„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (s. Art. 3, Satz 2 GG 1949). Diese Formulierung ist eindeutig, jedoch hängt die Beurteilung einer behinderungsbezogenen Benachteiligung unter anderem von dem Verständnis des gesellschaftlich verankerten Behinderungsbegriffs ab. Dieses Verständnis hat sich in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum verändert. Nachfolgend wird zunächst das Verständnis geistiger Behinderung und synonym verwendeter Begriffe für die vorliegende Arbeit erschlossen. Anschließend werden epidemiologische Charakteristika von geistigen Beeinträchtigungen dargelegt. Daran anknüpfend wird der gesetzliche Rahmen in Bezug auf die Versorgungsstrukturen von MgB beleuchtet und ein Blick auf die Betreuungsformen von MgB geworfen.

2.1 Begriffsannäherung und Historie

In den 1950er Jahren entstand im deutschsprachigen Raum der Ausdruck geistige Behinderung als Pendant zur angloamerikanischen Bezeichnung mental retardation, um kritisierte Bezeichnungen wie Blödsinn, Schwachsinn oder Idiotie zu ersetzen (Lingg & Theunissen 2018). Die Bezeichnung geistige Behinderung steht aufgrund der vielzähligen Interpretationsdimensionen und dem damit einhergehenden Stigmatisierungspotenzial in der Kritik. Entsprechend befand sich das gesellschaftliche Verständnis in den vergangenen Jahrzehnten durch die fortlaufende kritische Auseinandersetzung mit dem Behinderungsbegriff im stetigen Wandel. Bisher existiert für diese Bezeichnung noch keine allgemein akzeptierte Definition, die sich ganzheitlich auf das Phänomen der geistigen Behinderung bezieht und somit die gesamte Komplexität medizinischer und umweweltbezogener Faktoren einer geistigen Behinderung angemessen widerspiegelt (ebd.). Hinzu kommt die Verwendung synonymer Begrifflichkeiten wie geistige Beeinträchtigung, Lernschwierigkeiten, Handicap, Intelligenzminderung, Lernbehinderung sowie mentale Retardierung (Kulig, Theunissen & Wüllenweber 2006; Lingg & Theunissen 2018), die den Diskurs erweitern und über die Eröffnung von Zuschreibungs- und Deutungsprozessen die Auseinandersetzung mit sprachlichen und sozialen Phänomenen ermöglichen (Dederich 2010).

Die WHO (2020) bezieht sich auf den Begriff geistige Behinderung und definiert ihn als

„eine signifikant verringerte Fähigkeit, neue oder komplexe Informationen zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden. Dadurch verringert sich die Fähigkeit, ein unabhängiges Leben zu führen (beeinträchtigte soziale Kompetenz). Dieser Prozess beginnt vor dem Erwachsenenalter und hat dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung. Behinderung ist nicht nur von der individuellen Gesundheit oder den Beeinträchtigungen eines Kindes abhängig, sondern hängt auch entscheidend davon ab, in welchem Maße die vorhandenen Rahmenbedingungen seine vollständige Beteiligung am gesellschaftlichen Leben begünstigen (s. ebd., o. S.).

Diese Definition verdeutlicht, dass eine geistige Behinderung nicht ausschließlich durch gesundheitliche Einschränkungen, sondern auch durch eine beeinträchtigte Teilhabe an der Gesellschaft infolge geltender Rahmenbedingungen entsteht. Die geistige Behinderung bezeichnet somit keine Erkrankung, sondern eine Entwicklungsstörung, die bei den Betroffenen auf ein geringeres Kontingent an kognitiven Ressourcen hinweist (ebd.).

Zur medizinischen Einordnung einer geistigen Behinderung, wurden in der zehnten Revision der International Classification of Diseases [ICD-10] die Schlüssel F70.0–F73.0 als Einordnungsinstrument definiert. Hier wird das Vorhandensein von beschreibbaren kognitiven Ressourcen anhand des Intelligenzquotienten [IQ] bei Erwachsenen als leichte, mittelgradige, schwere und schwerste Intelligenzminderung klassifiziert (WHO 2005). Auf Basis der ICD-Klassifizierung können diagnostische Aussagen getroffen werden (WHO 2020)). Geistige Beeinträchtigungen, die durch erworbene Hirnschädigungen infolge (nicht-)traumatischer Ursachen entstehen, finden jedoch weder in der ICD-10-Klassifizierung noch in der Definition der WHO (2020) Berücksichtigung. Stattdessen liegt der Fokus auf geistigen Beeinträchtigungen, die im Kindes- oder Jugendalter beginnen und die Entwicklung dauerhaft beeinflussen (ebd.).

