Ziel dieses Kapitels ist die Aufarbeitung des Fachwissens von Lehrkräften im mathematischen Teilbereich der Stochastik. Dafür wird im Abschnitt 3.1 der Begriff „Wissen“] in Abgrenzung zur Kompetenz definiert, weil viele Studien die Professionskompetenzen von Lehrkräften fokussieren und eine Unterscheidung für die Anschlussfähigkeit relevant ist. Weiterhin werden in Abschnitt 3.2 verschiedene Konzeptualisierungen des Professionswissens bzw. der -kompetenzen dargestellt, welche vielfach auf Shulman und Bromme beruhen. Weitere Konzeptualisierungen sind die MKT-Studie, die Coactiv-Studie und die TEDS-M-Studie, welche kurz aufgeführt werden. Dabei wird die Konzeptualisierung des Fachwissens und deren Entstehung in den Blick genommen. Im Anschluss wird im Abschnitt 3.3 das schulmathematische Wissen von Felix Klein aufgezeigt und sein Ziel der Überwindung der doppelten Diskontinuität in der Lehrerbildung näher erläutert. Darauf folgend wird eine neuere Wissenskonzeptualisierung des school-related content knowledge (s. Abschnitt 3.4) dargestellt. Diese beruht auf der bestehenden doppelten Diskontinuität und beschäftigt sich mit Wissen, welches auf Verbindungen zwischen akademischer und schulischer Mathematik beruht. Abschließend werden in Abschnitt 3.5 einzelne Arbeiten zum Professionswissen innerhalb der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufgezeigt.

Es stellt sich heraus, dass

  1. 1.

    der Entstehungsprozess der Konzeptualisierung häufig nicht offengelegt ist;

  2. 2.

    die Gefahr besteht, wichtige Aspekte mathematischen Wissens nicht erfassen, wenn es ausgehend von den Tätigkeitsbereichen konzeptualisiert wird;

  3. 3.

    auf inhaltlicher Ebene innerhalb der größeren Studien wenige Items zur Wahrscheinlichkeitsrechnung operationalisiert wurden;

  4. 4.

    es einen großen Forschungsbedarf zum Professionswissen bezüglich der Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt.

Diese Folgerungen werden in Abschnitt 3.6 nach einer kurzen Zusammenfassung elaboriert.

3.1 Allgemeine Begriffsklärung: Wissen und Kompetenz

As researchers it behooves us to: be as explicit as possible about our conceptual models, so that others may better understand what we do and do not take into account; to be comparably explicit about our methods, so that others can understand, replicate, and apply them; and be cautious about drawing conclusions that are warranted by assumptions, models, and data. (Schoenfeld, 2011, S. 333)

Schoenfeld (2011) betont in dem oben genannten Zitat die Bedeutung, so explizit wie möglich mit unseren konzeptuellen Modellen zu sein. Sie sollen dadurch verständlicher werden und auch vergleichbar zu anderen Modellen. In diesem Teil der Arbeit werden, in Abgrenzung zum Kompetenzbegriff, der zugrunde liegende Wissensbegriff und das Kompetenzmodell definiert sowie von anderen Auslegungen dieser Begrifflichkeiten unterschieden.

Der Kompetenzbegriff, welcher insbesondere durch die von PISA angeregte Diskussion zur Bildungsqualität eine hohe Relevanz erfährt, wird im Folgenden erläutert. In vielen Arbeiten wird der Kompetenzbegriff nach Weinert et al. (2001) als Grundlage für Konzeptualisierungen (z. B. Baumert & Kunter, 2006, Blömeke et al., 2010) genutzt. In dieser Definition werden neben kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten ebenso motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften erfasst, welche auch Handlungskompetenzen genannt werden. Weinert (1999) hat in einem für die OECD erstellten Gutachten eine Übersicht verschiedener Definitionen von Kompetenz vorgenommen:

  1. 1.

    Kompetenzen als generelle kognitive Leistungsdispositionen, die Personen befähigen, sehr unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen,

  2. 2.

    Kompetenzen als kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen beziehen. Diese spezifischen Leistungsdispositionen lassen sich auch als Kenntnisse, Fertigkeiten oder Routinen charakterisieren,

  3. 3.

    Kompetenzen im Sinne der für die Bewältigung von anspruchsvollen Aufgaben nötigen motivationalen Orientierungen,

  4. 4.

    Handlungskompetenz als eine Integration der drei erstgenannten Konzepte, bezogen auf die Anforderungen eines spezifischen Handlungsfeldes wie z. B. eines Berufes,

  5. 5.

    Metakompetenzen als das Wissen, die Strategien oder die Motivationen, welche sowohl den Erwerb als auch die Anwendung spezifischer Kompetenzen erleichtern,

  6. 6.

    Schlüsselkompetenzen als Kompetenzen im unter 2. genannten funktionalen Sinn, die aber für einen relativ breiten Bereich von Situationen und Anforderungen relevant sind. Hierzu gehören z. B. muttersprachliche oder mathematische Kenntnisse.

(Weinert, 1999 zit.n. Hartig & Klieme, 2006, S. 128 f.)

Die zweite Definition stimmt in wesentlichen Punkten „mit der Verwendung des Kompetenzbegriffs im Kontext internationaler Schulleistungsstudien (z. B. PISA, TIMSS, IGLU/PIRLS) sowie der KMK-Bildungsstandards“ (Fleischer, Koeppen, Kenk, Klieme & Leutner, 2013, S. 7) überein. Klieme und Leutner (2006, S. 879) nutzen diese Definition des Kompetenzbegriffs. Sie beschränkt sich auf kognitive Leistungsdispositionen , ohne „die prinzipielle Bedeutung allgemeiner kognitiver Fähigkeiten wie zum Beispiel der Intelligenz oder motivationaler Einstellungen und Orientierungen sowie emotionaler Faktoren für erfolgreiches Handeln in spezifischen Anforderungssituationen in Abrede [zu] stellen“ (Fleischer et al., 2013, S.7). Klieme und Leutner (2006, S. 879) führen aus, dass die Kontextabhängigkeit ein wesentliches Charakteristikum des Kompetenzbegriffes ist. Diese Kontexte können sich auf unterschiedliche Handlungsfelder, aber auch auf fachbezogene Leistungsbereiche beziehen, weshalb die Autoren dies auch „Domäne“ nennen.

Zwei weitere Aspekte der oben genannten Kompetenzdefinition sind die personen- und die situationsspezifische Komponente. Kognitive Leistungsdispositionen sind personenbezogene Merkmale. Die Annahme ist, dass „Kompetenzen durch Erfahrung und Lernen in relevanten Anforderungssituationen erworben sowie durch äußere Interventionen beeinflusst werden können“ (Klieme & Leutner, 2006, S. 880). Die situationsspezifische Komponente ist in dieser Annahme enthalten und beeinflusst maßgeblich die zu erlernenden Kompetenzen.

Mayer (2003, S. 265) fasst Ansätze für die Definition von Kompetenz wie folgt zusammen: „Competency can be defined as the specialised knowledge one has acquired that support cognitive performance, and expertise is a very high level of competency“. Auch hier sind Kenntnisse, Fertigkeiten und Routinen kontextspezifisch und funktional, werden aber als Wissen bezeichnet. Eine genaue Abgrenzung zwischen Wissen und Kompetenzen erscheint schwierig. Es kann aber davon ausgegangen werden, „dass sich im situativen Vollzug, im ‚kompetenten‘ Handeln deklaratives Wissen, prozedurales Wissen und Fertigkeiten, Einstellungen (beliefs) sowie Regulationskomponenten (z. B. metakognitive Strategien) verknüpfen“ (Klieme & Hartig, 2008, S. 19).

Im Rahmen von PISA wird eine literacy-orientierte Rahmenkonzeption (s. auch Abschnitt 2.3) verwendet, die sich auf die Untersuchung von drei Kompetenzbereichen, der Lesekompetenz, der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Kompetenz fokussiert (Drechsel, Prenzel & Seidel, 2020, S. 356). Die mathematische Kompetenz steht „weniger für alltägliche Rechenfertigkeiten, sondern für die Nutzung von Mathematik als Werkzeug für die Modellierung von Zusammenhängen und für das Lösen von Problemen“ (Drechsel et al., 2020, S. 356). Mathematisches Wissen ist also eine Komponente mathematischer Kompetenzen.

Wissen stellt einen relativ dauerhaften Inhalt des Gedächtnisses dar, dessen Bedeutung durch soziale Übereinkunft festgelegt ist. Vom Wissen eines bestimmten Menschen ist in der Regel nur die Rede, wenn er Überzeugung von der Gültigkeit dieses Wissens hat. (Renkl, 2020, S. 32)

Dabei wird häufig zwischen deklarativem Wissen und prozeduralem Wissen unterschieden. Deklaratives Wissen (Merkregel „Wissen, dass“) umfasst sowohl einzelne Fakten als auch komplexes Zusammenhangswissen. Oftmals wird auch konzeptuelles Wissen als ein Begriff für tieferes Verständnis deklarativen Wissens genutzt. Ein Beispiel für deklaratives Wissen ist Wissen über den Satz des Pythagoras (Renkl, 2020, S. 5). Deklaratives Wissen ist immer verbalisierbar, also bewusst formulierbar.

Hingegen ist prozedurales Wissen oftmals nicht verbalisierbar, kann also unbewusstes Wissen sein. Prozedurales Wissen („Wissen, wie“) ist das, welches als Können bezeichnet wird. Als Beispiel kann das Lösen von Gleichungssystemen in der Mathematik genannt werden. Die Auslegung von deklarativem und prozeduralem Wissen kann je nach (Modell-)Annahmen unterschiedlich sein (Renkl, 2020, S. 5).

Renkl (2020, S. 5) benennt eine weitere Art von Wissen, das metakognitive Wissen („Wissen über Wissen“), welches sich auf eng mit Wissen verbundene Phänomene bezieht. Auch hier kann eine Unterscheidung zwischen prozeduralem und deklarativem metakognitivem Wissen vorgenommen werden. Ein Beispiel für deklaratives metakognitives Wissen ist das Wissen von typischen Aufgabenmerkmalen oder auch (heuristischen) Strategien. Zum prozeduralen metakognitiven Wissen gehören u. a. auch das Planen des eigenen Vorgehens, also auch das Planen des eigenen Problemlöseprozesses.

Für das Fachwissen von Lehrkräften unterscheidet Neuweg (2011) zwischen Inhaltswissen, wissenschaftstheoretischem Wissen und der Philosophie des Fachs und bezieht sich hierbei auf Arbeiten von Shulman (1986b, 1987) und Bromme (1992). Er bezeichnet das Inhaltswissen als Objektwissen, welches durch deklaratives und prozedurales Wissen unterschieden werden kann. Damit sind oben genannte Definitionen von deklarativem und prozeduralem Wissen konsensfähig und werden in dieser Arbeit weiter betrachtet. Das wissenschaftstheoretische Wissen ist Metawissen, wie zum Beispiel die Struktur der Disziplin, Paradigmen und Methodologie. Es ist also domänenspezifisch. Das Wissen über die Philosophie des Faches beinhaltet „oft inhaltliche Vorstellungen vom Wesentlichen am Fach“ (Neuweg, 2011, S. 586). Letzteres Wissen wird für diese Arbeit nicht weiter betrachtet, weil es einerseits Handlungskompetenzen beinhaltet und andererseits zumindest teilweise dem fachdidaktischen Wissen zuzuordnen ist (Neuweg, 2011, S. 586 ff.).

