In dieser Arbeit wurden zwei Ziele verfolgt. Das erste Ziel war die Systematisierung einer didaktisch orientierten Rekonstruktion zur Strukturierung eines mathematischen Inhalts ausgehend vom Kern des Inhalts mit dem Ziel, normative Aussagen über Wissensinhalte für Lehrkräfte zu generieren. Darauf resultierte das zweite Ziel, welches die Erprobung der Methode war. Hier war das Ziel, einen Kanon möglicher Wissenselemente anhand der Gesetze der großen Zahlen innerhalb der Wahrscheinlichkeitsrechnung exemplarisch mithilfe der didaktisch orientierten Rekonstruktion zu identifizieren. Es lässt sich resümieren, dass beide Ziele erreicht wurden.

Eine Systematisierung der didaktisch orientierten Rekonstruktion ist gelungen. Dazu wurden zwei Teilprozesse beschrieben und mit theoretischen Bezügen belegt. Von hoher Relevanz ist die Berücksichtigung von Zielsetzung und Zielgruppe, welche vor den Teilprozessen der Methode beschrieben werden sollten. Dieser Beschreibung der Zielsetzung und -gruppe wurde um die Einteilung größerer mathematische Inhaltsbereiche ergänzt, sodass die Schritt 1–5 mit kleineren Bereichen durchgeführt werden konnten. Der Teilprozess Didaktisierung zeigt Möglichkeiten auf, ausgehend vom Kern des mathematischen Inhalts, diesen im weiteren Verlauf zu didaktisieren und eine ungewichtete Auflistung fachlicher und fachdidaktischer Aspekte zu einem mathematischen Teilbereich zu erhalten. Dafür werden im mathematischen Kern des Inhalts die mathematischen Konzepte betrachtet, in der Integration der Bezugssysteme mögliche Anwendungen und -felder und das benötigte Vorwissen analysiert. Anschließend werden verschiedene Darstellungsebenen und Grundvorstellungen mit einbezogen. Im letzten Schritt werden weitere grundlegende fachdidaktische Aspekte analysiert. Für jeden mathematischen Teilbereich wird ein eigener Durchgang durchgeführt, um jeweils strukturierte Auflistungen zu erhalten. Im Teilprozess Rekonstruktion werden diese dann strukturiert bewertet, indem der Zielgruppe und -setzung entsprechend die Auflistung mithilfe von Kategorien relevante Wissenselemente identifiziert werden können. Ziel dieser Kategorien sind die Formulierung von Wissenselementen ausgehend von der ungewichteten Auflistung aus der Didaktisierung, der Vergleich der jeweiligen Wissenselemente sowie die Identifikation von Grenzen. Mithilfe der didaktisch orientierten Rekonstruktion lassen sich normative Aussagen erzeugen. Diese Methode ist neuartig, da die strukturgebende Komponente eine Offenlegung des Prozesses zu jedem Punkt der Durchführung ermöglicht. Normative Aussagen bzw. Entscheidungen sind transparenter, weil diese zu ihrem Zeitpunkt des Eintretens klar sind. Diese Transparenz hat aber ihre Grenzen, weil nicht jede normative Entscheidung zu jedem Zeitpunkt begründet werden kann. Ein weiteres zentrales Ergebnis ist, dass die Generierung von normativen Aussagen kontextabhängig ist. Diese Kontextabhängigkeit ergibt sich aus folgenden Faktoren:

  • Themenbereich (z. B. der Forschungs- bzw. Datenlage);

  • Kultur, in der sich die durchführende Person bewegt;

  • Zeitpunkt des Entstehens.

Die Methode an sich ist aber nicht kontextabhängig, sondern kann individuell eingesetzt werden, um verschiedene Aspekte zugänglich zu machen bzw. zu elementarisieren.

