3.1 Grundlagen des Beschwerdemanagements

3.1.1 Definition der zentralen Begrifflichkeiten

Um die Grundlagen des Beschwerdemanagements und -verhaltens angemessen erläutern zu können, erscheint es vorab geboten, die Begriffe der Beschwerde und damit auch des Noncomplainings sowie des Beschwerdemanagements zu definieren. In Anbetracht eines fehlenden einheitlichen Begriffsverständnisses – sowohl in der Marketingforschung als auch in der Unternehmenspraxis – werden nachfolgend die jeweiligen für die vorliegende Arbeit gültigen Definitionen dieser Begrifflichkeiten dargestellt.

Analog zu der Forschungsarbeit von BrockFootnote 1 soll zunächst eine etymologische Betrachtung des mittelhochdeutschen Begriffs „beschweren“ vorgenommen werden, da hiermit erste Hinweise für eine potenzielle Definition des Begriffs Beschwerde geliefert werden. So lässt sich das Präfixverb „beschweren“ vom Adjektiv „schwer“Footnote 2 ableiten und wird dem nach mit „belasten, drücken, belästigen, betrüben“Footnote 3 in Zusammenhang gestellt. Darauf aufbauend wird unter dem reflexiven Verb „sich beschweren“ die Formulierung „sich über Drückendes beklagen“ verstanden.Footnote 4 Demzufolge bedeutet eine Beschwerde gemäß der etymologischen Betrachtung das „Beklagen über Drückendes“.Footnote 5

Auch wenn hinsichtlich der Etymologie weitestgehend Einigkeit herrscht, lässt sich in der Marketingforschung eine Vielzahl an Begriffsverständnissen entdecken, die den Begriff der Beschwerde sehr unterschiedlich fassen und definieren.Footnote 6 Eine erste – noch sehr weit gefasste – Definition geht auf FornellFootnote 7 zurück. Dieser ordnet eine Beschwerde als Artikulation von UnzufriedenheitFootnote 8 – ausgelöst von einem Produkt, einer Dienstleistung oder einem anderen Aspekt der Kauferfahrung – ein. Hierbei erfolgt somit u. a. keine Einengung des Begriffs auf den Adressaten der Beschwerde. Schütze fasst den Begriff der Beschwerde sogar noch weiter, indem keine aktuelle Unzufriedenheit vorliegen muss, sondern lediglich eine latente oder potenzielle.Footnote 9 Die Äußerung des Kunden kann demnach ausschließlich auf der Erwartung beruhen, dass der Anbieter möglicherweise sein Verhalten zukünftig ändern wird und somit dem faktischen Entstehen von Unzufriedenheit vorgebeugt werden kann.

Einen hinsichtlich des Beschwerdeadressaten differenzierteren Ansatz verfolgt BrockFootnote 10, welcher zwischen einer Beschwerde im weiteren Sinne und einer Beschwerde im engeren Sinne (i.e.S.) unterscheidet. Erstere umfasst alle Verhaltensreaktionen eines Kunden, die auf seiner Unzufriedenheit beruhen.Footnote 11 Die Beschwerde im weiteren Sinne inkludiert demzufolge auch die Reaktion gegenüber Drittparteien, während mit der Beschwerde i.e.S. ausschließlich die Artikulation der Unzufriedenheit gegenüber dem Anbieter gemeint ist. Dem Begriffsverständnis der Beschwerde i.e.S. wird auch in dieser Arbeit grundlegend gefolgt, sodass der Begriff der Beschwerde zu dieser synonym verwendet wird.Footnote 12

Doch auch hinsichtlich des Begriffsverständnisses der Beschwerde i.e.S. lassen sich in der Marketingliteratur unterschiedliche Auffassungen erkennen. Während Fürst in seinen Arbeiten eine sehr umfassende DefinitionFootnote 13 verwendet, reduziert Brock in Anlehnung an HoffmannFootnote 14 diese und definiert die Beschwerde i.e.S. wie folgt: „Alle unternehmensgerichteten Kundenartikulationen nach dem Kauf von Produkten oder Dienstleistungen, die darauf abzielen, subjektiv wahrgenommene Kundenprobleme, die in direktem Zusammenhang mit dem Kauf und/oder der Nutzung der Produkte oder Dienstleistung stehen, zu beseitigen“.Footnote 15 Problematisch an dieser Definition erscheint jedoch für die vorliegende Arbeit, dass ausschließlich unmittelbar mit der Kernleistung (Produkt oder Dienstleistung) verbundene Beschwerden gegenüber dem Anbieter betrachtet werden.Footnote 16 Insb. im BtB-Bereich können Probleme mit dem Anbieter jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der Leistung an sich, sondern auch mit Verhaltensweisen des Anbieters innerhalb des gesamten Vermarktungsprozesses stehen, wie z. B. Preissetzungsverhalten oder Ausspielen von Machtpositionen. Somit bedarf es einer Definition, die hierüber hinausgeht.Footnote 17

Einen Definitionsansatz bieten vor diesem Hintergrund Stauss/Seidel.Footnote 18 Demnach stellen alle Äußerungen gegenüber einem Anbieter, aus denen sich erkennen lässt, dass eine Leistung oder Verhaltensweise eines Anbieters nicht den Kundenerwartungen entspricht, eine Beschwerde dar. Des Weiteren kann eine Beschwerde nicht nur von Individuen, sondern auch von Gruppen artikuliert werden. Dieser Aspekt erscheint mit Blick auf das Buying Center-Konzept von enormer Bedeutung für die vorliegende Arbeit. Jedoch inkludieren Stauss/Seidel (2014) ebenfalls Mitglieder anderer Anspruchsgruppen, die nicht unmittelbar von dem kritischen Vorfall betroffen sind. Ein weiterer Kritikpunkt im Sinne der vorliegenden Arbeit an dem Begriffsverständnis von Stauss/Seidel (2014) liegt darin, dass Beschwerden in der Nachkaufphase intentional vorgetragen werden – also mit der Absicht, eine neue Leistung, Reparatur, teilweise oder vollständige Rückzahlung des Kaufpreises oder Schadensersatz für Folgeschäden zu erhalten. Im BtB-Bereich lässt sich jedoch vermuten, dass Beschwerden auch der Einleitung von gemeinsamen Verbesserungsprozessen bzw. dem partnerschaftlichen Aufzeigen von Lösungspotenzialen dienen – und dies ggf. bereits in der Vorkaufphase, z. B. wenn es sich um ein System- oder Integrationsgeschäft handelt.

In Anbetracht der vorherigen Ausführungen zu den unterschiedlichen Begriffsdefinitionen einer Beschwerde in der Marketingliteratur wird eine Beschwerde in der vorliegenden Arbeit wie folgt definiert: Eine Beschwerde umfasst die intentionale Artikulation der Unzufriedenheit aktueller und verlorener Kunden, die aus subjektiv wahrgenommenen leistungs-, verhaltens- und vermarktungsbezogenen Aspekten resultiert und unmittelbar an den Anbieter kommuniziert wird. Hierbei kann eine Beschwerde individuell oder aggregiert im Sinne einer Gruppenbeschwerde geäußert werden. Die Äußerung von Unzufriedenheit über einen Anbieter innerhalb des eigenen Unternehmens bzw. Buying Centers oder gegenüber Drittparteien wird nicht unter dem Beschwerdebegriff der vorliegenden Arbeit subsumiert. Abbildung 3.1 stellt die für die vorliegende Arbeit maßgebliche Definition einer Beschwerde anhand ihrer wesentlichen Charakteristika grafisch dar.Footnote 19

Abbildung 3.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung; Abbildung von Stauss/Seidel (2014, S. 30) auf eigene Definition angepasst.)

Definition einer Beschwerde.

Das bewusste Unterlassen der Artikulation einer – wie oben definierten – Beschwerde wird in der vorliegenden Arbeit als Noncomplaining und das betroffene Individuum oder die Gruppe als Noncomplainer bezeichnet.Footnote 20 Das Noncomplaining umfasst somit lediglich die Nicht-Äußerung der Unzufriedenheit gegenüber dem Anbieter und schließt den Verzicht auf ein negatives Word of Mouth (WoM) innerhalb des eigenen Unternehmens oder gegenüber Dritten sowie das Einschalten von Drittparteien nicht mit ein.Footnote 21

Analog zu dem uneinheitlichen Verständnis des Beschwerdebegriffs innerhalb der Marketingliteratur mangelt es ebenfalls an einer deckungsgleichen Verwendung des Begriffs Beschwerdemanagement, sodass es auch diesbezüglich eine gemeinsame Definition zu schaffen gilt. Den Ursprung findet das Beschwerdemanagement in der amerikanischen Literatur unter der Bezeichnung Complaint ManagementFootnote 22, welches vielfach mit dem Begriff der Beschwerdepolitik gleichgesetzt wurde.Footnote 23 Das Beschwerdemanagement wurde zunächst als Instrument eingeordnet, um intensive Beziehungen zum Kunden aufbauen zu können, indem der Kunde dazu veranlasst wird, in einem kritischen Fall in den Dialog mit dem Unternehmen zu treten.Footnote 24 Dieser Dialog soll die Geschäftsbeziehung verstärken, indem die Zufriedenheit mit dem Ergebnis der artikulierten Beschwerde aus Kundensicht die Unzufriedenheit abbauen und schließlich in der Kundenbindung resultieren soll.Footnote 25 Anhand dieses Verständnisses zeigt sich, dass das Beschwerdemanagement anfangs sehr stark als Kundenbindungsinstrument mit dem Ziel der Stimulierung von Beschwerden interpretiert wurde. Von diesem fokussierten Verständnis aus entwickelte sich jedoch in der deutschsprachigen Literatur ein ganzheitlicher Ansatz, welcher das Beschwerdemanagement als aktiven Prozess eines Unternehmens zur zielgerichteten Gestaltung der Kundenbeziehung sowie Steigerung der Zufriedenheit und Bindung versteht, um trotz einer Leistungsverschlechterung die Ziele des Relationship Marketings nicht zu gefährden.Footnote 26 In Anbetracht dessen umfasst das Beschwerdemanagement die Planung, Durchführung und Kontrolle aller Aktivitäten, die ein Unternehmen im Zusammenhang mit Beschwerden von Kunden oder sonstigen Anspruchsgruppen ergreift.Footnote 27 Diese Ausführungen deuten bereits an, dass das Beschwerdemanagement einerseits prozess- und andererseits aktivitätsbezogene Aspekte beinhaltet.

Diesen Gedanken greift u. a. FürstFootnote 28 auf, indem er in seinem Beitrag zur Begriffsklärung des Beschwerdemanagements zwischen einer prozess- bzw. aufgaben-Footnote 29, einer system-Footnote 30 und einer kumulativen aktivitätsbezogenenFootnote 31 Definition unterscheidet. Erweitern lässt sich die aktivitätsbezogene Definition des Beschwerdemanagements um einen für die vorliegende Arbeit sehr bedeutsamen Aspekt. So sieht GünterFootnote 32 in seiner Definition explizit das Management von Noncomplainern als Teilgebiet des Beschwerdemanagements an, wobei er jedoch ausschließlich reaktive Handlungen berücksichtigt.Footnote 33 Gleichwohl gilt es genauso proaktive Maßnahmen zu inkludieren. Vor diesem Hintergrund folgt die vorliegende Arbeit dem aktivitätsbezogenen Verständnis des Beschwerdemanagements, und stellt weniger prozessbezogene und organisationale Aspekte in den Mittelpunkt. Vielmehr werden unter dem Beschwerdemanagement alle proaktiven und reaktiven Maßnahmen eines Unternehmens – sowie deren Planung und Kontrolle – verstanden, die ergriffen werden, um die artikulierte und nicht artikulierte Unzufriedenheit eines Kunden adressieren zu können.