Über gesundheitliche Beeinträchtigungen hinaus beleuchtet die 2001 entwickelte bio-psycho-soziale Klassifizierung von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [ICF] (s. Abb. 2.1, Abschnitt 2.1) zusätzlich soziale Beeinträchtigungen durch Umweltfaktoren der Betroffenen als einflussnehmende Komponente. Die ICF dient dabei als internationales Einheitsmaß.

Abb. 2.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung nach WHO [2005], S. 23)

Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF.

Eine Behinderung – auch eine durch geistige Beeinträchtigungen – wird in der ICF als Konstrukt verstanden, das durch die ganzheitliche Wechselwirkung zwischen den personenbezogenen Faktoren, Gesundheitsproblemen sowie umweltbezogenen Barrieren verursacht wird (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI] 2005). Mit personenbezogenen Faktoren sind hierbei nicht krankheitsbedingte Merkmale gemeint, sondern Alter, Geschlecht und persönliche Einstellungen. Als Umweltfaktoren werden die auf die Person wirkenden Einflüsse auf materieller, persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene einbezogen. Den elementaren Kern innerhalb der Wechselwirkungen hinsichtlich einer Behinderung stellt die Komponente Teilhabe dar. Die erfassten Möglichkeiten und Barrieren, die es Betroffenen ermöglichen oder verwehren, gesellschaftlich teilzuhaben, nehmen somit elementaren Einfluss auf das Vorhandensein der Behinderung (WHO 2005; Quack 2017). Dabei unterscheidet das bio-psycho-soziale Modell keine Behinderungsarten, wie geistige oder körperliche Behinderung.

Dieses Verständnis von Behinderung spiegelt sich ebenso im BTHG (2019) wider und ist somit grundlegend für das neunte Sozialgesetzbuch [SGB IX] und zwölfte Sozialgesetzbuch [SGB XII]. Hier gilt eine Person als geistig beeinträchtigt, „die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist“ (§ 47, Abs. 2 ebd.). Mit diesem Verständnis von Behinderung als soziales Konstrukt sind die Definitionen des Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen [UN-BRK] (2017) und des SGB IX (2019) sowie SGB XII (2022) deckungsgleich – mit dem zeitlichen Zusatz, dass die gesellschaftliche Teilhabe aufgrund dieser Wechselwirkungen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate eingeschränkt ist (UN-BRK 2017; SGB IX 2019; SGB XII 2022).

Die geistige Behinderung steht in der Literatur jedoch auch als stigmatisierender Begriff in kontroverser Diskussion (Quack 2017; Röhm & Ritterfeld 2020), wenngleich die Schwierigkeit der Findung eines weniger stigmatisierenden Alternativbegriffs betont wird (Speck 2018). Um sich von solchen stigmatisierenden Wirkungen zu distanzieren, betont die WHO (2005) ausdrücklich, dass die Bezeichnung ausschließlich als allgemeiner ganzheitlicher Oberbegriff zu verstehen ist. Die Entscheidung, welche der diversen Begrifflichkeiten final genutzt wird, soll die Wünsche der Betroffenen berücksichtigen. So legt sich die WHO nicht auf eine ausschließliche Bezeichnung fest, sondern verweist vielmehr darauf, dass die Bezeichnung gewählt wird, die die Betroffenen selbst wünschen (ebd.).

Betroffene selbst distanzieren sich unter anderem im Rahmen von Selbstvertretungsorganisationen (wie z. B. Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V.Footnote 1) überwiegend von dem Ausdruck geistige Behinderung, aufgrund des diskriminierenden Charakters. Sie identifizieren sich eher als Menschen mit unterschiedlichen Lernschwierigkeiten und präferieren diese Bezeichnung (Sonnenberg 2007; Schaten 2014; Menschen zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. 2023). Lingg und Theunissen (2018) betrachten die Bezeichnung Lernschwierigkeit jedoch kritisch, da der Aspekt der Mehrfachbeeinträchtigung nicht ersichtlich wird (ebd.).

Das Selbstverständnis der Betroffenen ähnelt jedoch insofern den Definitionen der UN-BRK (2017), des SGB IX (2019), des SGB XII (2022) und der WHO (2005), als der Ausdruck geistige Behinderung ein ganzheitliches soziales Wirkungskonstrukt meint. Die vorliegende Arbeit orientiert sich demnach an diesem Verständnis und distanziert sich von jeglicher defizitorientierten Betrachtungsweise. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit wird auf den Begriff geistige Behinderung verzichtet, um Stigmatisierung zu vermeiden und das Selbstverständnis der Betroffenen zu berücksichtigen. Um jedoch auch Mehrfachbeeinträchtigung zu berücksichtigen, wurde der Begriff Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung [MgB] ausgewählt. Dieser Begriff inkludiert alle Menschen, welche aufgrund erworbener Schädigungen oder kognitiver Entwicklungsverzögerungen Lernschwierigkeiten aufweisen. Lediglich, wenn auf rechtliche Grundlagen (z. B. das Behindertengleichstellungsgesetz [BGG]) Bezug genommen wird oder von rechtlich begründeten Kategorien (z. B. anerkannter Schwerbehinderung oder Eigennamen bestimmter Organisationen und Einrichtungen wie Werkstätten für MB) die Rede ist, werden weiterhin Begriffe wie Behinderung oder Schwerbehinderung sowie behinderte und schwerbehinderte Menschen verwendet.

