1 Einleitung

Viele Praktiker*innen aus Kommunalpolitik und -verwaltung betrachten ernährungsrelevante Fragestellungen als thematisch schwer fassbar, geschweige denn kommunalpolitisch steuerbar. In der Wahrnehmung von kommunalpolitischen Akteuren sind Produktion, Verarbeitung, Handel und Konsum von Lebensmitteln vor allem durch Prozesse auf nationaler und globaler Ebene gesteuert (Brinkley 2013; Pothukuchi und Kaufman 1999, 2000; Morley und Morgan 2021; Schanz et al. 2020; Sipple und Schanz 2019). Dies hat zur Folge, dass das Thema Ernährung bisher nur von wenigen Städten und Gemeinden in Deutschland als Handlungsfeld von Politik und Verwaltung zur Nachhaltigkeitssteuerung wahrgenommen wird. Die vorhandenen ernährungsbezogenen kommunalpolitischen Aktivitäten lassen bislang häufig eine kohärente Strategie vermissen bzw. identifizieren keine systemischen Ansatzpunkte für eine nachhaltige Gestaltung lokaler Ernährungssysteme. Diese Situation wird auch von kommunalen Akteur*innen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft selbst als unbefriedigend erlebt (Baldy 2019).

Ein Gegengewicht dazu bilden Koalitionsverträge auf Bundes- und Landesebene sowie kommunalpolitische Strategiepapiere in mehreren Großstädten, die eine „Ernährungswende“ hin zu Nachhaltigkeit ermöglichen sollen (SPD et al. 2021; Bündnis 90/Die Grünen und CDU 2021; Thurn 2020). Tatsächlich beschränken sich Umsetzungsbeispiele für umfassende Betrachtungen des Ernährungsbereichs im Kontext von Städten und Gemeinden bisher auf den angloamerikanischen Raum (Carey 2013; Morley und Morgan 2021; Ilieva 2019). Im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige Beispiele, die entweder den Fokus rein auf Großstädte legen (Doernberg et al. 2019; Fesenfeld 2016), auf Bürgerbeteiligungen mit lediglich moderierender Rolle der Kommunalverwaltung Bezug nehmen (Schanz et al. 2020) oder nur auf einzelne Bereiche der lokalen Ernährungswirtschaft abzielen (Sipple und Schanz 2021).

Die Potenziale kommunaler Nachhaltigkeitssteuerung im Ernährungsbereich können nur realisiert werden, wenn die Wirkungszusammenhänge zwischen Kommunen und Ernährung systemisch, d. h. ganzheitlich und in ihren Dynamiken, erfasst werden. Darauf aufbauend sollte gezielt nach Ansatzpunkten und Hebelwirkungen für die nachhaltige Entwicklung des lokalen Ernährungssystems gesucht werden.

Lokale Ernährungssysteme auf Ebene einer Kommune werden dabei definiert als

„die Vielfalt an direkt und indirekt ernährungsbezogenen Aktivitäten und Beziehungen zwischen allen relevanten Akteursgruppen – von der Stadtverwaltung über Unternehmen und Betriebe, Vereine und Initiativen bis zur Bevölkerung – in allen Bereichen von der Produktion, über die Verarbeitung, Versorgung, Zubereitung bis hin zu Konsum und Entsorgung von Nahrungsmitteln in der Stadt.“ (Schanz et al. 2020, S. 9)

Durch ihren engen Bezug zu alltäglichen Praktiken und ihre Querverbindungen zu anderen Sektoren (Gesundheit, Verkehr, Energie, Tourismus etc.) gelten lokale Ernährungssysteme als zentrales Themenfeld der nachhaltigen Stadt- und Kommunalentwicklung (Schanz et al. 2020; Stierand 2016; Viljoen und Wiskerke 2012). Kommunale Ernährungssysteme sind in komplexe soziale, ökologische und ökonomische Prozesse eingebunden, die durch spezifische Ursache-Wirkungs-Beziehungen und Rückkopplungen miteinander verbunden sind (Kopainsky et al. 2017; Thompson et al. 2007). Diese zu kennen, ist eine Voraussetzung dafür, Hebelpunkte für die nachhaltige Gestaltung zu identifizieren und anzusteuern.