3.1.2 Ziele und Aufgaben des Beschwerdemanagements

Die hohe Bedeutsamkeit des Beschwerdemanagements für das Relationship Marketing zeigt sich vor allem in der empirischen Beobachtung, dass ein Anbieter, der eine Beschwerde aus Kundensicht vollkommen zufrieden stellend behandelt, mit einer höheren Loyalität des Kunden belohnt wird.Footnote 34 Verschiedene empirische StudienFootnote 35 belegten die Erkenntnis, dass die Kundenzufriedenheit mit einer zunehmenden wahrgenommenen Qualität des Beschwerdemanagements ansteigt. Dabei wiesen Kunden, die eine überdurchschnittliche Qualität des Beschwerdemanagements attestierten, eine höhere Zufriedenheit mit dem Anbieter auf als die Vergleichsgruppe, die mit keiner Leistungsverschlechterung konfrontiert war. Dieses Phänomen wird in der Literatur oftmals als Beschwerdeparadoxon bzw. Service Recovery Paradox bezeichnet.Footnote 36 Dies zeigt, dass das erfolgreiche Management von (Non-)Complainern damit nicht nur einen wesentlichen Einfluss auf psychografische Zielgrößen, wie z. B. die Kundenzufriedenheit, ausüben kann, sondern auch die Erreichung ökonomischer Zielgrößen durch die Ausschöpfung von Kundenbindungspotenzialen unterstützt.Footnote 37 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Oberziel des Beschwerdemanagements ableiten und zwar die Erhöhung der Profitabilität und der Wettbewerbsfähigkeit durch die Wiederherstellung der Kundenzufriedenheit, der Minimierung negativer Auswirkungen der Unzufriedenheit sowie das Ausnutzen der Kundeninformationen über Verbesserungspotenziale.Footnote 38 An dieser Stelle wird unmittelbar das eingangs der Arbeit dargelegte Risiko von Noncomplainern deutlich, da die Artikulation der Unzufriedenheit die Grundvoraussetzung für die Informationsgenerierung und den Einsatz entsprechender Maßnahmen zur Wiederherstellung der Kundenzufriedenheit darstellt.

Aus dem Oberziel des Beschwerdemanagements lassen sich wiederum folgende Teilziele ableiten.Footnote 39 Zunächst sind die kundenbeziehungsrelevanten Ziele zu nennen. Im Vordergrund steht dabei die Stabilisierung gefährdeter Kundenbeziehungen und die damit verbundene Reduktion von Kundenabwanderungen, um auf diese Weise die Umsätze und final die Deckungsbeiträge absichern zu können. Weiter sollen mit der Stärkung der Kundenbindung Mehrkäufe generiert bzw. Cross Buying-Potenziale ausgeschöpft werden. Ferner kann ein gutes Beschwerdemanagement den Aufbau eines kundenorientierten Unternehmensimages fördernFootnote 40, indem u. a. zunächst das WoM der zufrieden gestellten Kunden beeinflusst wird und folglich auch positive Ausstrahlungseffekte auf weitere (potenzielle) Kunden geschaffen werden können. Somit können akquisitorische EffekteFootnote 41 herbeigeführt werden. Des Weiteren lassen sich auch qualitätsrelevante Teilziele ableiten. Hierbei steht im Mittelpunkt, dass im Zuge von Beschwerdeäußerungen und Kundenfeedback wertvolle Informationen über Leistungs- oder Verhaltensverbesserungspotenziale gewonnen werden können.Footnote 42 Neben der Kundenbindung bieten die gewonnenen Kenntnisse auch Hinweise über aktuelle und künftige Kundenerwartungen, welche für Leistungsinnovationen verwendet werden und dadurch in DifferenzierungspotenzialenFootnote 43 münden können. Genau diese Potenziale werden jedoch im Zuge der Noncomplainer-Problematik gefährdet bzw. unmittelbar verhindert. Weiter können externe (z. B. Eintreten von Gewährleistungs- oder Garantiefällen, Rechtsprozesse, Auseinandersetzung mit Drittinstitutionen) und interne Fehlerkosten (z. B. effizientere Prozessgestaltung) vermieden werden. Abschließend haben produktivitätsrelevante Teilziele zum Inhalt, dass die Erreichung der kundenbeziehungs- und qualitätsrelevanten Teilziele unter Berücksichtigung des Ressourceneinsatzes wirtschaftlich zu erfolgen hat.Footnote 44

Letztlich stellen das dargelegte Oberziel sowie die hieraus folgenden Teilziele eine Konkretisierung der in Abschnitt 1.1 veranschaulichten psychografischen und ökonomischen Ziele in Bezug auf das Beschwerdemanagement und die Noncomplainer-Thematik dar. Abbildung 3.2 zeigt diese Zusammenhänge sowie die Gefährdung der jeweiligen Zielerreichung durch die Existenz von Noncomplainern in grafischer Form.

Die Zielerreichung des Beschwerdemanagements kann jedoch nur dann erfolgreich eintreten, wenn eine Vielzahl wesentlicher Aufgaben erfüllt wird.Footnote 45 Zu den Aufgaben, die mit dem direkten Beschwerdemanagementprozess einhergehen, gehören folgende:

Abbildung 3.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung; in Anlehnung an Stauss/Seidel 2014, S. 66.)

Ziele des Beschwerdemanagements unter Berücksichtigung von Noncomplainern.

  • Beschwerdestimulierung,

  • Beschwerdeannahme,

  • Beschwerdebearbeitung und

  • Beschwerdereaktion.Footnote 46

Damit das Ziel der Herstellung einer Beschwerdezufriedenheit überhaupt erreicht werden kann, muss zunächst die Unzufriedenheit an den Anbieter kommuniziert werden.Footnote 47 Eine wesentliche Aufgabe des Beschwerdemanagements liegt somit in der Reduktion von Noncomplainer-Raten durch eine entsprechende Beschwerdestimulierung. Diese umfasst im Kern alle zielgerichteten Maßnahmen eines Anbieters, die den Kunden zur Äußerung seiner Unzufriedenheit bewegen sollen. Im Wesentlichen hat die Beschwerdestimulierung zum Ziel, die psychischen und physischen Beschwerdebarrieren zu reduzieren. Das zentrale Instrument zum Abbau physischer Barrieren stellt insb. der Auf- bzw. Ausbau von geeigneten Beschwerdekanälen darFootnote 48, um auf diese Weise den zeitlichen und finanziellen Aufwand für den Kunden minimieren und hierdurch die Kosten-Nutzen-Relation einer Beschwerde verbessern zu können.Footnote 49 Hier eröffnet in erster Linie die digitale Transformation aus Anbieter- und Kundensicht neue Möglichkeiten. Neben der Beschwerdeartikulation via E-Mail oder Online-Beschwerdeformularen bieten spezielle Social Media-Accounts oder Feedback-AppsFootnote 50 ein entsprechendes Potenzial. Aus Kundensicht können solche Instrumente neben der Reduktion des zeitlichen und finanziellen Aufwands genauso auch den Abbau psychischer Hemmnisse – die in der persönlichen Interaktion mit einem direkten Ansprechpartner begründet sein könnenFootnote 51 – mit sich bringen. Aus Anbietersicht bietet die Digitalisierung der Beschwerdestimulierung nicht nur den Vorteil eines geringeren Personaleinsatzes und einer schnelleren Beschwerdeannahme, sondern auch einen systematischen Wissensaufbau durch eine automatische Strukturierung und Auswertung der Beschwerde. Insgesamt lebt eine erfolgreiche Beschwerdestimulierung von einem proaktiven Zugehen des Anbieters auf den Kunden, um ihn auf diese Weise zur Artikulation seiner Unzufriedenheit ermutigen zu können.Footnote 52 Nachdem ein Kunde seine Beschwerde an das Unternehmen adressiert hat, ist die Annahme dieser Beschwerde erforderlich. Die Beschwerdeannahme beschreibt demzufolge die systematische, organisationale Erfassung der geäußerten Kundeninformationen sowie im Falle einer mündlichen Beschwerde das korrespondierende Verhalten des Mitarbeiters.Footnote 53 An dieser Stelle spielen insb. die Freundlichkeit, das Einfühlungsvermögen sowie die entgegengebrachte Hilfsbereitschaft eine wesentliche Rolle,Footnote 54 während bspw. auf Schuldzuweisungen an den Kunden verzichtet werden sollte. Im Anschluss hieran erfolgt die Beschwerdebearbeitung. Diese beinhaltet sämtliche Aktivitäten eines Anbieters, die der sachgerechten bzw. zeitlichen und qualitativen Bearbeitung der Beschwerde dienen.Footnote 55 Im Zuge dieser wird die Beschwerdeursache analysiert sowie die relevanten Informationen an die jeweilige betroffene Abteilung innerhalb des Unternehmens weitergeleitet.Footnote 56 In diesem Schritt sollte dem Anbieter auch die Bedeutung einer schnellen ReaktionFootnote 57 sowie kundenspezifischer Faktoren, wie z. B. der Grad der UnzufriedenheitFootnote 58, bewusst sein. Abschließend erfolgt die Beschwerdereaktion, die sich der eigentlichen Problemlösung und Wiedergutmachung widmet. Hierbei steht in erster Linie eine aus Kundensicht faire Reaktion im Fokus, um so die Beziehungsgefährdung in möglichst hohem Ausmaß abschwächen zu können. Prinzipiell stehen finanzielle (z. B. Rückzahlung des Kaufpreises), materielle (z. B. Lieferung eines Ersatzproduktes) oder immaterielle Kompensationsmöglichkeiten (z. B. Entschuldigung) zur Verfügung.

In Anbetracht der oben dargestellten Ziele und Aufgaben wird die enorme Bedeutung des Beschwerdemanagements für eine ausgeprägte Kundenorientierung eines Unternehmens deutlich.Footnote 59 Gleichwohl zeigt sich in der Unternehmenspraxis, dass diese Potenziale vielfach nicht ausgeschöpft werden. Stattdessen wird versucht, sich vor Beschwerden abzuschirmen und das Beschwerdemanagement als Kostenfaktor angesehen, sodass es oftmals an unternehmenskulturellen Voraussetzungen für ein erfolgreiches Beschwerdemanagement und damit auch für den Umgang mit Noncomplainern mangelt.Footnote 60

3.2 Noncomplaining: Ein unterschätztes Phänomen?

Sowohl die Marketingforschung als auch das -management in der Unternehmenspraxis adressieren schon seit einigen Jahrzehnten das Phänomen des Beschwerdeverhaltens.Footnote 61 Dabei liegt der Fokus der meisten Forschungsarbeiten und auch Praxismaßnahmen auf dem Verhalten derjenigen Kunden, die sich aufgrund einer Leistungsverschlechterung oder eines sonstigen anbieterseitigen Fehlverhaltens gegenüber dem Unternehmen beschweren. Die zentrale Fragestellung widmet sich hierbei insb. dem angemessenen Umgang seitens des Anbieters mit diesen Beschwerdeführern. Diese Fokussierung wird in vielen Fällen damit begründet, dass Unternehmen sich genau dann Beschwerden zuwenden wollen, wenn noch ausreichend Zeit für den erfolgreichen Einsatz von Kundenbindungs- bzw. Rückgewinnungsmaßnahmen besteht.Footnote 62