2.2 Epidemiologische Charakteristika

Laut dem Statistischen Bundesamt leben ca. 7,8 Mio. Menschen mit einer schweren Behinderung (also einem Behinderungsgrad von min. 50 %) in Deutschland. Dies entspricht einem Anteil von 9,4 % der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der betroffenen Männer (50,3 %) und Frauen (49,7 %) ist hierbei ausgewogen (Statistisches Bundesamt 2022a). Von denjenigen Menschen weisen 14 % eine geistige Beeinträchtigung auf. Die verfügbaren Daten beziehen sich auf die Gesamtzahl der MgB, ohne eine Aufschlüsselung nach den Schweregraden vorzunehmen. Neuhäuser & Steinhausen (2013) gehen jedoch davon aus, dass bei der Mehrzahl der Betroffenen (80 %) eine leichte geistige Beeinträchtigung diagnostiziert worden ist. Lediglich bei einem Anteil von 20 % wurde eine schwere geistige Beeinträchtigung festgestellt. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass es sich um Zahlen aus dem Jahr 2003 handelt (ebd.).

Im Vergleich zu den Erhebungen von 1993 hat sich die absolute Anzahl der MgB auf 828.755 verdoppelt (Statistisches Bundesamt 2020). Diese Entwicklung lässt sich zum einen historisch durch die Euthanasie-Morde im Dritten Reich begründen, welche zu einer starken Verringerung der absoluten Anzahl führten (Koppehl 2017). Zum anderen geht mit dem medizinischen Fortschritt eine steigende Lebenserwartung einher (Kim 2016). Die Lebenserwartung von MgB zeigt keinen signifikanten Unterschied zur durchschnittlichen Bevölkerung, sodass diese Bevölkerungsgruppe von der demografischen Alterung nicht ausgenommen ist (Haveman & Stöppler 2020). Die aktuelle Altersverteilung innerhalb der Bevölkerungsgruppe MgB aus dem Jahr 2022 unterstreicht diese Aussage. Menschen unter 25 Jahren machen nur einen geringen Anteil aus (nämlich 3,3 % der Frauen und 5,1 % der Männer), während die Gruppe der Menschen im Alter von 65 Jahren und älter den größten Anteil ausmachen (nämlich 59,7 % der Frauen sowie der 56,1 % Männer; Statistisches Bundesamt 2022b).

Wie bereits in Abschnitt 2.1 (s. S. 9) verdeutlicht, ist die Erfassung einer geistigen Beeinträchtigung durch ihre Komplexität innerhalb eines sozialen Konstrukts erschwert. Dies gilt auch für die Betrachtung der epidemiologischen Charakteristika, denn bei einer geistigen Beeinträchtigung werden nicht nur medizinische Kriterien als Wirkursache betrachtet (Neuhäuser & Steinhausen 2013). Hinsichtlich der Prävalenz einer Intelligenzminderung werden Werte zwischen 0,6 % und 1,8 % angegeben. Die unterschiedlichen Angaben sind dabei auf verschiedene Erfassungsrichtlinien zurückzuführen (Speer, Gahr & Dötsch 2019; Sappok et al. 2010).

Ferner existieren heterogene epidemiologische Charakteristika bei der betrachteten Zielgruppe. Nach Al-Abtah et al. (2015) werden die folgenden vier häufigsten, biologisch und psychosozial verursachten Formen einer schweren geistigen Beeinträchtigung unterschieden: (1) Down-Syndrom; (2) Zerebralparese; (3) Neuralrohrdefekt und (4) autistische Störungen (ebd.).