Nachhaltige Ernährung wird hier über spezifische, evidenzbasierte Nachhaltigkeitskriterien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) definiert (2022a). Diese fokussieren auf nachhaltige Ernährungsgewohnheiten, die Saisonalität von Lebensmitteln, die Reduzierung des Fleischkonsums und die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Die DGE orientiert sich dabei sowohl an den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen als auch an den Zielen der United Nations Food and Agriculture Organization (FAO 2019).

Ziel dieses Beitrags ist es, idealtypische Hebelpunkte der Kommunalpolitik und -verwaltung für die nachhaltige Gestaltung von Ernährungssystemen zu identifizieren. Dafür werden alle Bereiche kommunaler Ernährungssysteme und der lokalen Ernährungswirtschaft sowie die kommunale Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft berücksichtigt. Zur Erfassung von komplexen Systemen und ihrer Dynamiken hat sich die Methodik der System Dynamics (SD) und innerhalb dieser die qualitative Modellierung bewährt (Martinez-Moyano und Richardson 2013; Holtz et al. 2015; Sterman 2002). Im Folgenden werden alle Komponenten, Wechselwirkungen und Dynamiken des kommunalen Ernährungssystems sowie die Systemreaktionen auf mögliche Interventionen der Kommunalpolitik und -verwaltung herausgearbeitet. Ziel ist es, Rückkopplungsprozesse und Zeitverzögerungen zu erkennen und in ihren Auswirkungen zu verstehen, um dann Muster bzw. „Archetypen“ des Systemverhaltens zu bestimmen (Senge 2021; Sweeney und Sterman 2000). Abschließend sollen konkrete Hebelpunkte für die nachhaltige Gestaltung von lokalen Ernährungssystemen auf Ebene der Kommunalpolitik und -verwaltung identifiziert werden (Valente 2012; Valente et al. 2015).

Qualitative Kausalschleifenmodellierungen sind geeignet, solche systemischen Hebelpunkte zu identifizieren (Kopainsky et al. 2017; Kimmich et al. 2019; Sipple und Schanz 2021). Unterschieden werden partizipative Modellierungsmethoden unter Einbeziehung relevanter Stakeholders vs. expert*innenbasierte oder konzeptionelle Kausalschleifenmodellierungen. Die nachfolgende Modellierung basiert auf einer qualitativen Inhaltsanalyse wissenschaftlicher und praxisrelevanter Dokumente aus dem transdisziplinären Forschungsprojekt KERNiGFootnote 1. Analysiert wurden in diesem die Ernährungssysteme der beiden süddeutschen Mittelstädte Leutkirch im Allgäu und Waldkirch im Breisgau, die von ihrer Politik- und Verwaltungsstruktur typisch sind für viele Kommunen im ländlichen Raum in Deutschland. Die hier vorgestellte Modellierung leitet aus den Ergebnissen evidenzbasiert Hebelpunkte für Kommunalpolitik und -verwaltung ab, die für die nachhaltige Gestaltung des kommunalen Ernährungssystems genutzt werden können. Die Ziele der Modellierung sind: 1) die zentralen Variablen lokaler Ernährungssysteme zu definieren, 2) Ursache-Wirkungs-Dynamiken durch die Modellierung von Kausalschleifendiagrammen (CLD = Causal Loop Diagrams) zu bestimmen, und 3) Hebelpunkte für die nachhaltige Gestaltung lokaler Ernährungssysteme auf Ebene der Kommunalpolitik und -verwaltung zu identifizieren.

2 Systemische Perspektive auf Ernährung im kommunalen Kontext

Lokale Ernährungssysteme im kommunalen Kontext sind durch vielseitige soziale, ökonomische, ökologische und technische Wechselwirkungen gekennzeichnet (Schrode et al. 2019; Béné et al. 2019). Bei der Modellierung von Kausalschleifendiagrammen geht es darum, die zentralen Systemvariablen dieser Wechselwirkungen und ihre Dynamiken zu bestimmen (Radzicki 1990; Richardson 2011). Darauf aufbauend lassen sich „Hebelpunkte“ (leverage points) für Interventionen identifizieren. Das Ansteuern dieser Hebelpunkten kann „Rebound“-Effekte, d. h. Rückkopplungen zur Folge haben, welche die Wirkung der Intervention befördern oder hindern können. Komplexe Systeme verhalten sich bei Interventionen oft kontraintuitiv, d. h. Interventionen führen nicht zwangsläufig zum gewünschten Ergebnis (Meadows 19992019). Auch die Steuerung von Ernährungssystemen durch Kommunalpolitik und -verwaltung erfordert deshalb eine systemische Perspektive (Moragues et al. 2013).

