Was zusammenhängt, lernt sich besser und wird besser behalten. Nur muss man den Zusammenhang recht verstehen. Wenn es nur ein Zusammenhang ist, der vom Dozenten verstanden ist, oder den der Dozent nicht einmal versteht, sondern einem vorredet, so verfehlt er seinen Zweck[...] (Freudenthal, 1973; S. 75 ff.)

Freudenthal (1973) verstand, dass Wissen vernetzt gelernt werden muss und sorgte sich darum, dass schon die Lehrkraft diese Zusammenhänge nicht versteht. Zusammenhänge in der Mathematik können auf vielfache Weise hergestellt werden. Einerseits können es innermathematische Vernetzungen sein, andererseits auch außermathematische Vernetzungen, also Anwendungsbezüge. Soll der Begriff des Zusammenhangs weiter gefasst und auf Lehrkräfte bezogen werden, so rücken auch verschiedene didaktische Konzepte wie beispielsweise Darstellungsebenen, Grundvorstellungen, fundamentale Ideen in den Fokus. Neben der Analyse des fachlichen Inhalts wurden in stoffdidaktischen Analysen auch normative Aussagen zu fachdidaktischen Konzepten generiert. Wie diese Analyse durchgeführt wird, blieb dabei häufig unklar. Eine Systematisierung von stoffdidaktischen Analysen ist bisher unbekannt.

Eine Systematisierung einer stoffdidaktischen Methode bedeutet in dieser Arbeit Folgendes: Um ein Ziel zu erreichen, müssen einzelne Komponenten nach einem Ordnungsprinzip gegliedert, beschrieben und theoretisch begründet werden. Wie eine stoffdidaktische Methode definiert ist, blieb bisher unklar. Griesel (1971) formulierte Ziele einer didaktischen Orientiertheit von mathematischen Analysen, bei der er auf das Ziel der besseren Organisation von mathematischen Lernprozessen eingeht. Ein weiteres Ziel könnten aber auch Methoden und Unterrichtspraxis sein, um den mathematischen Kern zu identifizieren (Griesel, 1971, S. 79 f.). In dieser Arbeit wird primär der Begriff der didaktisch orientierten Rekonstruktion genutzt, der von Biehler und Blum (2016) mit dem Ziel „mathematische Gegenstände so aufzubereiten, dass natürliche Zugänge, wesentliche Grundvorstellungen und typische Arbeitsweisen sichtbar werden und sich idealtypische Lernsequenzen herauskristallisieren“ (S. 2) eingeführt wurde. Diesen Begriff beziehen sie auf die Arbeiten von Kirsch , denen in dieser Arbeit besonderer Aufmerksamkeit beigemessen werden.

Stoffdidaktische Methoden wurden auch in der Forschung zum Professionswissen von Lehrkräften in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Studien zur Konzeptualisierung und Operationalisierung genutzt. Beginnend mit einer Triade aus Fachwissen, fachdidaktischem Wissen und pädagogischem Wissen nach L. S. Shulman (1986b), über eine Erweiterung Brommes (1992) wurden auf deren Basis verschiedene Studien konzipiert, um das Professionswissen zu messen (z. B. Ball, Hill & Bass, 2005; Baumert et al., 2011; Blömeke, Kaiser & Lehmann, 2010; Heinze, Dreher, Lindmeier & Niemand, 2016). Fachwissen wird in dieser Arbeit hinsichtlich des Inhaltswissens und des wissenschaftstheoretischen Wissens nach Neuweg (2011) unterschieden. Es bleibt unklar, wie Fachwissen für Lehrkräfte in Studien normativ festgelegt wurde. Falls stoffdidaktische Analysen stattfanden, so wurden diese oftmals nur ungenau beschrieben. Diese Arbeit setzt daran an, das Fachwissen ausgehend vom mathematischen Inhalt zu generieren.

Für die vorliegende Arbeit wurde die Wahrscheinlichkeitsrechnung als mathematischer Inhalt in den Fokus gerückt. Sie ist gemeinsam mit der Statistik der Stochastik zugeordnet und bildet das Exempel für die Durchführung einer stoffdidaktischen Methode. Innerhalb der Professionsforschung ist nur wenig über das Fachwissen von Lehrkräften in der Wahrscheinlichkeitsrechnung bekannt. Dabei zeigt das Feld mathematisch gesehen sowohl auf schulischer als auch auf akademischer Ebene viel Potential für Analysen, indem es wichtige Anwendungsbezüge für das alltägliche Leben aufzeigt. Die Wahrscheinlichkeit begegnet einem Menschen in seinem Leben vielfach, sei es bei Wettervorhersagen oder Pandemien, auch in anderen Fachdisziplinen wie Physik, Wirtschaft oder der Soziologie (Batanero,Chernoff, Engel, Lee & Sánchez, 2016). Menschen müssen in der Lage sein, in alltäglichen Situationen unter einer Unsicherheit Entscheidungen zu treffen. Dies zu lernen gehört zur mathematischen Grundbildung eines Menschen (Gal, 2005; OECD, 2019). Diese Vermittlung mathematischer Grundbildung gehört zu den Aufgaben von Lehrkräften. Zu untersuchen, welche fachlichen Komponenten Lehrkräfte dafür in ihrem Wissen verinnerlicht haben sollten, ist Teil dieser Arbeit. Dies soll beispielhaft an den Gesetzen der großen Zahlen analysiert werden. In diesem Beitrag werden das empirische, das schwache und das starke Gesetz der großen Zahlen thematisiert, weil sie unterschiedliche Grade an mathematischer Strenge und Komplexität aufweisen. Des Weiteren findet nur das empirische Gesetz der großen Zahlen Anwendung in der Schule, während die anderen beiden Gesetze der großen Zahlen andere Deutungen einer Stabilisierung in mathematischer Weise beschreiben. Anhand der Gesetze der großen Zahlen können Unterschiede zwischen schulischer und akademischer Mathematik aufgezeigt werden. Mit dieser Unterscheidung geht eine Problematik für angehende Lehrkräfte einher. Sie wird doppelte Diskontinuität genannt und geht auf Felix Klein (1908) zurück, welcher auf die Losgelöstheit zwischen schulischer und akademischer Mathematik anspielt. Dieser doppelten Diskontinuität begegnen Lehrkräfte bei Eintritt in die erste Lehrerausbildungsphase und wiederum bei Eintritt in die Schulpraxis. Sie benötigen eine Form von elementarisiertem akademischem Fachwissen. Elementarisiertes akademisches Fachwissen ist eben jenes, welches Lehrkräfte in ihrer fachlichen Ausbildung erworben haben müssen, um die nötige fachliche Tiefe für den Mathematikunterricht, aber auch für den Erwerb neuen Wissens aufweisen zu können. Der Aspekt der Elementarisierung ist die Transformation von mathematischen Inhalten und Theorien auf ein niedrigeres, adressatengerechteres Niveau (Griesel, 1974, S. 117).