Für das Erreichen des zweiten Ziels wurde die didaktisch orientierte Rekonstruktion im Hinblick auf die Gesetze der großen Zahlen innerhalb der Wahrscheinlichkeitsrechnung angewandt. Die Zielsetzung war die Identifikation von Wissenselementen. Die Zielgruppe waren Lehrkräfte der Sekundarstufen I und II, also einem gymnasialen Lehramt mit Mathematikunterricht in der Oberstufe. Die Gesetze der großen Zahlen wurden in das empirische Gesetz der großen Zahlen, das schwache Gesetz der großen Zahlen und das starke Gesetz der großen Zahlen eingeteilt. Anschließend wurden Durchgänge der Didaktisierung zu den einzelnen Gesetzen der großen Zahlen durchgeführt. Als Ergebnis gab es drei strukturierte, aber ungewichtete Auflistungen relevanter fachlicher und fachdidaktischer Aspekte bezüglich der Gesetze der großen Zahlen. Auf Grundlage dieser Auflistung wurde die Rekonstruktion durchgeführt, in der die einzelnen Kategorien angewandt wurden. Zunächst wurde die Auflistung der Ergebnisse der Didaktisierungsdurchgänge in mögliche Wissenselemente übertragen. Anschließend wurde reflektiert, inwiefern die Wissenselemente zu schulischen Theorien oder zu universitären Theorien zugeordnet werden können. Innerhalb der zweiten Kategorie wurden nun die Wissenselemente strukturiert miteinander verglichen, um verbindende Ideen und vernetzende Wissenselemente zu identifizieren. Zuletzt wurden die Wissenselemente zu den Wissensdimensionen und Wissensarten zugeordnet und Wissensnetze bzgl. verbindender Ideen exemplarisch dargestellt. Es ließ sich ein Wissenskanon (s. Tabelle 6.12) identifizieren und eine Strukturierung wurde exemplarisch durch Wissensnetze dargestellt. Darüber hinaus ließen sich Grenzen elementarisierten akademischen Fachwissens für Lehrkräfte der Sekundarstufe I und II ermitteln und somit ließ sich auch nicht elementarisierbares Fachwissen identifizieren. Die normativen Entscheidungen, die in dieser Erprobung getroffen wurden, weisen Transparenz auf.

Die vorliegende Arbeit trägt auf mehreren Ebenen zur Forschung bei:

  • Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wurde aufgezeigt, wie normative Entscheidungen transparenter gemacht werden und die Durchführung einer stoffdidaktischen Methode offengelegt werden kann. Sie zeigt also Möglichkeiten auf, wie ein Entscheidungsprozess transparent gestaltet und dadurch der Dialog in der Forschung gefördert werden kann. Diese Systematisierung einer stoffdidaktischen Methode ist neuartig in der Hinsicht, dass stoffdidaktische Methoden schon zuvor durchgeführt werden, aber nur selten der Entstehungsprozess offengelegt wurde. Professionswissen von Lehrkräften kann dadurch näher an fachlichen Inhalten konzeptualisiert werden. Damit wurde eine top-bottom-Herangehensweise offengelegt. Die Wissensnetze stellen exemplarisch die Grenzen von elementarisiertem akademischem Fachwissen visuell dar.