Die konkreten Risikofaktoren lassen sich dabei nicht immer eindeutig bestimmen. Auffällig ist jedoch, dass bei einer leichten bis mittelgradigen geistigen Beeinträchtigung überwiegend die Wechselwirkungen psychosozialer Faktoren Einfluss nehmen. Bei schweren sowie schwersten geistigen Beeinträchtigungen hingegen zeigen sich vermehrt biologische Auslöser mit einer geringeren Wechselwirkung psychosozialer Faktoren (Neuhäuser & Steinhausen 2013). Das Auftreten einer solchen geistigen Beeinträchtigung lässt sich dabei allgemein auf die Störung oder Schädigung des Gehirns und zentralen Nervensystems zurückführen, die für kognitive Fähigkeiten zuständig sind (Thesing & Vogt 2013). Dabei beeinflusst die verringerte Kognition diverse Fähigkeiten der Betroffenen. Je höher der individuelle Schweregrad, desto verlangsamter bzw. eingeschränkter erfolgen kognitive Prozesse wie Denken, Lernen sowie Abstrahieren und stellen dadurch eine alltägliche Herausforderung dar. Mit ihr gehen eine verringerte Anpassungsfähigkeit an Veränderungen einher sowie eine eingeschränkte Fähigkeit, sich verbal oder schriftlich mitzuteilen. Mit der Zunahme des Schweregrades nimmt ebenso das Erinnerungsvermögen, die Fähigkeit der Ausübung von Tätigkeiten (wie beispielsweise die Selbsthygiene oder die Essenszubereitung) sowie die Fähigkeit der Kommunikation mit dem sozialen Umfeld ab (Al-Abtah et al. 2015; Lingg & Theunissen 2018).

Über diese Auswirkungen der verringerten Kognition hinaus zeigt sich jedoch ein weitaus komplexeres Bild der epidemiologischen Charakteristika. MgB sind aufgrund häufiger Prädispositionen von Multimorbidität bzw. Mehrfachbeeinträchtigungen betroffen. Im Hinblick auf die Prävalenz körperlicher und psychischer Begleiterkrankungen zeigt sich, dass vermehrt Seh- und Hörbeeinträchtigungen, neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, orthopädische Erkrankungen sowie Verhaltensstörungen auftreten (ebd.).

Das Risiko für solche Erkrankungen hängt dabei individuell von der Ausprägung und Art der Behinderung ab. Dabei sind diese Komorbiditäten nicht immer unmittelbar erkennbar, sondern werden häufig erst im fortgeschrittenen Stadium bemerkt (Al-Abtah et al. 2015). Neben den medizinischen Erkrankungen wird innerhalb der Gruppe der MgB ein überdurchschnittlicher Analphabetismusanteil vermutet. Hier ist jedoch anzumerken, dass funktionaler Analphabetismus alle Teile der Gesellschaft betrifft, wenn auch in unterschiedlichem Umfang und aufgrund unterschiedlicher Ursachen (Buddeberg & Grotlüschen 2015). Ebenso werden aufgrund der demografischen Alterung zunehmend die Auswirkungen altersbedingter Erkrankungen auf die geistige Beeinträchtigung beleuchtet. Dabei können die bereits vorhandenen chronischen Funktionseinschränkungen weiter zunehmen oder weitere kognitive sowie körperliche Leistungseinbußen hinzukommen. Insbesondere im zunehmenden Alter treten z. B „Bluthochdruck, Arthrose, erhöhte Cholesterinwerte sowie Arthritis/Rheuma, […] Augenerkrankungen, Herzinfarkte sowie chronische Lungenerkrankungen [auf]“ (s. Schelisch 2016, S. 27). Die Heterogenität der Zielgruppe MgB erschwert dabei zum einen die Verwendung einer einheitlichen Definition und zum anderen wird die Forschung für und mit dieser Zielgruppe vor besondere Herausforderungen gestellt (Keeley 2015). Im internationalen Kontext unterliegen MgB einem abweichenden Begriffsverständnis, sodass ein internationaler Vergleich der epidemiologischen Charakteristika erschwert wird (Theunissen 2008).

Insgesamt stellen MgB eine besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe dar, die stark von gesundheitlichen Ungleichheiten betroffen ist (Boot et al. 2018). Die epidemiologischen Charakteristika lassen ein heterogenes Bild entstehen, das von der Ursache, Form und jeweiligen Ausprägung der geistigen Beeinträchtigung abhängig ist und entsprechend nicht verallgemeinert werden kann (Lingg & Theunissen 2018). Gleichwohl ist hier ist zu betonen, dass Parallelen im Gesundheitszustand zwischen MgB nicht auch denselben Unterstützungs- und Hilfebedarf bedeuten. Für die Identifikation der Hilfebedarfe sowie die Versorgungsgestaltung ist die ganzheitliche Betrachtung der geistigen Beeinträchtigung mitsamt der Komorbidität unverzichtbar (Schneider, Margraf & Meinlschmidt 2019), damit eine auf das Individuum abgestimmte Versorgung ermöglicht wird (Lingg & Theunissen 2018).

2.3 Hilfestrukturen der Eingliederungshilfe

Je nachdem wie stark die selbstständige Lebensführung der Person aufgrund der körperlichen, geistigen und sensorischen Beeinträchtigungen eingeschränkt ist, werden unterschiedliche Hilfestrukturen angeboten. Somit können infolge der Beeinträchtigung entstehende Hilfebedarfe und -bedürfnisse aufgefangen werden (ebd.). Für MgB erfolgt die Regelung der ihnen zustehenden Leistungen über die Hilfestrukturen der Eingliederungshilfe, die nachfolgend durch die Darlegung der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Leistungsbezüge sowie der Betreuungsformen erläutert werden.

