Nachdem wir nun das ganze Spektrum der technischen Allgemeinbildung entworfen haben, fragt sich der kritische Leser, warum in der Überschrift nur ein „Kern“ Technischer Allgemeinbildung angesprochen wird. Technische Bildung ist in Deutschland in den Lehrplänen und Stundentafeln der allgemeinbildenden Schulen nur marginal vertreten. Wenn es durch ein Wunder gelingen würde, Technische Allgemeinbildung in allen allgemeinbildenden Schulen lehrplanmäßig zu verankern, würde die Implementierung dennoch Jahre dauern, weil die entsprechend ausgebildeten Lehrkräfte fehlen. Realistisch lässt sich nur darauf hoffen, mit geringen Stundenzahlen in die Schulen Eingang zu finden. Daher ist es wichtig, zunächst einen unabdingbaren inhaltlichen und methodischen Kern, ein „Kerncurriculum“ zu finden, das sich etablieren ließe. Deshalb plädiert auch Rajh dafür, den Schulterschluss der bisher divergierenden fachdidaktischen Ansätze zu suchen und einen Kern technischer Bildung zu definieren (vgl. (Rajh 2017, 486)). Aus diesem Grunde wurde bei den bisherigen Überlegungen sowohl der Ansatz der polytechnischen Bildung, der arbeitsorientierte Ansatz und der mehrperspektivische Ansatz der Technikdidaktik mit einbezogen und es wurde versucht, das Gemeinsame mit neuen Erkenntnissen zu einem neuen Ansatz zu verweben.

In diesem Kapitel soll sich zeigen, ob die bisherigen Überlegungen geeignet sind, auch einen inhaltlichen Orientierungsrahmen zu schaffen. Die oben angeführte geringe Stundenzahl, die dem Fach Technik in den meisten Bundesländern zur Verfügung steht, zwingt uns zunächst dazu, über die Begriffe des „Abkürzens“ oder der „didaktischen Reduktion“ nachzudenken.

6.1 Zu einem Kern durch didaktische Reduktion und Transformation

„Die Frage des Elementaren ist ein Aspekt des subjektiven Abkürzens objektiver geschichtlich-gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, der Transformation historisch-gesellschaftlicher in individuelle Entwicklungsprozesse (Bildungsprozesse)“ ((Klingberg 1986, 204), Hervorh. i. Orig.).

Der von Klingberg im Eingangszitat benutzte Begriff des „Abkürzens“ findet sich in anderen Veröffentlichungen als „didaktische Reduktion“. Beide Begriffe beinhalten zwei unterschiedliche Funktionen. Einerseits die curriculare Auswahl von Inhalten aus der durch die „geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse“ immer weiter anwachsenden Fülle, andererseits die vermittlungstechnische „Konzentration auf das Stoff-Wesentliche“ und die „Vereinfachung der Stoff-Kompliziertheit“ (Lehner 2020, 12). Beide Funktionen der didaktischen Reduktion stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang zueinander, der durch die objektive Seite der Fachlichkeit des „Stoffs“ und die subjektive Seite der Fasslichkeit auf der Seite der Lerner gekennzeichnet ist. Eine Reduktion der Stofffülle hat daher immer sowohl eine quantitative Seite als auch die qualitative Seite der Konzentration auf das Wesentliche. Auch der Begriff des „Wesentlichen“ kann unter verschiedenen Fragestellungen betrachtet werden. Ist der Inhalt wesentlich für die Fachwissenschaft? Ist der Inhalt wesentlich für die Lerngruppe und die individuelle Persönlichkeitsentwicklung? Ist der Inhalt kulturell wesentlich in der Vergangenheit, der Gegenwart oder in der Zukunft?

Mit diesem Fragenkomplex eng verbunden ist das Problem der Reduktion von Komplexität, das schon durch die Stoffauswahl beeinflusst werden kann. Die bisherigen Fragenkomplexe sind in Abbildung 6.1 zusammengefasst.

Mit dem im Schaubild neu auftauchenden Begriff der „didaktischen Transformation“ von Inhalten zu Lerngegenständen ist „eine Umwandlung von Sachverhalten in Hinblick auf die „Fassungskraft“ der Lernenden, d. h. unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen kognitiven Voraussetzungen“ (Lehner 2020, 122) gemeint.

Erst durch die didaktische Transformation werden Inhalte und Sachen in den Horizont der Lernenden gerückt, sie werden zu Fragen angeregt, sie sind erstaunt, wollen etwas verstehen, wollen etwas ausprobieren oder herstellen. Kurz, sie sind motiviert, etwas Neues zu lernen.

Abbildung 6.1
figure 1

Von der Fachlichkeit zur Fasslichkeit. (in:(Lehner 2020, 121))

Die Lernenden bauen selbst neue Wissens- und Verstehensstrukturen auf, sie rekonstruieren einzeln oder gemeinsam das Kultur- und Wissenschaftsgebäude. Auf Seiten der Lehrperson setzt dies didaktische Rekonstruktion voraus, „das Zusammenfügen von elementaren Sinneinheiten zu Strukturen und Erklärungsmustern, die den Lernenden das Verständnis erleichtern“ (a.a.O., 16).

Dem Problem, den Lehrenden durch kompetenzorientierte Kernlehrpläne die schwierige Aufgabe der Auswahl der „wesentlichen“ Inhalte zu überlassen, will diese Untersuchung mit einem begründeten curricularen Ansatz begegnen.

Daher werden wir im Folgenden aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zum Themenkomplex der didaktischen Reduktion exemplarisch diejenigen heranziehen, die sich schwerpunktmäßig mit der curricularen Funktion beschäftigen, um Kriterien für die didaktische Transformation zu finden.

Schon Comenius hat in der „Großen Didaktik“ und in „Analytische Didaktik und andere Pädagogische Schriften“ zahlreiche Grundsätze der didaktischen Transformation zur Reduktion der Stofffülle formuliert.

„Wertlose Dinge und solche, deren Wahrheit oder Nützlichkeit nicht bewiesen werden kann, lasse man fern bleiben, wo es sich um gründliche Belehrung handelt“ (Comenius 1959, 97).

Dieser Grundsatz spricht auch gegen das im Technikunterricht nicht selten anzutreffende „Lernen am Neuen“ ((Binder 2019, 83), Hervorh. i. Orig.), das aus der reinen Euphorie für alles Neue ohne Prüfung der „Wahrheit und Nützlichkeit“ die neusten Techniktrends zu bedienen versucht.

Binder kommt diesbezüglich zu dem Schluss:

„Lehrerinnen und Lehrer […] können nicht oder nur in glücklichen Ausnahmefällen am Neuen lehren. Sie müssen den Gegenstand in seinen kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutungen verstehen. Dazu müssen sie ihn fixieren, verstehen und sich auch von ihm distanzieren können- sonst können sie an ihm keinen Bildungsprozess anleiten. Schnelligkeit und Euphorie sind dabei hinderlich“ ((Binder 2019, 85),Hervorh. i. Orig.).

