Wansing 2012, S. 96).

Integration ist der aktive Einbezug eines von gesellschaftlichen Prozessen exkludierten Menschen, indem integrierende Maßnahmen und Angebote durchgeführt werden (Wunder 2013; Heim 2020). Die Partizipation eines Menschen kann ebenso in jedem seiner Lebensbereiche stattfinden und wirkt dadurch in Wechselbeziehung zu seiner Lebenswelt (Alicke et al. 2015; Heim 2020). Das Gelingen von Partizipation wird von der erfolgreichen Bewerkstelligung einzelner Entscheidungen innerhalb des Herstellungsprozesses abhängig gemacht und impliziert somit die Beteiligung an Entscheidungsprozessen, sodass Partizipation in diesem Sinne auch als ein Teilaspekt der Teilhabe verstanden wird (Messmer 2018).

Abb. 3.3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Grampp, Jackstell & Wöbke [2013], S. 18 f.)

Einordnung von Teilhabe, Inklusion, Integration und Partizipation.

Neben den Begriffen Inklusion, Integration und Partizipation tritt im Kontext der Teilhabe auch der Begriff Subvention auf (s. Abb. 3.3, S. 38). Dieser beinhaltet finanzielle Leistungen, die betroffene Menschen bei der Eingliederung in verschiedenen Lebensbereichen unterstützen sollen (ebd.; Heim 2020). Die Verwirklichung von Teilhabe ist ein Grundrecht des Menschen und erhält somit einen Pflichtstandard, den es für jedes Individuum, vor allem für diejenigen, die in ihrer Teilhabegefährdet sind, angemessen umzusetzen gilt. Eine angemessene Umsetzung von Teilhabe wird durch rechtliche Bestimmungen in diversen Bereichen geleitet. Im Bereich der Eingliederungshilfe erfolgt die Sicherstellung von Teilhabe bei MB durch gesetzliche Rahmenbedingungen in Bezug auf die leistungsbezogene Teilhabeplanung. Das angeführte Teilhabeverständnis zeigt auf, dass zur Erfassung von Teilhabe eine individuelle Betrachtung in den unterschiedlichen Teilhabebereichen notwendig ist. Die Teilhabebereiche und -formen werden im Folgenden näher beleuchtet.

3.3 Teilhabebereiche und -formen

Im Kontext der gesellschaftlichen Teilhabe thematisieren die angeführten wohlfahrtstheoretischen und sozialwissenschaftlichen Konzepte von Teilhabe sowie die Begriffsabgrenzungen zu Inklusion, Integration und Partizipation verschiedene Lebensbereiche eines Menschen. Bisher herrscht jedoch kein Konsens darüber, in welchen Bereichen Teilhabe erfolgen soll. Daher werden nachfolgend exemplarisch Teilhabebereiche aufgezeigt (Kronauer 2006; Heim 2020).

Kronauer (2006) spricht in Bezug auf Teilhabebereiche von (1) Erwerbsarbeit, (2) soziale Nahbeziehungen sowie (3) Lebensstandard und Lebenschancen (ebd.). Die Teilhabe an der Erwerbsarbeit schafft über das Eingehen wechselseitiger Kooperationsbeziehungen Einkommen und somit ein Stück finanzielle Unabhängigkeit, soziale Identität sowie gesellschaftliche Anerkennung (ebd.). Mit Teilhabe an sozialen Nahbeziehungen sind der Aufbau und die Nutzung eines sozialen Unterstützungsnetzwerks gemeint. Ein solches Unterstützungsnetzwerk besteht dabei aus Kontakten zu Menschen unterschiedlicher sozialer Lage (ebd.). Der dritte Teilhabebereich, Lebensstandard und Lebenschancen, kann in Institutionen aus allen Lebensbereichen, wie beispielsweise Arbeit, Bildung und Gesundheit stattfinden und wird vor allem über rechtliche Regelungen und politische Interessenvertretung umgesetzt. Der Lebensstandard wird vor allem durch ein Mindestmaß an finanzieller Sicherung ohne Entwürdigung sowie die Wahrnehmung von Bürger-, Schutzrechte und Leistungen gegeben. Aus diesem Lebensstandard erwachsen Lebenschancen für das Individuum (ebd.).