2.3.1 Gesetzliche Rahmenbedingungen

Mit dem BTHG (2019) wurden gesetzliche Rahmen der Eingliederungshilfe zum 01.01.2020 neu gestaltet. Durch diese Änderung ist die Eingliederungshilfe kein Bestandteil der Sozialhilfe gemäß SGB XII (2022)mehr, sondern wurde in Teil 2 des SGB IX (2019) verankert.

Die Aufgaben der Eingliederungshilfe werden im SGB IX (2019) wie folgt definiert:

„Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können“ (s. § 90, Abs. 1 ebd.).

Die weiteren Aufgaben der Eingliederungshilfe teilen sich in vier Leistungsgruppen auf:

  1. 1.

    Leistungen zur medizinischen Rehabilitation

    Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind in § 109 bis § 110 des SGB IX (2019) geregelt. Zu diesen Leistungen gehören beispielsweise die Frühförderung und die Gewährung von Heil- und Hilfsmitteln (ebd.).

  2. 2.

    Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Leistungen zur Beschäftigung (Teilhabe am Arbeitsleben) werden in § 111 des SGB IX (2019) geregelt und beinhalten neben den Leistungen für den Arbeitsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen auch das Budget für Arbeit und Leistungen bei anderen Leistungsanbietern (ebd.).

  3. 3.

    Leistungen zur Teilhabe an Bildung

    Die Leistungen zur Teilhabe an Bildung sind in § 112 des SGB IX (2019) geregelt. Dies stellt sicher, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die aufgrund ihrer Behinderung notwendige Unterstützung in der Schule, bei der Ausbildung oder im Studium erhalten (ebd.).

  4. 4.

    Leistungen zur Sozialen Teilhabe

    Die Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind in den § 113 bis § 116 des SGB IX (2019) geregelt, die wiederum auf § 77 bis § 84 SGB IX verweisen und die behinderungsbedingt notwendige Unterstützung im sozialen Bereich sicherstellen (ebd.).

Menschen, die im Zusammenhang mit ihrer Behinderung von erheblichen Teilhabeeinschränkungen betroffen sind (wesentliche Behinderung) oder die von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, haben ein Anrecht auf Leistungen der Eingliederungshilfe (ebd.). Das Wunsch- und Wahlrecht, das in § 104 Abs. 2 und 3 des SGB IX (2019) geregelt ist, stellt einen wichtigen Grundsatz der Eingliederungshilfe dar. Somit sollen Wünsche von MB bei der Gestaltung und Entscheidung von Leistungen berücksichtigt werden (ebd.).

Ein Ziel des BTHG (2019) ist es, den Behindertenbegriff in der Eingliederungshilfe neu zu definieren, was zu einer Neuregelung des leistungsberechtigen Personenkreises führt. Der Behindertenbegriff des BTHG (2019) wird sich an dem zeitgemäßen Verständnis von Behinderung der UN-BRK (2017) orientieren. Dementsprechend ist für die Beurteilung nicht der Umfang der Beeinträchtigung entscheidend. Vielmehr stehen die Wechselwirkungen der vorherrschenden Beeinträchtigung im Kontext der Teilhabe im Fokus. Die Regelungen zum leistungsberechtigten Personenkreis wurden zum 01.01.2023 neu formuliert (Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz 2020).

2.3.2 Gesamtplanverfahren

Das Eingliederungshilferecht und die damit einhergehenden Regelungen der besonderen Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung sind seit dem 01.01.2020 in § 90 bis § 150 des SGB IX (2019) aufgeschlüsselt. Um die Qualität und Wirkung der zustehenden und bewilligten Leistungen für MB in der Eingliederungshilfe gesetzlich sicherzustellen, ist das Verfahren der Teilhabeplanung in § 117 des BTHG (2019) verankert. Hier werden notwendige Regularien und Kriterien für Eingliederungshilfeträger zur angemessenen Durchführung, Steuerung und Wirkungskontrolle des Gesamtplanverfahrens zur Umsetzung der festgestellten Leistungen des Berechtigten aufgezeigt. Unmittelbar nach Feststellung der erforderlichen Leistungen ist der Eingliederungshilfeträger dazu verpflichtet einen Gesamtplan zu verschriftlichen. Nach Ablauf von zwei Jahren muss dieser erneut überprüft und bei Bedarf angepasst werden. Genehmigte Leistungen treten immer zum Beginn des Folgemonats in Kraft (§ 121, SGB IX 2019).