Werden allerdings die Beschwerdequoten konkret in den Blick genommen, so sticht in einem Gros der Branchen hervor, dass die oben beschriebene Kundengruppe der Complainer die Minderheit darstellt. Die häufigste Reaktion unzufriedener Kunden auf einen kritischen Vorfall ist nämlich die Inaktivität und damit das Noncomplaining.Footnote 63 Je nach Branche können sogar Noncomplainer-Raten von über 90 % identifiziert werden.Footnote 64 Dabei lässt sich die Bedeutsamkeit von Noncomplainern nicht ausschließlich aus der schieren Anzahl ableiten, sondern mindestens genauso aus ihrer ökonomischen Relevanz. Neben dem potenziellen Verlust des Kunden und dem daraus resultierenden direkten Einkommensausfall bzw. des Customer Lifetime ValuesFootnote 65, können Noncomplainer auch weitere Kunden zu einem Anbieterwechsel anregen.Footnote 66 Umso verwunderlicher erscheint die Tatsache, dass die Gruppe der Noncomplainer in der Marketingforschung bisher im Vergleich zu den Complainern vernachlässigt wird.Footnote 67 Hinzu kommt, dass sich die bisherige Noncomplainer-ForschungFootnote 68 nahezu ausschließlich auf den BtC-Bereich fokussiert und den BtB-Kontext außer Acht lässt.Footnote 69 Dies wirkt mit Blick auf die in Abschnitt 2.2 vorgestellten Besonderheiten umso erstaunlicher, da vor allem in diesem Bereich ein kritischer Vorfall einen ungleich schwerwiegenderen Einfluss auf das ökonomische Ergebnis des Unternehmens haben kann.Footnote 70

Von besonderem Interesse sind u. a. die Motive eines Noncomplainers, die ihn zu einem Verzicht auf die Unzufriedenheitsartikulation bewegen. Diese können jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Manche Kunden beschweren sich bspw. nicht, da sie dem Anbieter noch eine weitere Chance geben wollenFootnote 71, während andere eine Beschwerde aufgrund für sie mangelnder Wichtigkeit des Anbieters schlichtweg als nicht lohnenswert beurteilen.Footnote 72 Im Folgenden sind beispielhafte Begründungen von befragten Noncomplainern für ihr Verhalten aufgelistet, die aus qualitativen BtC-Studien stammen:

  • „Es ändert sich zukünftig doch sowieso nichts!“

  • „Es hätte mir ohnehin niemand zugehört!“

  • „Ich wusste nicht, an wen ich mich hätte wenden sollen!“

  • „Ich war teilweise selbst schuld!“

  • „Ich wusste nicht, was ich in dieser Situation hätte sagen sollen. Es war zu persönlich!“

  • „Als ich mich das letzte Mal beschwerte, geschah überhaupt nichts!“

  • „Die Person, über die ich mich beschweren wollte, hätte ihren Job verloren!“

  • „Ich hatte letzte Woche ein Problem. Sie würden mich für heikel oder nörglerisch halten!“Footnote 73

An diesen Aussagen wird bereits ersichtlich, dass sehr unterschiedliche Faktoren Einfluss darauf nehmen können, ob sich ein Kunde trotz Unzufriedenheit nicht direkt beim Anbieter beschwert – bspw. eine niedrige erwartete Erfolgswahrscheinlichkeit, fehlende Offenheit des Anbieters für Kritik, fehlende Beschwerdekanäle, eine Selbstattribution von Schuld, ein unangenehmes Gefühl, Empathie für den Beschwerdeadressaten oder soziale Risiken.

Formal können die Antezedenzien für das Noncomplaining in folgender Gleichung ausgedrückt werden:

  • Noncomplaining = f (Kosten der Beschwerde, erwarteter Nutzen der Beschwerde)

Dabei gilt:

  • Kosten = f (Person, Umwelt)

  • Erwarteter Nutzen = f (Person, Wert)

  • Wenn Kosten > erwarteter Nutzen, dann Noncomplaining

Ein unzufriedener Kunde entscheidet sich demzufolge genau dann für das Noncomplaining, wenn die Residualgröße aus den Kosten und dem erwarteten Nutzen einer Beschwerde – der sog. Nettonutzen – negativ ist, d. h. die Kosten den Nutzen übersteigen.Footnote 74 Der erwartete Nutzen einer Beschwerde wird dabei bestimmt durch persönliche Faktoren und dem Wert der zu erwartenden Kompensationsleistung oder weiterer Nutzenvorteile (z. B. aus einer künftigen Produktverbesserung). Die Bestimmungsfaktoren der Kosten liegen in erster Linie ebenfalls in personenbezogenen Faktoren sowie der Umwelt. Letztere umfasst vor allem den Anbieter und damit einhergehend die Beziehung sowie problem-, markt-, situations- und gesellschaftsbezogene Determinanten.Footnote 75

Aufbauend auf diesen Überlegungen bemühen sich die bisherigen Noncomplainer-StudienFootnote 76 vor allem darum, ein Profil eines typischen Noncomplainers zu konstruieren – mit dem Ziel einer leichteren Identifikation.Footnote 77 Betrachtet werden hierzu u. a. DemografikaFootnote 78, PersönlichkeitsmerkmaleFootnote 79, die BeschwerdeeinstellungFootnote 80, genauso aber auch leistungsbezogene Aspekte, wie der Wert und die Relevanz des BeschwerdeobjektsFootnote 81. In der aktuelleren Noncomplainer-Forschung werden allerdings auch vereinzelt soziale und gesellschaftliche Einflussfaktoren berücksichtigt, wie z. B. der soziale Druck und damit einhergehende Risiken oder kulturelle Aspekte.Footnote 82 Neben derartigen gesellschaftsbezogenen Determinanten und dem Bedarf nach der Berücksichtigung von BtB-Spezifika bietet ebenfalls die noch ausstehende Untersuchung von Gruppen-Noncomplainer-Verhalten (z. B. in Buying Center-Strukturen) ein Forschungspotenzial.Footnote 83

Um allerdings ein tiefgründiges Verständnis des Noncomplainings und der bisherigen Forschungserkenntnisse gewährleisten zu können, bietet es sich an, sich zunächst ausgewählten theoretischen Grundlagen des (Nicht-)Beschwerdeverhaltens zu widmen und diese auf den vorliegenden Noncomplainer-Fokus zu spezifizieren.

3.3 Ausgewählte theoretische Grundlagen des Noncomplainings

3.3.1 Exit-Voice-Theorie in Anbetracht des Noncomplainings

3.3.1.1 Exit-Voice-Theorie

Grundsätzlich existiert in der bisherigen Forschung keine alleinstehende, alles erklärende Theorie zur Fundierung der einzelnen Facetten des Beschwerdeverhaltens. Vielmehr basiert sie auf einer Vielzahl von Erklärungsansätzen, die aus unterschiedlichen Forschungsfeldern stammen und zum Ziele der Varianzaufklärung des Beschwerdeverhaltens miteinander kombiniert werden.Footnote 84 Hierbei wird in erster Linie auf verhaltenswissenschaftliche und mikroökonomische Ansätze zurückgegriffen.Footnote 85 Damit verfolgt die Beschwerdeverhaltensforschung den Ansatz des komplementären theoretischen Pluralismus. Demnach finden die Erklärungsansätze verschiedener theoretischer Fundamente ihre Berücksichtigung, sofern ausgeschlossen werden kann, dass diese in Konkurrenz zueinanderstehen.Footnote 86 Der Erklärungsbeitrag beruht dem Theorienpluralismus zufolge somit nicht auf einer einzelnen Theorie, sondern auf der Kombination mehrerer theoretischer Gebilde. Eine Herausforderung im Rahmen des theoretischen Pluralismus liegt u. a. darin, dass aus wissenschaftstheoretischer Perspektive der Vermeidung von InkommensurabilitätFootnote 87 Rechnung getragen werden sollte.Footnote 88 Mit Blick auf den Mangel an einer alleinstehenden Beschwerdeverhaltens- bzw. Noncomplaining-Theorie werden jedoch auch in der vorliegenden Arbeit mehrere theoretische Konzepte – aus der Mikroökonomie und Verhaltenswissenschaft – zugrunde gelegt. Dies kann wiederum zu einer Gefährdung der Kommensurabilität führen. Dieser Bedrohung kann das Argument entgegengestellt werden, dass die nachfolgend im Detail beschriebene Exit-Voice-Theorie sowie die entwickelte, auf Noncomplainer fokussierte Erweiterung neben mikroökonomischen Elementen auch verhaltenswissenschaftliche Aspekte beinhaltet, die in Kombination mit den ergänzend verwendeten Theorien und KonzeptenFootnote 89 nicht in einem konkurrierenden bzw. substitutiven, sondern vielmehr in einem komplementären Zusammenhang stehen. Vor diesem Hintergrund kann das Vorgehen im Sinne des komplementären Theorienpluralismus einen Nutzenzuwachs mit sich bringen, auf dem das theoretische Fundament der vorliegenden Forschungsarbeit auf einer Kombination verschiedener theoretischer Erklärungsansätze basiert.Footnote 90

In Anbetracht der gesonderten Berücksichtigung der Noncomplainer-Problematik bildet die Exit-Voice-Theorie nach Hirschman (1970) eine geeignete theoretische Basis. Schon in ihrer Ursprungsversion wird hier eine erkennbare Differenzierung des Beschwerdeverhaltens in Complainer und Noncomplainer vorgenommen, sodass die Ausführungen dieser Theorie in dem vorliegenden Kontext besonders geeignet erscheinen. Im Kern klassifiziert Hirschman (1970) die Verhaltensreaktionen eines unzufriedenen Kunden im Falle einer Leistungsverschlechterung seitens des Anbieters in drei verschiedene Handlungsalternativen:

  • Exit (Wechsel des Anbieters),

  • Voice (Beschwerdeäußerung) und

  • Loyalty (Weiterführung der Geschäftsbeziehung).

Das Fundament der Theorie bildet die Veränderung der klassischen Preis-Absatz-Funktion. Diese wird durch die Absenkung der Leistungsqualität verursacht, während Preis und Kosten konstant bleiben.Footnote 91 Dieser Qualitätsverlust im Sinne einer Leistungsverschlechterung führt wiederum zur Unzufriedenheit des Kunden. Denn vor dem Hintergrund des C/D-ParadigmasFootnote 92 führt die Leistungsverschlechterung des Anbieters dazu, dass die Erwartungen des Kunden seine Erfahrungen übersteigen. Unzufriedenheit ist die Folge. Dabei gilt: Je höher die Erwartungen des Kunden waren, desto höher fällt wiederum die Unzufriedenheit aus.Footnote 93 Zur Klassifizierung der drei Reaktionsmöglichkeiten eines unzufriedenen Kunden auf diese Leistungsverschlechterung stellt Hirschman (1970) im Rahmen der Exit-Voice-Theorie ein dreistufiges Modell auf, welches in Abbildung 3.3 grafisch dargestellt ist.

Die erste Stufe bildet das Zentrum der Theorie, indem sie die drei Reaktionsmöglichkeiten des Kunden im Zuge seiner Unzufriedenheit berücksichtigt.Footnote 94 Als erste Handlungsalternative wird Exit angeführt. Diese bezeichnet die Beendigung der Geschäftsbeziehung auf freiwilliger Basis durch den Kunden selbst und zwar dadurch, dass er abwandert und den Anbieter wechselt. Da in der Exit-Voice-Theorie der Preis und die Kosten in der Preis-Absatz-Funktion konstant gehalten werden, resultiert dieser Anbieterwechsel unmittelbar in Einkommensverlusten und führt somit für das Unternehmen zu einem finanziellen Schaden.Footnote 95

Abbildung 3.3
figure 3

(Quelle: Singh 1990a, S. 2.)