Wie in Abschnitt 3.2, S. 32 beschrieben, unterscheidet die ICF innerhalb der Komponente Partizipation (Teilhabe) neun Lebensbereiche. Innerhalb dieser Domänen wird die Leistung und die Leistungsfähigkeit des Individuums beurteilt (DIMDI 2005). Anknüpfend an diese Einordnung von Teilhabebereichen und die Einordnung nach Kronauer (2006) differenziert Bartelheimer (2007) weitere Teilhabeformen und plädiert für eine mehrdimensionalere Darstellung. Dabei unter gliedert er Kronauers dritten Teilhabebereich, Teilhabe am Lebensstandard und an Lebenschancen, in (1) bürgerliche und politische Rechte, (2) soziale Rechte sowie (3) Bildung und Kultur auf (s. Tab. 3.1, S. 40).

Tab. 3.1 Teilhabeformen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bartelheimer [2007], S. 10)

Eine weitere, hierarchische Anordnung von Teilhabebereichen nimmt Göhring-Lange (2011) vor (s. Abb. 3.4, S. 41). Hier entsteht die gesellschaftliche Teilhabe in ähnlichen Bereichen, wie von Kronauer (2006) dargestellt. Dabei werden die Erwerbsarbeit sowie das Vorhandensein eines sozialen Unterstützungsnetzwerkes, wie auch im dritten Teilhabebereich nach Kronauer (2006) beschrieben, als Fundament für politische Mitbestimmung, ganzheitliche Bildung sowie gesellschaftliche Zugehörigkeit und Anerkennung gesehen (Heim 2020).

Abb. 3.4
figure 4

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Göhring-Lange [2011], S. 33)

Gesellschaftliche Teilhabebereiche.

Zusammenfassend wird aus den beschriebenen Teilhabebereichen und -formen deutlich, dass diese in Wechselwirkungen stehen und sich gegenseitig beeinflussen können. Eine „[s]elbstbestimmte Teilhabe bedeutet, dass jeder Mensch das Recht hat, an den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Prozessen einer Gesellschaft teilzunehmen und diese mitzugestalten und mitzubestimmen“ (s. ebd., S. 17). Entsprechend sind Aussagen zur Teilhabe immer im Gesamtkontext der Teilhabebereiche zu betrachten.

3.4 Erfassungsansätze

Zur Erfassung von Teilhabe existieren verschiedene Erhebungsansätze, wobei qualitative und quantitative Methoden hierfür verwendet werden. Der Einsatz verschiedener Instrumente erlaubt dabei, den dynamischen Prozess der Teilhabe und damit verbundene Veränderungen zu erfassen (Bartelheimer et al. 2020). Einige Erfassungsansätze fokussieren dabei die Inklusion in einem Teilbereich der Gesellschaft. Andere Ansätze betrachten Teilhabe auf einzelnen Ebenen, wie etwa die Betrachtung unterschiedlicher Positionen einer Beschäftigung im gesellschaftlichen Teilbereich Arbeit. Die Teilhabeberichterstattung des Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS] setzt dabei auf beide Erfassungsansätze und berichtet über die Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Teilbereichen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und stuft den Grad der Inklusion jeweils ein (BMAS 2016b).

Die Teilhabeforschung ist gefordert, Teilhabe als einen ganzheitlichen Prozess zu erfassen. Dafür müssen die Entscheidungsspielräume und Wahlhandlungen, die den Teilhabergebnissen zugrunde liegen, durch Erhebungsinstrumente und Verfahren sichtbar gemacht werden. Die Instrumente und Verfahren müssen den Erfolg von Teilhabe wie auch die Teilhabebeschränkungen erfassen, dies muss dabei sowohl über verschiedene Lebensphasen hinweg als auch im Zusammenhang des Lebensverlaufs erfolgen (Bartelheimer et al. 2020). Dabei spielen neben den objektiven Teilhabekriterien auch das subjektive Teilhabeverständnis und die individuellen Bewertungsmaßstäbe der Betroffenen eine bedeutende Rolle. Besondere Relevanz in der Teilhabeforschung erhält somit der partizipative Einbezug der Zielgruppe selbst. Diese bringt verschiedene Eigenschaften und Voraussetzungen mit, die sie als Experten in eigener Sache einbringen können. Somit sind sie in der Lage, Ansprüche an eine eigenständige Lebensführung zu formulieren und diese letztendlich zu verwirklichen (ebd.).