Wissen kann als Teil des Konzepts der Kompetenz betrachtet werden. Zusätzlich zu der Wissenskomponente kommen laut Hartig und Klieme (2006, S. 128 f.) Fertigkeiten und Routinen hinzu, wenn Wissen mit Kenntnissen gleichgesetzt wird. Dementsprechend ist der Kompetenzbegriff nach Hartig und Klieme (2006, S. 128 f.), bei dem Kompetenzen als kontextspezifische Leistungsdispositionen gesehen werden können, auch hier anwendbar, obwohl hier weiterhin von Wissen gesprochen wird.

Das Fachwissen von Lehrkräften wird in dieser Arbeit hinsichtlich des Inhaltswissens und des wissenschaftstheoretischen Wissens nach Neuweg (2011) konzeptualisiert. Diese Wissensformen sind auf Arbeiten von Shulman und Bromme zurückzuführen, welche im nächsten Abschnitt in den Fokus genommen werden. Im Anschluss werden weitere Konzeptualisierungen von größeren internationalen Studien zur professionellen Kompetenz von Lehrkräften eingeführt.

3.2 Konzeptualisierungen professionellen Wissens von Lehrkräften

Das folgende Kapitel befasst sich mit den Anfängen des Professionswissens bei Lehrkräften sowie ausgewählten Konzeptualisierungen. Zunächst werden die von Shulmans entwickelte Triade des professionellen Wissens und Brommes Fortführungen erläutert. Anschließend werden Konzeptualisierungen von ausgewählten Studien dargestellt. Hier wurden die Konzeptualisierungen der Michigan-Group, COACTIV sowie TEDS-M ausgewählt. Diese drei Studien haben eine hohe Sichtbarkeit und deren Konzeptualisierungen wurden vielfach bei weiteren Forschungsprojekten übernommen bzw. adaptiert.

3.2.1 (1) Konzeptualisierung professionellen Wissens nach Shulman

The person who presumes to teach subject matter to children must demonstrate knowledge of that subject matter as a prerequisite to teaching. (L. S. Shulman, 1986b, S. 5)

L. S. Shulman (1986b) setzte sich mit der Frage auseinander, wie das Professionswissen als kognitive Komponente der professionellen Kompetenz von Lehrkräften dargestellt werden kann. Dabei etablierte er schulfachunspezifisch die Triade aus Fachwissen (Content Knowledge), fachdidaktischem Wissen (Pedagogical Content Knowledge) und pädagogischem Wissen (General Pedagogical Knowledge). Die Studie rund um Deborah Ball und Heather Hill zum „Learning Mathematics Teaching (LMT)“, der COACTIV-Studie sowie die Studien MT21 und TEDS-M 2008, auf deren Konzeptualisierung sich die meisten aktuellen empirischen Untersuchungen berufen, greifen die Triade Shulmans auf, differenzieren die entsprechenden Wissenskategorien und erweitern das Modell um weitere Professionalisierungsmerkmale.

Fachwissen bezieht sich auf die Wissensmenge und -organisation des Wissens im Kopf der Lehrkraft. In den verschiedenen Fachbereichen gibt es unterschiedliche Arten, die inhaltliche Struktur des Wissens zu diskutieren. Um richtig über inhaltliches Wissen nachdenken zu können, muss Wissen über die Kenntnis von Fakten oder Konzepten eines Bereichs hinausgehen. Es erfordert ein Verständnis der Strukturen des Faches. Weiterhin schreibt L. S. Shulman (1986b, S. 9), dass Lehrkräfte nicht nur in der Lage sein müssen, für Lernende die akzeptierten Wahrheiten in einem Bereich zu definieren. Sie müssen auch in der Lage sein zu erklären, warum eine bestimmte Aussage gerechtfertigt ist, warum sie wissenswert ist und wie sie sich zu anderen Aussagen verhält, sowohl innerhalb des Fachs als auch außerhalb, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis (L. S. Shulman, 1986b, S. 9). L. S. Shulman (1986b, S. 8 f.) definiert das Fachwissen als das Wissen, das Verstehen, die Fähigkeiten und das Anordnen von Wissen, wie Schüler*innen lernen. Das Fachwissen hat dabei zwei Grundlagen: Literatur sowie Studien in dem Fachbereich und „die historische sowie philosophische Gelehrsamkeit“ (L. S. Shulman, 1986b, S. 9) in dem gewählten Studienfach. Shulmans Grundannahme ist, dass Lehren eine gelernte Profession ist (L. S. Shulman, 1986b, S. 8 f.). Folgende Elemente und Annahmen für das Fachwissen von Lehrkräften sieht er als relevant an:

  1. 1.

    Eine Lehrkraft muss die Struktur des Inhalts, die Prinzipien der konzeptuellen Ordnung, wichtige Fähigkeiten und Ideen in der von ihr unterrichteten Domäne und essentielle und periphäre Teile den Fachs (er-)kennen und verstehen.

  2. 2.

    Eine Lehrkraft braucht tiefgreifendes Wissen über die Prinzipien der „Untersuchung des Feldes“ (L. S. Shulman, 1986b, S. 9), über die Generierung neuer Fragen innerhalb des Feldes sowie auch über die Beurteilung von mangelhaften Ideen, die Expert*innen verwerfen würden, über substantielle und syntaktische Strukturen.

  3. 3.

    Eine Lehrkraft hat nicht nur ein tiefes Verständnis des zu unterrichtenden Fachs, sondern auch eine „breite Bildung als Rahmen für altes Lernen und Fördern von neuem Verstehen“ (L. S. Shulman, 1986b, S. 9).

Das fachdidaktische Wissen ist jenes Wissen, das über das Fachwissen an sich hinausgeht und die Dimension des Fachwissens für den Unterricht umfasst. Shulman bezeichnet dieses Wissen als speziellen Teil des Fachwissens. In die Kategorie des pädagogischen Inhaltswissens zählt er für die am häufigsten unterrichteten Themen in seinem Fachgebiet Darstellungsweisen, also nützliche Formen der Darstellung dieser Ideen, aussagekräftigen Analogien, Illustrationen, Beispiele, Erklärungen und Demonstrationen. Lehrkräfte müssen über eine Ansammlung alternativer Darstellungsformen verfügen, von denen einige aus der Forschung stammen, während andere der Weisheit der Praxis entspringen. Zum fachdidaktischen Wissen gehört seiner Meinung nach auch das Verständnis dessen, was das Lernen bestimmter Themen leicht oder schwer macht: die Vorstellungen und Vorurteile, die Schüler unterschiedlichen Alters und Hintergrunds mitbringen, wenn sie die am häufigsten unterrichteten Themen und Lektionen lernen (L. S. Shulman, 1986b, S. 9). Beim pädagogischen Wissen handelt es sich um das Wissen über allgemeine Grundsätze der Unterrichtsorganisation und des Unterrichtsmanagements

In weiteren Aufsätzen ergänzt Shulman (L. Shulman 1987) diese Triade um weitere Kategorien:

  • Curriculum Knowledge, with particular grasp of the materials and programs that serves as „tools of the trade“ for teachers; [...]

  • knowledge of learners and their characteristics;

  • knowledge of Educational Contexts, ranging from the workings of the group or classroom, the governance and financing of school districts, to the character of communities and cultures; and

  • knowledge of educational ends, purposes and values, and their philosophical and historical grounds.

    (S. 8)

Schumacher (2017, S. 26) verweist in ihrer Arbeit auf Shulmans Fokus des fachdidaktischen Wissens, welches er als Schnittmenge von pädagogischem Wissen und Fachwissen ansieht. Trotzdem betont Shulman die Bedeutung des Fachwissens mit folgender Aussage:

Those who can, do. Those, who understand, teach. (L. S. Shulman, 1986b, S. 14)

3.2.2 (2) Konzeptualisierung professionellen Wissens nach Bromme

Bromme nutzt die Triade Shulmans und differenziert diese für das Professionswissen von Mathematiklehrkräften weiter aus. Auch Bromme geht davon aus, dass Wissen und Fertigkeiten durch eine Ausbildung erwerbbar sind (Bromme, Rheinberg, Minsel, Winteler & Weidenmann, 2006, S. 305).

Brommes (1992) Konzeptualisierung sieht fünf Wissensbereiche vor, um „qualitative Merkmale professionellen Wissens beschreiben zu können“(S. 96). Er ergänzt zu den drei Kategorien nach Shulman noch die Kategorie „Philosophie des Fachinhalts“ und differenziert das Fachwissen in „Wissen der Fachdisziplin“ und „Wissen des Schulfachs“ (Bromme, 1992, S. 96 ff.).

Das fachliche Wissen über Mathematik als Disziplin wird von der Lehrkraft im Fachstudium gelernt und umfasst „u. a. mathematische Aussagen, Regeln und mathematische Denkweisen und Techniken“ (Bromme, 1992, S. 96 f.), während das schulmathematische Wissen die eigene Logik der Schulmathematik betrachtet, so dass Zielvorstellungen über Schule in fachliche Bedeutungen einfließen. Dabei betont Bromme , dass durch die Bedeutungsaspekte des schulmathematischen Wissens auch implizites Wissen beinhaltet wird. Diese Bedeutung des schulmathematischen Wissens als mathematische Grundbildung wurde in Abschnitt 2.3 erläutert. Bromme (1992, S. 97) bezeichnet mit der Philosophie der Schulmathematik „die Auffassungen darüber, wofür der Fachinhalt nützlich ist und in welcher Beziehung die Mathematik zu anderen Bereichen menschlichen Lebens und Wissens steht“. Damit wird auch die bewertende Perspektive der Lehrkraft auf das Fach miteinbezogen, also nicht nur die Auswahl aus dem Curriculum sondern auch, was die Lehrkraft als wesentlich im Fach bezeichnet und was für sie weniger wichtig ist (Bromme, 1992, S. 96 f.).

3.2.3 (3) „Mathematical Knowledge for Teaching“ (MKT) der Michigan-Gruppe

Die Gruppe um Deborah Loewenberg Ball, folgend Michigan-Gruppe genannt, hat in den USA ein Modell entwickelt, um das Professionswissen von Lehrkräften zu erheben. Diese Konzeptualisierung sah zunächst nur Primarschullehrkräfte vor und wurde später auch für Sekundarschullehrkräfte erweitert. Ausgehend von Shulmans Kategorien des Lehrerwissens stellten Ball et al. (2005) die Frage, was Lehrkräfte wissen und können müssen, um ihre Arbeit, das Unterrichten von Mathematik, effektiv durchführen zu können. Dabei gingen sie zweischrittig vor. Im ersten Schritt untersuchten sie qualitativ Videos von unterrichtenden Lehrkräften. Im zweiten Schritt entwickelten sie basierend auf der qualitativen Analyse Maße mathematischen Wissens für das Unterrichten (Loewenberg Ball et al., 2008, S. 4 f.). Sie wählten dabei einen „bottom-up“-Ansatz, in dem sie den Arbeitsalltag von Lehrkräften untersuchten und davon ausgehend Wissen konzeptualisierten (s. Tabelle 3.1).