Bisher gibt es nur wenige Arbeiten, die systemdynamische Modellierung zur Ableitung von Hebelpunkten für mehr Nachhaltigkeit nutzen (Rich et al. 2018; Sipple und Schanz 2021; Santarius 2014). Gleichzeitig liegt der Mehrwert solcher Ansätze auf der Hand: die Modellierung ermöglicht sowohl die Ableitung von Hebelpunkten für systemische Interventionen, als auch ein Nachvollziehen ihrer Wirkungs- bzw. Funktionsweisen (Freeman et al. 2016; Hirschnitz-Garbers et al. 2018). So können auch Interventionen identifiziert werden, die zwar kurzfristig sinnvoll erscheinen, langfristig aber vom eigentlichen Ziel abweichen und sogar zu gegenteiligen Ergebnissen führen. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, für Kommunalpolitik und -verwaltung spezifische Hebelpunkte zur Gestaltung lokaler Ernährungssysteme in Richtung Nachhaltigkeit zu identifizieren. Diese Hebelpunkte werden dabei auch auf unerwünschte Wirkungen hin überprüft und alternative Strategien aufgezeigt.

3 Methodischer Ansatz

3.1 Kausalschleifendiagramme (CLDs) zur Ableitung von Systemarchetypen

Bei der Modellierung von Ursache-Wirkungs-Diagrammen bzw. Kausalschleifendiagrammen (CLDs = Causal Loop-Diagrams) handelt es sich um eine bewährte Methode zur Analyse von Systemen und zur Identifizierung von Hebelpunkten (Holtz et al. 2015). Die dabei aus den Daten modellierten CLDs können als „Sätze“ verstanden werden, die durch die Identifizierung und Verknüpfung von Schlüsselvariablen gebildet werden. Durch die Verknüpfung dieser Sätze entstehen zusammenhängende Rückkopplungsschleifen (sog. „Loops“) und damit eine kohärente Erzählung über das analysierte System (Kim 2011). Dabei soll ein bestmögliches Systemverständnis entwickelt werden, indem die Strukturen und Rückkopplungen modelliert und abgebildet werden (Sverdrup und Olafsdottir 2020). Die qualitative Modellierung von CLDs erleichtert die Beschreibung, Kommunikation und Diskussion von Systemen. Dies erleichtert die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteur*innen und ihren Sichtweisen, z. B. zwischen Politik, Planung und Wissenschaft (Pfaffenbichler 2011). Die Modellierung zielt insbesondere auf die Identifikation von Verhaltensmustern und Wirkungszusammenhängen zentraler Systemvariablen ab. Durch die Offenlegung dieser systemimmanenten Dynamiken können dann Hebelpunkte identifiziert werden, um Interventionen zu prüfen und abzuleiten, die ein System in eine gewünschte Richtung bewegen können (Richardson 2011). Als Hebelpunkte werden die Bereiche in einem System bezeichnet, an denen angesetzt werden kann, um Veränderungen in eine gewünschte Richtung zu bewirken (Meadows 2011).

In einem weiteren Schritt können CLDs anhand der Typologie sogenannter Systemarchetypen interpretiert und in ihrer Wirkungsweise eingeordnet werden (Senge 2021). Systemarchetypen beschreiben unbeabsichtigte, oft kontraintuitive Reaktionen eines Systems sowie gezielte Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken (Wolstenholme 2003). Sie erleichtern die Einordnung und das Verständnis komplexen Systemverhaltens und ermöglichen eine nachvollziehbare Identifikation von Hebelpunkten und Interventionsstrategien. Hierfür gibt es bereits Beispiele aus dem Bereich der Förderung kleinbäuerlicher Betriebsstrukturen (Setianto et al. 2014) oder der Prävention des Betrieberückgangs im lokalen Lebensmittelhandwerk (Sipple und Schanz 2021). Die Systemarchetypenanalyse ist empirisch überprüfbar und ermöglicht die Untersuchung systemrelevanter Entscheidungen (Oberlack et al. 2019; Eisenack et al. 2019). Die abgeleiteten Systemarchetypen erleichtern das Verständnis komplexen Systemverhaltens und ermöglichen die Identifikation von Interventionsstrategien in Form von Hebelpunkten (Setianto et al. 2014). Senge (2021) beschreibt zehn wesentliche Systemarchetypen: 1) Die zeitverzögerte Balance; 2) Die Eskalation; 3) Erfolg den Erfolgreichen; 4) Grenzen des Wachstums; 5) Problemverschiebung; 6) Scheiternde Korrekturen; 7) Abrutschende Ziele; 8) Ungewollte Gegnerschaft; 9) Tragödie der Allmende; 10) Wachstum und Unterinvestition.