Die individuelle Lebensführung stellt dabei das zu erfassende Maß von Teilhabe dar, weshalb ein teilhabeorientiertes Forschungsdesign auf die Erhebung von Individualdaten abzielt, um auf dieser Basis Teilhabesituationen und -barrieren zu bestimmen. Diese Einzeldaten werden in der Regel durch quantitative oder qualitative Befragungen und Beobachtungen oder durch die Auswertung fallbezogener Daten aus verschiedenen Leistungsprozessen gewonnen. Zur Wirkungserfassung von gelingender oder beschränkender Teilhabe sollten im Idealfall individuelle Längsschnittdaten erhoben und auswertet werden (ebd.).

Eine Möglichkeit zur Erfassung von Teilhabe zeigt die Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf. Diese beschreibt die Teilhabe von MB in unterschiedlichen Lebensbereichen. Die Studie hat zum Ziel, belastbare Aussagen über die Lebenswelt von MB zu treffen. Vor allem soll sie Antworten auf folgende Fragen geben (Kersting et al. 2020):

  • „Welche Chancen haben Menschen mit Beeinträchtigungen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben?

  • Was kennzeichnet ihre Lebenssituationen?

  • Welche gesellschaftlichen Bedingungen unterstützen und welche behindern die Verwirklichung ihrer Rechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe?

  • Welche Unterstützung wird in verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen benötigt, um Teilhabemöglichkeiten zu erweitern?“ (s. ebd., S. 11)

Zur Beantwortung dieser Fragen werden mehrere Teilstudien und Erhebungen bei Menschen mit und ohne Behinderung durchgeführt (ebd.). Hier werden sowohl Personen in Privathaushalten als auch Bewohner von Einrichtungen der Eingliederungshilfe und Altenpflege befragt. Die Studie beschränkt sich nicht auf Menschen mit amtlich anerkannter Schwerbehinderung, die prinzipiell über Versorgungsämter erreichbar wären, sondern nutzt den Behinderungsbegriff des ICF-Modells. Einschlusskriterium ist die funktionale Beeinträchtigung einer Person, die gemeinsam mit weiteren Faktoren wie Umweltbarrieren oder psycho-soziale Faktoren auf die Teilhabe einwirkt. Die Beeinträchtigungen werden subjektiv von den Betroffenen wahrgenommen (ebd.).

„Für die Anlage einer solchen Studie ist es zentral, dass alle Befragtengruppen in ihrer Verschiedenheit wahrgenommen und angemessen in die Studie einbezogen werden. Ein repräsentatives Abbild der Lebenswelt von Menschen mit Beeinträchtigungen erfordert eine zielgruppengerechte Ansprache sowie Erhebungsverfahren“ (s. ebd., S. 26).

Entsprechend wurde ein Fragebogen entwickelt, der an die unterschiedlichen Voraussetzungen und Anforderungen der Zielgruppe angepasst wurde. So wurden in der Teilhabestudie verschiedene Fassungen eines Fragebogens vorgehalten (lang und kurz, in Alltagssprache und in Leichter Sprache). Dabei musste die Auswahl des Fragebogens nicht nur zu Beginn der Befragung flexibel möglich sein, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt. Der Fragebogen wurde über verschiedene Wege ausgefüllt. Das persönliche Interview fand vor Ort statt, die Befragung konnte online oder vor Ort am Laptop oder im Papierformat selbst ausgefüllt werden. Der Ergebnisbericht stellt die zentralen Erkenntnisse des umfangreichen Screenings vor, das der Befragung in Privathaushalten vorgeschaltet war. Dabei wird auch erläutert, wie die Erhebung möglichst barrierearm umgesetzt und wie das Stichprobenkonzept für die Erhebung in den Einrichtungen gestaltet werden kann (ebd.).