Beim „Lernen im Neuen“ (a.a.O., 83), in einer Lebenswelt, die durch die aktuelle Technik geprägt ist, kann das Neue nur vor dem Hintergrund der bisherigen Technikentwicklung verstanden und bewertet werden. Die Vor- und Nachteile eines 3-D-Druckers kann man nur bewerten, wenn man auch herkömmliche Maschinen, die durch diese Maschinen zu bearbeitenden Materialien und die mit diesen Maschinen zu fertigenden Konstruktionen kennt. Wir erinnern uns an Hannah Arendt und den konservativen Charakter von Erziehung.

Es bleibt die Fülle der „alten“ Technik, aus der es auszuwählen gilt.

Wieder hilft uns Comenius weiter, der in seiner „Analytischen Didaktik“ formuliert:

„Bei allem, was gelehrt wird, muß dafür Sorge getragen werden, daß es zuerst als Ganzes, dann in seinen Teilen geordnet und unterschieden aufgefaßt wird“ (Comenius 1959, 61).

Das Ganze, oder mit heutigem Vokabular, den Kontext, an den Anfang zu stellen erfordert didaktische Vereinfachung. Damit hat sich der Dresdner Berufspädagoge Dietrich Hering in seiner Habilitationsschrift, „Didaktische Vereinfachung“ (vgl. (Hering 1958)) beschäftigt, um das Problem der „Wissenschaftlichkeit und Fasslichkeit der Aussagen im naturwissenschaftlichen und technischen Unterricht“, so auch ein Teil des Untertitels einer späteren Veröffentlichung (vgl. (Hering 1959)), zu lösen. Als „Hauptsatz der didaktischen Vereinfachung“ formuliert Hering:

„Didaktische Vereinfachung einer wissenschaftlichen Aussage ist der Übergang von einer (in die besonderen Merkmale des Gegenstandes) differenzierten Aussage zu einer allgemeinen Aussage (gleichen Gültigkeitsumfangs über den gleichen Gegenstand unter gleichem Aspekt))“ (Hering 1959, 27).

In den Erläuterungen zu diesem Hauptsatz wird betont, dass bei der Vereinfachung drei Prinzipien gültig sein müssen. Die fachliche Richtigkeit darf durch die Allgemeinheit der Aussage nicht verloren gehen, die fachliche Ausbaufähigkeit muss erhalten bleiben und die Angemessenheit in Bezug auf die Lernvoraussetzungen der Lerngruppe muss gewährleistet sein. Im Rahmen der so formulierten Prinzipien der Fasslichkeit interpretiert Hering die bereits von Comenius formulierten didaktischen Regeln neu:

„Vom Einfachen zum Komplizierten“

„Vom Allgemeinen zum Besonderen“

„Vom Konkreten zum Abstrakten“

„Vom Bekannten zum Unbekannten“

„Vom Nahen zum Entfernten“

„Vom Leichtem zum Schwierigen“

(Hering 1959, 39 ff.)

Auch im Westen Deutschlands wurde das Problem, „das geistige Leben durch die Fülle des Stoffes zu ersticken“ (Gerner 1966, IX) 1951 auf einer gemeinsamen Tagung von Vertretern der Hochschulen und höheren Schulen in Tübingen benannt. In der Folge erschienen zahlreiche Veröffentlichungen, die sich dieses Themas annahmen. Derbolav beklagt 1957 das noch heute auftauchende Problem des verwissenschaftlichten Gymnasialunterrichts:

„Von der Entmythologisierung des Kosmos über die Entspiritualisierung der Natur, die Entphilosophierung der Erkenntnis, die Entinnerlichung des wissenschaftlichen Gegenstandes bis zur Entpädagogisierung des verwissenschaftlichten Gymnasialunterrichts führt eine gerade Linie, die man in ihrer Logik durchschaut haben muß, wenn man das berechtigte Anliegen, aber auch die erhöhte Schwierigkeit des exemplarischen Lernens in der gegenwärtigen Situation verstehen will“ (Derbolav 1957, 62)

Scheuerl fasst 1958 in seiner Habilitationsschrift „Die Exemplarische Lehre“ das „Gemeinsame und Prinzipielle der exemplarischen Repräsentation“ (Scheuerl 1958, 81) in zehn Punkten zusammen. Von diesen ist insbesondere die Doppelseitigkeit des Exemplarischen für unsere weiteren Überlegungen bedeutsam.

„Alles Exemplarische ist zugleich exemplarisch für jemanden und für etwas“ (Scheuerl 1958, 82).

Diese Doppelseitigkeit stellt eine Beziehung zwischen dem individuellen exemplarischen Bildungserlebnis und dem „unabhängig von der je einmaligen Lernsituation gegebenen Sachverhalt, der allgemeingültigen Strukturanalysen zugänglich ist“ (ebd.), her. Ob Scheuerl zum damaligen Zeitpunkt die Dissertation von Klafki zum Thema „Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung“ aus dem Jahre 1957 bekannt war, ist unklar.

Die von Klafki entwickelte Theorie der kategorialen Bildung verschränkt die formale und materiale Seite der Bildung im Kategorialen. Zugleich entwickelt er hier sechs „Grundformen des Fundamentalen und Elementaren“ (Klafki 1964, 441–57), das Fundamentale als Grunderlebnis und Grunderfahrung, das Exemplarische an dem das Allgemeine gewonnen werden kann, das Typische als „dasjenige, was einen Typus zur Erscheinung bringt“ (a.a.O., 445), das Klassische als „eine als gültig, vorbildlich, verbindlich erlebte menschliche Haltung oder Leistung“ (a.a.O., 448), das Repräsentative als Vergegenwärtigung des geschichtlich-Elementaren und die einfachen Formen, differenziert in einfache Zweckformen, z. B. „Grundformen handwerklich-technischen Tuns“ (a.a.O., 453), und einfache ästhetische Formen als „reale Aufhebung der Inhalt-Form-Polarität“ (a.a.O., 454).

Nicht unerwähnt soll die Tatsache sein, dass der Berufspädagoge Gustav Grüner mit seinem Aufsatz „Die didaktische Reduktion als Kernstück der Didaktik“ (Grüner 1967) den Begriff der didaktischen Reduktion wesentlich geprägt hat. Er entwickelt das „Denken in Vereinfachungsreihen“ und die „Keile der Vereinfachung“ (Hering 1959, 95) Herings weiter, indem er in horizontale didaktische Reduktion unter Beibehaltung des Gültigkeitsumfangs und vertikale Reduktion unter Einengung des Gültigkeitsumfangs von Stufe zu Stufe unterschied (vgl.(Grüner 1967, 421).

Doch diese oben genannten Kriterien der Didaktischen Reduktion greifen zu kurz, wenn man auf der Suche nach einem Kern Technischer Allgemeinbildung ist, denn es kommt nicht darauf an, die Ganze Technik didaktisch zu reduzieren, sondern das Ganze der Technik abzubilden. Gesucht ist also eine Abbildungsvorschrift, die bildsame und erzieherische Inhalte auf der einen Seite in eine für Lernende fassliche Struktur bringt, also didaktisch transformatiert.

