Das folgende Kapitel schlägt eine Brücke von den theoretischen Grundlagen zu dem methodischen Teil. Zunächst werden dafür die Kenntnisse aus Kapitel 2 und 3 gefolgert. Das Kapitel 2 beschreibt die fachlichen Anforderungen, die Lehrkräfte bei der fachlichen und fachdidaktischen Ausbildung absolvieren müssen. Im Kapitel 3 werden verschiedene Konzeptualisierungen dargestellt, die die professionellen Kompetenzen und somit auch das professionelle Fachwissen von Lehrkräften erfassen. Diese Arbeit setzt im Prozess zur Konzeptualisierung des Fachwissens weiter vorn an, indem mögliches Fachwissen anhand einer stoffdidaktischen Analyse strukturiert werden soll. Deshalb werden nun die in Kapitel 3 dargestellten Konzeptualisierungen betrachtet und begründet, wozu der theoretische Ansatz der didaktisch orientierten Rekonstruktion gewählt wurde. Anschließend wird begründet, warum die Wahrscheinlichkeitsrechnung, insbesondere die Gesetze der großen Zahlen, als Beispiel für die Anwendung der didaktisch orientierten Rekonstruktion gewählt wurde, indem die Folgerungen aus dem Kapitel 2 sowie aus dem Abschnitt 3.5 genutzt werden.

An dieser Stelle lässt sich noch einmal festhalten: Stoffdidaktische Methoden wurden für zuvor genannte Konzeptualisierungen genutzt, auch wenn nicht klar ist, wie systematisch dies erfolgte. Dabei können stoffdidaktische Methoden in Form von (didaktischen) Entscheidungen auftreten oder aber auch wie bei COACTIV durch Literaturrecherchen erfolgen. Eine systematische Herangehensweise ist dabei nicht ersichtlich. In dieser Arbeit soll eine solche Systematisierung erarbeitet werden.

Stoffididaktische Forschungsmethoden versuchte Heinz Griesel schon in den 1970er Jahren zu systematisieren und ihren wissenschaftlichen Wert zu begründen. Griesel (1971) definiert dabei Ziele einer didaktischen Orientiertheit mathematischer Analysen:

  1. a)

    Didaktisch orientierte mathematische Analysen sind nicht um der mathematischen Forschung geschrieben worden, also nicht um eines Selbstzweckes willen.

  2. b)

    Sie haben stets das Endziel, den mathematischen Lernprozess besser organisieren zu wollen, bzw. einen Beitrag zur besseren Organisation zu liefern.[...]

  3. c)

    Sie haben u.a. das Ziel den mathematischen Kern traditioneller Methoden und Unterrichtspraxis, die sich erfahrungsgemäß als praktikabel erwiesen haben, herauszuschälen.

  4. d)

    Sie haben das Ziel, das zu analysieren, was man einen natürlichen Zugang nennen könnte, bei dem man sich an den elementaren Bedürfnissen und Anwendungen der Zahlen im täglichen Leben unter Einschluß des Messens und der Größen orientiert. Man muß hierbei sozusagen dem Mann auf der Straße, dem Handwerker, der Hausfrau, zusehen, alle Verwendungssituationen von Zahlen beobachten, um von hier Gesichtspunkte für eine mathematische Analyse zu finden.

(Griesel, 1971, S. 79 f.)

Weiterhin verfeinert er diese Ziele und nimmt die Formulierung inhaltlicher Lernziele mit auf:

Ziel der im wesentlichen mit mathematischen Methoden arbeitenden didaktisch orientierten Sachanalysen ist es, eine bessere Grundlage für die Formulierung der inhaltlichen Lernziele und für die Entwicklung, die Ausgestaltung und den Einsatz eines differenzierten methodischen Instrumentariums zu geben. (Griesel, 1974, S. 118)

Auf die Vorteile von mathematischen Analysen hinsichtlich der Formulierung der Lernziele weist Griesel (1971, S. 80) hin. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Lernziele ohne eine mathematische Analyse nicht klar formulierbar sind und deshalb „zu vage und ungenau“ (S. 80) bleiben. Er geht sogar noch weiter und erläutert, dass die mathematische Analyse erst die begriffliche Grundlage für empirische Untersuchungen liefert, „die ohne eine solche Grundlage völlig in der Luft hängen und [zum Teil] wertlos sind“ (S. 80). Eine mögliche Abfolge einer stoffdidaktischen Analyse wurde aber nicht weiter formuliert, sondern ausschließlich über die Wissenschaftlichkeit der Methode elaboriert.

Die zentrale Annahme in der vorliegenden Arbeit ist also, dass eine systematische stoffdidaktische Methode Wissenselemente im Hinblick auf die Zielgruppe „Lehrkräfte“ strukturieren kann. Somit können zwei Ziele benannt werden, die im folgenden ausgeführt werden.

Erstes Ziel dieser Arbeit ist die Systematisierung einer didaktisch orientierten Rekonstruktion (als einer stoffdidaktischen Analyse) zur Strukturierung eines mathematischen Inhalts ausgehend vom Kern des Inhalts mit dem Ziel, normative Aussagen über Wissensinhalte für Lehrkräfte generieren zu können.