Um Fähigkeits- und Teilhabeeinschränkungen zu erfassen, existiert bereits eine Vielzahl an Instrumenten zur Erfassung von (Linden 2016b). Hierzu gehören beispielsweise (1) Activities of Daily Living Skalen (Mahoney & Barthel 1965; Linden 2016b); (2) ICF-Instrumente zur Erfassung komplexerer Fähigkeiten, beispielsweise Intelligenztests (ICF d160–d179) (Molz et al. 2010; Linden 2016b); (3) Tests zur Erfassung der sozialen Kompetenz (Bastians & Runde 2002; Linden 2016b); (4) Global Assessment of Functioning [GAF] (Endicott et al. 1976; Linden 2016b); (5) Index zur Messung von Einschränkungen der Teilhabe (Deck et al. 2011; Linden 2016b) sowie (6) World Health Organization Disability Assessment Schedule II (Üstün et al. 2010; Linden 2016b).

Auch in der Praxis erweist sich die Erfassung von subjektiven Verwirklichungschancen sowie belastbaren Indikatoren aus Nutzendensicht als Herausforderung. Nach Seifert (2010) benötigen MB Unterstützung, um die für sie wichtigen Aspekte von Lebensqualität zu benennen und zu begreifen. Dies gilt vor allem für die in der vorliegenden Forschungsarbeit betrachteten Zielgruppe (ebd.). Auch im Gesamtplanverfahren (s. Abschnitt 2.3.2, S. 17) muss die Teilhabe des Individuums quantifiziert werden. In diesem Zusammenhang haben die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe mit dem Bedarfsermittlungsinstrument von Nordrhein-Westfalen [BEI_NRW] ein Instrument zur partizipativen Ermittlung des individuellen Bedarfes einer antragstellenden Person entwickelt. Das BEI_NRW dient bei der Ziel- und Leistungsplanung zur Beurteilung der Aktivitäten und Teilhabe. Es greift im Sinne des BTHG die folgenden Kernelemente auf: (1) Partizipation und Personzentrierung; (2) Ziel- und Wirkungsorientierung und (3) Orientierung am bio-psycho-sozialen Modell der ICF (Roters, Dieckmann & Reinersmann 2019).

Das BEI_NRW dient der partizipativen Erhebung individueller Bedarfe von MB, um anhand dessen Leistungen zur sozialen Teilhabe zu definieren. Gemäß dem Ansatz der individuellen Teilhabeplanung erfolgt die Bedarfserhebung dabei individuell und unabhängig von der Art der Behinderung oder Form der Leistungserbringung. Die Beurteilung des Grades der Teilhabe im Sinne der ICF erfolgt über Fragestellungen, mit denen der Grad vor allem der Aktivitäten und der Umweltfaktoren beurteilt werden kann. Hier werden folgende Fragen aufgeworfen:

  • Wie oft tritt dieses Problem auf?

  • Welche Auswirkungen hat dieses Problem?

  • Welche Bedeutung hat dieses Problem für Sie?

Anhand der dargelegten bzw. ähnlichen Fragestellungen trägt das BEI_NRW dazu bei, individuelle Probleme sowie Leistungsbedarfe aufzuzeigen und im Rahmen von Leistungen personenzentriert zu lösen (ebd.).

Zusammenfassend lässt sich Teilhabe als individueller Prozess verstehen, der jedweden Lebensbereich tangiert. Dieser kann durch Veränderungen von Lebensbereichen beeinflusst und dadurch gefördert oder gehemmt werden. Aktuelle und besonders tiefgreifende Veränderungen in Lebensbereichen gehen mit der Digitalisierung und der Mediatisierung einher. Diese Veränderungen werden mit Blick auf die allgemeine Bevölkerung in dem nachfolgenden Kapitel 4 (s. S. 47) näher beleuchtet. Im daran anschließenden Kapitel 5 (s. S. 75) wird Bezug auf die Bevölkerungsgruppe MgB genommen.