  • Auf Praxisebene tragen die Ergebnisse der Durchführung zur Lehrer*innenausbildung und der Fachdidaktikdisziplin bei. Wie in Kapitel 2 dargestellt, begegnen Lehrkräfte zahlreichen Herausforderungen in ihrer Ausbildung und in ihrer Praxis. Die schulische und akademische Mathematik gilt es zu verbinden, um der Losgelöstheit beider Ebenen entgegenzuwirken. Die didaktisch orientierte Rekonstruktion kann bei der Überwindung der doppelten Diskontinuität helfen. Die in Kapitel 6 dargestellten Ausführungen zeigen elementarisiertes akademisches Fachwissen. Dabei werden auch fachdidaktische Konzepte wie die verschiedenen Darstellungsebenen, Grundvorstellungen, Wahrscheinlichkeitsbegriffe und fundamentale Ideen berücksichtigt. Daraus lässt sich folgern, dass auch fachliche Hürden hinter den fachdidaktischen Konzepten miteinbezogen werden können. Die Ergebnisse der didaktisch orientierten Rekonstruktion können auch für die Überarbeitung der fachlichen und fachdidaktischen Veranstaltungen genutzt werden. Einerseits ergeben sich Folgerungen für Fachvorlesungen, in denen zum Beispiel das starke Gesetz der großen Zahlen nur am Rande betrachtet werden könnte. Andererseits können die herausgearbeiteten verbindenden Ideen nicht nur in der Fachveranstaltung, sondern auch in der Didaktik der Stochastik thematisiert werden. Das Fachwissen, welches Lehrkräfte durch eine veränderte Lehrer*innenausbildung generieren würden, könnte wiederum auch Auswirkung auf ihren Stochastikunterricht haben, in dem die Idee der Stabilisierung durchdrungen wird. Mit der vorliegenden Arbeit wird Aufschluss über ein zu erwerbendes fachliches Professionswissen von Lehrkräften in der Stochastik gegeben, auch wenn nur ein kleiner Teilbereich betrachtet wurde.

Die Diskussion der Ergebnisse führt zu der Frage, inwieweit es Übereinstimmungen von Expert*innen bezüglich der Zuordnung zu Wissensdimensionen und Wissensarten gibt und inwieweit diese Ergebnisse dann replizierbar sind. Weiterer Forschungsbedarf ergibt sich aus einem Vergleich zwischen dem Wissenskanon und den fachlichen Aufgaben (angelehnt an den bottom-up-Ansatz von Loewenberg Ball et al., 2008, S.400) im Stochastikunterricht. Auf Grundlage der dargestellten Ergebnisse kann die didaktisch orientierte Rekonstruktion mit dem Ziel, fachdidaktische Wissenselemente für Lehrkräfte zu identifizieren, durchgeführt werden. Dadurch könnte sich die Gelegenheit ergeben, die Trennschärfe vom schulfachbezogenen Fachwissen zu fachdidaktischem Wissen zu erhöhen. Folgende weiterführende Forschungsfragen ließen sich anschließen:

  • Inwieweit lassen sich die Netze weiter theoretisch und empirisch fundieren?

  • Inwieweit stimmt der hier aufgeführte Wissenskanon mit dem Beitrag zu den Gesetzen der großen Zahlen von Stohl (2005) überein?

  • Inwieweit sind Teile der verbindenden Ideen fundamental?

Insbesondere die letzte Frage scheint von stoffdidaktischer Bedeutung zu sein, weil es eine Aktualisierung von fundamentalen Ideen in der Stochastik bedeuten kann. Es ergeben sich aber auch offene Fragen auf methodischer Ebene. Auf Grundlage der dargestellten Ergebnisse hinsichtlich der Transparenz und Offenlegung wäre zu fragen, inwieweit normative Entscheidungen und ihre potentielle Intransparenz minimiert werden könnten und der Forschungsprozess noch offener gestaltet werden könnte. Eine Integration und Abgrenzung der didaktisch orientierten Rekonstruktion vom und zum Verfahrensrahmen von Salle und Clüver (2021) steht noch aus. In der Methodenbeschreibung wurden die Aspekte des Vereinfachens aktualisiert und erneuert. Denkbar wäre der Miteinbezug weiterer didaktischer Konzepte, insbesondere eine weitere Ausdifferenzierung von Darstellungsebenen wie zum Beispiel Sprachregister nach Prediger und Wessel (2012).

Das Potential stoffdidaktischer Forschung konnte in der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden. Die Methodik konnte systematisiert und erprobt werden. Aspekte innerhalb der Methode können sich mit anderen Schwerpunkten in der Zielsetzung ändern. Die Methode und ihr logisch strukturierter Aufbau ändert sich dabei nicht.