Im zurückliegenden Kapitel haben wir mit Hilfe der Philosophie neue Erkenntnisse zum Wesen der Technik gewonnen und damit den bisherigen Technikbegriff mittlerer Reichweite insbesondere um die Sinn- und Wertperspektive erweitert. Auch die Sachperspektive und die human-soziale Perspektive sind in einigen Aspekten bereichert worden. Strukturgebend war dabei das Interaktionsmodell, das den Gegenstandsbereich, Natur und Kultur, unter den Wertedimensionen des Wahren, Guten, und Schönen betrachtet, auf eine Ganzheit der personalen Bildung von Kopf, Herz und Hand zielt und die Prozesshaftigkeit des Lernens als Dreischritt des Erlebens, Verstehens und Gestaltens berücksichtigt.

Nun gilt es, sich einer von Schmayl formulierten Aufgabe der Technikdidaktik zuzuwenden.

„Sie (die Technikdidaktik, Anm. THM) muß durch Bereitstellen eines entsprechend differenzierten Kategorialgefüges einen klaren Anhalt mit substantiellen Vorgaben für die Benennung der Inhalte und die Gewinnung von Themen geben (Schmayl 2010, 195).

Dazu werden die zusätzlich gewonnenen „Spektralfarben“ gemäß dem Modell der Allgemeinen Fachdidaktik und den dort formulierten „Filterlinien“ zu Kategorien im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung gefiltert.

Kategorien, im Sinne Klafkis, mit denen wir

„im eigenen Erleben oder im Verstehen anderer Menschen- unmittelbar der Einheit eines subjektiven (formalen) und eines objektiven (materialen) Momentes innewerden“ (Klafki 1964, 297).

In Abwandlung des bereits oben angeführten Klafki-Zitats müsste nach dem Finden dieser Kategorien für die Technische Bildung gelten:

Technische Bildung ist also kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen eine technische Wirklichkeit kategorial erschlossen hat und dass eben damit er selbst- dank der selbstvollzogenen kategorialen Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse für diese technische Wirklichkeit erschlossen worden ist.

(nach (Klafki 1964, 298), Zuspitzung auf Technische Bildung, THM).

Die wesentliche Arbeit dazu ist bereits im vorangehenden Kapitel geleistet worden. Es gilt nun, die neu gewonnenen Einsichten zum Wesen der Technik zu bündeln und pädagogisch zu perspektivieren. Dazu werden die Kategorien „herausgefiltert“ und anhand didaktischer Beispiele wird die unterrichtliche Umsetzung angedeutet.

Im abschließenden Kapitel wird dann aus dem Kategoriengefüge ein Inhaltsgefüge zu entwickeln sein.

5.1 Technik wahrnehmbar und erlebbar machen

„Während die Ästhetik die Empfindung stark macht, thematisiert Anästhetik die Empfindungslosigkeit- im Sinn eines Verlusts, einer Unterbindung oder Unmöglichkeit von Sensibilität, und auch dies auf allen Niveaus: von der physischen Stumpfheit bis zur geistigen Blindheit“ (Welsch 2017, S. 12).

Welsch weist uns mit diesem Zitat den Weg aus „physischer Stumpfheit“ und „geistiger Blindheit“, den beiden Zustände, die durch Technische Bildung und Erziehung beseitigt werden sollten, indem die Anästhetik der Technik durch Ästhetik überwunden wird und die „Empfindung stark macht“.

Eine philosophische Erkenntnis zur Wahrnehmung von Technik war, dass Technik im Wesentlichen anästhetisch ist, in dem Sinne, dass sie sich durch gute Erfüllung ihrer angedachten Zwecke unsichtbar macht, dem Menschen „zuhanden“ (Heidegger) ist und dadurch nicht mehr bewusst wahrgenommen wird.

Die Ästhetik der Technik spielt immer dann eine Rolle, wenn dies aus Verkaufs- und Werbegründen oder aus Gründen der Selbstinszenierung erwünscht ist oder Technik wird wahrnehmbar, wenn sie nicht mehr funktioniert, wenn sie ihre Zwecke nicht mehr erfüllt oder wenn sie unerwünschte Folgen zeitigt. Die Ästhetik der Technik spielt aber auch im Sinne einer Kinästhetik eine Rolle beim Handhaben und Benutzen von Technik und leistet dabei einen Beitrag zum unbewussten Verstehen. Die Dialektik von Ästhetik und Anästhetik ist damit eine erste Kategorie beim Wahrnehmen und Erleben von Technik.