Worin besteht nun der Unterschied zwischen didaktischer Reduktion und didaktischer Transformation?

Nimmt man ein universitäres Lehrbuch und ein Schulbuch zur Hand, dann lässt sich der Unterschied an den Unterschieden des Inhaltsverzeichnisses erklären.

Bei didaktischer Reduktion würde das Schulbuch eine ähnliche Gliederung wie das universitäre Lehrbuch aufweisen, aber die Stofffülle wäre didaktisch begründet auf eine exemplarische, elementare Auswahl reduzieren. Man würde beispielsweise zunächst wichtige Begriffe klären und definieren, dann grundlegende Lernvoraussetzungen wiederholen, um dann zu dem neuen Stoff vorzudringen.

Ein Schulbuch, das durch didaktische Transformation entstanden ist, würde man an einer Gliederung erkennen, die sich primär an den Lernbedürfnissen, Lernvoraussetzungen und an der Zugänglichkeit durch Kontexte orientieren würde. Daran würden neue Phänomene, Probleme usw. verdeutlicht und anschließend würden die neu gewonnenen Einsichten auf andere Phänomene angewendet.

Allgemeiner formuliert bleibt bei einer didaktischen Reduktion die Struktur des Faches erhalten, die Didaktik handelt im Sinne einer „Abbilddidaktik“.

Die didaktische Transformation verwendet hingegen die „Strategie des didaktischen Diskurses“ (Rohbeck 2017, 49). Rohbeck beschreibt diese Strategie in Bezug auf das Fach Philosophie wie folgt:

„Methodisch orientiert sich dieses Konzept an der neueren Diskurstheorie. Demnach erhalten Begriffe und Argumente ihre Bedeutung durch den Kontext, in dem sie innerhalb bestimmter Diskurse stehen. Diese Bedeutung wechselt folglich, wenn Aussagen in einen anderen Kontext übertragen werden. Das diskursive Feld verändert die semantische Funktion. Die Strategie des neuen Diskurses bestimmt bereits die Selektion des Übertragenen. Es wird also kein feststehender Inhalt übertragen, sondern das Übertragene gewinnt seine Bedeutung erst im Prozess der Übertragung in einen neuen Kontext“ (Rohbeck 2017, 50).

Diese weder deduktive noch induktive Methode nennt Rohbeck Abduktion und meint damit:

„Unter Abduktion versteht der amerikanische Pragmatist Peirce das geregelte Verfahren der Anwendung eines allgemeinen Prinzips auf eine konkrete Situation. Dabei wird das Prinzip der Situation angepasst, wie es sich zugleich rückwirkend im Prozess dieser Anpassung verändert. Hermeneutisch kann man dieses Verfahren als heuristischen Zirkel beschreiben, diskurstheoretisch als wechselseitige Kontextualisierung, systemtheoretisch als Variation und Selektion; auf jeden Fall ist es pragmatisch, weil die verwendeten Theoreme nach jeweils praktischen Erfordernissen ausgewählt und modifiziert werden“ (Rohbeck 2017, 50).

Es kommt nun darauf an, die obigen allgemeinen Aussagen auf den Gegenstandsbereich der Technik anzuwenden, um zu Curricula von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II zu gelangen, die das Exemplarische und Fundamentale der Technik didaktisch reduzieren und transformieren.

6.2 Die Problem- und Handlungsfelder- nur ein Orientierungsrahmen

Dazu ist zunächst zu fragen, inwiefern dies schon von bestehenden fachdidaktischen Ansätzen geleistet wird.

Schmayl kommt bei seiner Analyse der Gegenstandsstruktur bisheriger technikdidaktischer Ansätze zu dem Schluss, dass weder der allgemeintechnologische noch der arbeitsorientierte Ansatz eine pädagogisch fundierte Inhaltsauswahl ermöglichen, weil entweder die „Inhalte […] nicht von der technischen Wirklichkeit aus(gehen), sondern […] sich geradewegs den allgemeintechnologischen Kategorien zu(wenden)“ (Schmayl 1995, 69) (AtA) oder sich dazu „keine Anläufe zu einer inhaltlichen Ordnung technischen Unterrichts (AoA)“ (a.a.O., 77) finden.

Da der mehrperspektivische Ansatz den Fach- und Lebensweltbezug im Sinne der kategorialen Bildung nach Klafki als Auswahlprinzip für Inhalte miteinander verschränkt, wird im Folgenden die Frage zu beantworten sein, ob der mehrperspektivische Ansatz Aussagen zu einem inhaltlichen Curriculum ermöglicht.

Wir haben bereits das von Husserl beschriebene Problem der Sinnverschiebung in den Wissenschaften beschrieben. In einer früheren Veröffentlichung habe ich bereits darauf hingewiesen, dass in

„der Technikdidaktik eine Sinnverschiebung mit Sachs‘ Aufsatz „Skizzen und Anmerkungen zur Didaktik eines mehrperspektivischen Technikunterrichts“ zur Begründung des Mehrperspektivischen Ansatzes insofern passiert ist, als die Problem- und Handlungsfelder z.T. als abgeschlossene und obligatorische Inhaltsfelder angenommen werden, obwohl Sachs selbst im Original nur von einem „inhaltlichen Orientierungsrahmen“ spricht (vgl. Sachs 1979, S. 71 f.)“. (Möllers 2020, FN 2).

Vor allem Martin Binder ist es zu verdanken, dieses Missverständnis auszuräumen, indem er die Originalveröffentlichung Sachs‘ einer Relektüre unterzogen hat.