Die konkrete Erstellung des Gesamtplans erfolgt in insgesamt vier Schritten, in denen die leistungsberechtigten MB partizipativ einbezogen werden. Bei Bedarf kann auch eine Vertrauensperson des Leistungsberechtigten hinzugezogen werden. Der Ablauf des Gesamtplanverfahrens wird nachfolgend näher erläutert: Beginnend mit der Beratung werden im ersten Schritt Bedürfnisse und Bedarfe des Leistungsberechtigten identifiziert und als Entscheidungsbasis für die zustehenden Leistungsarten und -ziele herangezogen. Dabei werden ausschließlich Instrumente der Bedarfsermittlung nach § 118 des SGB IX (2019) herangezogen, die sich auf das ICF-Modell der WHO (2005) berufen und somit eine bestehende Beeinträchtigung von Aktivität und Teilhabe der benannten Lebensbereiche beschreiben. Im zweiten Schritt erfolgen die Feststellung der zustehenden Leistungsarten und deren Ausgestaltung im Rahmen einer Gesamtplankonferenz mit allen involvierten Leistungserbringern, wie z. B. dem behandelnden Arzt, dem Gesundheitsamt und den Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit. Anschließend wird aus den festgestellten Leistungen ein Gesamtplan entwickelt, der dem Leistungsberechtigten zur Verfügung gestellt wird (SGB IX 2019).

Im letzten Schritt wird die sogenannte Teilhabezielvereinbarung zwischen den Leistungserbringern und Leistungsberechtigten als partizipative Übereinkunft geschlossen. In der Regel ist hiermit die Unterzeichnung der in den ersten beiden Schritten identifizierten Bedarfen und Bedürfnissen der Leistungsberechtigten gemeint. Bei gegebenen Besonderheiten, wie beispielsweise bei einer Form von Pflegebedürftigkeit oder bei Bedarf an notwendigem Lebensunterhalt, wird der Kreis der involvierten Leistungserbringer um die Träger dieser Leistungen erweitert, wie beispielsweise Pflegekassen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Leistungsberechtigte der Informationsübermittlung an die Träger der Leistungen zustimmt (ebd.).

2.3.3 Wohn- und Betreuungsformen

Aufgrund der zuvor aufgezeigten Heterogenität von MB (Theunissen & Kulig 2016) werden unterschiedlichste Anforderungen im Gesamtplanverfahren festgestellt, weshalb unterschiedliche Betreuungsformen nach Art und Umfang der Unterstützungsbedarfe angeboten werden. Diese werden nachfolgend kurz erläutert.

Menschen mit einer wesentlichen Beeinträchtigung werden durch Leistungen in den oben benannten Bereichen in der Eingliederungshilfe unterstützt. Im bundesweiten Durchschnitt liegt der Anteil von MB, die eine Leistung zum Wohnen erhalten bei 5,9 Personen pro 1.000 Einwohner. Davon beziehen im Durchschnitt 2,9 Menschen pro 1.000 Einwohner Leistungen des stationär betreuten Wohnens im Rahmen der Eingliederungshilfe (Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe [BAGüS] 2020).

Bis Ende 2019 unterschied die Eingliederungshilfe zwischen ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen (ebd.). Die aktuelle Statistik zeigt, dass im Jahr 2018 199.745 MB in einer stationären Einrichtung lebten (ein Minus von 0,2 % zum Vorjahr) und 207.794 in ambulant unterstützten Wohnformen (ein Plus von 4,4 % zum Vorjahr; ebd.). Stationäre Wohnformen ließen sich dabei weiterführend in teilstationär und vollstationär untergliedern. Zu vollstationären Wohnformen gehörten Komplexeinrichtungen und Dorfgemeinschaften, in denen eine 24-Stunden-Versorgung in Anspruch genommen wurde und nahezu alle Unterstützungsbereiche im Sinne der Pflege und Lebensführung umfasst wurden (Dworschak 2004). Die Bewohner von stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe waren im Jahr 2018 zu mehr als zwei Dritteln MgB (63,1 %). Etwa ein Drittel der Bewohnenden von Wohneinrichtungen stellten Menschen mit einer seelischen Beeinträchtigung dar (30,4 %). Eine körperliche Beeinträchtigung wiesen 6,5 % auf (BAGüS 2020).

Die Sozialhilfeträger investierten im Jahr 2018 9,4 Milliarden EuroFootnote 2 in das stationär betreute Wohnen. Im Gegensatz zum Vorjahr entspricht dies einem Anstieg von ca. 330 Millionen Euro. Als Vergleich: Für die Betreuung in ambulant unterstützten Wohnformen ohne existenzsichernde Leistungen wurden netto rund 2,1 Milliarden Euro investiert. Dabei sind ca. 142 Millionen Euro mehr als im Vorjahr zu verzeichnen (ebd.).