3.2 Modellierung eines lokalen Ernährungssystems

Die in diesem Beitrag vorgestellte Systemmodellierung basiert auf der Auswertung aller Ergebnisse des ersten Projektteils des vom BMBF-geförderten Forschungsprojekts KERNiG (Schanz et al. 2020). Insgesamt wurden 90 projektinterne, nicht-öffentliche sowie öffentliche Dokumente, wie wissenschaftliche Publikationen, Präsentationen, Policy Briefs sowie Projektberichte in die Analyse einbezogen (s. Tab. 1). Diese Textdokumente wurden anhand der genannten Forschungsfragen mit der Software MAXQDA® nach den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring 2015; Flick 2019; Rädiker und Kuchartz 2019). Auf diesem Wege wurden die zentralen Systemvariablen lokaler Ernährungssysteme sowie die Wirkungszusammenhänge zwischen diesen erfasst (s. Tab. 1). Es ist wichtig zu betonen, dass die Modellierung ausschließlich auf Forschungsergebnissen aus den Kommunen Leutkirch im Allgäu und Waldkirch im Breisgau basiert.

Tab. 1 Variablen, Indikatoren, Erhebungsmethoden und Ausprägungen lokaler Ernährungssysteme und zugehörige Quellen des KERNiG-Projekts

Die CLDs wurden mit der Software Stella Architect® erstellt. In der Darstellung der CLDs zeigen die Pfeile die Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen den Variablen auf. Gekrümmte Pfeile stehen für abhängige Variablen, gerade Pfeile für unabhängige Variablen. Ein positives (+) oder negatives (−) Vorzeichen an der Pfeilspitze zeigt an, ob sich die Variablen entlang der Pfeilrichtung in die gleiche (+) oder in die entgegengesetzte (−) Richtung verändern. Wenn die Pfeile aneinandergereiht eine Schleife bilden, liegt eine Rückkopplungsschleife vor. Diese kann selbstverstärkend sein, bewegt sich vom Gleichgewichtspunkt weg und ist dann mit einem „R“ gekennzeichnet (R = reinforcing, dt. selbstverstärkend; gerade Anzahl von + und − in der Rückkopplungsschleife). Sie kann aber auch ausgleichend sein, bewegt sich in Richtung Gleichgewicht und somit den Veränderungen entgegen und ist dann mit einem „B“ gekennzeichnet (B = balancing, dt. ausgleichend; ungerade Anzahl von + oder − in der Rückkopplungsschleife). Ein doppelter Strich durch den Pfeil beschreibt eine zeitverzögerte Wirkung der jeweiligen Dynamik (Kim 2011; Sverdrup und Olafsdottir 2020; Sterman 2002).

4 Ergebnis: Dynamiken und Hebelpunkte eines lokalen Ernährungssystems

Durch die systematische Auswertung der Projektergebnisse von KERNiG konnten insgesamt 14 Variablen identifiziert werden. Diese sind für die nachhaltige Gestaltung lokaler Ernährungssysteme auf Ebene der Kommunalpolitik und -verwaltung relevant (s. Tab. 1). Die identifizierten Variablen basieren ausschließlich auf den Forschungsergebnissen aus den Kommunen Leutkirch im Allgäu und Waldkirch im Breisgau.

Abb. 1 zeigt die Modellierung eines lokalen Ernährungssystems. Als Zielvariable wurde der Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten identifiziert. Um ein lokales Ernährungssystem in Richtung Nachhaltigkeit zu gestalten, muss diese Variable erhöht werden. Unter „nachhaltigen“ Ernährungsgewohnheiten werden die Einhaltung der sog. „Zehn Regeln der DGE“ (DGE = Deutsche Gesellschaft für Ernährung) (DGE 2022a) sowie die Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien der DGE verstanden (DGE 2022b). Letztere beinhalten u. a. die Betonung der Saisonalität, die Reduzierung des Fleisch- und Fischkonsums und die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung.