Demnach gilt es festzuhalten, dass „die Problem- und Handlungsfelder (…) nur eine Suchmatrix für Inhalte und nicht die Inhalte des Technikunterrichts selbst (sind)!“ (Binder 2020, 20). Das identifizierte Problem der Unvollständigkeit dieser Suchmatrix wird aber nicht dadurch gelöst, dass sie vergrößert wird und den ursprünglichen Problem- und Handlungsfeldern weitere hinzugefügt werden. So hat Schmayl die Felder „Schützen und Sichern“ und „Selbstentfaltung und Lebensgestaltung“ (Schmayl 2010, 195) vorgeschlagen, Schlagenhauf das Feld „Alltag und Gebrauch“ (Schlagenhauf 2015, 11) oder die VDI Bildungsstandards das Feld „Haushalt und Freizeit“ (VDI (Hrsg.) 2007, 8). Vielmehr ist die Inhaltsbestimmung ein komplexer Prozess, der sowohl die Zielperspektiven von Technikunterricht als auch die Bezugsebenen technikdidaktischer Reflexion berücksichtigen muss. Als Bezugsebenen hat Sachs den „Handlungsbezug“ (Sachs 2021, 196), den „Theorie- und Wissenschaftsbezug“ (a.a.O., 197), den „Bewertungs- und Bedeutungsbezug“ (a.a.O., 198) und den „Berufsbezug“ (ebd.) vorgeschlagen. Daraus ergeben sich die vier Zielperspektiven der „technikbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten“, der „technischen Kenntnisse und sachstrukturellen Einsichten“, der „Bedeutung und Bewertung von Technik“ und der „vorberuflichen Erfahrung und Orientierung“ (a.a.O., 200). Aus heutiger Sicht ist vor allem die letzte Zielperspektive der Berufsorientierung kritisch zu betrachten. Unter der oben getroffenen Annahme, dass alle Schulfächer den Auftrag haben, zur Persönlichkeitsbildung und Enkulturation beizutragen und zur Kultur die Arbeitsteilung und Berufe gehören, muss diese Zielperspektive nicht mehr als gesonderte Perspektive ausgewiesen werden, weil sie bereits in den anderen Zielperspektiven enthalten ist. Für die Technikdidaktik steckt in dieser Zielperspektive die Gefahr, den allgemeinbildenden Charakter des Faches für alle Schulstufen aus dem Blick zu verlieren. Außerdem hängt an dieser Zielperspektive das „Blaumannimage“ und der Vorwurf, dass der Technikunterricht lediglich als Zulieferer für den Berufemarkt dient. Dies widerspricht dem Allgemeinbildungsanspruch aller Lernenden und verhindert insbesondere die Etablierung des Faches in der gymnasialen Oberstufe. Um diesen Allgemeinbildungsanspruch für alle Schulstufen fachdidaktisch abzusichern, gilt es, die Frage nach dem inhaltlichen Curriculum voranzutreiben. Sachs gibt als „Orientierungsrahmen für Inhaltsentscheidungen“ (a.a.O., 206) neben den fünf „individuell und gesellschaftlich bedeutsamen Problem- und Handlungsfeldern“ (ebd.) dazu passende „technikspezifische Inhalts- und Problemaspekte“ (ebd.) an (vgl. Tabelle 6.1).

Für den Weg zu konkreten Curricula formuliert er zusätzlich sechs didaktische Bedingungen:

  • die Themenbereiche müssen im Laufe der Schulzeit „sämtliche inhaltliche Bereiche der Richtziele ausreichend berücksichtigt alle Bezugsebenen berücksichtigt“ (a.a.O., 206),

  • die Themenbereiche sind mehrperspektivisch anzulegen, sodass bei einem Themenbereich „jeweils mehrere Richtzielperspektiven erfasst werden“ (a.a.O., 207),

  • die Themenbereiche sollen „ausreichend Möglichkeiten für praktisch-technisches Handeln zulassen“ (ebd.),

  • die Themenbereiche sollen den körperlichen und geistigen Entwicklungsstand der Schüler berücksichtigen,

  • die Themenbereiche „müssen unter schulischen Bedingungen umsetzbar sein“ (ebd.),

  • die Themenbereiche müssen so formuliert sein, dass sie allen Beteiligten „Spielräume für alternative Realisierungsmöglichkeiten zulassen“ (ebd.).

Tabelle 6.1 Orientierungsrahmen für Inhaltsentscheidungen (nach: (Sachs 2021, 206))

Diese sechs Bedingungen sollten bis auf die Einschränkung bezüglich der vierten Zielperspektive der Berufsorientierung (s. o.) auch heute noch Gültigkeit haben und entsprechen im Wesentlichen den oben gefundenen pädagogischen Perspektiven und Prinzipien.

Binder stellt fest, dass „die Problem- und Handlungsfelder nahezu überall zitiert (werden), wo Beispiele aus dem Technikunterricht oder Überlegungen zur Inhaltsproblematik vorgestellt werden“ (Binder 2020, 20 f.), dass dies aber im Kern wirkungslos bleibe, weil sie nicht, wie ursprünglich von Sachs gedacht, als Instrument zur Lehrplanentwicklung genutzt würden (ebd.). Die Eignung als Instrument zur Lehrplanentwicklung wird indirekt von Schmayl bei seiner „Analyse des Strukturansatzes“ (Schmayl 2010, 194 ff.) angezweifelt, indem er zahlreiche Fragen an den Ansatz stellt und von einer Inhaltsstruktur „Vollständigkeit und Begriffsschärfe“ (a.a.O., 195), sowie die Bereitstellung eines „differenzierten Kategorialgefüges“ (ebd.) fordert.

Schmayl kommt zu dem Schluss, dass das Schema der Handlungsfelder „nicht hinreichend die Sachtechnik und die Wert- und Sinndimension“ (Schmayl 2010, 197) erfasst und diese in einem „Modell der Inhaltsbestimmung“ „mit ihren eigenen Kategorien“ aufgenommen werden müssten (ebd.). Radermacher unternimmt den Versuch durch eine umfassende Analyse von Lehrplänen eine Strukturierung der Sachtechnik vorzunehmen. Er findet dabei sieben „Technische Handlungsfelder“Footnote 1 (Radermacher 2010, 116), die „eher einer ingenieurwissenschaftlichen Systematik“ (ebd.) folgen. Eine Verknüpfung mit menschlichen Bedürfnissen oder Problemstellungen gelingt mit diesen Feldern nicht. Die Analyse geht außerdem von der falschen Grundannahme aus, dass die Lehrpläne „in normativer Form die Vorstellungen einer Vielzahl von Technikdidaktikern der letzten Jahrzehnte zusammen(fassen)“ (a.a.O., 69). Diese Grundannahme verkennt völlig, dass sich in der Lehrplanarbeit der letzten beiden Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der PISA 2000-Studie (vgl.(Baumert und Deutsches PISA-Konsortium 2001)) zwei Paradigmenwechsel ergeben haben. Erstens verlieren die Lehrpläne durch die Kompetenzorientierung sehr deutlich ihre inhaltliche Strukturierung und zweitens ist in den Bundesländern die Tendenz immer stärker ausgeprägt, „Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker der Hochschulen […] nicht mehr in leitender Funktion, manchmal sogar gar nicht mehr“ (Binder 2020, 21) in die Lehrplanerarbeitung einzubeziehen. Durch die Besetzung der Lehrplankommissionen mit Schulpraktikern ist zwar die didaktische Bedingung der schulischen Umsetzbarkeit nach Sachs meist erfüllt, nicht aber die Forderung nach Mehrperspektivität und kategorialer Bildung.

Die kategoriale Bildung nimmt Schlagenhauf als Ausgangspunkt für neue Überlegungen zum Problembegriff, der in den Problem- und Handlungsfeldern enthalten ist.

„Dieser Begriff bezieht sich nicht nur auf einen Pol der Bildungsrelation, sondern umfasst beide, Subjekt und Objekt, dadurch, dass Ausgangspunkt des technischen Problemlösens das subjektive Bedürfnis ist, der Zielzustand aber nur durch Veränderung in der äußeren objektiven Wirklichkeit zu erreichen ist“ (Schlagenhauf 2009, 10).