5.1.1 Bewusste Wahrnehmung von Technik durch Überwindung der Anästhetik

„Wenn die Analyse der Technisierung ergab, daß in ihrem Prozeß die authentische Rechtfertigung aller Schritte versäumt, ausgelassen und übersprungen worden ist, so bietet sich die Einstellung der Phänomenologie fast von selbst als therapeutischer Gegenzug an, in dem die in der Technisierung vergessenen und überspielten Rückfragen nach den Fundamenten, nach dem Urstiftungssinn und nach der daraus folgenden Sinnexplikation nachgeholt werden können“ (Blumenberg 2020, 191).

Wenn Blumenberg für die Technik im Allgemeinen die Phänomenologie als Therapeutikum zur Klärung der Fundamente und des „Urstiftungssinnes“ fordert, so gilt dies umso mehr für den Technikunterricht als didaktische Veranstaltung mit dem Ziel, mündige, verantwortlich handelnde Bürger zu erziehen, die die Welt verstehen und durchschauen.

Wie erreicht man Wahrnehmung, die zum Erkennen und Verstehen führt?

Wie kann aus einem Erlebnis ein Bildungserlebnis werden?

Wenn ein Kind aus sicherer Entfernung das Fällen eines 70 Jahre alten Baumes beobachten darf und anschließend von dem Holzfäller eine schmale Baumscheibe mit Jahresringen geschenkt bekommt, dann kann das Zählen der Jahresringe und die Zuordnung persönlicher Ereignisse zu den Jahresringen (z. B. eigenes Geburtsjahr, Geburtsjahre der Eltern und Großeltern, historische Ereignisse) zu einem Gefühl dafür führen, wie langsam ein Baum wächst. Gleichzeitig hat das Kind erlebt, mit wie wenig Mühe und in welch‘ kurzer Zeit man mit einer Motorsäge einen Baum fällen, ein pflanzliches Lebewesen töten kann. Hat das Kind später im Technikunterricht ein Brett in der Hand, dann wird es dieses mit einem anderen Blick sehen und anders fühlen, als wenn es das vorangehende Bildungserlebnis nicht gehabt hätte. Es wird ein anderes Verhältnis zu Bäumen als Lebewesen und zum Umgang mit Holz als Rohstoff bekommen.

Vergleichbares gilt für das Bewusstsein bezüglich industriell hergestellter Lebensmittel, z. B. chicken nuggets aus in Formen gepresstem, paniertem und vorfrittiertem Hühnerfleisch. Auch hier schützt uns die Anästhetik der Technik vor zu großen moralischen Skrupeln, was an folgendem Beispiel verdeutlicht werden soll (Abb. 5.1).

Abbildung 5.1
figure 1

(Fotos: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Morgens noch am Gartenteich …

Stellt man sich die obige Bilderserie als eine Handlungskette vom lebenden Hahn über die Schlachtung bis hin zum Kochtopf vor, so kann diese Handlungskette durchaus zu negativen Gefühlen der Abscheu, des Ekels bis hin zur Empörung führen. Die Affekte und Emotionen im Zusammenhang mit dem Töten des Hahns weisen auf moralische Kategorien und Werthaltungen hin. Diese Kategorien scheinen bei der folgenden Bilderserie zu verschwinden (Abb. 5.2):

Abbildung 5.2
figure 2

(Fotos: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Putenstall, Putenschlachterei, Putenfleisch.

In der Putenschlachterei, die in der Mitte abgebildet ist, werden pro Tag zwischen 35000 und 40000 Puten geschlachtet und zu verschiedenen Produkten (rechts) verarbeitet, denen man z. T. nicht mehr ansieht, von welchem Tier dieses Fleisch stammt. Das entspricht dem Inhalt von ca.10 bis 14 der links abgebildeten Ställe. Die Abkapselung der Tiere in gut belüfteten Ställen, das fließbandunterstützte Schlachten in abgeschirmten Fabrikhallen und das Verpacken von verbrauchsgerechten Fleischportionen sorgt für eine Anästhetisierung, drastischer formuliert zu einer Anästhesierung unserer Sinne.