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Modellierung eines kommunalen Ernährungssystems.

Die Modellierung besteht aus fünf zentralen Rückkopplungsschleifen (B1-2 und R1-3; s. Abb. 1). Diese werden im Folgenden in ihrer Funktionsweise detailliert erläutert. Auf Basis des Modells lassen sich zentrale Dynamiken des Systemverhaltens identifizieren, aus denen sich Archetypen und darauf aufbauend konkrete Hebelpunkte ableiten lassen. Diese Systemarchetypen können als eine der Hauptursachen dafür identifiziert werden, dass die Gestaltung nachhaltiger Ernährungssysteme durch Kommunalpolitik und -verwaltung nur langsam oder kaum vorankommt.

4.1 Ernährungsbildung als Reaktion auf negative Auswirkungen des Ernährungssystems

Ausgangssituation: Ein anhaltend geringer Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten hat stetig zunehmende negative Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit zur Folge. Dies realisiert die Bevölkerung mit zeitlicher Verzögerung, womit die wahrgenommenen negativen Auswirkungen von Ernährung auf Umwelt und Gesundheit zunehmen. In der Folge setzt sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung mit diesen negativen Auswirkungen auseinander, was zwar auch mit einer zeitlichen Verzögerung geschieht, aber letztlich das Wissen über nachhaltige Ernährungsgewohnheiten stärkt. Dies wiederum erhöht den Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort (balancierende Rückkopplung B1). Durch die Zunahme der wahrgenommenen negativen Auswirkungen von Ernährung auf Umwelt und Gesundheit steigt auch die soziale Anerkennung für nachhaltige Ernährungsgewohnheiten (sog. „Peer Group Pressure“). Dies führt zu einer erhöhten Motivation für nachhaltige Ernährungsgewohnheiten und erhöht mit einer zeitlichen Verzögerung auch den Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort (balancierende Rückkopplung B2).

Dynamiken und Archetyp:

  • Die ausgleichenden Rückkopplungen B1 und B2 führen langfristig zu einer Verringerung der negativen Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit und damit zu einer Annäherung an den Zielzustand nachhaltiger Ernährungssysteme. Dies geschieht jedoch mit verschiedenen zeitlichen Verzögerungen. Vielen dieser Verzögerungen kann nur bedingt entgegengewirkt werden, da z. B. Wissensbildung grundsätzlich Zeit benötigt. Einige Kommunen unterstützen diese Prozesse bereits, indem sie den Fokus kommunaler Bildungspolitik auf nachhaltige Ernährung verstärken und damit sowohl das Wissen über nachhaltige Ernährungsgewohnheiten (B1) als auch die Soziale Anerkennung für nachhaltige Ernährungsgewohnheiten vergrößern.

  • Ausgehend von der Beschreibung der CLDs lässt sich hier der Systemarchetyp „Gleichgewichtsprozess mit Verzögerung“ identifizieren, da sowohl der Zuwachs an Wissen über- als auch der Zuwachs an Motivation für nachhaltige Ernährungsgewohnheiten durch starke zeitlich-prozessuale Verzögerungen geprägt sind. Dies gilt dadurch auch für den Zuwachs im Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort und somit für auch für die Reduzierung der negativen Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit. Der identifizierte Archetyp birgt einerseits die Gefahr, dass aufgrund solcher Verzögerungen Korrekturmaßnahmen vorzeitig abgebrochen werden, da systemimmanenten Verzögerungen (teilweise) nicht erkannt werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass Korrekturmaßnahmen unnötig intensiviert werden, da die anvisierte Wirkung häufig ebenfalls erst mit Verzögerung sichtbar wird und/oder das Ausmaß der Verzögerungen nicht bekannt ist (Senge 2021, S. 451).