Exit-Voice-Theorie nach Hirschman.

Trifft der Kunde die Entscheidung gegen eine Abwanderung – bspw. aufgrund hoher Wechselkosten –, steigt die Wahrscheinlichkeit für die zweite Reaktionsmöglichkeit: Voice.Footnote 96 Diese umfasst die Artikulation der Unzufriedenheit des Kunden, welche sowohl gegenüber dem Anbieter selbst als auch DrittenFootnote 97 erfolgen kann.Footnote 98 Der Kunde beschwert sich demzufolge. Fokales Ziel einer solchen Beschwerde ist es, das Leistungsergebnis oder das Verhalten des Anbieters in der Zukunft zum Positiven zu verändern. Konkret wird beabsichtigt bzw. der Versuch unternommen, Einfluss auf den Anbieter zu nehmen, indem u. a. Kompensationsleistungen, z. B. Gutschriften, eingefordert werden, aber gleichzeitig durch entsprechende Hinweise auf die Beschwerdeursache Potenziale zur Leistungsverbesserung aufgedeckt und damit dem Anbieter Möglichkeiten zur zukünftigen Fehlervermeidung eröffnet werden.Footnote 99 Neben der unmittelbaren Unzufriedenheitsäußerung gegenüber dem Anbieter inkludiert Voice gleichermaßen das negative WoM, welches insb. im digitalen Kontext und angesichts gesellschaftlicher Einflüsse zu erheblichen Image- und Reputationsschäden beim anbietenden Unternehmen führen kann.Footnote 100 Auf BtB-Märkten könnten diese Effekte insofern noch tiefgründiger wirken, als dass hier die Anzahl an Marktteilnehmern meist geringer ist und somit negative Auswirkungen ein ungleich stärkeres Gewicht haben können.

Die dritte Reaktionsmöglichkeit des Kunden wird als Loyalty bezeichnet.Footnote 101 Hierbei verhält sich der Kunde trotz seiner Unzufriedenheit passiv und wandert weder ab noch artikuliert er seine Unzufriedenheit.Footnote 102 Begründet wird dieses Verhalten mit der Erwartung des Kunden, dass die Leistungsverschlechterung seitens des Anbieters lediglich temporär ist und sich das Qualitätsniveau schon bald wieder auf dem gewünschten Level befinden wird.Footnote 103 Auch wenn die Exit-Voice-Theorie hier die Bezeichnung Noncomplaining bzw. Noncomplainer nicht explizit verwendet, ist die Handlungsalternative Loyalty aufgrund des Verzichts auf die Äußerung einer Beschwerde – sowohl direkt gegenüber dem Anbieter als auch Drittparteien – als Noncomplaining zu verstehen.Footnote 104

Neben diesen drei Reaktionsmöglichkeiten auf der ersten Modellstufe beinhaltet die zweite die Charakteristika und individuellen Einstellungen des Kunden, die ihren komplementären Teil zur Varianzaufklärung des Beschwerdeverhaltens beitragen sollen.Footnote 105 Hierunter werden besonders die Beschwerdeeinstellung, die mit dem Nutzen einer Beschwerde gleichgesetzte wahrgenommene Erfolgswahrscheinlichkeit und die Kosten einer Beschwerde verstanden.Footnote 106 Die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Beschwerde wird durch den Kunden auf Basis des vermuteten Einflusses auf das Anbieterverhalten evaluiert.Footnote 107 Demzufolge geht eine niedrige Erfolgswahrscheinlichkeit mit einer hohen Intention zum Noncomplaining einher. Die Kosten einer Beschwerde – insb. zeitliche und finanzielle – werden der Exit-Voice-Theorie zufolge als Opportunitätskosten im Vergleich zur Reaktion Exit verstanden.Footnote 108 Werden diese Kosten als hoch wahrgenommen, kann ebenfalls eine wachsende Intention zum Noncomplaining vermutet werden.

Auf der dritten Modellstufe werden letztlich die Marktstruktur und die damit verbundenen Branchencharakteristika berücksichtigt, indem die Frage beantwortet werden soll, inwiefern das Vorliegen eines Monopols, Oligopols oder Polypols das (Nicht-)Beschwerdeverhalten beeinflussen kann. Ist ein Markt durch umkämpfte Wettbewerbspositionen gekennzeichnet und bieten sich durch niedrige Wechselkosten neue Beschaffungsalternativen, so steigt die Wahrscheinlichkeit für die Auswahl von Exit im Vergleich zu Voice anFootnote 109 und damit im Umkehrschluss die Intention zum Noncomplaining. Zusätzlich sieht die Theorie zwischen Exit und Voice ein positives Verhältnis, sodass die Wahl für die Artikulation einer Beschwerde wahrscheinlicher wird, wenn der Anbieterwechsel durch eine Monopolisierung des Marktes nahezu ausgeschlossen ist.Footnote 110 Mit Blick auf die verschiedenen GeschäftstypenFootnote 111 auf BtB-Märkten und den damit verbundenen Abhängigkeiten bzw. Machtverhältnissen scheint dieser Aspekt durchaus für die vorliegende Arbeit von Relevanz zu sein.Footnote 112

3.3.1.2 Fokus Noncomplainer: Eine theoretische Weiterentwicklung der Exit-Voice-Theorie

Werden sich nun die Definitionen der drei Reaktionsmöglichkeiten kritisch vor Augen geführt, so erweist sich das Begriffsverständnis von Loyalty und damit einhergehend dasjenige des Noncomplainings für eine tiefergehende Noncomplainer-Analyse als zu undifferenziert. Denn hieraus ließe sich schlussfolgern, dass Noncomplainer sich zwar nicht direkt beim Anbieter beschweren, aber ihm dennoch auf jeden Fall treu bleiben, da sie lediglich von einer einmaligen Leistungsverschlechterung des Anbieters ausgehen. Dieser Argumentation von Hirschman (1970) folgen auch Day/Landon (1977) in ihren Ausführungen. Sie unterscheiden zwischen den Handlungsalternativen Public Action und Private Action. Erstere wird auch als Take Action bezeichnet und umfasst bspw. die Äußerung einer Beschwerde, das Einleiten juristischer Schritte gegen den Anbieter oder den Einbezug von Drittparteien. Private Action – kongruent Take No-Action – wird hingegen beschrieben als „forget about the incident and do nothing at all“.Footnote 113 Auch hier wird demzufolge angenommen, dass Noncomplainer loyal bleiben und den Anbieter nicht wechseln.Footnote 114 Die in der Praxis durchaus zu beobachtende Möglichkeit, dass ein Noncomplainer seine Unzufriedenheit nicht artikuliert und die Beziehung zum Anbieter leise auslaufen lässt, wird folglich nicht in Betracht gezogen. Vor diesem Hintergrund wird die Argumentation der Exit-Voice-Theorie im Rahmen der Noncomplainer-Forschung zunehmend kritisch hinterfragtFootnote 115, sodass diese Theorie mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit einer Weiterentwicklung bedarf.

Im Zuge der wachsenden Kritik an diesem undifferenzierten Loyalty- bzw. Noncomplaining-Verständnis entwickelten Rusbult et al. (1982) das sog. EVLN-Modell. Hierbei wurden die drei bisherigen Reaktionsmöglichkeiten eines unzufriedenen Kunden um eine vierte ergänzt: Neglect.Footnote 116 Grundsätzlich wird in dieser erweiterten Exit-Voice-Theorie zwischen Aktivität – Exit und Voice – sowie Passivität – Loyalty und Neglect – differenziert. Die Unterscheidung der Passivität in zwei Reaktionsmöglichkeiten lässt ein tiefergehendes Noncomplaining-Verständnis erkennen, indem Neglect das kommentarlose Auslaufen der Geschäftsbeziehung umfasst. Diese spezifischere Ausdifferenzierung des passiven Verhaltens führt letztlich dazu, dass das EVLN-Modell eine klarere Definition der verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten eines Noncomplainers aufweist und sein Verhalten nicht nur auf das stille Treueverhalten beschränkt.Footnote 117

Einen Schritt weiter gehen diesbezüglich Ro/Mattila (2015). Sie setzen den Fokus ganz explizit auf die zwei Reaktionsmöglichkeiten eines Noncomplainers und übernehmen die Ausführungen von Rusbult et al. (1982) dahingehend, dass sich grundsätzlich entweder für Neglect oder für Loyalty entschieden werden kann.Footnote 118 Dabei beinhaltet Loyalty im Kern zwei Aspekte: das Schweigen des unzufriedenen Kunden im Sinne eines Verzichts auf eine unmittelbare Beschwerdeäußerung sowie das geduldige Abwarten auf Besserung der Situation.Footnote 119 Diese Reaktion entspricht somit dem Noncomplainer-Verständnis der ursprünglichen Exit-Voice-Theorie nach Hirschman (1970). In erster Linie bleiben insb. solche Noncomplainer dem Anbieter treu, die sich stark an ihn gebunden fühlen und die bisher gute Beziehung nicht gefährden wollen.Footnote 120 In Abgrenzung zum EVLN-Modell fassen Ro/Mattila (2015) die Handlungsalternative Neglect jedoch noch enger. Ihrem Begriffsverständnis folgend beschreibt Neglect nicht nur den klassischen Anbieterwechsel ohne Unzufriedenheitsartikulation, sondern sie definieren dieses Verhalten als noch tiefgründiger.Footnote 121 Neglect wird demzufolge als psychologischer und emotionaler Rückzug verstanden, welcher von gegenüber der Beziehung leidenschaftslosem und nahezu apathischem Verhalten flankiert wird. Der Kunde hat nicht die Erwartung, dass sich diese Situation in Zukunft verbessern wird und akzeptiert diese Tatsache wehrlos.Footnote 122 Insofern erweitern Ro/Mattila (2015) das Verständnis des Exit-Konstrukts von Hirschman (1970) mit Blick auf Noncomplainer dahingehend, dass nicht nur von einem Anbieterwechsel, sondern von einem emotionalen Rückzug vom Anbieter gesprochen werden kann. Dieser mündet schließlich in Gleichgültigkeit und bewusstem Desinteresse.Footnote 123

Wird die chronologische Abfolge der einzelnen Schritte in Betracht genommen, gilt es zudem die zeitliche Parallelität der drei Alternativen Exit, Voice und Loyalty nach Hirschman (1970) kritisch zu hinterfragen. Wie bereits von Rusbult et al. (1982) und Ro/Mattila (2015) aufgegriffen, können sowohl Complainer als auch Noncomplainer den Anbieter verlassen oder aber loyal bleiben. Diese beiden Reaktionen stehen somit nicht in Konkurrenz zur Beschwerdeäußerung, sondern sind dieser vielmehr zeitlich nachgelagert. Es findet somit eine Kombination der Handlungsalternativen statt und nicht eine Entscheidung für eine isolierte Reaktion. Demzufolge trifft der Kunde zunächst die Entscheidung, ob er eine Beschwerde artikuliert oder nicht, und in einem zweiten Schritt, ob er den Anbieter verlässt oder ihm gegenüber treu bleibt.