Damit rückt Schlagenhauf die menschlichen Bedürfnisse, ausdrücklich nicht nur die „physiologisch bedingten“, sondern „grundsätzlich alle Bedürfnisse“ (a.a.O.,11) in den Mittelpunkt fachdidaktischer Betrachtungen und kommt zu dem Schluss, dass „beide, Daseins- und Kulturbedürfnisse als unserem Inhaltsbereich zugehörig angesehen werden“ müssen (ebd.). Damit rücken auch Bereiche wie „Ernährung, Hygiene und Gesundheit“ (ebd.) in den Blick, die in vielen Bundesländern dem Fach Hauswirtschaft zugeordnet werden. Es sind aber auch Bereiche wie Mode, Schmuck, Spiele, Musik, oder Schutz des Lebens und materieller Güter denkbar. Schlagenhauf schlägt zwar in diesem Zusammenhang weitere Problem- und Handlungsfelder vor, kommt aber zu dem Schluss:

„Es steht zur Klärung an, ob und wie unterschiedliche Bedürfnisebenen und damit auch Wahrnehmungs- und Deutungskategorien techniktheoretisch und technikdidaktisch zu berücksichtigen sind“ (Schlagenhauf 2009, 12).

Binder wendet sich gegen die Interpretation, die in den Problem- und Handlungsfeldern „enthaltenen Bedürfnisse seien das Grundmuster der Inhaltsbestimmung“ (Binder 2020, 20) mit dem Hinweis:

„Technische Problemsituationen entstehen nicht durch Bedürfnisse, sondern durch die Kombination aus unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen, Regeln und Zwängen, Ideen und Umsetzungen, Vorlieben und Möglichkeiten“ ((Binder 2020, 20), Hervorh. i. Orig.).

Zu ergänzen ist, dass technische Problemsituationen aus unterschiedlichsten Ursachen entstehen, z. B. die Fukushima-Katastrophe aufgrund eines Seebebens, das einen Tsunami ausgelöst hat. Entscheidend für unsere Überlegungen ist aber die menschliche Reaktion auf diese Problemsituationen. Diese hängt zunächst von der Wahrnehmung der Problemsituation, deren Bewertung (bewusst oder unbewusst) und von dem dadurch ausgelösten körperlichen und gefühlsmäßigen Ungleichgewicht ab. Die Stärke des Ungleichgewichts hängt davon ab, wie die z. T. widerstrebenden Motive und Bedürfnisse im Körper gegeneinander oder in die gleiche Richtung „verrechnet“ werden und ob daraus letztlich ein Handlungsimpuls wird (vgl. Rubikon-Modell).

Abbildung 6.2
figure 2

Zweck- Motiv Struktur einer Handlung. (aus:(Binder 2014, 78))

Die Frage ist, ob die Problemsituation den Menschen derart bewegt (motiviert), dass er ins Denken und/oder Handeln kommt, oder gemäß der Zweck- Motiv- Struktur einer Handlung (siehe Abb. 6.2), ob ein Mensch oder mehrere Menschen bewusste Zwecke oder unbewusste Motive haben, um sich ein Handlungsziel zu setzen.

Damit rückt erneut der Mensch in seinem gesellschaftlichen Umfeld und die Gesamtheit der Motive aller Akteure ins Zentrum der technikdidaktischen Betrachtungen. Diese Untersuchung knüpft damit an die „Hamburgisch- Karlsruher Linie der Technikdidaktik“ (Wiesmüller 2014, 77) an, die „die Person und ihre Begegnung mit den Sachen in den Mittelpunkt stellt“ (ebd.) und dabei vom „Geistprimat, der für die Wechselwirkung von Mensch und Natur, also der „Kulturtätigkeit“ angenommen wird“ (a.a.O., 78), ausgeht. Die Untersuchung hat bereits gezeigt, dass sich gerade die „Kulturtätigkeit“ vollständiger durch den ganzheitlichen Ansatz (Kopf, Herz, Hand) verstehen lässt und dass nicht nur die einzelne Person und ihre Begegnung mit den Sachen im Mittelpunkt stehen sollte, sondern die Begegnung der Person mit anderen Personen und deren Motiven, Bedürfnissen und Interessen. Die sich daraus ergebenden Ziel- und Interessenskonflikte müssen durch abwägendes, verantwortliches Handeln im Zielkonflikt und Wertekonflikt gelöst werden. Daher wird im folgenden Kapitel anhand der Stränge bisheriger Erkenntnisse das Gewebe eines neuen inhaltlichen Kategorialgefüges zu weben sein.

6.3 Kulturreihen zur Verknüpfung von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation

Die zentrale Annahme für dieses Kategorialgefüge ist die Parallelität von Onto- und Phylogenese, von Persönlichkeits- und Menschheitsentwicklung. Sowohl die Persönlichkeitsentwicklung als auch die Menschheitsentwicklung wechselwirken mit der Kulturentwicklung. Die Parallelität von Onto- und Phylogenese ist uns bereits an zahlreichen Stellen dieser Untersuchung begegnet.

So formuliert der kultur-historische Tätigkeitsansatz die These, dass die Entwicklung des Menschen in Onto- und Phylogenese eine Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Menschen bewirkt hat und nicht umgekehrt. Außerdem formuliert er als entwicklungspsychologische Grundannahme, dass die Tätigkeit, die Enaktivität, das Bewusstsein und die kognitiven Strukturen prägt, auch das kulturelle Bewusstsein. Nach Oerter eignet sich der Mensch durch die aktive Gestaltung der eigenen Entwicklung die kulturellen Inhalte seiner Gesellschaft in sozialer Interaktion und Kooperation an und wird damit zum Mitglied der Kultur (vgl. (Oerter und Montada 2002, 80). Vygotskijs Konzept der Zone der nächsten Entwicklung beschreibt den Zusammenhang zwischen der erreichten Entwicklungsstufe des Heranwachsenden und der nächsten Entwicklungsstufe, die durch intentionale Instruktion, stimulierende Umgebung oder Spiel erreicht werden kann (siehe auch: (Oerter und Montada 2002, 84).

Ähnlich wie die individuelle Entwicklung stufenweise erfolgt und die die Entwicklungsstufen aufeinander aufbauen, entwickelte sich auch die technische Kultur stufenweise. Den stufenweisen Fortschritt definiert Janich als Kulturhöhe.

„Hier lässt sich eine strenge Definition von Fortschritt ( und „Kulturhöhe“) geben: Die in ihrer methodischen Abfolge nicht umkehrbare Reihung von Erfindungen führt von einer niedrigeren zu einer höheren, fortschrittlicheren Technik“ (Janich 2010, 98).

Der so von Peter Janich definierte Begriff der „Kulturhöhe“ impliziert, dass technische Errungenschaften aufeinander aufbauen. Kein Zahnrad ohne die vorherige Erfindung des Rades, kein Heizkessel ohne die Möglichkeit, ein Feuer zu entzünden, kein Computer ohne das elektronische Ein- und Ausschalten von Stromkreisen mit Transistoren.