Tabelle 3.1 Aufgaben von Lehrkräften im Mathematikunterricht Quelle: (Loewenberg Ball et al., 2008, S. 400)

In der Tabelle 3.1 werden die Aufgaben von Lehrkräften im Mathematikunterricht dargestellt. Diese Aufgaben reichen von der Einführung mathematischer Konzepte bis hin zur Prüfung von Äquivalenzen. Es sei angemerkt, dass diese Aufgaben primär für Lehrkräfte der Primar- und Sekundarstufe aufgestellt wurden. Im Gegensatz zu Shulman, der (den Umgang mit) Repräsentationen dem fachdidaktischen Wissen zugeordnet hat, werden sie in diesem Modell dem Fachwissen zugeordnet.

Das fachdidaktische Wissen und Fachwissen wurden in dem Modell in je drei Domänen unterteilt. Die Wissensdomänen des Fachwissens werden in Bezug auf die Ziele dieser Arbeit erläutert.

Das „common content knowledge“ umfasst laut Loewenberg Ball et al. (2008) das Wissen und Können, welches außerhalb des Mathematikunterrichtens genutzt wird. Beispiele dafür sind das Lösen eines mathematischen Problems oder das Rechnen einer Additionsaufgabe. Loewenberg Ball et al. (2008, S. 399) begründen, dass Lehrkräfte den Inhalt kennen und können müssen, um inhaltliche Fehler erkennen zu können. Außerdem müssen Lehrkräfte die richtigen Begriffe und ihre Notation kennen, um die von ihnen gestellten Aufgaben selbst lösen zu können. Auch wenn das „common“ indiziert, dass alle Menschen dieses Wissen haben sollten, betonen Loewenberg Ball et al. (2008), dass sie mit „common“ die vielfältige Anwendbarkeit des Wissens meinen.

Die zweite Domäne „specialized content knowledge“ ist das mathematische Wissen, welches speziell für das Lehren der Mathematik benötigt wird. Dieses Wissen ist für die Lehrkräfte in den Situationen relevant, in denen sie Fehlermuster von Schüler*innen erkennen oder unterschiedliche Lösungswege identifizieren müssen. Loewenberg Ball et al. (2008, S. 400) stellen auch die Bedeutung dieses Wissens bei der Aufschlüsselung komprimierten Wissens heraus. Den Prozess des Komprimierens und Dekomprinierens stellen sie wie folgt dar:

Teaching involves the use of decompressed mathematical knowledge that might be taught directly to students as they develop understanding. However, with students the goal is to develop fluency with compressed mathematical knowledge. (Loewenberg Ball et al., 2008, S. 400)

Darüber hinaus müssen Schüler*innen aber auch lernen, anspruchsvollere mathematische Ideen und Prozesse zu nutzen. Lehrkräfte müssen also spezielle Sachverhalte immer wieder für ihre Schüler*innen vereinfachen können (Loewenberg Ball et al., 2008, S. 399).

Bei der dritten Domäne des mathematischen Fachwissens „Horizon content knowledge“ handelt es sich um die Verbindung der mathematischen Teilbereiche zu anderen Inhalten der Mathematik innerhalb des Lehrplans. Gemäß des Spiralprinzips nach Bruner (1960, S. 52) sollten Lehrkräfte außerdem Inhalte, die in der fünften Klasse unterrichtet werden, auch mit den fortgeführten Inhalten der darauf folgenden Klassen verbinden können.

Im nächsten Abschnitt wird das Forschungsprojekt COACTIV von Baumert et al. vorgestellt, welches u. a. auch das MKT-Modell berücksichtigt und hinsichtlich der Schwerpunktsetzung auf die kognitive Aktivierung von Lernenden relevant ist.

3.2.4 (4) COACTIV

Das Forschungsprojekt COACTIV untersuchte die professionelle Kompetenz von Lehrkräften, den kognitiv aktivierenden Unterricht und die mathematische Kompetenz von Schüler*innen. COACTIV schließt an den PISA-Zyklus 2003/04 an, sodass die Zusammenhänge der professionellen Kompetenz von Lehrkräften mit der mathematischen Kompetenz von Schüler*innen aufgezeigt werden konnte. Das auf theoretischen Annahmen beruhende Kompetenzmodell ist Grundlage für empirische Arbeiten innerhalb des Projekts. Dabei wurden sowohl Shulmans Arbeiten (1986b, 1986a, 1987) als auch Brommes Arbeiten (1992) das erweiterte Modell zur Professionalisierung von Lehrkräften sowie die Ergebnisse der Michigan-Gruppe und der Pilotstudie für die Teacher Education and Development Study in Mathematics (TEDS-M) berücksichtigt.

Das Modell zeigt Aspekte professioneller Kompetenz auf, zu denen das Professionswissen (das spezifische, erfahrungsgesättigte deklarative und das prozedurale Wissen, Überzeugungen/Werthaltungen/Ziele (die professionellen Werte, Überzeugungen, subjektive Theorien, normative Präferenzen und Ziele), die motivationalen Orientierungen und die Fähigkeiten der professionalen Selbstregulation gehören (Krauss et al., 2011, S. 32). Dabei wird sich an dem Kompetenzbegriff nach Weinert (2001, S. 51, s. auch 3.1) orientiert, der hier aber auf die Bewältigung beruflicher Anforderungen übertragen wird (Baumert & Kunter, 2011, S. 31).

Durch den Fokus auf das Fachwissen werden hier nur die Kompetenzfacetten und ihre Entwicklung im Kompetenzbereich des Fachwissens aufgeführt. Das Fachwissen nach Shulman (1986a) wurde laut COACTIV für das Fach Mathematik inhaltlich spezifiziert und mathematisches Fachwissen auf vier Ebenen beschrieben (Krauss et al., 2011):

Ebene 1:

Mathematisches Alltagswissen, über das grundsätzlich alle Erwachsene verfügen sollten.

Ebene 2:

Beherrschung des Schulstoffs (etwa auf dem Niveau eines durchschnittlichen bis guten Schülers der jeweiligen Klassenstufe).

Ebene 3:

Tieferes Verständnis der Fachinhalte des Curriculums der Sekundarstufe (z. B. auch „Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus“, wie sie an der Universität gelehrt wird).

Ebene 4:

Reines Universitätswissen, das vom Curriculum der Schule losgelöst ist (z. B. Galoistheorie, Funktionalanalysis).

Bei COACTIV wurde die Kompetenzfacette im Fachwissen auf der Ebene 3 festgelegt und erhoben (Krauss et al., 2011, S. 143). Dies begründen die Autoren wie folgt: Lehrkräfte sollen ein fundiertes Fachwissen haben, um sicherstellen zu können, dass „Argumentationsweisen und das Herstellen von Zusammenhängen, mithin das Sichern von begrifflichem Wissen, derart erfolgen kann, dass es an die typischen Wissensbildungsprozesse des Fachs, hier der Mathematik anschließen kann“ (Krauss et al., 2011, S. 143). Stofflich geht das mathematische Fachwissen nicht über die Inhalte des Schulcurriculums hinaus, trotzdem verlangen Items der Ebene 3 die Einordnung bestimmter Strukturen des Schulwissens in allgemeinere mathematische Begriffe sowie das Erkennen von Arbeitsweisen der Mathematik an elementaren Gegenständen. Ebene 4 hingegen würde dagegen Wissen aus einem Mathematikstudiums erfordern, welches bei COACTIV aber nicht untersucht wurde. Das Fachwissen wurde in keine weiteren Subfacetten unterschieden (Krauss et al., 2011, S. 143).

Bei diesem Forschungsprojekt wurden Daten von in Deutschland unterrichtenden Mathematiklehrkräften erhoben. In der Studie TEDS-M 2008 hingegen wurden Daten in 16 verschiedenen Ländern und Rahmenbedingungen von angehenden Lehrkräften erhoben, um Rückschlüsse auf die Ausbildung von Lehrkräften ziehen zu können. Diese Studie wird im nächsten Abschnitt beschrieben.

3.2.5 (5) TEDS-M 2008

Die Studie „Teacher Education and Development Study: Learning to Teach Mathematics“ (TEDS-M), welche 2008 durchgeführt wurde, untersucht die Ausbildung von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe I in 16 Ländern und prüft, welche Kompetenzen sie am Ende ihrer Ausbildung aufweisen.

Ziel von TEDS-M war die Beschreibung der Ausprägungen zentraler nationaler und institutioneller Merkmale der Mathematiklehrerausbildung sowie charakteristischer individueller Merkmale angehender Mathematiklehrkräfte für die Sekundarstufe I im internationalen Vergleich (Blömeke et al., 2010, S. 13).

Eine Prämisse bei der Konzeptualisierung ist die Erwartung, dass Lehrkräfte „in erster Linie jene mathematischen Inhaltsgebiete auf einem höheren, reflektierten Niveau beherrschen, die in den Jahrgangsstufen, in denen sie unterrichten werden, relevant sind“ (Döhrmann, Kaiser & Blömeke, 2010, S. 170).

Das mathematische Fachwissen wurde bei TEDS-M sowohl inhaltlich als auch anknüpfend an die theoretischen Grundlagen der TIMS-Studien nach unterschiedlichen kognitiven Prozessen strukturiert. Eine weitere Möglichkeit der Klassifizierung von Items war der Schwierigkeitsgrad von Aufgaben.

Die inhaltliche Struktur weist vier unterschiedliche Inhaltsgebiete auf:

  • Arithmetik: natürliche, ganze, rationale, irrationale, reelle und komplexe Zahlen mit ihren Eigenschaften und Rechenregeln, Bruch- und Prozentrechnung, arithmetische Folgen, Teilbarkeit, Kombinatorik;

  • Geometrie: Messen geometrischer Größen, Abbildungen, Geometrie der Ebene und des Raumes;

  • Algebra: Folgen, Terme, Gleichungen und Ungleichungen, proportionale Zuordnungen, lineare, quadratische und exponentielle Funktionen, Anfänge der Analysis eingeschränkt auf Grenzwerte und Stetigkeit, Lineare Algebra;

  • Stochastik: Darstellung, Beschreibung und Interpretation von Daten, klassische Wahrscheinlichkeitsrechnung.

(Döhrmann et al., 2010, S. 172)

Dabei gab es beim Inhaltsgebiet Stochastik aufgrund des uneinheitlichen Diskussionsstandes eine Konsequenz. „Das Gebiet [wurde] zum einen definitorisch auf den Umgang mit Daten und Grundbegriffen der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ (Döhrmann et al., 2010, S. 171) eingeschränkt. Somit konnte die Stochastik „nur zu einem geringen Anteil in das übergreifende Konstrukt mathematischen Wissens“ (Döhrmann et al., 2010, S. 171) miteinbezogen werden.

Wie auch bei den TIMS-Studien werden die kognitiven Prozesse Kennen, Anwenden und Begründen aufgegriffen:

  • Kennen als kognitiver Prozess beschreibt „u. a. das Erinnern mathematischer Eigenschaften, das Erkennen und Klassifizieren von geometrischen Objekten oder Zahlenmengen, das Ausführen von Rechenprozeduren, das Entnehmen von Informationen aus Tabellen und Diagrammen sowie die Verwendung mathematischer Werkzeuge“ (Döhrmann et al., 2010, S. 172).