Aufgrund der hier erwähnten Forschungslücken sind die zwei Ziele dieser Arbeit:

  1. 1.

    Die Systematisierung einer didaktisch orientierten Rekonstruktion (als eine stoffdidaktische Analyse) zur Strukturierung eines mathematischen Inhalts, ausgehend vom Kern des Inhalts mit dem Ziel, normative Aussagen über Wissensinhalte für Lehrkräfte generieren zu können.

  2. 2.

    Die Identifikation eines Kanons möglicher elementarisierter akademischer Wissenselemente für Lehrkräfte der Sekundarstufen I und II, exemplarisch anhand der Gesetze der großen Zahlen innerhalb der Wahrscheinlichkeitsrechnung mithilfe der didaktisch orientierten Rekonstruktion (Erprobung der systematisierten Methode).

Somit liegt hier eine theoretische Arbeit mit wissenschaftstheoretischem Interesse vor. Der Aufbau der Arbeit zum Erreichen der oben genannten Ziele wird im Folgenden beschrieben.

FormalPara Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Systematisierung der Methode der didaktisch orientierten Rekonstruktion und ihrer Erprobung anhand der Identifikation von Fachwissenselementen am Beispiel der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie gliedert sich in sechs Teile. Das erste und zweite Kapitel bilden die theoretischen Grundlagen.

Dafür werden im ersten Kapitel die fachliche und fachdidaktische Strukturierung der Wahrscheinlichkeitsrechnung dargestellt mit dem Ziel der thematischen Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dazu wird zunächst die fachliche Strukturierung mit der Unterscheidung in schulische und akademische Mathematik allgemein eingeführt und exemplarisch auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung und insbesondere auf die Gesetze der großen Zahlen angewendet. Im Anschluss daran werden ausgewählte fachdidaktische Grundlagen allgemein dargestellt und auf den hier gewählten mathematischen Teilbereich übertragen. Fachdidaktische Grundlagen sind in diesem Fall insbesondere mathematische Grundbildung, Bildungsstandards, fundamentale Ideen und Grundvorstellungen. In der exemplarischen Anwendung werden des Weiteren noch Wahrscheinlichkeitsbegriffe als spezifischer fachdidaktischer Aspekt der Stochastik eingeführt.

Kapitel 3 diskutiert das Fachwissen als Teil des Professionswissens von Lehrkräften. Dafür erfolgt zunächst eine allgemeine Begriffsklärung von Wissen und Kompetenz. Anschließend werden verschiedene Konzeptualisierungen von Fachwissen dargestellt. In Abschnitt 3.3 werden die doppelte Diskontinuität und das schulmathematische Wissen nach Klein (1908) geschildert. Im Anschluss daran wird die Wissenskonzeptualisierung mit Blick auf das school-related content knowledge erörtert. Abschnitt 3.5 gibt einen Überblick über das Professionswissen bezüglich der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

In Kapitel 4 werden aus den theoretischen Grundlagen folgernd die Ziele der Arbeit begründet. Das Kapitel 5 beschreibt die Methode der didaktisch orientierten Rekonstruktion, indem die Vorgehensweisen der Didaktisierung in Abschnitt 5.2 und der Rekonstruktion in Abschnitt 5.3 erläutert werden. Im Anschluss folgt in Abschnitt 5.4 eine Zusammenfassung des Kapitels sowie die Formulierung von Folgerungen.

Die Erprobung der Methode findet in Kapitel 6 statt. Hier wird die exemplarische Darstellung der didaktisch orientierten Rekonstruktion am Beispiel der Gesetze der großen Zahlen vorgestellt. Dazu werden nach Zielsetzung die drei Durchgänge der Didaktisierung beschrieben (s. Abschnitt 6.2). Anschließend wird der Teilprozess der Rekonstruktion in Abschnitt 6.3 durchgeführt, um Wissenselemente zu identifizieren und zu strukturieren.

Kapitel 7 befasst sich mit der Diskussion der Ergebnisse, der Limitationen und Implikationen dieser Arbeit. Im Fazit wird die Arbeit noch einmal zusammengefasst und ein Ausblick auf weitere Forschung gegeben.