Eigenständige Wohngruppen, Außenwohngruppen und Wohnheime wiederum zählten aufgrund eines geringeren Versorgungs- und Unterstützungsumfangs zu den teilstationären Wohnformen (Dworschak 2004). Dabei wurden unterschiedliche Gruppengrößen zusammengesetzt; in der Regel betrugen diese zwischen vier und sieben Wohngruppenmitglieder mit ähnlichem Unterstützungsbedarf (Kim 2016).

Mit der Einführung des BTHGs am 01.01.2020 wurde der Ausdruck stationäre Einrichtung in der Eingliederungshilfe durch den Begriff besondere Wohnform abgelöst. Für eine bessere Nachvollziehbarkeit werden folgend die bisher bekannten Wohnformen sowie die Änderungen hin zu der besonderen Wohnform genauer erläutert (BAGüS 2020).

Gemäß der Statistik des Teilhabeberichts der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen aus dem Jahr 2021 leben MB überwiegend in Privathaushalten, ein kleinerer Anteil in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Hier ist jedoch anzumerken, dass in Einrichtungen wohnhafte MB nicht in bevölkerungsrepräsentativen Befragungen (z. B. Mikrozensus, Sozioökonomisches Panel [SOEP]) berücksichtigt werden. Dementsprechend wurden zur Schätzung der in Einrichtungen wohnhaften MB, Statistiken zu Leistungsdaten aus der Sozialhilfe, der Pflege sowie Kinder- und Jugendhilfe herangezogen (BMAS 2021).

Wie Tab. 2.1 (s. S. 21) zu entnehmen ist, wurden im Jahr 2017 insgesamt 13.081 Kinder und Jugendliche mit (drohenden) seelischen Behinderungen (§ 35a SGB VIII) in Einrichtungen der Eingliederungshilfe versorgt, davon waren 8.347 männlich (64 %) und 4.734 weiblich (36 %). Im selben Jahr wurden nach dem § 53 ff. SGB XII (alt) insgesamt 196.501 Personen in stationären Wohneinrichtungen versorgt, davon 117.156 Männer (60 %) und 79.345 Frauen (40 %). Der größte Anteil (85 %) gehörte dabei der Altersgruppe von 18 bis 64 Jahren an. Die Zahl der minderjährigen Personen in Betreuung, lag bei insgesamt 4.704 Personen (2 %). In einer vollstationären Dauerpflege nach § 43 SGB XI lebten 818.289 Personen, davon waren mehr als zwei Drittel (70 %) Frauen. 92 % der Leistungsempfänger waren über 65 Jahre alt, sodass die Inanspruchnahme vollstationärer Pflege vor allem bei älteren Menschen zu erkennen ist. Weitere 12.025 Menschen erhielten stationäre Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII, jedoch ohne gleichzeitig Leistungen der Pflegeversicherung zu beziehen. Somit betrug im Jahr 2017 die Anzahl der MB, die in stationären Wohneinrichtungen leben, ca. 1,04 Millionen (64 % weiblich und 36 % männlich; ebd.).

Tab. 2.1 MB in stationären Einrichtungen im Jahr 2017. (Quelle: Eigene Darstellung nach BMAS [2021], o. S.)

Ambulante Wohnformate inkludierten integrative Wohngemeinschaften sowie betreutes Einzel- und Paarwohnen in weitestgehend eigenständig geführten Apartments. Dabei konnten sich die Wohngemeinschaften aus Menschen mit und ohne geistiger Beeinträchtigung zusammensetzen, die gemeinsame und einzelne Unterstützungsleistungen beanspruchen konnten (Dworschak 2004; Reindl, Kreuz & Steidle 2009). Im weiteren Sinne war auch das Wohnen bei der Herkunftsfamilie als integrative Wohngemeinschaft zu verstehen, sofern häusliche professionelle Unterstützungsdienste hinzugezogen wurden (Theunissen & Kulig 2016).

In ambulanten und teilstationären Wohnformen standen dem Bewohnenden keine vollumfänglichen Versorgungs- und Unterstützungsleistungen zu. Diese wurden individuell ausgerichtet, umfassten jedoch in der Regel keine Hilfestellung im pflegerischen Bereich, sondern konzentrierten sich auf die Bereiche Alltagsbegleitung und Lebensführung durch die geistige und körperliche Unterstützung von Tätigkeiten wie Einkaufen, Terminbegleitungen, Haushaltsführung (wie z. B. Kochen und Anleitung von Reinigungstätigkeiten), Verwaltung sowie leichtes Handwerk (Dworschak 2004). Ebenso ist die Unterstützung in der Tagesstrukturierung zunehmend wichtiger geworden (Theunissen & Kulig 2016).

Ferner wurden sowohl aus der Sicht der Betroffenen als auch aus der organisationalen Perspektive ambulante und teilstationäre Wohnformen den vollstationären Formaten vorgezogen. Dabei zeigten sich mit zunehmendem Alter eine steigende Nutzung von Einzelwohnformen sowie eine abnehmende Anzahl von Wohngemeinschaften (Fornefeld 2019).