  • Döhrmann et al. (2010) betonen die hohe Relevanz von Anwenden, da ausschließlich deklaratives Wissen nur wenig hilfreich bei der Umsetzung von Wissen in die Unterrichtspraxis ist. Anwenden „bezieht sich auf das Lösen von Routineaufgaben, die Entwicklung und Anwendung von Problemlösestrategien, die Verwendung mathematischer Modelle und auf die Darstellung von Daten oder mathematischen Zusammenhängen“ (S.172).

  • Unter Begründen fassen Döhrmann et al. (2010) die „mathematische[n] Argumentations- und Beweisfähigkeiten als auch die Analysefähigkeiten wie das Erkennen und Beschreiben von mathematischen Beziehungen“ (S. 173).

Der Schwierigkeitsgrad von möglichen Items wurde in drei Anforderungsbereiche konzeptualisiert. Das Ziel dabei war es, dass „das gewünschte mathematische Anforderungsspektrum von der Sekundarstufe I bis zur Universitätsmathematik angemessen durch Items im Leistungstest vertreten war“ (Döhrmann et al., 2010, S. 173):

  • Elementares Niveau: Aufgaben, die sich von einem höheren, fachlich reflektierten Standpunkt auf mathematische Themengebiete beziehen, die in der unteren Sekundarstufe I eine Rolle spielen.

  • Mittleres Niveau: Aufgaben, die sich von einem höheren, fachlich reflektierten Standpunkt auf mathematische Themengebiete beziehen, die in der höheren Sekundarstufe I sowie der Sekundarstufe II eine Rolle spielen.

  • Fortgeschrittenes Niveau: Aufgaben zur universitären Mathematik

Shulmans Triade des Professionswissen wird in diversen Studien aufgegriffen und für das Fach Mathematik konzeptualisiert. Die Auseinandersetzung, inwieweit Fach- und fachdidaktisches Wissen trennbar sind, bleibt offen. Für diese Arbeit wird das Fachwissen, den Annahmen von L. S. Shulman (1986b) folgend, genutzt. Brommes Definition von Wissen bezeichnet „die einmal bewusst gelernten Fakten, Theorien und Regeln, sowie die Erfahrungen und Einstellungen“ (Bromme, 1992, S. 10) der Lehrkraft. Er bezieht sich nicht nur auf deklaratives und prozedurales Wissen, sondern auch auf Wertvorstellungen, welche er mit Einstellungen bezeichnet. Seine Wissensdefinition scheint anschlussfähig an den Kompetenzbegriff. Insbesondere der Wissensbereich zur Philisophie des Fachinhalts findet bei Neuwegs Neuweg (2011) explizite Erwähnung.

Das MKT-Modell weist mehrere relevante Facetten auf. Einerseits wird hier klar, dass der Triade Shulmans zwar gefolgt wird, die inhaltliche Auslegung aber unterschiedlich erfolgte. Die Wissensdimensionen sind durch die Analyse der Aufgaben für Mathematiklehrkräfte entstanden. Die Aufgaben für Mathematiklehrkräfte zeigen vielfältige Herausforderungen auf fachlicher Ebene, denen Lehrkräfte in ihrer Unterrichtspraxis begegnen und somit auch indirekt, wie viel Fachwissen Lehrkräfte benötigen. Die Michigan-Gruppe konzeptualisiert innerhalb des „mathematical knowledge for teaching“ das Professionswissen primär von Grundschullehrkräften ausgehend von den Aufgaben der Lehrkräfte, welche anhand von Videostudien erhoben wurden. Heinze et al. (2016) kritisieren dabei, dass unklar bleibt, „wie ein entsprechendes berufsspezfisches Fachwissenskonstrukt für das Sekundarstufenlehramt beschaffen sein muss - insbesondere im Hinblick auf Lehramtsstudierende, die im Studium weiterführendes akademisches Fachwissen erwerben“ (S. 336). Weiterhin scheint die Trennbarkeit zwischen einiger Facetten des Fachwissens und des fachdidaktischen Wissens nicht ersichtlich. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Michigan-Gruppe Wissen ausgehend vom Verhalten von Lehrkräften konzeptualisiert hat. Dadurch wurde das Wissen der Lehrkraft von außen rekonstruiert und wird somit möglicherweise verfälscht. Dennoch liefert die Michigan-Gruppe durch ihren Ansatz einen wichtigen Beitrag in der Professionsforschung von Lehrkräften. In dieser Arbeit wird die Idee einer Analyse der fachlichen Anforderungen verfolgt, indem durch die didaktisch orientierte Rekonstruktion, ausgehend vom mathematischen Kern des Inhalts unter Einbezug fachlicher und fachdidaktischer Strukturierungen, die fachlichen Anforderungen für das Fachwissen von Lehrkräften analysiert werden.

Die Konzeptualisierung von Fachwissen auf Ebene 3 bei COACTIV steht im Widerspruch zur Lehramtsausbildung insbesondere für Lehramtsstudierende der Sekundarstufe II, welche in ihrem Studium ein Fachwissen vermittelt bekommen, das deutlich über das Schulfachwissen hinausgeht. Insbesondere durch die prinzipielle Lösbarkeit des Fachwissenstests von Schüler*innen, die den Leistungskurs besucht haben, verstärkt sich dieser Eindruck (Krauss et al., 2011, S. 153 f.; Heinze et al., 2016, S. 331). Damit scheint der Fachwissenstest einerseits zu leicht, andererseits nicht die Elemente abzufragen, die angehende Lehrkräfte in ihrem Studium erlernen. Die Annahme, dass Fachwissen hauptsächlich in der akademischen Ausbildung gelernt wird, steht dem hier entgegen. Eine weitere Dimension ist die Itementwicklung an sich, die „mithilfe zahlreicher Mathematiklehrerbefragungen und Literaturrecherchen“ (Krauss et al., 2011, S. 144) erfolgte. Einen genaueren Einblick hinsichtlich der Itementwicklung gewähren Krauss et al. dabei nicht, obwohl dieser für die Entwicklung weiterer Testitems von großem Interesse wäre (vor allem angesichts der geringen Fachwissensitemanzahl).

Heinze et al. (2016) werfen bei einer Konzeptualisierung hinsichtlich der Zielgruppe die Frage auf, „wie breit das Fachwissen zu konzeptualisieren ist, und vor allem auch, welche Struktur es aufweist“ (S. 331). Die Konzeptualisierung und Entwicklung der Items erfolgte bei TEDS-M durch das Zurückgreifen auf Items der Vorläuferstudie MT21 und mit Beteiligung der nationalen Forschungsteams (Döhrmann et al., 2010, S. 178). Dies lässt vermuten, dass durch die Beteiligung mehrerer Länder Kompromisse hinsichtlich der Konzeptualisierung und Operationalisierung eingegangen wurden. Es bleibt festzuhalten, dass mit der TEDS-M-Studie das Ziel verfolgt wurde, Fachwissen von Lehramtsstudierenden aus verschiedenen Ländern vergleichbar zu machen, wobei scheinbar Kompromisse hinsichtlich der Tiefe des Fachwissens eingegangen wurden.

Was bei der Betrachtung von COACTIV und TEDS-M deutlich wird, ist die Prämisse, dass Lehrkräfte von einem höheren, fachlich reflektierten Standpunkt auf die Mathematik, die in der Schule unterrichtet wird, blicken können müssen. Auch in der Konzeptualisierung findet sich solch eine Voraussetzung wieder. Wie aber festgelegt wird, ob ein Item zum mathematischen Fachwissen auf Ebene 3 bei COACTIV tatsächlich dort und nicht etwa auf Ebene 2 gehört, oder aber einem der oben genannten Niveaus bei TEDS angehört, wird nur selten klar. Im nächsten Kapitel wird auf die doppelte Diskontinuität, die schon Felix Klein in seiner Vorlesung Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus beschreibt, und auf die Lehrerausbildung und die Anforderungen an Lehrkräfte eingegangen.

3.3 Schulmathematisches Wissen von Felix Klein

In den Konzeptualisierungen aus dem Abschnitt 3.2 wurde ein höherer Standpunkt auf die Mathematik für Lehrkräfte angenommen, welcher in den Hochschulen für die Lehrerausbildung in der Mathematik gelehrt wird. Ziel dieses Abschnitts ist es, die doppelte Diskontinuität nach Klein zu definieren und die Ziele seiner Vorlesung zur Überwindung dieser transparent zu machen. Dieser Abschnitt zielt auch darauf ab, um eine Sensibilisierung der trickle-down-Annahme zu betonen.

3.3.1 Kleinscher Ansatz

In den letzten Jahren hat sich unter den Universitätslehrern [sic.] der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächer ein weitgehendes Interesse an einer zweckmäßigen, allen Bedürfnissen gerecht werdenden Ausbildung der Kandidaten des höheren Lehramts entwickelt. Diese Erscheinung ist erst recht neuen Datums; in einer ganzen langen Zeitperiode vorher trieb man an den Universitäten ausschließlich hohe Wissenschaft ohne Rücksicht auf das, was der Schule not tat, und ohne sich überhaupt um die Herstellung einer Verbindung mit der Schulmathematik zu sorgen. Doch was ist die Folge einer solchen Praxis? Der junge Student sieht sich am Beginn seines Studiums vor Probleme gestellt, an denen ihn nichts mehr an das erinnert, womit er sich bisher beschäftigt hat, und natürlich vergisst er daher alle diese Dinge rasch und gründlich. Tritt er aber nach Absolvierung des Studiums ins Lehramt über, so muss er eben diese herkömmliche Elementarmathematik schulmäßig unterrichten, und da er diese Aufgabe kaum selbstständig mit der Hochschulmathematik in Zusammenhang bringen kann, so nimmt er bald die althergebrachte Unterrichtstradition auf, und das Hochschulstudium bleibt ihm nur eine mehr oder minder angenehme Erinnerung, die auf seinen Unterricht keinen Einfluss hat. Diese doppelte Diskontinuität, die gewiss weder der Schule noch der Universität jemals Vorteil brachte, bemüht man sich nun neuerdings endlich aus der Welt zu schaffen [...]. (Klein, 1908, S. 1 f.)

Die doppelte Diskontinuität tritt also vor allem an zwei Stellen auf. Zu Beginn sehen (Lehramts-)Studierende nur wenige Verbindungen zwischen der akademischen Mathematik und der schulischen Mathematik, die sie in der Schule gelernt haben. Des Weiteren tritt diese Losgelöstheit der beiden Arten von Mathematik auch auf, wenn die Studierenden in die Schule zurückgehen und das erlernte Wissen auf die Schulsituation nicht anwenden können.

Felix Klein versuchte das Phänomen dieser doppelten Diskontinuität durch seine Vorlesungsreihe zu überwinden. Ziel der Vorlesungsreihe war es „die mathematische Wissenschaft als ein zusammengehöriges Ganzes nach allen Seiten wieder zur Geltung zu bringen“ (Klein, 1929, S. v).