„Anästhetik tritt aber auch anders auf: notwendiger und unausweichlicher. Notwendiger dort, wo das Wegsehen, wo die Verweigerung eindringlicher Wahrnehmung schier zur Bedingung der Selbsterhaltung geworden ist. So bei zahlreichen gesellschaftlichen, umweltlichen, menschlichen Phänomenen ästhetischer Unerträglichkeit“ (Welsch 2017, S. 70).

Technik hilft uns, die unangenehmen und unerträglichen Folgen technischen Handelns so vor unseren Sinnen zu verbergen, dass sie nicht mehr wahrnehmbar sind und damit erträglich werden.

Bei der Überwindung der Anästhetik der Technik hilft das didaktische Prinzip, komplexe, unsichtbar machende Technik auf einfache, reduzierte und wahrnehmbare Technik zurückzuführen. Diese Rückführung ist zumeist auch eine zeitliche Rückführung auf eine historisch frühere Stufe der Technisierung.

Ein Grund für die Anästhetik der Technik ist die Höhe der Wahrnehmungsschwelle, die durch technische Maßnahmen oft unter das Maß der bewussten Wahrnehmung gedrückt wird und damit einer rationalen Bewertung nicht zugänglich ist. Auch hierzu ein Beispiel (Abb. 5.3):

Abbildung 5.3
figure 3

(Fotos: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Herkömmliche Gülleausbringung im Vergleich zur Einbringung mit einem Güllegrubber.

Bei der herkömmlichen Gülleausbringung drängt optisch und olfaktorisch die Wahrnehmung schnell ins Bewusstsein und kann zu Bewertungen führen, wie z. B.: „Da wird schon wieder für eine Steigerung des Nitratgehalts im Grundwasser gesorgt!“ Bei der direkten Injektion bleibt die Gülle optisch und olfaktorisch verborgen und es kann passieren, dass wir achtlos an dem Fahrzeug vorbeigehen, ohne dass das Problem der Grundwasserkontamination in unser Bewusstsein dringt.

Wenn wir gelernt haben, dass etwas nicht bedrohlich ist, wird es im Unbewussten abgespeichert und wenn wir es dann wieder sehen, dringt es nicht ins Bewusstsein vor. Wir könnten jeden Tag dankbar sein dafür, dass es unterbrechungsfrei Strom gibt, um Kaffee zu kochen, uns warm zu duschen, uns im Fernsehen zu informieren, zu telefonieren usw., aber das ist in unserer Wahrnehmung getilgt.

Wenn wir aber diese kulturellen Leistungen in den Horizont der Schülerinnen und Schüler bringen wollen, müssen wir es der Wahrnehmung wieder zugänglich machen, indem wir die Emotion so stark hochregeln, dass das Unbewusste dem Großhirn meldet: „Da stimmt was nicht! Das ist anders als sonst!“

Landläufig nennt man diesen Vorgang im Einstieg einer Stunde „Motivation“.

Hier kommt die bereits erwähnte Dialektik von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit ins Spiel. Technik wird wahrgenommen, wenn sie nicht (mehr) verfügbar ist, nicht funktioniert, ein Unfall, eine Katastrophe passiert oder ein Störfall eintritt.

Am Beispiel der Trinkwasserversorgung könnte die Motivation von einer fingierten Zeitungsüberschrift ausgehen, z. B.: „Hacker dringen in die Steuerzentrale der Stadtwerke ein -Trinkwasserpumpen lahmgelegt“.

Noch drastischer wird das beim Thema „Strom“ und „Stromversorgung“. Ausschnitte aus dem Roman „Blackout“ von Marc Elsberg (vgl. (Elsberg 2021) oder eine vorbereitende Hausaufgabe, z. B. „Beschreibe, was passiert, wenn die Stromversorgung durch einen winterlichen Eissturm einen Tag, zwei Tage, eine Woche ausfällt!“, sind geeignet, die gewünschte Wahrnehmungsveränderung zu erzielen.

Dies ist didaktisch bedeutsam, wenn unser erklärtes Ziel „Mündigkeit“ heißt. „Ein technisch mündiger Mensch ist in der Lage, ein eigenständiges, rational begründetes Urteil in von Technik mit bestimmten Situationen zu treffen“ (Möllers 2016, 101). Da ein rationales Urteil bewusste Wahrnehmungen voraussetzt, muss es das erklärte Ziel von Technikunterricht sein, Unbewusstes der bewussten Wahrnehmung zugänglich zu machen. Das Bewusstmachen geht im täglichen Leben meist nur über die Propriozeption (Körperempfinden) und Wahrnehmung der Emotion. Da die unbewussten Botschaften und symbolischen Konnotationen in Bezug auf Kaufentscheidungen von technischen Artefakten eine sehr große Rolle spielen (vgl. (Möllers 2019b, 16), sollte dieses Bewusstmachen im Unterricht geschehen. Das Programm lautet also:

„Gegen systematische Anästhetik hilft nur gezielte Ästhetik“ (Welsch 2017, S. 75).