Die so gewonnenen normativen Aussagen über Wissensinhalte von Lehrkräften werden im folgenden elementarisiertes akademisches Wissen genannt. Dieses ist akademisches Wissen nach einer auf die Zielgruppe der Lehrkräfte ausgerichtete Elementarisierung. Es beschreibt das Fachwissen, welches Lehrkräfte in ihrer fachlichen Ausbildung erworben haben müssen, um die nötige fachliche Tiefe für den Mathematikunterricht, aber auch für den Erwerb neuen Wissens aufweisen zu können. Die hier erwähnte Elementarisierung wird von Griesel (1974) wie folgt definiert:

Es handelt sich hier darum, mathematische Inhalte und Theorien auf ein niedrigeres Niveau herunterzutransformieren mit dem Ziel der Anpassung an den geistigen Entwicklungsstand des Lernenden. [...] Elementarisierung ist teils mit Reduktionen, teils mit Ausweitungen verbunden. (Griesel, 1974, S. 117)

Elementarisierung bedeutet also nicht nur das Auslassen von Inhalten oder Strukturen, sondern auch das Hinzufügen von (didaktischen) Elementen, damit ein Themeninhalt für die Zielgruppe verständlich wird.

Dieses elementarisierte akademische Wissen kann auch bewertet werden hinsichtlich seiner Wissensdimensionen, die in Tabelle 4.1 definiert werden.

Tabelle 4.1 Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Wissensdimensionen

Dieses Wissen kann in verschiedene Wissensarten nach Neuweg (2011) aufgefasst werden:

  • Objektwissen (deklarativ und prozedural)

  • Metawissen (z. B. Struktur der Disziplin, Paradigmen, Methodologie) (S. 586)

Diese Systematisierung soll auch anhand eines Beispielthemas elaboriert werden. Diese Exemplarisierung soll im Bereich der Wahrscheinlichkeitsrechnung erfolgen. Wie in Abschnitt 3.5 aufgeführt, ist bisher keine systematische Erfassung des Fachwissens von Sekundarstufen-Lehrkräften in der Wahrscheinlichkeitsrechnung bekannt.

Aus fachlicher Sicht lässt sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung als facettenreich bezeichnen. Durch die zu behandelnde Unsicherheit nimmt die Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Sonderstellung im Gegensatz zu anderen Teilbereichen ein. Lehrkräfte müssen fachlichen Herausforderungen gewachsen sein, sodass sie Annahmen über nicht zu zähmende Unsicherheiten treffen können und lernen müssen, mit der Unsicherheit umzugehen.

Aus fachdidaktischer Sicht müssen Lehrkräfte ein Fachwissen haben, um fachdidaktische Strukturierungen deuten und anwenden zu können. Dazu zählen fundamentale Ideen, Grundvorstellungen und Wahrscheinlichkeitsbegriffe, also Zugänge zu Wahrscheinlichkeiten. Insbesondere die verschiedenen Zugänge zu Wahrscheinlichkeiten erfordern ein Verständnis der Struktur der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Hier folgt eine Beschränkung auf die Gesetze der großen Zahlen, da die Wahrscheinlichkeitsrechnung ein großes Feld ist und den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde. Außerdem sind die Gesetze der großen Zahlen teilweise der schulischen Mathematik und der akademischen Mathematik zuzuordnen, sodass Ergebnisse im Hinblick auf ein elementarisiertes akademisches Fachwissen aufschlussreich sein können. Stohl (2005) bezeichnt die Gesetze der großen Zahlen als problembehaftet, weil sie häufig von Lehrkräften missverstanden werden. Andererseits ist die Idee, dass sich relative Häufigkeiten bei erhöhter Stichprobenzahl stabilisieren, eine zentrale Annahme im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und findet daher auch Verwendung in den big ideas, den Grundvorstellungen sowie in den Wahrscheinlichkeitsbegriffen und wird als eine der fundamentalen Ideen von Heitele (1975) benannt. Deshalb hat nicht nur das empirische Gesetz der großen Zahlen Bewandtnis für das Fachwissen von Lehrkräften. Es ist davon auszugehen, dass Lehrkräfte auch Kenntnisse zum schwachen und starken Gesetz der großen Zahlen haben sollten. Außerdem zeigen die unterschiedlichen Ausprägungen der mathematischen Strenge und Relevanz für die Schule dieser verschiedenen Sätze Potential, um die Methode zu erproben.

Deshalb ist das zweite Ziel dieser Arbeit, einen Kanon möglicher Wissenselemente anhand der Gesetze der großen Zahlen innerhalb der Wahrscheinlichkeitsrechnung exemplarisch mithilfe der didaktisch orientierten Rekonstruktion zu identifizieren. Damit soll die hier genannte Methode erprobt werden.

Die Abbildung 4.1 zeigt das Forschungsdesign kurz auf. Für Ziel 1, die Ausführungen zur didaktisch orientierten Rekonstruktion, ist das Erkenntnisinteresse die Systematisierung. Das methodische Vorgehen ist hier folgendes: Strukturell basierend auf Kirsch (1977) und Kattmann et al. (1997) werden theoretische Belege durch eine Dokumentenanalyse zur Strukur hinzugefügt. Die wissenschaftliche Vorgehensweise beruht also auf einer Methodologie bzw. Wissenschaftstheorie. Bei Ziel 2 wird die vorher systematisierte Methode angewendet. Es wird also eine stoffdidaktische Analyse durchgeführt, die zur normativen Theoriebildung beiträgt.

Abbildung 4.1
figure 1

Forschungsdesign dieser Arbeit

Im Folgenden wird die Methode der didaktisch orientierten Rekonstruktion schrittweise beschrieben und mit theoretischen Bezügen belegt.