Felix Klein lehrte zu einer Zeit, bei der Studierende ihr Studium üblicherweise mit einem Staatsexamen beendeten und eine Gymnasiallehrkraft „noch eher ein Fachgelehrter war“ (Toepell, 2003, S. 178). Toepell (2003) hebt hervor, dass es „immer mehr zu einer weitgehenden Trennung von Schulmathematik und Universität“ (S. 5) gekommen ist. In dieser Zeit „wurde die Kluft zwischen Schule und Hochschule in erster Linie inhaltlich verstanden, nämlich in der Trennung von algebraischer Analysis (Analysis des Endlichen) in der Schule und dem an den Universitäten gelehrten höheren Analysis (Analysis des Unendlichen)“ (Allmendinger, 2016, S. 213). Hervorzuheben ist dabei die Unterscheidung nach Biermann (2010, S. 232 f.) in Tabelle 3.2, die die inhaltlichen Unterschiede zwischen schulischer Mathematik und der akademischen Mathematik herausgearbeitet hat:

Tabelle 3.2 Analysis des Endlichen und des Unendlichen (zitiert nach Biermann (2010, S. 232))

Allmendinger (2016, S. 214) vertritt die Position, dass Felix Klein der Diskontinuität eine methodische Dimension zuschreibt. Dabei verweist sie auf folgenden methodischen Unterschied, welchen Felix Klein im ersten Teil seiner Vorlesung der Arithmetik beschreibt:

Die Art des Unterrichtsbetriebes, wie er auf diesem Gebiete heute überall bei uns gehandhabt wird, kann ich vielleicht am besten durch die Stichworte anschaulich und genetisch kennzeichnen, d. h. das ganze Lehrgebäude wird auf Grund bekannter anschaulicher Dinge ganz allmählich von unten aufgebaut, hierhin liegt ein scharf ausgeprägter Gegensatz gegen den meist auf Hochschulen üblichen logischen und systematischen Unterrichtsbetrieb. (Klein, 1933, S. 6)

Die doppelte Diskontinuität, die es zu überwinden galt, hat also inhaltliche und andererseits methodische Komponenten. Allmendinger wendet sich in ihren Arbeiten einer Charakterisierung der eingenommenen Perspektiven und der von Klein verwendeten Prinzipien zu.

Zur Überwindung der doppelten Diskontinuität nimmt Klein verschiedene Perspektiven ein und verwendet vier Prinzipien, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Im heutigen Sinne würden seine Perspektiven als fachmathematische, mathematikhistorische sowie als mathematikdidaktische Perspektiven beschrieben werden, so Allmendinger (2016). Die vier Prinzipien sind das Prinzip der (innermathematischen) Vernetzung, der Veranschaulichung, der Anwendungsorientierung und das genetische Prinzip, welche vorrangig innerhalb der mathematikdidaktischen Perspektive bei den Vorlesungen zu finden sind. So beschreibt Allmendinger (2016) Kleins Ziel, welches einen Zusammenhang zwischen Schulmathematik und höherer Mathematik herstellt, indem „er eine ganz spezifische fachmathematische Perspektive auf die Themen der Schulmathematik einnimmt“ (S. 216) und die Hochschulmathematik zum Instrument für eine „präzise Darstellung und Durchdringung der Schulmathematik“ (S. 216) wird. Gleichzeitig soll die Schulmathematik zu weiterführenden Fragen führen, die wiederum nur mit der Hochschulmathematik beantwortet werden können (Allmendinger, 2016, S. 216). Dieses Zusammenspiel zwischen Schulmathematik und höherer Mathematik lässt sich als fachmathematische Perspektive bezeichnen.

Bei der mathematikhistorischen Perspektive werden die fachmathematischen Inhalte „durch historische Exkurse und Bemerkungen im größeren Zusammenhang“ (Allmendinger, 2016, S. 216) eingeordnet. Weiter führt Allmendinger (2016) aus, dass diese historischen Exkurse und Bemerkungen im Sinne des historisch-genetischen Prinzips den Verlauf Kleins Vorlesung determinieren sowie auch Stoff und Hintergrundwissen für einen genetisch-orientierten Unterricht liefern. Dabei verweist Allmendinger (2016) darauf, dass Klein keinem systematischen historisch-genetischen Vorgehen folgt, kein Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und meist auf weiterführende Literatur verweist.

Allmendinger (2016) vertritt die Auffassung, dass Klein auch aus heutiger Sicht eine mathematikdidaktische Perspektive einnimmt, in dem er folgende Prinzipien integriert: die innermathematische Vernetzung, das Prinzip der Anschauung, eine hohe Anwendungsorientierung sowie das genetische Prinzip. In Allmendinger (2014) konnte sie „diese anhand charakteristischer Textstellen und typischer Beispiele in ihrer jeweiligen Ausprägung verdeutlichen und ihre Funktion innerhalb der Vorlesungskonzeption und für den höheren Standpunkt herauszuarbeiten“ (Allmendinger, 2016, S. 217). Dabei gibt Allmendinger zu Bedenken, dass die obigen Prinzipien erst nach Kleins Zeit benannt wurden, aber immerhin schon im Ansatz wiederzufinden sind.

Ein Ziel, welches Klein verfolgt, ist die Einbettung der Schulmathematik in die Hochschulmathematik, welches dem heutigen Sinne des Prinzips der innermathematischen Vernetzung entspricht. Allmendinger (2015) beschreibt dabei Kleins Vorgehen wie folgt:

Dabei wird die Mathematik gewissermaßen aus einer Längsschnittperspektive heraus betrachtet; einzelne Themen werden zunächst im Kleinschen Sinne elementar und dann zunehmend anspruchsvoller behandelt und in wechselseitige Beziehung gesetzt. (Allmendinger, 2015, S. 35)

Klein deckt die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Fragestellungen auf, stellt den Zusammenhang zwischen scheinbar unabhängigen Begriffen her und verwendet beim Beweisen von Sachverhalten Werkzeuge. So stellt Klein Beziehungen zwischen dem Taylorschen Lehrsatz und den trigonometrischen Reihen und Potenzreihen her oder nutzt Kenntnisse der Trigonometrie und der Funktionentheorie zur Lösung von Gleichungen in Algebra. Klein beruft sich auch immer auf den Zusammenhang bzw. der Verbindung zwischen reiner und angewandter Mathematik (Allmendinger, 2016, S. 218).

Ein weiteres Prinzip ist das Prinzip der Veranschaulichung. Dabei versuchte Klein seine Vorlesungen so aufzubauen, dass eine Anschauung zu den einzelnen Themen vermittelt wurde, um einen Bezug zur logisch strengen Darstellung herzustellen. Dabei bezieht er geometrische Repräsentationen sowie prototypische Beispiele mit ein, in dem er konkrete Beispiele vorstellt, um den Taylorschen Lehrsatz zu verdeutlichen bzw. zu veranschaulichen. Allmendinger (2016) übersetzt dies in die heutige Sprechweise:

[Es] kann von einem Wechsel zwischen unterschiedlichen ikonischen und symbolischen Repräsentationsformen gesprochen werden. Dies spiegelt eine didaktische Orientierung wider, die auch aus heutiger Sicht tragfähig ist oder sein kann. (Allmendinger, 2016, S. 219)

Das Prinzip der Anwendung hielt Felix Klein für relevant, in dem er immer auf mögliche Anwendungen verweist (Allmendinger, 2015, S. 220):

[M]an sollte im ganzen Unterricht, auch auf der Hochschule, die Mathematik stets verknüpft halten mit allem, was den Menschen gemäß seinem sonstigen Interesse auf seiner jeweiligen Entwicklungsstufe bewegt und was nur irgend in Beziehung zur Mathematik sich bringen läßt. (Klein, 1933, S. 4)

Mit dieser Verknüpfung war es ihm in seiner Zeit möglich, „vergleichsweise authentische Anwendungen“ (Allmendinger, 2016, S. 220) vorzustellen, beispielsweise mit Pendelschwingungen. Allmendinger (2016, S. 220) stellt dabei heraus, dass dieses Prinzip der Anwendung eng einhergeht mit dem Prinzip der mathematischen Vernetzung und dem Prinzip der Veranschaulichung.

Auch das genetische Prinzip, welches im heutigen Unterricht noch vielfältig eingesetzt wird, setzte Klein bewusst ein. Er „wählt an vielen Stellen bewusst ein induktives Vorgehen, bezieht die Entstehungsgeschichte mit ein und legt stets einen Fokus auf den Entstehungsprozess von Mathematik und die damit verbundenen mathematischen Denk- und Arbeitsweisen“ (Allmendinger, 2016, S. 220).

Zur Überwindung der Unterschiede versuchte Klein also „die Notwendigkeit eingehender logischer Entwicklungen zu betonen“ (Klein, 1921, S. 239) und bevorzugte einen Hochschulunterricht, der anschauungs- und anwendungsorientiert ist. Klein wählt also auch eine „genetische Darstellung, stellt Bezüge zu möglichen Anwendungen her und vertritt das Primat der Anschauung“ (Allmendinger, 2016, S. 214).

Trotz vieler Veränderungen in der Bildungslandschaft ist der Begriff der doppelten Diskontinuität doch aktueller denn je. Hefendehl-Hebeker (2013) führt an, dass das Gymnasium sich zur Schulform mit dem größten Schüleranteil entwickelt hat und somit die Schüler*innenschaft heterogener geworden ist. Gleichzeitig merkt sie an, dass sich das berufliche Selbstverständnis der Lehrkräfte in der Weise verändert hat, dass „das Lehramtsstudium andere Akzente setzt als ein Diplom- oder Masterstudium und seine Absolventen gezielt auf das Berufsbild des Fachlehrers bzw. der Fachlehrerin vorbereitet“ (S. 2).

Die Hochschulmathematik unterscheidet sich auch heute noch „in Bezug auf Inhalt, Abstraktionsgrad, Struktur und Epistemologie“ (Hoth et al., 2020, S. 334). Diese Unterscheidungen sind im Abschnitt 2.1 expliziert. Wu (2015) bringt die Unterschiede zwischen Schulmathematik und akademischer Mathematik mit folgender Analogie auf den Punkt:

If we want to produce good French teachers in school, should we require them to learn Latin in college but not French? After all, Latin is the mother language of French and is linguistically more complex than French; by mastering a more complex language could enhance their understanding of the French they already know from their school days. (Wu, 2015, S. 372)

Wu (2015) beschreibt, dass die Hochschulmathematik präzise definiert ist und Definitionen wiederum Lieferant sind für logische Deduktionen (S. 379). Des Weiteren zeichnet sich die akademische Mathematik „durch ihre axiomatische und deduktive Struktur aus, ein Realitätsbezug spielt in den meisten Teilgebieten keine essenzielle Rolle“ (Hoth et al., 2020, S. 334). In der Schule hingegen werden nur wenige Definitionen eingeführt und viele Lehrkräfte kennen nicht mehr den Unterschied zwischen Definition und Satz. Lehrkräfte denken häufig, dass eine Definition „eine weitere Sache [sei], die auswendig gelernt werden muss“. Dabei verweist Wu (2015) auf typische „Kochrezepte“ wie das Ordnen von Brüchen oder auch Längen- und Flächenberechnung (Wu, 2015, S. 379). Realitätsbezüge und Anwendungsbezüge spielen eine bedeutsame Rolle in der Schulmathematik, „wodurch der Theorieaufbau und seine formale und systematische Darstellung eher in den Hintergrund rückt“ (Hoth et al., 2020, S. 334), also primär der induktive Begriffserwerb einen Schwerpunkt einnimmt.

Diese doppelte Diskontinuität lässt sich auch in der Stochastik vermuten. Im nächsten Abschnitt werden die Bildungsstandards (also Anforderungen an den Schulunterricht) mit den inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken gegenübergestellt.