Werden die skizzierten, bisherigen Erweiterungsansätze einer kritischen Reflexion unterzogen, so sticht heraus, dass die Ausführungen hinsichtlich der Noncomplainer-Loyalität wenig differenziert ausgestaltet wurden.Footnote 124 Eine Unterscheidung der Loyalität nach verschiedenen Intensitätsstufen und Motiven ist ausgeschlossen. Dabei erweist sich bereits aus sachlogischen und praktischen Gedankengängen als annehmbar, dass sich bspw. ein Kunde aus dem Grund einer erstmaligen Leistungsverschlechterung nicht bei seinem Anbieter beschwert und ihm gegenüber loyal bleibt. Ferner könnte die Loyalität aber nicht nur das Ergebnis solcher eher rationalen Überlegungen sein. Stattdessen könnte die Noncomplainer-Loyalität genauso auch in einer guten Beziehungsqualität oder emotionalen BindungFootnote 125 zum Anbieter begründet sein. Um solche differenzierten Aussagen treffen zu können, bedarf es allerdings eines nach Intensität bzw. Tiefe abgestuften Loyalitätsverständnisses. Ein solches wurde bereits vor einiger Zeit von Oliver (1997) eingeführt.Footnote 126 Dieses Stufenmodell – die sog. Four Stages of Loyalty – unterscheidet zwischen vier kausal aufeinander folgenden Loyalitätsstufen.Footnote 127 Im Kern besagt das Modell, dass ein Kunde je nach Anknüpfungspunkt auf unterschiedliche Weise und Intensität loyal sein kann.Footnote 128 Nach zunehmender Tiefe differenziert Oliver (1997) explizit zwischen kognitiver, affektiver, konativer und aktionaler Loyalität.

Den Ausgangspunkt des Modells und damit die erste Stufe umfasst die kognitive Loyalität. Diese setzt an erfahrungsbasierten Informationen, wie z. B. dem Preis, technischen Eigenschaften oder der Qualität, an und ist Ergebnis darauf basierender kognitiver Vergleichsprozesse.Footnote 129 Dementsprechend kann diese Intensitätsstufe der Loyalität auch als „rationales Gefühl der Vorziehenswürdigkeit“Footnote 130 beschrieben werden – und damit auch als informationsorientierte Loyalität.Footnote 131 Da die kognitive Loyalität jedoch ausschließlich an den Nutzenvorteilen sowie Kosten eines Angebots und nicht an dem Unternehmen selbst ansetzt, entspricht sie der schwächsten der vier Stufen.Footnote 132 Obgleich des Vorliegens von kognitiver Loyalität wird demnach ein Anbieterwechsel immer noch in Betracht gezogen, sofern ein zweites Angebot mit einem höheren wahrgenommenen Nettonutzen in Erscheinung tritt.Footnote 133

Gemäß dem Loyalitätsmodell von Oliver folgt auf die kognitive die affektive Loyalität.Footnote 134 Diese fußt auf wiederkehrenden positiven Erfahrungen mit einem Anbieter, im Rahmen derer die Kundenerwartungen (über-)erfüllt wurden und demnach Kundenzufriedenheit eingetreten ist.Footnote 135 Demzufolge liegt die größte Gefahr für den Fortbestand einer Geschäftsbeziehung in der Entstehung von Unzufriedenheit.Footnote 136 Neben der Kundenzufriedenheit basiert die affektive Loyalität auf der Einstellung des Kunden vor dem Kauf.Footnote 137 Indem die affektive Loyalität nicht nur auf Kognitionen, sondern auf der Gesamtzufriedenheit mit dem Anbieter beruht, geht sie damit über die kognitive Loyalität hinaus.Footnote 138 Gleichwohl ist anzumerken, dass auch auf dieser Stufe kritische Vorfälle und der Umgang damit zu einer Beendigung der Geschäftsbeziehung führen können.

Die dritte Stufe des Modells bezeichnet Oliver (1997) als konative Loyalität. Hier liegen bereits konkrete Verhaltensabsichten des Kunden vor, die eine große Verbundenheit des Kunden offenbaren, wobei die Realisation dieser in Form von Verhalten noch aussteht.Footnote 139 Zu diesem Zeitpunkt ist somit noch unklar, ob ein Wiederkauf zustande kommt oder nicht. Bezugsobjekte dieser Verbundenheit können neben dem Anbieter selbst auch Marken sein.Footnote 140 Auf dieser Loyalitätsstufe kann davon ausgegangen werden, dass kritische Vorfälle geduldet werden, sofern diese einmalig auftreten und damit lediglich kurzfristige Abweichungen des zufrieden stellenden Status Quo darstellen.Footnote 141

Die finale Stufe des Modells – die aktionale Loyalität – beschreibt letztlich die Transformation der Absicht in tatsächliches Verhalten. Damit wird der Kauf real getätigt. Faktisch ist zu diesem Zeitpunkt eine Abwanderung des Kunden nicht mehr möglich, sodass die Realisierung des kundenseitigen Treueverhaltens unweigerlich stattgefunden hat.Footnote 142

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und mit einem besonderen Augenmerk auf die Noncomplainer-Herausforderung erscheint diese Erweiterung der ursprünglichen Exit-Voice-Theorie durch die Aufhebung der zeitlichen Parallelität der Reaktionsmöglichkeiten sowie die Ausdifferenzierung der Loyalität eines Noncomplainers mithilfe des Vier-Stufenmodells nach Oliver (1997) aus theoretischer und praktisch-normativer Perspektive sinnvoll.Footnote 143 Dieser Erweiterungsansatz wird in Abbildung 3.4 grafisch dargestellt.

Abbildung 3.4
figure 4

(Quelle: Eigene Darstellung.)

Erweiterung der Exit-Voice-Theorie.

3.3.2 Weitere theoretische Grundlagen des Noncomplainings

3.3.2.1 Equity-Theorie

Im Sinne des komplementären Theorienpluralismus werden im Folgenden nun drei verhaltenswissenschaftliche Ansätze vorgestellt: die Equity-, Attributions- und die Impression Management-Theorie. Da die beiden erstgenannten Theorien in einer Vielzahl an Arbeiten der Beschwerdeforschung zugrunde gelegt und in diesen detailliert dargestellt werdenFootnote 144, wird in dieser Arbeit lediglich in Kürze auf den jeweiligen Kern der Argumentationen eingegangen.

Die Equity-Theorie widmet sich im Wesentlichen der Allokation von Fairness in sozialen Interaktionen und ist dementsprechend den Fairness-Theorien zuzuordnen.Footnote 145 Die zentrale Annahme der Theorie lautet, dass Verhaltensabsichten aus einer individuell wahrgenommenen Ungleichheit von interpersonellen Austauschbeziehungen resultieren.Footnote 146 Die Basis hierfür bilden kognitive Vergleichsprozesse des erhaltenen Ertrags (Outcome) mit den erbrachten Leistungen (Input), nach deren Evaluation eine Austauschbeziehung je nach Input-Outcome-Relation als fair oder unfair bewertet wird.Footnote 147 Stimmt der erhaltene Outcome mit dem geleisteten Input überein, so wird die Beziehung durch den Kunden als fair beurteilt. Wenn der Kunde jedoch Abweichungen von einem ausgewogenen Verhältnis wahrnimmt, so empfindet er die Austauschbeziehung als ungerecht. Diese Beurteilung wird auch dann vorgenommen, wenn die Empfindung herrscht, dass die andere Interaktionsseite überproportional von der Beziehung profitiert.Footnote 148 Mit Blick auf BtB-Märkte sind hier insb. Beziehungen und Geschäftstypen anzuführen, die durch entsprechende Abhängigkeiten bzw. ungleiche Machtverhältnisse gekennzeichnet sind.Footnote 149

Für die (Nicht-)Beschwerdeforschung sind die Erkenntnisse der Equity-Theorie insofern von Relevanz, dass eine Leistungsverschlechterung, die mit einer Kundenunzufriedenheit einhergeht, ein unausgewogenes Input-Outcome-Verhältnis auslöst bzw. das Gleichgewicht gefährdet. Folglich empfindet der Kunde die Austauschbeziehung als unfair. Dem unzufriedenen Kunden stehen nun drei Handlungsalternativen zur Verfügung bzw. in Aussicht:

  • Reduktion des Inputs,

  • Steigerung des Outcomes und

  • Beendigung der Beziehung.Footnote 150

Die ersten beiden Optionen können neben faktischen Verhaltens- ebenfalls durch Einstellungsänderungen erzielt werden.Footnote 151 Die Reduktion des Inputs kann bspw. einerseits die faktische Einbehaltung oder Rückforderung des Kaufpreises oder andererseits die Minderung des Commitments gegenüber der Beziehung umfassen. Dahingegen setzt die Steigerung des Outcomes voraus, dass sich der unzufriedene Kunde bei dem Anbieter über den negativen Vorfall beschwert. Im Zuge seiner Beschwerdeartikulation drückt der Kunde die Erwartung aus, dass der Anbieter durch eine entsprechende Beschwerdebehandlung Kompensations- und Wiedergutmachungsleistungen bereitstellt.Footnote 152 Hierbei muss wiederum die Outcome-Komponente der Beschwerdebearbeitung aus Kundensicht den Input – u. a. der mit der Beschwerde verbundene Aufwand – ausgleichen, damit eine ausgewogene Relation vorliegt.

Mit Blick auf die Noncomplainer-Fokussierung der vorliegenden Arbeit steht insb. die letzte Handlungsoption im Vordergrund: die Beendigung der Geschäftsbeziehung. Gemäß der Equity-Theorie lässt der Kunde die Geschäftsbeziehung genau dann auslaufen, sobald er nicht mehr den Eindruck hat, die Ausgewogenheit des Input-Outcome-Verhältnisses wiederherstellen zu können.Footnote 153 Die Beendigung der Beziehung durch den Kunden kann hierbei von negativem WoM flankiert werden, wodurch der Kunde seiner empfundenen Ungerechtigkeit Ausdruck verleihen kann. Somit stellt sich die Frage, inwiefern der Outcome den Input unabhängig von der eigentlichen Leistung derart übertreffen kann, dass ein Noncomplainer trotz einer Minderung des Outcomes loyal bleibt – bspw. durch eine hohe Beziehungsqualität.Footnote 154

Insgesamt zeigen die Ausführungen, dass die Equity-Theorie zwar einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung potenzieller Kundenreaktionen auf eine entstandene Unzufriedenheit liefern kann, aber insb. mit Blick auf das Noncomplaining im BtB-Kontext und die Berücksichtigung gesellschaftlicher Einflüsse, die über die bilaterale Austauschbeziehung zwischen Anbieter und Nachfrager hinausgehen, weitere theoretische Ansätze hinzugezogen werden sollten.