Fortschritt kann aber auch bedeuten, dass eine technische Entwicklungslinie abreißt, weil man zu einer neuen Bewertung der Risiken und Folgen gekommen ist, wie z. B. 2011 beim deutschen Ausstieg aus der Kernenergietechnik. Trotz der disruptiven Elemente des technischen Fortschritts ist insgesamt die Technikhistorie kumulativ und geprägt vom finalen Charakter der Technik, der sich in der Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Menschen auszeichnet.

Die Parallelität von Onto- und Phylogenese lässt zusammen mit der fortschreitenden Kulturhöhe die Idee des Kulturreihenansatzes entstehen. Wiesmüller hat bereits 2014 „Kulturreihen als begehbare Brücke zwischen Ursprung und Gegenwart“ (Wiesmüller 2014, 84) im Sinne einer „noch ungefähren Bildungsidee“ (a.a.O., 88) vorgeschlagen.

Mit den Ergebnissen dieser Untersuchung soll aus der „ungefähren Bildungsidee“ ein gut begründeter Ansatz werden, der die curriculare Arbeit an Inhalten des Technikunterrichts voranbringen soll.

Bildung und Erziehung einer Person vollziehen im Kontext einer Kultur im Kleinen den Prozess nach, den die Menschheit im Großen über einen langen Zeitraum vollzogen hat. Das Wahrnehmen, Verstehen und verantwortliche Handeln in den Wertedimensionen des Schönen, Wahren und Guten soll sich entlang der Kulturhöhe bewegen, weil das Folgende (z. B. Zahnrad) nicht ohne das Erste (z. B. Rad) zu verstehen ist.

Diese Idee wirft zwar die Problem- und Handlungsfelder über Bord, nicht aber die dahinterliegende Idee der kategorialen Bildung. Im Sinne Thomas S. Kuhns erfordern nun die „neuen Fakten und Theorien, (n)achdem sie bei einem Spiel, das einem Satz Regeln folgte, unbeabsichtigt erzeugt worden sind, […] (zu) ihrer Rezipierung, daß ein neuer Satz Regeln ausgearbeitet wird“ (Kuhn 1973, 79).

Worin bestehen nun diese neuen Regeln zur Konzipierung von Kulturreihen?

Beim Aufbau eines Inhaltsgefüges aus dem Kategoriengefüge sind demnach diejenigen „Gegenstände“, im didaktischen und technischen Sinne, zu wählen, die sowohl die Basisschemata repräsentieren, die Dialektik der Technik abbilden und möglichst eine konnotative Bedeutungsaufladung im Sinne eines Narratives erfahren haben.

Baudrillard würde vom Stimmungswert „Historizität“ sprechen, Benjamin von der Echtheit und Aura des Gegenstandes.

Bei der Suche nach denjenigen Kulturgütern, die zu Bildungsgütern werden können, helfen uns die Kategorien weiter, die wir als Basiscodes einzelner Produkte bzw. als Basisschemata nach Shore und eigenen Überlegungen identifiziert haben. Basisschemata haben nicht nur Einfluss auf einzelne Lebensbereiche, sondern sind für eine große Anzahl kultureller Modelle grundlegend. Damit diese Basisschemata für ein kategoriales Inhaltsgefüge wirksam werden können, müssen sie noch nach pädagogischen Gesichtspunkten geordnet und differenziert werden.

Welches sind diese pädagogischen Ordnungsgesichtspunkte?

Es sind dies die bereits in Kapitel 5 gewonnenen vier pädagogischen Perspektiven,

  • Technik ganzheitlich wahrnehmen und erleben

  • Technik mehrperspektivisch verstehen in ihrer Sach-, Sinn- und Wertperspektive

  • Technik mit Menschen für Menschen gestalten und sich ausdrücken

  • Technik reflektieren, bewerten und verantwortlich handeln,

und die sich daraus ergebenden fünf Prinzipien des persönlichkeitsfördernden und enkulturierenden Technikunterrichts,

  • Erfahrungs- und Handlungsorientierung

  • Mehrperspektivität

  • Verständigung und Kooperation

  • Werteorientierung

  • Reflexion und Metakognition.

Diese werden nun kombiniert mit den vier Rollen beim technischen Handeln und Gestalten:

  • Homo faber

  • Nutzer

  • Vermittler

  • Folgebetroffener

Die zentrale Idee des Kulturreihenansatzes besteht darin, fundamentale kulturelle Errungenschaften in ihren Entwicklungsstufen entlang der Altersstufen anzuordnen. Damit bewegen sich die Kulturreihen wie die technische Kultur selbst:

  • vom Naturmaterial (Ton, Holz, Wolle) über umgewandelte Materialien (Stoff, Papier, Metall) zu Kunst- und Verbundstoffen

  • von der Handarbeit über die Benutzung von Werkzeugen und Maschinen zur automatischen Fertigung

  • von der Mikro- über die Meso- zur Makroebene technischer und gesellschaftlicher Systeme

  • vom Einfachen zum Komplexen

  • vom Konkreten zum Abstrakten

  • vom gezielten Probieren über das skizzenhafte Planen zum technikwissenschaftlichen Berechnen.

Dadurch werden die physiologischen und psychologischen Bedürfnisse und Motive des Menschen zum technischen Handeln berücksichtigt und es findet ein schrittweiser Aufbau von Kompetenz und Wissensnetzen gemäß Vygotskijs Zone der nächsten Entwicklung, bei dem der nächsten Kulturschritt immer auf der Stufe des schon Erreichten aufbaut.

Mit Curricula von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II, die diesen historischen Entwicklungsrichtungen folgen, wäre es möglich, fundamentales, elementares, exemplarisches und systematisches Wissen und Handeln aufzubauen und damit Sinn anzureichern.

6.4 Das Ganze der Technik in Kulturreihen

Trotz aller pädagogischen Perspektiven, Prinzipien von Unterricht und Rollen beim technischen Handeln und Gestalten bleibt als letztes Problem das Finden eines geeigneten heuristischen Ausgangspunktes für die Kulturreihen. Weil das Zentrum aller pädagogischen Bemühungen der Mensch sein sollte und dessen Anspruch auf Bildung und Enkulturation, sollten auch die Motive des Menschen dieser Ausgangspunkt sein. In den Motiven stecken alle rationalen und affektiven Antriebe, die den Menschen zum technischen Denken und Handeln bringen. Wie wir bereits gesehen haben, lassen sich diese Motive psychologisch zu den drei Motiven der Autonomie, Kompetenz und dem sozialen Eingebundensein zusammenfassen (SDT-Theorie), ergänzt um die physiologischen Bedürfnisse, die das Leben und Überleben sichern. Je nach Gemeinschaft und Gesellschaft werden die Bedürfnisse unterschiedlich kulturell verwirklicht. Will man nun vom einzelnen Menschen abstrahieren und sucht nach den kulturellen Motiven, die vielen Menschen gemeinsam sind, so finden sich diese u. a. in Mythen wieder. Daher stellen Mythen einen möglichen Ausgangspunkt dar, jedoch ist von vorneherein zu berücksichtigen, dass sich diese Erzählungen im Laufe der Zeit ändern und mit zunehmender Kulturhöhe die Bedeutung der Mythen abnimmt und damit auch deren Tragfähigkeit zur Entwicklung von Kulturreihen.