3.3.2 Übertragung der doppelten Diskontinuität in der Stochastik

Die doppelte Diskontinuität in der Ausbildung von Lehrkräften ist auch bezüglich des Themengebiets „Stochastik“ wiederzufinden. In diesem Abschnitt werden einerseits die Bildungsstandards (nachzulesen in Abschnitt 2.3) mit den ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidakten in der Lehrkraftausbildung verglichen. Anzumerken ist, dass sowohl die Bildungsstandards als auch die ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen normativ festgelegte, also aus einer Diskussion stammende, Standards sind.

In den ländergemeinsamen inhaltichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrkraftausbildung der KMK werden für Lehrkräfte in der Stochastik der Sekundarstufe I und II folgende Inhalte angegeben:

Studium für Lehrämter der Sek I

  • Wahrscheinlichkeitsrechnung in endlichen Ereignisräumen

  • Grundlagen der beschreibenden Statistik und der schließenden Statistik

Studium für Lehrämter an Gymnasien/Sek II Größerer Vertiefungsgrad der für Sek. I genannten Inhaltsbereiche, dazu:

  • Wahrscheinlichkeitstheorie in abzählbaren Ereignisräumen

  • Verteilungsfunktion

  • Schließende Statistik

(KMK, 2008, S. 39)

Im Vergleich zu den Kernlehrplänen und den Bildungsstandards scheint es auch hier Diskrepanzen zu geben. Auch wenn die ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen grundsätzlich vage bleiben, so zeigen sie doch einen hohen Abstraktionsgrad, beispielsweise der „Wahrscheinlichkeitstheorie in abzählbaren Ereignisräumen“ (KMK, 2008, S. 39), welche für einen axiomatischen Wahrscheinlichkeitsbegriff steht. Dies steht im Gegensatz zu den in der Schule eher gängigen klassischen und frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffen. Auch eine Anwendungsorientiertheit lässt sich in den Anforderungen für die Lehramtsausbildung nicht erschließen, obwohl sie für den Mathematikunterricht in der Schule in den Lehrplänen verankert ist.

Vielen Studierenden im gymnasialen Lehramt Mathematik begegnet diese Verschiebung weg von der anwendungsorientierten Mathematik in der Schule hin zur axiomatisch-deduktiven Struktur in der Universität im Studium im ersten Semester und sie empfinden diese Veränderung als große Herausforderung.

Um der doppelten Diskontinuität entgegenzuwirken, werden Ansätze an verschiedenen Standorten in Deutschland verfolgt. Erwähnenswert sind „Mathematik neu denken“ (Beutelspacher, Danckwerts & Nickel, 2010), „Mathematik besser verstehen“ (Ableitinger, 2013), „Neue Wege in der fachlichen Lehramtsausbildung“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2016) sowie das „Kompetenzzentrum Hochschuldidaktik Mathematik“ (z. B. Biehler et al., o.J.).

Trotz all dieser neuen Initiativen scheint noch nicht geklärt, wie viel mathematisches Fachwissen Lehrkräfte benötigen. Lehrkräfte scheinen eine elementare Mathematik vom höheren Standpunkt zu benötigen. Verbindungen zwischen akademischer und schulischer Mathematik zu ziehen, kann eine Möglichkeit zur Überwindung der doppelten Diskontinuität sein. Heinze et al. entwickeln ein Konzept, dass diese zahlreichen Verbindungen zwischen akademischer und schulischer Mathematik darstellen soll. Dieses Konzept nennen sie „schulbezogenes Fachwissen“, auf das im nächsten Abschnitt fokussiert wird.

3.4 Wissenskonzeptualisierung nach school-related content knowledge

In den vorherigen Kapiteln wurden Konzeptualisierungen basierend auf der klassischen Triade Shulmans dargestellt und die noch heute vorherrschende doppelte Diskontinuität in der Lehrerbildung beschrieben. Ein weiterer Ansatz, um längerfristig die doppelte Diskontinuität zu überwinden, ist ein Theoretischer um das school related content knowledge (SRCK), also das schulbezogene Fachwissen, welcher von Heinze et al. (2016) entwickelt wurde. In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen beschrieben, sowie das SRCK zur akademischen Mathematik und Schulmathematik sowie zum fachdidaktischen Wissen abgegrenzt. Dabei werden die Grundannahmen beschrieben und auch auf die in Abchnitt 2.1 erwähnten fachlichen Struktur mathematischer Inhalte eingegangen. Im Anschluss wird auf den trickle-down-Effekt eingegangen und Ergebnisse zu diesem Effekt werden aufgezeigt. Die Ausführungen zum trickle-down-Effekt und seinen Auswirkungen haben für die vorliegende Dissertation hohe Relevanz, da Dreher et al. (2018) die Frage stellen, welches mathematische Fachwissen für eine erfolgreiche Unterrichtspraxis benötigt wird. Dabei untersuchen sie die Entwicklung des Fachwissens im ersten Studienjahr und fokussieren auf die Rolle des akademischen Fachwissens für die Entwicklung des schulbezogenen Fachwissens (Hoth et al., 2020, S. 331).

Ausgehend vom typischen Verlauf der Ausbildung von Lehrkräften für die Gymnasien stellen Hoth et al. (2020, S. 330 f.) fest, dass im ersten Studienjahr vielfach eine akademische Mathematik gelehrt wird, die sich „in ihrer Darstellung, der Schwerpunktsetzung und den Zielen von der Mathematik, wie sie in der Schule behandelt wird“ unterscheidet (s. auch Bass, 2005).

Eine Annahme, die vor allem im Studium angehender Lehrkräfte zu gelten scheint, ist die trickle-down-Annahme, welche Wu (2015) wie folgt beschreibt: „School mathematics is thought to be the most trivial and most elementary part of the mathematics that mathematicians do. So once pre-service teacher learn ‚good‘ mathematics, they will come to know school mathematics as a matter of course“ (S. 41). Dabei steht dies im Gegensatz zur doppelten Diskontinuität, also der „Unverbundenheit des Wissens der Lehramtsstudierenden zwischen den Bereichen der Schul- und Hochschulmathematik“ (Hoth et al., 2020, S. 333).

Darauf aufbauend wurde das schulbezogene Wissen von Dreher et al. (2018) in Ergänzung des mathematischen Fachwissens vorgeschlagen. Dieses berufsspezifische Fachwissen von Mathematiklehrkräften beschreibt Zusammenhänge zwischen akademischer und schulischer Mathematik und weist drei Wissensfacetten auf, die aber empirisch nicht getrennt wurden:

  1. 1.

    Curriculumsbezogenes Wissen im Sinne eines Wissens über die Struktur der Schulmathematik sowie über die zugehörigen mathematischen Begründungen des Aufbaus und der inhaltlichen Auswahl;

  2. 2.

    Wissen über Zusammenhänge zwischen akademischer und schulischer Mathematik in Top-Down-Richtung, im Sinne von Wissen darüber, welche Inhalte der akademischen Mathematik wie für den Mathematikunterricht transformierbar sind, sodass diese im aktuellen schulmathematischen Kontext anschlussfähig sind und im Sinne des Spiralprinzips unterrichtet werden können;

  3. 3.

    Wissen über Zusammenhänge zwischen akademischer und schulischer Mathematik in Bottom-Up-Richtung, im Sinne von Wissen darüber, wie Begriffe, Aussagen, Begründungen und Darstellungen der Schulmathematik (z. B. aus Schulbüchern, Lernmaterialien) in der akademischen Mathematik erklärt werden, um deren mathematische Integrität (vgl. Wu, 2018) beurteilen zu können.

(Hoth et al., 2020, S. 334 f.)

In Abbildung 3.1 werden diese Verbindungen, die definiert wurden, angezeigt. Die Pfeile zeigen einerseits die top-down-Verbindungen, ausgehend von der akademischen Mathematik, und andererseits die bottom-up-Verbindungen, ausgehend von der schulischen Mathematik. Am rechten Rand wird dann wiederum die erste Facette des SRCK angezeigt. Hoth et al. (2020, S. 335) geben dabei an, dass auch im SRCK Komponenten vom „klassischen“ enthalten sind, verweisen aber dabei auf Brommes Bezug zum Charakter der Schulmathematik.

Abbildung 3.1
figure 1

Quelle: (Dreher et al., 2018, S. 330)

Konzeptualisierung des SRCK 

Hoth et al. (2020) weisen auf eine gewisse Nähe zum fachdidaktischen Wissen hin, da sowohl das SRCK als auch das fachdidaktische Wissen eine „didaktische Prägung“ (S. 335) aufweisen. SRCK wird aber von den Autor*innen als reines Fachwissen verstanden, weil wichtige Aspekte wie Fehlvorstellungen von Schüler*innen oder „lernförderliche Eigenschaften bestimmter Repräsentationen“ (Hoth et al., 2020, S. 335) hier keinen Bestandteil haben.

Hoth et al. (2020) ordnen das SRCK in die vier Ebenen des Fachwissens der COACTIV-Studie ein und stellen heraus, dass das SRCK ein Wissen „über die Zusammenhänge des Wissens auf den Ebenen drei und vier“ (S. 335) definiert.

Das Fachwissen sowie das SRCK von Studierenden wurden im Verlauf ihres ersten Studienjahres untersucht.

Während sich beim CK erwartunskonform ein substanzieller Zuwachs im ersten Studienjahr zeigte, konnte jedoch im Mittel kein signifikanter Zuwachs des SRCK festgestellt werden. Cross-Lagged-Panel Analysen zu Effekten von CK auf SRCK im Verlauf des ersten Studienjahrs stützen die Trickle-down-Annahme nicht. (Hoth et al., 2020, S. 352)

Einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung des SRCK hatten die kognitiven Grundfähigkeiten und das Vorhandensein von schulbezogenen Praxiserfahrungen. Höhere kognitive Grundfähigkeiten scheinen Studierende beim eigenständigen Herstellen von Zusammenhängen zwischen der akademischen Mathematik und Schulmathematik zu unterstützen. Hoth et al. zeigt auch das Ergebnis auf, dass Praxiserfahrungen einen Einfluss auf die Entwicklung des SRCKs im ersten Studienjahr haben. Resümierend kann festgestellt werden, dass „der Erwerb von akademischem Fachwissen nicht hinreichend für den Erwerb schulbezogenen Fachwissens“ (Hoth et al., 2020, S. 353) ist.

Hoth et al. (2020) leisten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines schulbezogenen Fachwissens von Lehrkräften und belegen die doppelte Diskontinuität, von der erfahrungsbasiert (s. 3.3) seit über 100 Jahren berichtet wird. Trotz dieser Erfahrungen wurde nur an einzelnen Standorten das „klassische Studium“ verändert, um eine Brücke zwischen dem erworben Wissen in der Schule zum Wissen in der akademischen Mathematik zu schlagen. Die Autoren haben damit beantwortet, welches Fachwissen von Mathematiklehrkräften benötigt wird, in dem sie das akademische Fachwissen mit dem SRCK kombinieren. Aber auch hier bleibt die Frage, wie viel (akademisches) Fachwissen für die erfolgreiche Ausübung benötigt wird, unbeantwortet. Des Weiteren wird bei Hoth et al. nicht näher auf das Fachwissen oder das SRCK hinsichtlich der Stochastik eingegangen. Im weiteren Verlauf dieser Dissertation soll es aber genau darum gehen..