3.3.2.2 Attributionstheorie

Die Ursprünge der Attributionstheorie lassen sich in der Psychologie-Forschung entdecken, in deren Rahmen Bemühungen angestellt wurden, um dem Eintreten bestimmter Verhaltensweisen oder Ereignisse die jeweiligen Ursachen zuweisen zu können.Footnote 155 Konkret werden Kausal-attributionen fokussiert, die in leistungsmotiviertem Verhalten und hieraus resultierenden verhaltenswirksamen Konsequenzen enden.Footnote 156 Folglich können unterschiedlich wahrgenommene Antezedenzien bzw. Ursachen zu verschieden motivierten Handlungsweisen führen. Zudem treffen die Anhänger der Attributionstheorie die Grundannahme, dass die Ursachenattribution einerseits zur Erklärung, aber andererseits auch zur Prognose von Verhaltensweisen vorgenommen wird.Footnote 157 Im Mittelpunkt der Attributionstheorie stehen in erster Linie Ereignisse, die einen negativen Outcome zur Folge haben.Footnote 158 Denn insb. in kritischen Situationen wird die Frage nach möglichen Ursachen gestellt, um potenzielle Fehlerquellen zukünftig vermeiden zu können. Hieraus lässt sich auch die Relevanz der Attributionstheorie für das (Nicht-)Beschwerdeverhalten ableiten. Erste Studien untersuchten unter Anwendung der Attributionstheorie, inwiefern die Zuweisung der Fehlerursache einen Einfluss auf das Beschwerdeverhalten unzufriedener Kunden haben kann.Footnote 159

Im Rahmen der Attributionstheorie kann grundsätzlich zwischen folgenden Dimensionen kausaler Attributionen unterschieden werden:

Die Lokation beschreibt grundsätzlich die Wahrnehmung eines Kunden darüber, wo die Verantwortlichkeit für einen kritischen Vorfall liegt. Sofern die Ursache vornehmlich dem Verantwortungsbereich des Anbieters zuzuordnen ist, wird von einer sog. externen Lokation gesprochen. Kann die Fehlerquelle jedoch zu erheblichen Anteilen dem Kunden selbst zugeschrieben werden, liegt eine sog. interne Lokation vor. Je nach Art der Lokation ist ein unterschiedliches Beschwerdeverhalten zu erwarten. Kunden, die den Fehler eindeutig dem Anbieter zuschreiben können, sehen eine Beschwerdeartikulation gegenüber dem Anbieter gerechtfertigter an als jene, die sich selber eine Teilschuld eingestehen und schlussfolgernd zum Noncomplaining tendieren.Footnote 161 Zudem liegen bereits Hinweise vor, dass die interne Lokation einen positiven Einfluss auf die Loyalität des (Nicht-)Beschwerdeführers aufweist.Footnote 162 Mit Blick auf die Charakteristika von BtB-Märkten können sich jedoch Herausforderungen ergeben, die eine eindeutige Lokation der Fehlerursache erschweren und so möglicherweise das Beschwerdeverhalten beeinflussen können. So ließe sich vermuten, dass bspw. die Mehrstufigkeit der Märkte es dem Endkunden erschwert, den Fehler zweifelsfrei einer der vorgelagerten Wertschöpfungsstufen zuzuschreiben. Demnach könnte somit die vertikale Distanz des Kunden zur Fehlerquelle und der dadurch erschwerte Zugang zum Verursacher dazu führen, dass sich ein unzufriedener Kunde eher nicht beschwert.Footnote 163 Die eindeutige Lokation könnte ebenfalls z. B. durch die Existenz von Anbietergemeinschaften und der Tatsache, ob die Fehlerquelle im Machtbereich des direkten persönlichen Ansprechpartners liegt, beeinträchtigt werden.

Die Stabilität bezieht sich auf die Wahrnehmung eines Kunden, ob das negative Ereignis von dauerhafter oder temporärer Natur sein wird.Footnote 164 Sofern der Kunde vermutet, dass die Leistungsverschlechterung einmalig und damit vielmehr zufällig aufgetreten ist, ist eine zurückhaltendere Reaktion zu erwarten. In diesem Fall wird der Kunde möglicherweise erst abwarten, ob sich der Fehler wiederholt und gibt dem Anbieter eine zweite Chance.Footnote 165

Die Kontrollierbarkeit umfasst die Möglichkeit des Anbieters, Einfluss auf die Fehlerquelle nehmen zu können oder nicht.Footnote 166 Aus Kundensicht kann demzufolge die Wahrnehmung, ob der Anbieter die Ursache grundsätzlich und zukünftig verhindern kann, ausschlaggebend für seine Verhaltensreaktion sein.Footnote 167

Abschließend kann zusammengefasst werden, dass die Attribution der Ursache der Leistungsverschlechterung aus theoretischer Sicht einen Einfluss auf das Noncomplaining ausüben kann. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass der BtB-Kontext der vorliegenden Arbeit die Zuschreibung der Fehlerquelle – insb. die Lokation – durchaus mit Herausforderungen konfrontieren könnte.

3.3.2.3 Impression Management-Theorie

Wie bereits im Zuge der Betrachtung des organisationalen Beschaffungsverhaltens – insb. in den Abschnitt 2.4.2 (Buying Center) und 2.4.3 (Totalmodelle) – ersichtlich wurde, unterliegen sowohl die Verhaltensweisen von Individuen als auch von Organisationen Umwelteinflüssen, wie z. B. gesellschaftlichen Aspekten. Allgemein kann die Annahme getroffen werden, dass Personen(-gruppen) sich im Rahmen von aktiven Handlungen interaktiv mir ihrer Umwelt auseinandersetzen. Es erfolgt demzufolge nicht nur eine passive Reaktion auf interne und externe Reize, sondern eine bewusste und gezielte Einflussnahme der Umwelt und sozialen Umgebung. Ziel ist es dabei, den Eindruck der eigenen Verhaltensweisen auf diese Umwelt zu kontrollieren und in Anbetracht der Reaktionen anzupassen und zu steuern.Footnote 168 Derartige soziale Interaktionen umfassen somit genauso die Erwartungen der interagierenden Umwelt an den Handelnden selber.Footnote 169 Konkret zieht dies nach sich, dass Individuen oder organisationale Gruppen vor der Ausführung einer Handlung versuchen, potenzielle Reaktionen der sozialen Umwelt zu antizipieren. In Anbetracht der Wahrnehmung der Erwünschtheit dieses Verhaltens zeigen, assimilieren oder unterlassen sie das eigene Verhalten. Als wesentliche Reaktion des sozialen Umfelds wird hierbei der gewonnene Eindruck der Interaktionspartner gesehen.Footnote 170 Vor diesem Hintergrund ließe sich bspw. die Frage formulieren, inwiefern die Bereitschaft zur Artikulation von Beschwerden durch gesellschaftliche Entwicklungen – z. B. die gesellschaftliche Kritikakzeptanz – beeinflusst werden kann, sofern Beschwerdeführer negative Reaktionen des sozialen Umfelds befürchten müssten.Footnote 171 So zeigen erste Ansätze, dass unzufriedene Kunden zu einem Verzicht von Beschwerdeäußerungen tendieren, sobald sie sich sozialen Risiken ausgesetzt fühlen.Footnote 172

Ein theoretischer Ansatz, welcher im Rahmen der vorliegenden Arbeit zur Beantwortung derartiger Fragestellungen zugrunde gelegt werden soll, ist die sog. Impression Management-Theorie. Die grundlegenden Wurzeln dieser Theorie befinden sich in erster Linie in Arbeiten der (Sozial-)Psychologie.Footnote 173 Im Kern besagt die Theorie, dass Individuen oder Organisationen versuchen, den Eindruck, den sie auf ihre soziale Umwelt ausüben, zu steuern und zu kontrollieren. Demzufolge wird das eigene Verhalten dahingehend verwendet, anderen Personen einen bestimmten Eindruck zu vermitteln bzw. sich in einer erwünschten Weise zu präsentieren.Footnote 174 Dabei fußt die Theorie auf der Annahme, dass Individuen und Organisationen bemüht sind, in einem gesellschaftlich positiven Licht zu stehen.Footnote 175 Aus diesem Grund passen sie ihr Verhalten bewusst an, um ein positives Image in der sozialen Umwelt projizieren zu können – in der Erwartung, dass dieses in nutzenstiftenden sozialen Interaktionen resultiert.Footnote 176 Auf diese Weise sollen somit gewünschte Outcomes erzielt und unerwünschte vermieden werden. Zusätzlich hilft ein effektives Impression Management dabei, in sozialen Interaktionen negative Gefühle, wie z. B. Scham oder Peinlichkeit, zu vermeiden.Footnote 177 Hierbei ist es möglich, dass sich Individuen im Rahmen des Wunsches nach sozialer Anerkennung für den ersten Moment schlechter stellen, in der Hoffnung auf Vorteile in der Zukunft.Footnote 178 Konkret könnte dies für die Noncomplainer-Thematik bedeuten, dass ein unzufriedener Kunde sich durch den Verzicht auf eine Beschwerde zunächst ungünstiger stellt – er gibt u. a. eine potenzielle Kompensationsleistung auf –, aber so dem Bild einer beschwerdekritischen Gesellschaft entsprechen würde und keine sozialen Risiken befürchten müsste.

Im Rahmen des Impression Managements können Organisationen drei verschiedene Eindrücke hinterlassen: Sympathie, Autorität und Attraktivität.Footnote 179 Diese drei Dimensionen bestimmen u. a. die Einstellung des sozialen Umfelds gegenüber der Organisation. Sympathie beschreibt ein emotionales Bewertungsmuster und schürt den inneren Antrieb zur Annäherung. Ausgedrückt werden kann Sympathie bspw. durch ein Lob.Footnote 180 Demzufolge könnte eine Beschwerde möglicherweise zu einem unsympathischen Eindruck führen. Attraktivität geht ähnlich wie die Sympathie aus der Übereinstimmung von Werten, Einstellungen und Idealen hervor und ist weitestgehend durch kulturelle Standards definiert.Footnote 181 Vertritt eine Gesellschaft den Wert einer hohen Kritikakzeptanz, so erscheint z. B. denkbar, dass ein sich beschwerender Kunde als attraktiv angesehen wird, da eher die Vorteile einer Beschwerde – bspw. identifizierte Verbesserungspotenziale – gesehen werden. Ist die soziale Umwelt hingegen harmoniebedürftig und gegenüber Kritik wenig offen, könnte ein kritikäußernder Kunde vielmehr als unattraktiv wirken und sich angesichts dieses Risikos eher für das Noncomplaining entscheiden. Autorität kann ebenfalls sowohl Individuen als auch Organisationen zugeschrieben werden und umfasst Aspekte wie Ansehen, Würde und Macht.Footnote 182 Sie entspricht damit einer Machtquelle, die auf der Anerkennung von Werten oder auf durch Legitimität gestützten Funktionen beruht.

Der konkrete Bezug der Impression Management-Theorie zum Noncomplaining ist bisher nur in sehr wenigen Forschungsarbeiten hergestellt worden. Zudem sind diese allesamt in dem Gebiet des individuellen Beschwerdeverhaltens zu verorten. Auf eine explizite Darstellung der bisherigen Untersuchungsergebnisse wird an dieser Stelle jedoch verzichtet, da diese Gegenstand der Hypothesenherleitung in den empirisch-quantitativen Studien 2a und 2b sind.Footnote 183 Im folgenden Kapitel wird ein Blick auf den Stand der empirischen Noncomplainer-Forschung insgesamt geworfen.

3.4 Bestandsaufnahme der empirischen Noncomplainer-Forschung

3.4.1 Personenbezogene Faktoren

In der Marketingforschung lässt sich eine Reihe von Forschungsarbeiten antreffen, die sich mit den Antezedenzien des (Nicht-)Beschwerdeverhaltens beschäftigen.Footnote 184 Die Identifikation dieser Determinanten bildet bis dato den wesentlichen Schwerpunkt der Beschwerdeforschung. Allerdings würde eine nahezu vollständige Enumeration dieser Erkenntnisse für die Forschungsziele der vorliegenden Arbeit wenig geeignet erscheinen und das Ziel dieser Arbeit verfehlen. Daher wird sich in den folgenden Unterkapiteln lediglich auf eine Systematisierung der bisherigen Forschungsarbeiten sowie jeweils auf eine kurze Darstellung der wesentlichen Erkenntnisse beschränkt.Footnote 185 Im Zentrum dieser Bestandsaufnahme stehen StudienFootnote 186, die den Versuch unternehmen, das unterschiedliche Verhalten von Complainern und Noncomplainern zu erklären. Grundsätzlich lassen sich dabei folgende Kategorien von Einflussfaktoren unterscheiden:

  • personenbezogene,

  • unternehmensbezogene,

  • beziehungsbezogene,

  • problem- und leistungsbezogene,

  • markt- und situationsbezogene und

  • gesellschafts- und kulturbezogene Faktoren.