4.2 Fehlendes Angebot für nachhaltige Ernährung vor Ort

Ausgangssituation: Ein anhaltend geringer Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort führt zu einer stetig sinkenden Nachfrage nach Produkten für nachhaltige Ernährung. Dies wirkt sich zeitverzögert negativ auf die Spezialisierungsbestrebungen lokaler Ernährungswirtschaft auf nachhaltige Produkte aus und schwächt wiederum zeitverzögert die Anzahl der Betriebe der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft. Dadurch sinkt das Angebot von Produkten für nachhaltige Ernährung, was zeitverzögert zu einer Schwächung des Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort führt (selbstverstärkende Rückkopplung R1). Darüber hinaus verursacht ein Rückgang der Anzahl der Betriebe der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft einen Rückgang der Kooperation innerhalb der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft, was sich negativ auf die Resilienz der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft auswirkt. Dies beschleunigt wiederum den Rückgang der Anzahl der Betriebe der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft (selbstverstärkende Rückkopplung R2). Die Dynamik von R2 wirkt sich verstärkend auf R1 aus und schwächt damit zusätzlich das Angebot von Produkten für nachhaltige Ernährung und somit den Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort. Zudem führt eine abnehmende Anzahl der Betriebe der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft zu einer abnehmenden Sichtbarkeit der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft insgesamt (sog. „Delokalisierung“, siehe Abschn. 4.2). Dies wirkt sich negativ auf das Wissen über nachhaltige Ernährung aus, wodurch der Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort weiter abnimmt (selbstverstärkende Rückkopplung R3). Die Dynamik von R3 verstärkt somit R1 und schwächt B2.

Dynamiken und Archetyp:

  • Die ausgleichenden Rückkopplungsschleifen B1 und B2 führen zu einer Stärkung des Verbreitungsgrades nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort. Gleichzeitig machen die Rückkopplungsschleifen R1 bis R3 deutlich, wie ein zu geringer oder nicht vorhandener Fokus kommunaler Wirtschaftspolitik auf nachhaltige Ernährung dazu führen kann, dass der Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort durch ein fehlendes Angebot an nachhaltigen Lebensmitteln vor Ort geschwächt wird.

  • Hieraus lässt sich der Archetyp „Scheiternde Korrekturen“ ableiten. So wird den negativen Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit sowohl über eine Zunahme der wahrgenommenen negativen Auswirkungen von Ernährung auf Umwelt und Gesundheit sowie einem stärkeren Fokus kommunaler Bildungspolitik auf nachhaltige Ernährung zunächst erfolgreich entgegengewirkt (B1–B2). Gleichzeitig verschärft sich die Problematik aber über die nicht beachteten selbstverstärkenden Rückkopplungen R1 bis R3. Diese schwächen das Angebot von Produkten für nachhaltige Ernährung und damit den Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten vor Ort, wodurch die negativen Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit wiederrum zunehmen (Senge 2021, S. 463).

4.3 Hebelpunkte zur nachhaltigen Gestaltung lokaler Ernährungssysteme

Auf der Grundlage der Modellierung lassen sich zwei zentrale Hebelpunkte der Kommunalpolitik und -verwaltung identifizieren, die dazu beitragen, die negativen Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit zu reduzieren und eine nachhaltige Gestaltung lokaler Ernährungssysteme zu ermöglichen. Hierbei handelt es sich um den Fokus kommunaler Bildungspolitik auf nachhaltige Ernährung sowie den Fokus kommunaler Wirtschaftspolitik auf nachhaltige Ernährung (s. Tab. 2). Beide Hebelpunkte setzen an unterschiedlichen Systemvariablen an und nutzen unterschiedliche Wirkungsdynamiken. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Betätigung der jeweiligen Hebelpunkte interdependente und teilweise paradoxe Dynamiken auslöst und auf die gleichen Ressourcen zurückgreift. Ein Ansetzen sollte daher aufeinander abgestimmt sein, in ähnlichem Umfang und nicht einseitig zu Gunsten eines der Hebelpunkte erfolgen. Dafür spricht auch das generelle Verständnis von kommunaler Ernährungspolitik als integrative Querschnittsaufgabe (Spiller et al. 2017; Schanz et al. 2020; Stierand 2008).

Tab. 2 Hebelpunkte der Kommunalverwaltung und -politik zur nachhaltigen Gestaltung lokaler Ernährungssysteme sowie deren Wirkungsziele.