3.5 Fachbezogenes Professionswissen in der Wahrscheinlichkeitsrechnung

Wie im Abschnitt 2.4 ausgeführt, ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung in Lehrplänen aufgeführt und wird im Unterricht behandelt. Ziel dieses Abschnitts ist die Erläuterung der Aspekte für ein fachbezogenes Professionswissen in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dabei erfolgt ein näherer Blick auf bestehende Konzeptualisierungen und deren Ergebnisse zum Fachwissen von Lehrkräften in der Stochastik. Es gibt viele kleine Beiträge zur Professionswissensforschung in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. In diesem Abschnitt werden einige exemplarische Ergebnisse zum Fachwissen von Lehrkräften erläutert.

Im internationalen, aber auch im deutschen Bereich hat sich eine Forschungslinie zur Stochastik entwickelt (für einen Überblick s. Ben-Zvi & Makar, 2016, Batanero, 2013). Dabei lassen sich die Trends zwischen Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung unterscheiden, da Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung unterschiedliche Themengebiete sind. Trotzdem werden sie auf verschiedensten Ebenen oft zusammen betrachtet, wie zum Beispiel bei TEDS-M mit ihrer inhaltlichen Ausdifferenzierung des Fachwissens (Blömeke et al., 2010). Auch in den Lehrplänen, wie oben beschrieben, werden Daten und Zufall zusammen betrachtet. Der Grund für die gemeinsame Betrachtung ist, dass beide Inhaltsbereiche einen hohen Anwendungswert im echten Leben haben, Verbindungen durch den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff existieren und deshalb Anlass für Datenerhebungen sind (z. B. Batanero & Diaz, 2012; Jones, 2005a).

Beim Projekt „MKT“ wurden nur die Inhaltsbereiche „Zahlen und Operationen“ sowie „Algebra“ erfasst (Heather C. Hill, 2007, S. 99). Bei COACTIV gab es aufgrund der geringen Itemanzahl zum Fachwissen (14 Items) keine weitere inhaltliche Ausdifferenzierung durch Subfacetten (Krauss et al., 2011, S. 143) und bei TEDS-M (s. 3.2) wurden zwar inhaltliche Facetten unterschieden, bei der inhaltlichen Facette „Data“ konnten aber aufgrund der niedrigen Itemanzahl keine getrennten Ergebnisse berichtet werden. Einzelne Items sind aber trotzdem vertreten, „um es in einem Gesamttestwert für Mathematik berücksichtigen zu können“ (Blömeke et al., 2009, S.190).

Auffallend ist, dass die Forschungslage zum Professionswissen in der Statistik (siehe zum Beispiel Garfield et al., 2008, Schumacher, 2017, Lee & Hollebrands, 2008) sowie in der Wahrscheinlichkeitsrechnung für Primarstufenlehrkräfte (Jacobbe, 2010, Batanero, Arteaga, Serrano & Ruiz, 2014, José Carrillo-Yañez et al., 2018) reichhaltiger zu sein scheint als für die Wahrscheinlichkeitsrechnung für Sekundarstufenlehrkräfte. Die Problematik im Professionswissen in der Statistik ist beispielsweise, dass viele Lehrkräfte aufgrund ihrer fehlenden Ausbildung in einer hauptsächlich deskriptiven Statistik herausgefordert werden, welche wesentlich in der Grundschule und Sekundarstufe I ist (Ben-Zvi & Makar, 2016, S. 4).

Forschungen zur professionellen Kompetenz von Lehrkräften der Primarstufe zeigen, dass viele der aktuellen Programme Lehrkräfte nicht angemessen auf ihre Aufgabe, Statistik und Wahrscheinlichkeit zu unterrichten, ausbilden. Jacobbe (2010, S. 3) stellt als besondere Herausforderung für Lehrkräfte heraus, dass nur wenige von ihnen eine angemessene Ausbildung im fachlichen sowie fachdidaktischen Bereich genossen haben. Stohl (2005, S. 346) stellt dar, dass Lehrkräfte vielfach ihre eigenen Fehlvorstellungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung an ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben. Sie zieht daraus die Konsequenz, dass Lehrkräfte allgemeine Wahrscheinlichkeitskonzepte und individuelle Wahrscheinlichkeitskonzepte von Schüler*innen verstehen und ein kritisches Denken über Forschungsresultate entwickeln sollen, die zur Entwicklung von stochastischem Denken von Schülerinnen und Schülern beitragen. Letzteres soll auch direkt in den Unterricht einfließen können. Diese Konsequenzen stehen aber gleichzeitig im Widerspruch zu der Aussage, dass Lehrkräfte eigene Fehlvorstellungen zum Wahrscheinlichkeitskonzept haben (Stohl, 2005, S. 346).

Batanero et al. (2014) analysierten die Wahrnehmung vom Zufallskonzept angehender Lehrkräfte für die Primarstufe. Die Wahrnehmung von Binomialverteilungen war bei den Lehrkräften vorhanden, es gab aber Fehlvorstellungen zur Variation und zur stochastischen Unabhängigkeit. Lehrkräfte versuchten außerdem die Unsicherheit zu zähmen. Sie empfehlen mit Experimenten und Simulationen zu starten, um dann in die Wahrscheinlichkeit formal mittels einer didaktischen Analyse einzuführen.

Anknüpfend an die Konzeptualisierung der Michigan-Gruppe wird im Rahmen des Forschungsprojekts rund um das „Mathematics teacher’s specialised knowledge“ (MTSK José Carrillo-Yañez et al., 2018) das Professionswissen von angehenden Lehrkräften in der Wahrscheinlichkeitsrechnung ausgehend von den fachlichen Aufgaben von Lehrkräften im Mathematikunterricht untersucht. Die vorgestellten Daten bezogen sich auf angehende Primarstufenlehrkräfte und Erzieher*innen. Diese Personengruppe hat „poor mathematical formal knowledge about probability, mainly stemming from their school experiences“ (Di Bernado, Mellone, Minichini & Ribeiro, 2019, S. 180). Ein Ergebnis ist die Empfehlung, in der Lehrkraftausbildung den subjektivistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff mit einzubeziehen. Außerdem betonen sie die Notwendigkeit einer Ausbildung in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die über den Schulstoff hinaus geht. Durch die Bottom-Up-Herangehensweise, also der Betrachtung, was Lehrkräfte wissen, kann aber auch für die Vermittlung wertvolles Fachwissen verloren gehen.

Die bisher in diesem Abschnitt vorgestellten Studien geben einen allgemeineren Überblick zum Professionswissen von (angehenden) Lehrkräften in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Eine theoretische Analyse der Problematik hinsichtlich des Professionswissens von Lehrkräften bezüglich der Gesetze der großen Zahlen nimmt Stohl (2005, S. 348 f.) vor. Sie bezeichnet das (empirische) Gesetz der großen Zahlen als Schlüsselsatz in der Wahrscheinlichkeitsrechnung und beschreibt es als Quelle von vielen Fehlvorstellungen bei Lehrkräften:

Unfortunately, one source of many misconceptions (e.g. gambler’s fallacy, law of small numbers) may be due to an incorrect interpretation of this law as implying that experimental probabilities limit to the theoretical probability. (Stohl, 2005, S. 348 f.)

Dabei beschreibt das empirische Gesetz der großen Zahlen, dass die Wahrscheinlichkeit einer großen Differenz zwischen empirischer und theoretischer Wahrscheinlichkeit gegen Null konvergiert für eine große Stichprobe. Stohl (2005) weist aber auch darauf hin, dass die empirische Wahrscheinlichkeit substantiell von der theoretischen Wahrscheinlichkeit abweichen kann, auch wenn dies eher unwahrscheinlich sei. Sie erarbeitet mögliche Hindernisse, die den Lehrkräften begegnen können:

  • Lehrkräfte und dadurch auch ihre Schülerinnen und Schüler könnten das empirische Gesetz der großen Zahlen missinterpretieren, indem sie eine notwendige Konvergenz von empirischen Wahrscheinlichkeiten bei einer hohen Versuchszahl vermitteln.

  • Eine Verschärfung kann auch dadurch erfolgen, dass Lehrkräfte davon ausgehen, dass die Konvergenz schnell erfolgt.

  • Manche Lehrkräfte könnten denken, dass nur durch eine hohe Versuchszahl eine Annäherung zwischen empirischer und theoretischer Wahrscheinlichkeit erfolgt.

  • Sie könnten auch die Formulierung des empirischen Gesetzes der großen Zahlen verändern und Aussagen darüber treffen wollen, dass der Grenzwert der empirischen Wahrscheinlichkeit der theoretischen/tatsächlichen Wahrscheinlichkeit ist, wie in der Analysis.

    (Stohl, 2005, S. 348 f.)

Ein weiteres Hindernis können Repäsentationen von Zufallsexperimenten sein. Ein Vergleich von zwei Versuchsreihen, in dem eine Münze 7000 mal geworden und die relativen Häufigkeiten des Ereignisses „Kopf“ graphisch dargestellt wird, kann gezogen werden. Lehrkräfte, die das Konzept vertreten, dass die empirische Wahrscheinlichkeit gegen die theoretische Wahrscheinlichkeit konvergiert, können mit anderen Darstellungen bzw. Sachverhalten herausgefordert werden. Folgender Sachverhalt könnte auftreten:

After about 500 trials, the proportion of heads is close to 0.5 but then gets closer to 0.52 by 600 trials. By 1000 trials, the proportion of heards is now about 0.48 and tends to stay near 0.48 until about 6000 trials when it becomes slightly closer to the expected 0.5. Even though the likelihood of the experimental probability being significantly different from the theoretical probability of 0.5 gets smaller with lager trials, it is still quite possible to obtain an experimental probability of 0.475 after 3000 trials. (Stohl, 2005, S. 348)

Von einer Konvergenz im klassischen Sinn kann also nicht ausgegangen werden. Stohl (2005, S. 349) empfiehlt daher, in der Ausbildung mehrere solcher Graphen gegenüberzustellen und diese zu reflektieren. Sie verweist auch darauf, dass manche Lehrkräfte das Konzept hinter dem empirischen Gesetz der großen Zahlen intuitiv verstehen, warnt aber davor, im Unterricht Wahrscheinlichkeiten als theoretisches Konstrukt zu behandeln. Stohl bleibt allerdings vage, was Lehrkräfte zum empirischen Gesetz der großen Zahlen wissen müssen und erwähnt andere Gesetze der großen Zahlen gar nicht (Stohl, 2005, S. 349).

Stohl nutzt den „general framework for mathematics teachers’ subject matter knowledge“ von Kvatinsky und Even (2002), welcher für andere inhaltliche Themengebiete entwickelt wurde. Sie adaptiert diesen für die Wahrscheinlichkeitsrechnung und fordert folgendes Wissen für Lehrkräfte:

  • The essential features of probability as a non-deterministic phenomen, the classical and frequentist approaches to probability, and the subjective approach where probability is interpreted as strenght of judgment.

  • The strength of probability as an integral part of natural phenomena where new fiels such as quantum physics have emerged from a probabilistic perspective on our world.

  • How to use and interpret different representations and models (e.g., Venn diagrams, tree diagrams) for computing and interpreting probability.

  • How and when to use alternative ways of approaching probability (i.e., the classical or frequentistic approaches).