Auch wenn der Anfang der Menschheit im Dunklen liegt, so stellt die Möglichkeit des Feuermachens bzw. -konservierens in Form von Glut einen entscheidenden Schritt in der technisch- kulturellen Menschheitsentwicklung dar, der z. B. im Prometheus-Mythos festgehalten wurde.

Aber auch bei der Entwicklung einer Person ist bei Kleinkindern dieselbe Faszination beim Betrachten oder Anzünden einer Kerze oder eines offenen Feuers zu beobachten.

Auch die in den letzten Jahren aufkommende Grillmode erinnert sehr stark an den Neanderthaler im Menschen. Zugleich ist Feuer die elementarste Form des Erlebens von Energie in Form von Wärme und Licht. Feuer (Abb. 6.3) ist zudem kulturell konnotiert mit Gemütlichkeit, Geselligkeit, aber auch mit den Gefahren des Abbrennens von Häusern oder des Verbrennens von Haut (vgl. Paulinchen im Struwwelpeter). Im Laufe der technischen Entwicklung ist das Feuer zunehmend anästhetisch (unsichtbar,-fühlbar, -hörbar) geworden, indem man es in Kesseln und Öfen „eingesperrt“ hat und damit verfügbar gemacht hat. Dennoch begegnet uns das Feuer immer wieder als Bedrohung und zeigt uns beispielsweise in Waldbränden, die nur schwer beherrschbar sind, die Grenzen der menschlichen Machbarkeit auf. Feuer ist demnach ein elementares Erlebnis, das zugleich die Dialektik von Machbarkeit und Unverfügbarkeit und von Fluch und Segen verdeutlicht.

Abbildung 6.3
figure 3

Das Feuer: Sinnbild von Wärme und Licht

Die Kulturreihe „Leben kultivieren“ (Abb. 6.5) stellt zunächst die physiologischen Grundbedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt und entwickelt sich dann entlang der Kulturhöhe fort. Der Wunschzustand vieler Menschen spiegelt sich z. B. im jüdisch, christlich, islamischen Mythos „Paradies“ oder im griechischen „Elysium“ wider. Die Mythen beschreiben Zustände, des unbeschwerten, arbeitsfreien Lebens oder auch „himmlische“ Zustände nach dem Tod. Im Negativen begegnen uns die Mühen des Lebens im Mythos des Sisyphos, der erstmals von Camus 1942 positiv gedeutet wird, indem er Sisyphos zuschreibt, sein Schicksal als „eine menschliche Angelegenheit“ (Camus 2001, 114) zu sehen, die er selbst in der Hand hat. Abschließend schreibt Camus:

„Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ (Camus 2001, 115).Footnote 2

Die Kulturreihe „Leben kultivieren“ differenziert sich in vier lebenskultivierende Stränge, die technische Umwandlung von Energien, die Produktion und Konsumption von Lebensmitteln, die Herstellung von Textilien und Architektur als Medium des Sozialen. In diesen Kulturreihen ist die schwerpunktmäßige Rolle des Menschen die des Nutzers. So setzt die Reihe „Esskultur entwickeln“ bei der Zubereitung am offenen Feuer an, beschäftigt sich mit Gewinnung/ Anbau, Verarbeitung und Haltbarmachung mit unterschiedlichen Fertigungsverfahren und mündet in der globalisierten, automatisierten Lebensmittelproduktion. Diese Reihe bietet im besonderen Maße die von Binder geforderte Möglichkeit interkulturelle Unterschiede (vgl. (Binder 2020, 22) und deren Entstehung zu thematisieren.

Die Reihe „Architektur als Medium des Sozialen“ (vgl.(Delitz 2010)) beginnt bei einfachen Behausungen, z. B. Höhle und Zelt, als Schutz vor Witterung. Über Hütten und Häuser bewegt sich die Reihe hin zur Differenzierung der sozialen Funktionen in Palästen, Kirchen, Fabriken, Schulen, Stadien und Arenen (siehe Abb. 6.4) bis hin zur Städteplanung.

Abbildung 6.4
figure 4

Fußballarena. (Foto: Arne Müseler / www.arne-mueseler.com, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Die Reihe „Energie zum Leben und Arbeiten“ kann sich ausdifferenzieren in „Licht, Wärme und Kraft“, diese wiederum in Feuer (regenerativ/ fossil), einfache Maschinen (Hebel, Rolle), Dampf, Strom und Motoren.

Abbildung 6.5
figure 5

Kulturreihen „Leben kultivieren“

Die Reihe „Kleider machen Leute“ setzt beim Fell eines Tieres an, geht weiter mit dem Spinnen von Fäden aus Wolle und dem Weben von Stoffen und mündet im Thema Nachhaltigkeit der globalen Mode und technische Gewebe (z. B. CFK).

Diese Kulturreihen werden über die daraus resultierenden Motive zur Herstellung von Artefakten mit der Reihe „Neues schaffen“ (Abb. 6.6) verflochten, die den Menschen als Planer und Hersteller von Artefakten aus unterschiedlichen Materialien, mit unterschiedlichen Hilfsmitteln und Fertigungsverfahren in den Mittelpunkt rückt und damit dessen Bedürfnis nach Kompetenz. Das Schaffen von Neuem bezieht sich aber nicht nur auf die Artefakte selbst, sondern auch auf den mit den Artefakten verbundenen Sinn, deren Symbolgehalt und die mit den Artefakten verbundenen Konnotationen. Das Faszinierende und Wunderbare beim Schaffen von etwas Neuem kommt in zahlreichen Schöpfungsmythen zur Entstehung der Welt zum Ausdruck. In Hephaistos begegnet uns eine mythologische Gestalt als „Gott des Feuers, der Schmiede und Handwerker und schließlich auch der Künste und des Handwerks als solchem“ (Griechische und römische Mythologie: Götter, Helden, Ereignisse, Schauplätze 1999, 88), ein mythologischer Prototyp eines Technikers. Der neuzeitliche Prototyp ist der „Homo faber“.

Die kulturelle Reihung besteht hier zunächst in der Wahl der Hilfsmittel, von der Handarbeit über die Nutzung einfacher Werkzeuge bis hin zur Verwendung von einfachen bzw. automatisierten Maschinen. Die weitere Reihung besteht in der Wahl der Materialien von reinen Naturstoffen (Holz, Wolle, Ton) über umgewandelte Naturstoffe (Papier, Metalle) hin zu Kunst- und Verbundstoffen. Der Schwerpunkt der dritten Kulturreihe ist ein methodischer, der als Hauptmotiv die Erlangung von Kompetenz hat. Der Anfang liegt im zielorientierten, probierenden Handeln, das zunehmend durch vorausschauendes, planendes Handeln unter Verwendung von Skizzen und Listen ersetzt wird und schließlich im planend-berechnenden Konstruieren mündet. Fähigkeiten werden entdeckt und entwickelt und durch Übung und Anwendung zu Fertigkeiten ausgebaut.