Der Trend hin zu Einzelwohnformen mit ambulanter bzw. häuslicher Betreuung ist durch mehrere Faktoren bedingt. Zum einen wurde die Ausweitung ambulanter Versorgungs- und Unterstützungsleistungen für die betreuenden Organisationen aufgrund der demografischen Alterung zunehmend wichtiger, da infolgedessen vermehrt Singlehaushalte mit älteren Hilfsbedürftigen entstanden sind (Theunissen & Kulig 2016), deren ambulante Unterstützung in der Häuslichkeit, nach dem Prinzip ambulant vor stationär, Priorität hatte (§ 13, Abs. 1 SGB XII 2022). Zum anderen spielte die gewünschte Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des Hilfebedürftigen, die im häuslichen Betreuungskontext erreicht werden konnte, eine zunehmend wichtige Rolle in der Versorgungsgestaltung. Der Gesetzgeber hat diese Wünsche aufgegriffen und sich für eine Versorgungsgestaltung eingesetzt, die das Selbstbestimmungsprinzip und den individuellen Bedarf an Hilfeleistung berücksichtigt. Hierdurch profitierten wiederum die Versorgungsprinzipien der Betreuungsdienste, sodass bestehende Konzepte und Unterstützungsstrukturen bedarfsgerecht weiterentwickelt wurden (Theunissen & Kulig 2016). Dabei boten vor allem ambulante Wohnformate die Chance, vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsprinzips die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern und somit den Wünschen der MgB nach einem selbstständigeren und selbstbestimmteren Leben entgegenzukommen (Theunissen 2005).

Am 01.01.2020 wurde der Ausdruck stationäre Einrichtung in der Eingliederungshilfe durch den Begriff besondere Wohnform abgelöst. Dieser Begriffswechsel hat Änderungen hinsichtlich der Leistungsbezüge zur Folge. Zu besonderen Wohnformen zählen keine Wohnungen, die Wohn-, Koch- und Sanitärbereich baulich trennen. Vielmehr werden hierunter Single- oder Paarwohnräume verstanden, die über zusätzliche Gemeinschaftswohnräume verfügen und zur Wahrnehmung von Eingliederungsleistungen genutzt werden (s. § 42a, Abs. 2 SGB XII 2022).

Verpflegung und Unterkunft zählten bisher zu den stationären Leistungen und wurden dementsprechend von der Wohneinrichtung erbracht und über die Sozialhilfeträger durch Eingliederungshilfeleistung finanziert. Seit 01.01.2020 sind die Leistungen der Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen getrennt. Für den Bewohnenden bedeutet dies den Wechsel in die eigenverantwortliche Zahlung seiner Wohnmöglichkeit und lediglich eine Bezuschussung, wenn das eigene Einkommen nicht ausreicht. Ebenso teilt sich die Übernahme von existenzsichernden Leistungen durch den Sozialhilfeträger auf, wobei die Eingliederungshilfeträger des jeweiligen Landkreises die Zahlung der Fachleistungen übernehmen (BMAS 2020). Anders als existenzsichernde Leistungen, die den notwendigen Lebensunterhalt betreffen und von dem Bewohnenden nicht selber gezahlt werden können, umfassen Fachleistungen die Bereiche Sach-, Geld- oder Dienstleistungen (ebd.; s. § 42a, Abs. 2 SGB XII 2022).

Die Auswirkungen der Multimorbidität von MgB bedeuten für den Betroffenen durch den entstehenden Hilfebedarf ökonomische und soziale Abhängigkeit (Sonnenberg 2007). Ein Abhängigkeitsverhältnis begründet die besonders schützenswerte Stellung von MgB (Lingg & Theunissen 2018). Basierend auf demokratischen Werten, wie Gleichberechtigung, Chancengleichheit sowie Mitbestimmung und selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen, gilt es diesen Abhängigkeiten mittels sozialer Sicherung in allen Lebensbereichen entgegenzuwirken. Damit diese Werte und Teilhaberechte auch von MB wahrgenommen werden können, ist 2001 mit dem SGB IX (2019) ein rechtlicher Rahmen geschaffen worden. Dabei gilt das verfasste Grundrecht auf eine gesellschaftliche Teilhabe als Sicherung der materiellen, politischen, kulturellen sowie sozialen Chancengleichheit und bildet die Grundprinzipien in der Rehabilitationsarbeit von betreuenden Einrichtungen (Kim 2016).

Wie zuvor beschrieben, definiert § 90 des SGB IX (2019) die Aufgabe der Eingliederungshilfe, Menschen „eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen […] und die volle, wirksame und vor allem gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern“ (s. § 90, Abs. 1 ebd.). Hieran anknüpfend wird nachfolgend das vorliegende Begriffsverständnis von Teilhabe erläutert.