  • A basic repertoire of examples that can be used for certain concepts (e.g.; examining consecutive outcomes of rolling die to discuss independence).

  • Different form of knowledge and understanding so one can distinguish between intuitive knowledge and formal theoretical probability; especially knowing that intuitive knowledge may lead one astray in probability.

  • Which aspects about mathematics are supporting and withholding in probability knowledge (e.g.; axiomatic theorems in probability such as probabilities of events in a sample space summing to 1, the central issue of the law of large numbers being a limit of a probability instead of the limit of a point estimate).

(Stohl, 2005, S. 361)

Diese Forderungen nach fachdidaktischem Wissen geben auch Auskunft darüber, welche fachlichen Herausforderungen Lehrkräften begegnen. Einerseits müssen sie, wie in 2.4 beschrieben, die Mathematik hinter den klassischen und frequentistischen Deutungen verstehen und hinsichtlich subjektiver Vorstellungen von Schüler*innen flexibel reagieren. Sie müssen Anwendungsmöglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung kennen, Darstellungen und Modelle verwenden und interpretieren können. Sie müssen ein Repertoire an einleuchtenden Beispielen aufweisen und zwischen intuitivem Wissen und formal-theoretischem Wissen zur Wahrscheinlichkeit unterscheiden sowie fachliche Aspekte der Wahrscheinlichkeitsrechnung hinsichtlich ihrer Schwierigkeit benennen können.

Stohl gibt also einerseits Hinweise bezüglich möglicher Hürden bei der Auseinandersetzung mit den Gesetzen der großen Zahlen und andererseits implizit Hinweise zu den fachlichen Herausforderungen an Lehrkräfte in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Trotz der theoretischen Auseinandersetzung bleibt offen, was Lehrkräfte bezüglich der Gesetze der großen Zahlen wissen, aber auch welches Fachwissen sie in der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufweisen müssen, weil dieses nur implizit erwähnt wird.

Batanero et al. (2016, S. 23) benennen zwei Forschungslücken im Bereich der Professionsforschung zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die eine ist die Entwicklung von adäquaten Materialien und effektiven Aktivitäten in Lehrkräftefortbildungen und die andere ist die Analyse von Wissenskomponenten in der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Lehrkräften. Auch (stoffdidaktische) Analysen sind in der Professionsforschung zur Wahrscheinlichkeitsrechnung rar.

3.6 Zusammenfassung und Folgerungen

Zunächst einmal wurde der Wissensbegriff definiert und zum Kompetenzbegriff abgegrenzt. Kompetenzen lassen sich als kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen beziehen, definieren. Diese Leistungsdispositionen sind Kenntnisse, Fertigkeiten oder Routinen. Dabei ist also Wissen eine Komponente von Kompetenzen. Unterschieden werden kann Wissen durch Objektwissen und Metawissen. In dieser Arbeit werden die Fachwissensarten von Neuweg (2011) genutzt, um Wissen klassifizieren zu können. Diese sind

  • Objektwissen als Inhaltswissen, welches durch deklaratives und prozedurales Wissen unterschieden werden kann;

  • Metawissen als wissenschaftstheoretisches Wissen wie zum Beispiel die Struktur der Disziplin, Paradigmen und Methodologie;

  • Philosophie des Fachs als bewertende Perspektive auf den Inhalt inklusive subjektiver Vorstellungen.

Da letzteres auch zumindest in Teilen zum fachdidaktischen Wissen gehört, wird das Wissen über die Philosophie des Fachs in dieser Arbeit nicht weiter betrachtet. Diese Aspekte sind eng angelehnt an Shulmans und Brommes Arbeiten.

Die Erforschung professioneller Kompetenz von Lehrkräften nimmt ihren Ursprung bei L. S. Shulman (1986b). Er entwickelte eine Triade professionellen Wissens, indem er als zentrale Punkte Fachwissen, fachdidaktisches Wissen sowie pädagogisches Wissen annimmt. Diese Triade wird auch von Bromme (1992) ausgeführt und um weitere Kategorien erweitert, um qualitiative Merkmale beschreiben zu können (S. 96). Während dem fachdidaktischen Wissen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, kann festgestellt werden, dass Fachwissen Voraussetzung für den Aufbau fachdidaktischen Wissens ist. Es wurden drei Konzeptualisierungen exemplarisch aufgezeigt, die die Triade Shulmans übernehmen und um einen Kompetenzbegriff und weitere Faktoren erweitern. Das MKT-Modell der Michigan-Gruppe unterscheidet drei Aspekte des Fachwissens, „Common content knowledge“, „specialized content knowledge“ und „horizon content knowledge“, weil sich ausgehend von den Aufgaben von Lehrkräften zu erhebenes Wissen generieren ließen.

Das Projekt „COACTIV“ untersuchte die professionelle Kompetenz basierend auf Shulmans Triade mit Anschluss an den PISA-Zyklus 2003/04, sodass Zusammenhänge zwischen professioneller Kompetenz von Lehrkräften mit mathematischen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern aufgezeigt werden konnten. Baumert et al. (2011) wiesen vier Ebenen von Fachwissen auf: Mathematisches Alltagswissen, Beherrschung des Schulstoffs, tieferes Verständnis der Fachinhalte des Curriculums der Sekundarstufe und reines Universitätswissen. Die Kompetenzfacette des Fachwissens wurde wiederum auf Ebene 3 festgelegt und erhoben. Die Konzeptualisierung fand anhand von Dokumentenanalysen statt.

In der groß angelegten Studie TEDS-M wurden professionelle Kompetenzen von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe I neben weiteren Faktoren (zum Beispiel Merkmale der Mathematiklehrerausbildung) in 16 Ländern erhoben. Für das Fachwissen wurde die Annahme getroffen, dass Lehrkräfte Fachinhalte auf einem höheren und reflektierten Niveau beherrschen sollten. Das mathematische Fachwissen wurde inhaltlich, nach unterschiedlichen kognitiven Strukturen und nach Schwierigkeitsgrad unterschieden. Die inhaltliche Struktur umfasst vier unterschiedliche Inhaltsgebiete, wobei auch die Stochastik bzw. Daten und Zufall eine davon darstellt. Dieses Inhaltsgebiet floss nur zu einem geringen Anteil in die Itementwicklung mit ein. Die kognitiven Prozesse innerhalb der Konzeptualisierung sind Kennen, Anwenden und Begründen. Der Schwierigkeitsgrad war an dem gewünschten Anforderungsspektrum von der Sekundarstufe I bis zur Universitätsmathematik gegliedert und verfügte über drei Niveaus: elementares Niveau, mittleres Niveau und fortgeschrittenes Niveau.

Hinsichtlich dieser drei Studien lässt sich Folgendes resümieren: Fachwissen wird ausgehend von den Aufgaben von Mathematiklehrkräften konzeptualisiert (MKT-Modell). Eine Konzeptualisierung erfolgt durch Dokumentenanalysen (COACTIV) und bei der TEDS-M-Studie wurde der Prozess der Konzeptualisierung nur geringfügig offengelegt. Eine Offenlegung der Konzeptualisierung aus Transparenzgründen wäre hier wünschenswert gewesen.

Ein weiteres für diese Arbeit relevantes Thema ist die noch immer bestehende doppelte Diskontinuität in der Lehrkraftausbildung. Klein (1908) erkannte diese inhaltliche Losgelöstheit zwischen schulischer und akademischer Mathematik vor über 100 Jahren. Er versuchte, die doppelte Diskontinuität durch seine Vorlesungsreihe zu überwinden und das zusammengehörige Ganze wieder zur Geltung zu bringen. Dafür nimmt er verschiedene Perspektiven ein und wendet verschiedene Prinzipien an. Die Perspektiven können aus heutiger Sicht als fachmathematische, mathematikhistorische sowie mathematikdidaktische Perspektiven beschrieben werden. Die vier Prinzipien, die der mathematikdidaktischen Perspektive zugeordnet werden können, sind innermathematische Vernetzung, Anschauung und Anwendungsorientierung.

Auch heute noch ist die doppelte Diskontinuität noch allgegenwärtig. Das Gymnasium als Schulform hat inzwischen den größten Anteil von Schüler*innen. Kombiniert mit einem neuen beruflichen Selbstverständnis von Lehrkräften, die sich gezielt auf das Berufsbild der Fachlehrkraft vorbereiten, sollte das Lehramtsstudium auf diese Veränderungen angepasst werden. Doch die Hochschulmathematik bzw. akademische Mathematik unterscheidet sich noch immer von der schulischen Mathematik in Bezug auf Inhalt, Abstraktionsgrad, Struktur und Epistemologie. Diese Unterscheidung findet sich auch in der fachlichen Lehrkraftausbildung in der Stochastik wieder, welche eine axiomatisch-deduktive Struktur innerhalb des Studiums aufweist, während in der Schule die Realitäts- und Anwendungsbezüge im Vordergrund stehen.

Trotzdem bleibt unklar, wie viel Mathematik und welche Inhalte benötigt werden, um die doppelte Diskontinuität zu überwinden.

Eine Untersuchung hinsichtlich der Annahme des trickle-down-Effekts, dass sich ein hoher Grad an akademischen Fachwissen auf das schulbezogene Fachwissen abfärbt, findet im Rahmen der Konzeptualisierung des school-related content knowledge statt. Das schulbezogene Fachwissen kann als Verbindung zwischen akademischer und schulischer Mathematik gesehen werden. Es handelt sich um curriculumsbezogenes Wissen, Wissen über Zusammenhänge in Top-Down-Richtung und in Bottom-Up-Richtung und ist explizit kein fachdidaktisches Wissen, also innermathematisch zu sehen. Die trickle-down-Annahme konnte nicht bestätigt werden. Trotz dieser neuen Konzeptualisierung zeigt auch dieses Modell nicht auf, wie viel akademisches Fachwissen für die erfolgreiche Ausübung der Lehrerberufs nötig ist.

Innerhalb der Professionsforschung gibt es nur wenig Forschung zur Stochastik, insbesondere der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Anfangs erwähnten Studien (MKT, COACTIV, TEDS-M) erfassen die Stochastik entweder gar nicht oder konnten diese nicht in einer eigenen Skala berichten. Studien zum Fachwissen in der Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigen, dass Lehrkräfte nicht angemessen auf ihre Aufgabe zu unterrichten vorbereitet sind. Sie geben vielfach ihre eigenen Fehlvorstellungen über die Wahrscheinlichkeitsrechnung an ihre Schülerinnen und Schüler weiter. Eine Notwendigkeit sehen Di Bernado et al. (2019) darin, eine fachliche Ausbildung in der Wahrscheinlichkeitsrechnung anzustreben, die über fachliche Inhalte der Schulmathematik hinausgehen.

Stohl (2005) beschreibt das fehlende Verständnis des empirischen Gesetzes der großen Zahlen als Quelle vieler Fehlvorstellungen bei Lehrkräften. In ihrer theoretischen Analyse erarbeitet sie verschiedene Herausforderungen, die es von Lehrkräften zu bewältigen gilt, unter anderem die Fehlinterpretation des Gesetzes der großen Zahlen und die verschiedenen Repräsentationen, die missverstanden werden können.

Im folgenden Kapitel werden ausgehend von Kapitel 2 und Kapitel 3 die Ziele dieser Arbeit herausgearbeitet.