4.4 Kommunalpolitische Spielräume für die Gestaltung nachhaltiger Ernährungssysteme

Eine erfolgreiche Stärkung nachhaltiger Ernährungssysteme erfordert die Erhöhung des Verbreitungsgrads nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten und die daraus resultierende Reduzierung negativer Auswirkungen der Ernährung auf Umwelt und Gesundheit. Aktuell geht eine Stärkung des Verbreitungsgrads nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten jedoch mit zeitlichen Verzögerungen einher. Diese ergeben sich sowohl beim Aufbau von Wissen über nachhaltige Ernährungsgewohnheiten (B1) als auch im Zuge einer Zunahme der sozialen Anerkennung nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten (B2) (s. Abb. 1). Beide Dynamiken entsprechen dem Systemarchetyp „Gleichgewichtsprozess mit Verzögerung“, da jeweils zeitintensive Prozesse hinter den Entwicklungen stehen. Dem kann aus Sicht der Kommunalpolitik und -verwaltung über den Hebelpunkt des verstärkten Fokus kommunaler Bildungspolitik auf nachhaltige Ernährung begegnet werden (s. Abb. 1 und Tab. 2). Dieser setzt genau dort an, wo die zeitlichen Verzögerungen in den Rückkopplungsschleifen B1 und B2 am intensivsten sind: Er stärkt das Wissen über nachhaltige Ernährungsgewohnheiten (B1) und erhöht die soziale Anerkennung für nachhaltige Ernährung (B2). Trotz der Aktivierung dieses Hebelpunktes ist jedoch weiterhin mit zeitlichen Verzögerungen zu rechnen, da sowohl der Aufbau von Wissen als auch der Aufbau von Anreizen sozialer Anerkennung nicht unmittelbar erfolgen. Gleichzeitig ist darauf zu achten, wann Sättigungszustände eintreten. Ansonsten besteht die Gefahr, dass mehr als notwendig in den Bildungsbereich investiert wird und damit personelle, ideelle und/oder finanzielle Ressourcen verschwendet werden (Senge 2021, S. 451).

Als zweiter zentraler Hebelpunkt gilt der verstärkte Fokus kommunaler Wirtschaftspolitik auf nachhaltige Ernährung (s. Abb. 1 und Tab. 2). Über diesen können Kommunalpolitik und -verwaltung folgende Wirkungen erzielen: eine Erhöhung der Resilienz der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft (R2) sowie eine Erhöhung der Spezialisierungsbestrebungen lokaler Ernährungswirtschaft auf nachhaltige Produkte (R1). Beides stärkt langfristig das Angebot von Produkten für nachhaltige Ernährung. Diese Entwicklung ist zentral, da sich der Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten nur verbessern kann, wenn ein solches Angebot vor Ort besteht. Zudem können über den Hebelpunkt weitere soziale Anreize für nachhaltige Ernährungsgewohnheiten (B2) gesetzt werden. Dies beruht auf einem angenommenen Nachahmungseffekt bei lokalen Organisationen und der Bevölkerung, wenn Kommunalpolitik und -verwaltung als Vorbilder vorangehen. Letztlich ist dieser Hebelpunkt gerade auch relevant, um eine einseitige Problembearbeitung bei der Stärkung nachhaltiger Ernährungssysteme durch Kommunalpolitik und -verwaltung zu vermeiden. Politische Akteur*innen verfolgen bei umwelt- und gesundheitsbezogenen Problemen bisher häufig einseitige Lösungsstrategien, die rein auf individuelle Verhaltensänderungen der Konsument*innen abzielen (z. B. über Bildungsmaßnahmen zur sog. „Bewusstseinsbildung“). Dies geschieht im Ernährungsbereich auf Bundes-, Landes- und auch auf kommunaler Ebene (Doernberg et al. 2019; Baldy 2019; Sipple und Schanz 2019). Hierbei wird oft einseitig auf die (Verbraucher*innen-)Bildung gesetzt. Grundlegende und langfristig effektivere Maßnahmen wie die gezielte Stärkung von Betrieben der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft über die kommunale Wirtschaftspolitik werden hingegen kaum in Betracht gezogen.