Die Motive für die Herstellung von Artefakten ergeben sich jeweils aus den anderen Kulturreihen, z. B. aus dem Wunsch, Nahrungsmittel aufzubewahren oder dem Wunsch, sich über große Entfernungen zu verständigen und zu bewegen oder dem Wunsch sich von schwerer, körperlicher oder eintöniger geistiger Arbeit zu befreien.

Über das Schaffen von Sinn verknüpft sich diese Reihe mit der Reihe „Verbindungen herstellen“.

Abbildung 6.6
figure 6

Kulturreihe „Neues schaffen“

Das Verstehen, die Verständigung, das zueinander Kommen und miteinander Handeln stehen im Mittelpunkt der dritten Kulturreihe „Verbindungen herstellen“ (Abb. 6.7). Das Urmotiv der Verständigung begegnet uns als Sprachengewirr im Negativen in der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel (vgl. GEN 11, 1–9) oder im Positiven im Pfingstereignis (vgl. APG 2, 1–13). Positiv begegnet es uns auch im Ausdruck des „Brücken-bauens“ (siehe Abb. 6.8).

Abbildung 6.7
figure 7

Kulturreihe „Verbindungen herstellen“

Verbindungen herstellen ist sowohl physisch als auch psychisch zu verstehen, es steht für geistige und körperliche Mobilität, für Mittel und Wege, menschliche Begegnungen und Kommunikation zu ermöglichen, aber auch für die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch die Speicherung und Übermittlung von Informationen. Die Rolle des Menschen ist die des Vermittlers, das vorrangige psychologische Motiv ist das soziale Eingebundensein.

In dieser Kulturreihe sind auch all jene Inhalte unterzubringen, die man rein technisch als „Informationsumsatz in technischen Systemen“ beschreiben würde, jedoch mit der veränderten Perspektive auf die kulturelle Bedeutung dieser informationsumsetzenden Systeme.

„Ikarus

War voll von Liebe und voll Vertraun

und Wärme war um ihn und war viel Zeit.

So konnte er sich große Flügel baun

und alles in ihm war unendlich weit […]

(Wegner 1998, 163).

Schließlich ist der Schwerpunkt der vierten Kulturreihe „Freiheit verantworten“ die Rolle des Menschen im Spannungsfeld von Individualität und gesellschaftlichen Zwängen, im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung für das soziale

Ganze, kurz die Frage nach der Verantwortbarkeit des technischen Handelns und Gestaltens. Auch dieses Freiheitsmotiv und die Überschreitung der Freiheitsgrenzen taucht in zahlreichen Erzählungen auf, z. B. im Ikarus-Mythos, in Erzählungen zu Sintfluten und Katastrophen, die die Unverfügbarkeit der Natur ausdrücken und die Grenzen des Menschen aufzeigen.

Abbildung 6.8
figure 8

Technik verbindet; Müngstener Brücke zwischen Remscheid und Solingen

Die Reihe „Freiheit verantworten“ (Abb. 6.9) dient der Beantwortung von Sinn- und Wertfragen, dem Nachdenken über Machbarkeit und Unverfügbarkeit, über Status, Macht, Selbstwert und Selbstbewusstsein, über Arbeit und Freizeit und über Grenzen des Wachstums und Technikfolgenabschätzung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung. In dieser Reihe ist das vorrangige psychologische Motiv die Autonomie, die Rolle beim technischen Handeln ist die des Folgebetroffenen. Die kulturelle Reihung besteht darin, dass sich das Handeln vom einfachen, sicherheitsbewussten, regelkonformen Handeln über das rational begründete, auswählende Handeln hin zum moralisch verantworteten, sozialen Handeln entwickelt.

Abbildung 6.9
figure 9

Kulturreihe „Freiheit verantworten“

Die folgende Tabelle fasst noch einmal alle vier Kulturreihen und deren schwerpunktmäßige Motive, Rollen, pädagogische Perspektiven und Unterrichtsprinzipien übersichtlich zusammen (Tab. 6.2).

Tabelle 6.2 Kulturreihenübersicht

Das Ziel ist erreicht, das Ganze der Technik ist in vier Kulturreihen abgebildet, wenn auch nicht die ganze Technik. An dieser Stelle steht der Aufruf an alle Interessierten, diesen Ansatz weiter mit Leben zu füllen und zu vervollkommnen.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus den vorgeschlagenen Kulturreihen für die konkrete Konstruktion von Curricula, Unterrichtsreihen und Unterrichtsstunden?

Eine vollständige Umsetzung des Konzeptes der Kulturreihen wäre nur möglich, wenn die Curricula der Primar- und Sekundarstufen eines Landes aufeinander abgestimmt würden, damit der stufenweise Kompetenzaufbau auch tatsächlich erfolgen kann. Die zweitbeste Lösung wären zumindest Kulturreihenkonzepte innerhalb der Schulstufen. Aber auch die drittbeste Lösung, die Planung von Kulturreihen innerhalb einer Schule, wäre ein Fortschritt gegenüber bisherigen Curricula, die sich im Idealfall am Technikbegriff mittlerer Reichweite orientiert haben.

Orientiert an den fünf Fragen der didaktischen Analyse nach Klafki können die folgenden fünf Fragen für die fachdidaktische Analyse zur Konstruktion von Kulturreihen hilfreich sein.

  1. 1.

    Welche pädagogische Perspektive steht in der Reihe im Vordergrund?

  2. 2.

    Mit welchem Unterrichtsprinzip lässt sich die Reihe am besten realisieren?

  3. 3.

    Welches Motiv zum technischen Handeln und Gestalten wird schwerpunktmäßig erfüllt?

  4. 4.

    Welche Rolle steht beim technischen Handeln im Vordergrund?

  5. 5.

    Welche exemplarischen, kulturellen Beispiele sind geeignet, auch einen persönlichkeitsbildenden Zugang zu ermöglichen?

Wir stellen uns abschließend vor, diese Untersuchung wäre in der Praxis angekommen. Was wäre anders?

Im Idealfall wären die Curricula der Lernortstufen (KiTa; Primar, SI, SII, BK, Uni) vertikal miteinander vernetzt, sodass eine Stufe verlässlich auf der vorangehenden Stufe aufbauen kann.

Kontexte mit kultureller Bedeutung und Bedeutung für die Lerner stehen am Anfang der Reihen. Die Bedeutung für die Lerner zeigt sich darin, dass sie bewegt werden, etwas zu verändern, zu erfinden, zu machen und dabei Selbstwirksamkeit erfahren, die für die Persönlichkeitsentwicklung prägend wäre.

Das Handeln aller Beteiligten ist geprägt von einer Ethik der Wertschätzung, die sich langfristig in einem veränderten Umgang mit der Natur und einem nachhaltigen, verantwortungsbewussten technischen Handeln zeigt.

Damit sind schon erste utopische Elemente angesprochen, die in den Schlussbetrachtungen noch ausgebaut werden sollen.