Personenbezogene Faktoren adressieren hierbei Determinanten, die der Erklärung des Beschwerdeverhaltens auf Basis kundenindividueller Merkmale dienen. Im Wesentlichen können diese in sozio-demografische und psychografische Faktoren unterteilt werden.

Die Untersuchung sozio-demografischer Merkmale stand insb. zu Beginn der Noncomplainer-Forschung im Mittelpunkt. Allerdings muss mit Blick auf die bisherigen Studienergebnisse kritisch hinterfragt werden, inwiefern diese tatsächlich einen Erkenntnisbeitrag liefern können. Hierzu liegen teils kontroverse und widersprüchliche Ergebnisse vor, die einer angemessenen Validierung vielfach nicht standhalten können.Footnote 187 So zeigen manche Untersuchungen einerseits, dass Frauen eine geringere Intention zum Noncomplaining aufweisen und sich Männer eher nicht beschweren.Footnote 188 Andererseits kommen weitere Studien zum umgekehrten ErgebnisFootnote 189 oder können überhaupt keinen Wirkungszusammenhang feststellenFootnote 190. Hinsichtlich des Alters von Noncomplainern kann regelmäßig ein positiver Einfluss nachgewiesen werden.Footnote 191 Des Weiteren berichten die meisten Studien von einem negativen Einfluss des Bildungsniveaus auf das Noncomplaining.Footnote 192 Damit einher gehen die Ergebnisse hinsichtlich des Einflusses von Einkommen und Vermögen.Footnote 193

Die Untersuchungen der Unterschiede zwischen Complainern und Noncomplainern auf Basis psychografischer Merkmale bietet dagegen einen deutlich höheren Erkenntnisbeitrag. So kommen nahezu alle Studien zu dem Ergebnis, dass Noncomplainer eine geringere und negativere BeschwerdeerfahrungFootnote 194 und -einstellungFootnote 195 aufweisen. Weiter verfügen Noncomplainer in der Regel über ein geringes SelbstbewusstseinFootnote 196 und DurchsetzungsvermögenFootnote 197. Dahingegen übernehmen Complainer oftmals die Rolle von Meinungsführern.Footnote 198 Noncomplainer zeichnen sich zudem durch Gefühle wie Traurigkeit, Ängstlichkeit und Scham ausFootnote 199, wohingegen Beschwerdeführer eine hohe Wut und FrustrationFootnote 200 verspüren. Ferner sind Noncomplainer durch eine geringere Impulsivität und ExtraversionFootnote 201 gekennzeichnet und legen besonderen Wert auf die Einhaltung sozialer NormenFootnote 202. Schließlich attestiert die aktuelle Forschung Noncomplainern ein geringeres GerechtigkeitsempfindenFootnote 203, aber einen höheren Drang zum KonservatismusFootnote 204.

Generell muss jedoch betont werden, dass die psychografischen Determinanten meist isoliert und ohne eine geschlossene theoretische Konzeptualisierung untersucht wurden.Footnote 205

3.4.2 Unternehmensbezogene Faktoren

Unternehmensbezogene Faktoren umfassen solche Determinanten, die im unmittelbaren Einflussbereich des Anbieters liegen und den unzufriedenen Kunden zum Noncomplaining bewegen. Ein wesentlicher Aspekt, der durch das Unternehmen direkt beeinflusst werden kann, sind die mit einer Beschwerde aus Kundensicht verbundenen Kosten. Hierunter fallen insb. die Kanäle, die das Unternehmen dem unzufriedenen Kunden zur Beschwerdeartikulation zur Verfügung stellt. Sind diese nicht ausreichend vorhanden oder nur mit erheblichen Aufwand zugänglich, so steigt die Wahrscheinlichkeit für das Noncomplaining.Footnote 206 Hierbei kann sowohl der finanzielle als auch nicht-finanzielle Aufwand (z. B. Zeitaufwand) eine Rolle spielen.Footnote 207 Zudem zeigen verschiedene Studien, dass die seitens des Unternehmens kommunizierte Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber Beschwerden einen maßgeblichen Einfluss ausüben kann. Kommuniziert der Anbieter eine ablehnende Haltung gegenüber der Kritikäußerung, so verzichtet der Kunde meist auf eine Beschwerde.Footnote 208 Dies geht mit der Erkenntnis einher, dass die erwartete Erfolgswahrscheinlichkeit für eine angemessene Reaktion des Anbieters (z. B. Wiedergutmachung, Kompensationsleistungen) einen negativen Einfluss auf das Noncomplaining ausüben kann.Footnote 209 Demzufolge kann der Anbieter durch sein eigenes Verhalten den erwarteten Beschwerdenutzen des Nachfragers erhöhen, indem er dem Kunden eine Problemlösung, Verhaltensänderung und Wiedergutmachung in Aussicht stellt. Insb. eine proaktive Bearbeitung kann dem Noncomplaining zuvorkommen. Sollte der Anbieter bereits bei dem Kauf der Leistung ein Garantieversprechen abgegeben haben, so hat dies einen negativen Einfluss auf das Noncomplaining.Footnote 210 Ebenfalls konnte ein negativer Wirkungszusammenhang zwischen dem Noncomplaining und der Unternehmensgröße des Anbieters festgestellt werden.Footnote 211 Insb. bei großen Unternehmen sehen Noncomplainer wenig Erfolg auf eine zufrieden stellende Reaktion des Anbieters.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass in erster Linie die oben genannten Aspekte sehr leicht und schnell von dem Beschwerdemanagement des Anbieters adressiert werden können, um Noncomplaining zu verhindern.

3.4.3 Beziehungsbezogene Faktoren

Nachdem in den vorherigen zwei Kapiteln beide Marktseiten isoliert betrachtet wurden, werden im Folgenden bisherige Erkenntnisse hinsichtlich von beziehungsbezogenen Faktoren zwischen Anbieter und Nachfrager in den Blick genommen. An dieser Stelle ist zunächst die Gesamtzufriedenheit eines unzufriedenen Kunden mit dem Anbieter zu nennen, welche bei Noncomplainern weniger stark ausgeprägt ist als bei Beschwerdeführern.Footnote 212 Dies geht damit einher, dass Noncomplainer eine schlechtere generelle Einstellung zu dem AnbieterFootnote 213 sowie ein geringeres KundenbindungsniveauFootnote 214 aufweisen. Sofern sich die Bindung jedoch an einen konkreten Ansprechpartner richtet und nicht an das Unternehmen als Ganzes, verfügen Noncomplainer über eine stärkere Bindung.Footnote 215 Zudem haben Noncomplainer in der Vergangenheit weniger spezifisch in die Geschäftsbeziehung investiert.Footnote 216 Sind die Wechselkosten aufgrund von Abhängigkeiten oder einer starken Bindung sehr hoch, so sinkt die Wahrscheinlichkeit für das Noncomplaining.Footnote 217 Diesbezüglich wurde bereits in wenigen Studien die Rolle von Machtverhältnissen zwischen Anbieter und Nachfrager berücksichtigt.Footnote 218 Interessanterweise vertrauen jedoch Noncomplainer mehr als unzufriedene Complainer.Footnote 219 Dem steht gegenüber, dass eine emotionale Bindung zwischen Anbieter und Nachfrager die Wahrscheinlichkeit für das Noncomplaining reduziert.Footnote 220 Des Weiteren können mehrere Studien zeigen, dass Noncomplainer im Rahmen von langfristigen Geschäftsbeziehungen auf ein opportunistisches Beschwerdeverhalten verzichten.Footnote 221

Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der beziehungsbezogenen Determinanten festhalten, dass diese meist isoliert betrachtet wurden und auf Moderationseffekte verzichtet wurde. Diesbezüglich erscheint jedoch sinnvoll, bspw. personen- und unternehmensbezogene Determinanten als Moderator- oder Kontrollvariablen zu berücksichtigen.Footnote 222

3.4.4 Problem- und leistungsbezogene Faktoren

Die (Non-)Complainer-Forschung ist sich weitgehend einig, dass die Reaktion eines unzufriedenen Kunden von dem Problem bzw. der betroffenen Leistung an sich abhängig ist. Dies lässt sich u. a. auf unterschiedliche Leistungsmerkmale zurückführen. Handelt es sich bspw. um eine Leistung, die naturgemäß anfälliger für Probleme ist, so sinkt die Wahrscheinlichkeit für das Noncomplaining, da der Kunde eine Beschwerde in diesem Fall als gerechtfertigt und unproblematisch einordnet.Footnote 223 Zudem zeigen verschiedene Studien, dass der KaufpreisFootnote 224 sowie die Dauer bzw. Häufigkeit der NutzungFootnote 225 und die soziale Sichtbarkeit der Leistung einen negativen Effekt auf das Noncomplaining aufweisen können. Zusammenfassend belegen einige Untersuchungen, dass Noncomplainer regelmäßig dem Problem und der Leistung selbst eine geringe Relevanz beimessen.Footnote 226 Neben der Bedeutsamkeit der Leistung hat auch der Schweregrad des Fehlers und das daraus resultierende Niveau an Unzufriedenheit einen Einfluss auf das Noncomplaining: Je niedriger der Schweregrad und die Unzufriedenheit sind, desto eher beschwert sich der Kunde nicht.Footnote 227

Ein wesentlicher Faktor der problem- und leistungsbezogenen Determinanten ist zudem die Frage, welche Partei die Schuld an dem kritischen Vorfall trägt. Sollte der Kunde zumindest eine Teilschuld aufweisen, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er sich nicht direkt bei dem Anbieter beschweren wird.Footnote 228 Problematisch könnte dieser Aspekt mit Blick auf die Mehrstufigkeit der Märkte im BtB-Kontext sein, da der Fehler möglicherweise nicht auf der direkt vorgelagerten Wertschöpfungsstufe verursacht wurde oder aber die Lokation der Fehlerursache nicht zweifelsfrei möglich ist.

3.4.5 Markt- und situationsbezogene Faktoren

Des Weiteren können auch Faktoren, die sich aus den Markt- und Situationscharakteristika ergeben, einen Einfluss auf das Nicht-Beschwerdeverhalten ausüben. Zunächst ist mit Blick auf die Marktstruktur die Verfügbarkeit alternativer Anbieter anzuführen. Analog zu den Erkenntnissen bezüglich der Wechselkosten kommen einige Studien zu dem Ergebnis, dass die Anzahl an Alternativen und deren Attraktivität einen positiven Einfluss auf das Noncomplaining haben.Footnote 229 Des Weiteren kann auch die Branche des betroffenen Anbieters für das Noncomplaining von Bedeutung sein. So weist insb. der Dienstleistungskontext deutlich höhere Noncomplainer-Raten auf.Footnote 230

Ein Aspekt, der zwar nur in wenigen bisherigen Studien betrachtet wurde, aber im Angesicht einer wachsenden Bedeutung des Verbraucherschutzes und der damit verbundenen -forschungFootnote 231 durchaus von Interesse sein könnte, ist das Ausmaß der regulatorischen Umwelt. Denn Noncomplaining tritt vor allem auf solchen Märkten auf, die durch eine geringe staatliche Regulatorik geprägt sind, d. h. dass Kunden nicht ausreichend durch gesetzliche Regelungen und Strukturen geschützt werden.Footnote 232 Liegen solche regulatorischen Schutzsysteme jedoch vor, versuchen unzufriedene Kunden – auch aus opportunistischen Motiven heraus – eine Beschwerde zum Erfolg zu führen.