Die Modellierung zeigt, dass das beschriebene Ungleichgewicht in der Ansteuerung der Hebelpunkte dazu führen kann, dass nachhaltige Ernährungsgewohnheiten zwar gestärkt werden, die Anzahl der Betriebe der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft jedoch weiter abnimmt. Langfristig steht so einem zunehmenden Verbreitungsgrad nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten (durch Bildungsmaßnahmen und den Abbau motivationaler Barrieren) ein fehlendes Angebot von Produkten für nachhaltige Ernährung gegenüber (durch fehlende kommunale Ernährungswirtschaftspolitik). Um diesem Systemarchetyp zu begegnen, müssen Lösungsstrategien gewählt werden, die bewusst an beiden Hebelpunkten des Systems ansetzen (Senge 2021, S. 463).

5 Fazit und Ausblick

Der vorliegende Beitrag identifiziert zwei konkrete Hebelpunkte, um nachhaltige Ernährungssysteme zu stärken: die kommunale Wirtschaftspolitik und die kommunale Bildungspolitik. Hinter beiden liegen jeweils größere Handlungsfelder. Hierfür stehen Kommunalpolitik und -verwaltung viele Instrumente zur Verfügung, die jedoch auf das Ziel der Stärkung nachhaltiger Ernährungssysteme ausgerichtet werden müssen. Der Hebelpunkt Fokus der kommunalen Wirtschaftspolitik auf nachhaltige Ernährung wird in einem weiteren Beitrag dieses Sammelbandes aufgegriffen (Sipple et al. 2023) und ein diesbezüglicher Praxisleitfaden für Kommunalpolitik und -verwaltung vorgestellt (Sipple und Wiek 2023).

Bisher beschränken sich Bemühungen zur Erhöhung des Verbreitungsgrades nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten auf das individuelle Kaufverhalten einzelner Verbraucher*innen. Sie adressieren kaum die Betriebe der lokalen Nahrungsmittelproduktion, -verarbeitung, -versorgung und -entsorgung (Baldy 2019; Sipple und Schanz 2019, 2021). Entsprechend liegt der Fokus von Kommunalpolitik und -verwaltung bisher vor allem in der Ernährungsbildung (Galda 2017; Morgan 2009; Ilieva 2019). Der Beitrag zeigt, dass eine einseitige Herangehensweise langfristig zu Paradoxien führt. Nachhaltige Ernährungsgewohnheiten müssen auf ein adäquates Angebot vor Ort treffen, um sich langfristig etablieren zu können. Andernfalls mag es zwar Wissensbestände und Bewusstsein für nachhaltige Ernährungsgewohnheiten vor Ort geben, aber kaum Betriebe mit dem dazu passenden Produktangebot. Dies ist bereits in vielen Schulen in Deutschland zu beobachten: Während im Lehrplan Inhalte zu gesunder und nachhaltiger Ernährung vermittelt werden, entspricht das Angebot der Schulmensa oft nicht den Anforderungen einer nachhaltigen Ernährung nach den Richtlinien der DGE (2022a, b). Wenn Kommunalpolitik und -verwaltung lokale Ernährungssysteme nachhaltig gestalten wollen, muss auch die lokale nachhaltige Ernährungswirtschaft über eine kommunale Ernährungswirtschaftspolitik gestärkt werden (Sipple und Wiek 2023, S. 14–15). Ebenso sollte eine kommunale Ernährungsbildungspolitik verfolgt werden, die sich an die gesamte Stadtgesellschaft richtet. Solche Angebote können den Bürger*innen Wissen über nachhaltige Ernährung vermitteln und so die Verbreitung nachhaltiger Ernährungsgewohnheiten stärken (Schrode et al. 2019; Grundmann et al. 2022; Meyer 2023).

Der Beitrag zeigt auf, dass aufseiten der Kommunalpolitik und -verwaltung durchaus Hebelpunkte vorhanden sind, um eine nachhaltige Transformation des lokalen Ernährungssystems zu unterstützen. Kommunen müssen besonders bei der Stärkung einer nachhaltigen Ernährungswirtschaft vor Ort tätig werden. Andernfalls wird es in naher Zukunft in vielen Bereichen der lokalen Ernährungswirtschaft kaum noch ortsansässige KMUs geben. Die damit einhergehende sichtbare Abnahme der Vielfalt des lokalen (Nahrungsmittel-)Angebots ist ein oft irreversibler Verlust. Dies verringert auch das Potenzial, über die Geschäftsmodelle und -praktiken lokaler Unternehmen eine nachhaltige Entwicklung zu fördern und nachhaltige Ernährungsgewohnheiten vor Ort zu etablieren.