Situationsspezifisch kann auch der tagesaktuelle StressFootnote 233 oder ZeitdruckFootnote 234 das Noncomplainer-Verhalten beeinflussen. Abschließend ist die Entscheidung für eine Beschwerdeäußerung auch von der zeitlichen Distanz des kritischen Vorfalls abhängig. Ist dieser bereits vor längerer Zeit vorgefallen, so steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich ein Kunde nicht mehr beschwert.Footnote 235

3.4.6 Gesellschafts- und kulturbezogene Faktoren

Mit der wachsenden Bedeutung von Themen, wie dem gesellschaftlichen Wertewandel, der Übernahme sozialer Verantwortung oder Diversität, steigt auch in der Noncomplainer-Forschung das Interesse an Untersuchungen von gesellschafts- und kulturbezogenen Einflussfaktoren. Auch wenn sich dieser Bereich in der aktuellen Beschwerdeforschung noch recht überschaubar ausgestaltet und entsprechende Potenziale bietet, liefern die bisherigen Studien durchaus erste interessante Erkenntnisse.

Bereits früh in den 80er-Jahren wurde die Vermutung geäußert, dass „consumer satisfaction occurs in all nations of the world, but the ways in which consumers deal with it can be expected to vary from country to country“.Footnote 236 Diese Hypothese konnte mittlerweile vielfach bestätigt werden. Dabei ist eine wesentliche Erkenntnis, dass kollektivistische im Gegensatz zu von Individualismus geprägte Kulturen – bspw. mit Blick auf eine hohe HarmoniebedürftigkeitFootnote 237 – eine höhere Tendenz zum Noncomplaining aufweisen.Footnote 238 Zudem fühlen sich Noncomplainer oftmals einem gewissen sozialen Druck ausgesetzt, wodurch eine Beschwerde bei ihnen z. B. ein Gefühl von Scham, Peinlichkeit oder Unwohlsein auslösen kann.Footnote 239 Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang auch von sozialen Risiken, die sich aus negativen Meta-Wahrnehmungen ableiten lassen.Footnote 240 So nehmen Noncomplainer teilweise wahr, dass eine Beschwerdeäußerung mit der Projektion eines negativen Images verbunden sein könnte und sie als „Nörgler“ oder „Querulanten“ wahrgenommen werden.

Alles in allem liefern die angeführten Studien wichtige Erkenntnisse zur Erklärung des Noncomplainer-Verhaltens. Hierbei sticht besonders hervor, wie viele, teils sehr unterschiedliche, Determinanten auf das Verhalten von unzufriedenen Kunden wirken können. Bemerkenswert ist jedoch vor diesem Hintergrund, dass der BtB-Bereich in diesen Untersuchungen – obgleich seiner individuellen Charakteristika – weitestgehend außer Acht gelassen wurde. Dieser schier verschwindend geringen Anzahl an Forschungsarbeiten und den damit verbundenen Erkenntnissen ist das nachfolgende Kapitel gewidmet.

3.5 Beschwerdemanagement und -verhalten im BtB-Kontext

Obgleich einige Forschungsarbeiten in dem Bereich des Beschwerdemanagements und -verhaltens existieren, fokussieren diese nahezu ausschließlich BtC-Märkte. Die Anzahl an Untersuchungen, die unter Berücksichtigung von BtB-Spezifika durchgeführt wurden, ist dahingegen knapp bemessen. Diese Zurückhaltung erscheint insb. insofern überraschend, als dass vor allem in der BtB-Literatur konsistent die Bedeutung des Managements langfristiger Geschäftsbeziehungen hervorgehoben wird.Footnote 241 Zudem sticht im Rahmen einer näheren Betrachtung der vorhandenen Arbeiten hervor, dass diese vordergründig das Beschwerdemanagement in den Fokus rücken – und nicht die zeitlich vorgelagerte Entscheidung, ob eine Beschwerde artikuliert wird oder nicht. Eine konkrete Fokussierung der Gruppe der Noncomplainer steht nahezu vollständig aus.

Im Zuge der Entwicklung der ersten Totalmodelle des organisationalen Beschaffungsverhaltens diskutieren Williams/Rao die Kundenunzufriedenheit von Unternehmen vis-á-vis mit ihrem Beschwerdeverhalten und schlagen ein Modell des organisationalen Beschwerdeverhaltens vor.Footnote 242 Hierin integrieren die Autoren neben individuellen behavioralen Komponenten der einzelnen am Beschaffungsprozess beteiligten Personen auch situative und strukturelle Elemente sowie den Kauftyp und die Unzufriedenheit als Antezedens des Beschwerdeverhaltens. Aufbauend auf diesem Modell nehmen Hansen et al. eine Typolisierung der verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten unzufriedener Kunden vor und differenzieren zwischen folgenden vier Handlungsstilen: „Complainers“, „Wait and Squawkers“, „Activists“ und „Squawkers“.Footnote 243 Dabei liefern sie erste Hinweise, dass die Wahl für das jeweilige Beschwerdeverhalten u. a. von der Abhängigkeit des Kunden von dem Lieferanten bzw. der entsprechenden Machtposition beider Interaktionspartner beeinflusst werden kann.Footnote 244 Diese Erkenntnisse nehmen die Autoren als Grundlage für die Entwicklung eines eigenen Modells zur Erklärung des organisationalen Beschwerdeverhaltens, in welchem als unabhängige Variablen neben dem Machtverhältnis situative Komponenten wie die Zielunvereinbarkeit und Aspekte, wie der Kauftyp und das anbieterseitige Kommunikationsverhalten, berücksichtigt werden.Footnote 245 Die Vermutung, dass Abhängigkeiten, Machtverhältnisse, spezifische Investitionen und reziproke Beschaffungsvereinbarungen einen Einfluss auf das (Nicht-)Beschwerdeverhalten und den Verbleib trotz einer Leistungsverschlechterung ausüben können, wurde im Anschluss an die Arbeiten von Hansen et al. (1996a, 1997a, 1997b) vielfach geäußert.Footnote 246 Hierbei muss jedoch konstatiert werden, dass diese Ausführungen meist auf theoretischen Überlegungen oder qualitativen Befragungen fundieren – und nicht auf empirisch-quantitativen Untersuchungsergebnissen.

Neben diesem Aspekt zeigt die Forschung, dass auch weitere Variablen als Antezedenzien für das organisationale Noncomplaining in Betracht gezogen werden sollten. Ausgehend von dem vorab dargestellten Abhängigkeitsgedanken kann hier ebenfalls die Anzahl an alternativen Anbietern und die Höhe der Wechselkosten von Bedeutung sein.Footnote 247 Hiermit kann zudem auch eine gewisse Angst vor Veränderungsprozessen einhergehen, die möglicherweise mit einer Beschwerde ausgelöst werden und auch für die eigenen Kunden mit Anpassungen verbunden sein können.Footnote 248 An dieser Stelle zeigt sich wiederum die Problematik, die sich aus der Mehrstufigkeit von BtB-Märkten und der derivativen Nachfrage ergibt, sodass im Rahmen des Beschwerdeverhaltens immer auch die Konsequenzen für den Endkunden in Betracht gezogen werden sollten. Ansonsten kann u. a. das eigene Unternehmensimage gefährdet werden.Footnote 249 Ergänzend weisen Studien darauf hin, dass auch die Dauer einer Geschäftsbeziehung sowie die Beziehungsqualität das Beschwerdeverhalten beeinflussen können.Footnote 250

Aus der nachfragerinternen Perspektive wurde ebenfalls dahingehend eine Diskussion angestoßen, dass auch die Gruppen- und damit die Buying Center-Struktur einen Einfluss auf das Beschwerdeverhalten ausüben kann. Ausgehend von der Annahme, dass die einzelnen Mitglieder verschiedene Erwartungen und Interesse habenFootnote 251, kann das unterschiedliche Involvement hinsichtlich des Beschwerdefalls dazu führen, dass manche Mitglieder unzufrieden sind – und andere nicht.Footnote 252 Dabei hängt das Ausmaß der Unzufriedenheit des Buying Centers insgesamt bspw. davon ab, ob es sich um eine ein- oder nochmalige Verfehlung handelt.Footnote 253

Insgesamt zeigen die Forschungsarbeiten vor dem Hintergrund der oben erwähnten Aspekte, dass auch auf BtB-Märkten die Mehrzahl unzufriedener Kunden ihre Beschwerde nicht unmittelbar an den Anbieter artikuliert.Footnote 254 Auch wenn die frühe organisationale Beschwerdeforschung in erster Linie das Verhalten innerhalb der Dyade von Anbieter und Nachfrager untersuchtFootnote 255, nehmen neuere Arbeiten auch die weiteren Reaktionsmöglichkeiten unzufriedener Kunden in den Blick. Hier wird vordergründig ersichtlich, dass auch Unternehmen sich in negativem WoM engagieren und ihre Unzufriedenheit an Dritte weitertragen.Footnote 256

Jedoch liegt vollends die Identifikation von Faktoren eines effektiven Beschwerdemanagements im Zentrum der bisherigen BtB-Forschung – nicht zuletzt darin begründet, dass die Zufriedenheit mit der Bearbeitung einer Beschwerde einen wesentlichen Einfluss auf die WiederkaufabsichtFootnote 257 ausüben kann. So konnten Hinweise geliefert werden, dass ein mechanistisches Beschwerdemanagement – also eines, das auf formalen Regeln, Prozessen und Richtlinien beruht – auf BtB-Märkten weniger erfolgsversprechend als auf BtC-Märkten beurteilt wird.Footnote 258 Dies geht damit einher, dass hier Kunden insb. auf eine sehr kurze Bearbeitungsdauer, welche ggf. durch unbürokratische Abläufe reduziert wird, und eine schnelle Problemlösung Wert legen.Footnote 259 Eine zentrale Bedeutung wird dem direkten Ansprechpartner des Kunden beigemessen, wobei neben einer generellen Kritikoffenheit vor allem adäquate Reaktionen und die praktische Lösung des Problems im Vordergrund stehen.Footnote 260 Der Anbieter sollte frühzeitig aufzeigen, dass für die Zukunft derartige Probleme nicht mehr auftreten und Prozess- oder Produktionsveränderungen vorgenommen werden.Footnote 261 Formale Entschuldigungen schaffen somit für den unzufriedenen Kunden weniger Wert als Verhaltensänderungen.

Generell wird die erfolgreiche Beschwerdebearbeitung auf BtB-Märkten in der Forschung mit einem sehr hohen Outcome-Bezug dargestellt. Neben der Kompensation des aufgetretenen Vorfalles ist in erster Linie die Prävention zukünftiger Fehler das Ziel des Beschwerdeführers, sodass genau dieser Aspekt von einem erfolgreichen Beschwerdemanagement adressiert werden sollte.Footnote 262 An dieser Stelle wird ebenfalls deutlich, dass beide Interaktionspartner im Regelfall nicht an einem Anbieterwechsel, sondern an einer Fortführung der bisherigen Geschäftsbeziehung interessiert sind und den Beschwerdefall für eine Verbesserung der Beziehung nutzen wollen. Das Beschwerdemanagement auf BtB-Märkten beurteilt somit das Auftreten von Fehlern vermehrt als Chance, Informationen über Verbesserungspotenziale generieren und anschließend ausschöpfen zu können.Footnote 263

Umso erstaunlicher wirkt diesbezüglich die mangelnde Berücksichtigung der Noncomplainer-Problematik in den bisherigen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des organisationalen Beschwerdeverhaltens, da dieses Potenzial im Zuge der Nicht-Artikulation explizit verloren geht.