Wie wir bereits gesehen haben, ist die Ästhetik zugleich ein Weg zur Ethik der Wertschätzung, Wertschätzung von Natur und Kultur. Dieser Zugang gelingt nur dann, wenn das Schöne und Erhabene der Technik die Anteile erlebbar macht, die dem Bewusstsein, der Rationalität nicht zugänglich ist.

Wer als Schüler bei einer Exkursion zum (inzwischen stillgelegten) Kohlekraftwerk Voerde zum ersten Mal unter dem Naturzugkühlturm (siehe Abb. 5.4) mit 161 m Höhe steht, in dem man einen Turm des Kölner Doms (h = 157 m) verschwinden lassen könnte, und zugleich die Fragilität der dünnen Betonschale, kombiniert mit der perfekten Form eines Rotationshyperboloids, wahrnimmt, der wird durch das Staunen und die Bewunderung für die Ingenieurleistung automatisch zu Fragestellungen kommen, wie z. B. „Warum ist der Kühlturm so groß und besteht hauptsächlich aus Luft?“ oder „Warum ist der Kühlturm derart geformt?“ oder „Wie funktioniert die Kühlwirkung des Kühlturms?“, aber auch „Wie kann man solch ein Gebilde überhaupt stabil konstruieren und bauen?“

Abbildung 5.4
figure 4

(Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Naturzugkühlturm Kraftwerk Voerde.

Das Erleben von Technik kann sich auf alle vier Rollen als Homo faber, Nutzer, Vermittler und Folgebetroffener beziehen und führt über die affektive Dimension zur Verstehenskrise (Gruschka) und zur Handlungsmotivation (Zweck-Motiv-Mittel-Strukturmodell nach Binder).

5.1.2 Sich selbst und die technische Welt erleben durch technisches Handeln

Die kulturhistorische Theorie Vygotskijs und Leontjews hat uns gezeigt, dass die Tätigkeit im Wechselspiel von Interiorisation und Exteriorisation (Internalisierung und Externalisierung) zum Aufbau und zur Veränderung von Bewusstsein führt und dass ein konstituierendes Element der Tätigkeit die Gegenständlichkeit ist. Die Gegenständlichkeit der Technik und das Tepchnische Handeln führen über die psychische Widerspiegelung der Realität zur Konstruktion von Bedeutungen.

Konkret heißt das, dass bereits das technische Handeln selbst als kinästhetisches Erleben von Funktionen (wandeln, transportieren, speichern, sichern, schützen, stützen, verschönern, bewegen, verbinden usw.) zu einem intuitiven Verstehen führt. Das fängt bereits sehr früh beim Kleinkind an, wenn es z. B. beim Bauen eines Turms aus Bauklötzen ein intuitives Verständnis von Statik und Stabilität erfährt, geht weiter beim Funktionserlebnis der Gangschaltung eines Fahrrades, ohne bereits die Übersetzungsverhältnisse kognitiv verstanden zu haben und findet selbst im Erwachsenenalter bei der Bedienung und Benutzung von Computern und Haushaltsmaschinen statt, ohne jemals deren Funktion kognitiv durchdrungen und verstanden zu haben. Die Rückmeldung durch das technische Artefakt, z. B. die Erleichterung des Bergauffahrens mit einem kleinen Gang der Fahrradschaltung, führt zu einem Vorverständnis im Sinne eines ganzheitlichen Regelwissens, „wenn ich B erreichen will, muss ich A tun“. Der phylogenetische Übergang vom Mythos zum Logos vollzieht sich hier ontogenetisch durch das Erleben von Kausalität als Handlungsschema. Auf diesem körperlich verankerten Regelwissen kann später das Verstehen von Funktionen und technischen Zusammenhängen aufsetzen.

Neben dem Erleben von Kausalität ist ein weiterer Aspekt des kinästhetischen Erlebens die Bündelung von Aufmerksamkeit. Auch hier kann Technik in gegensätzlichen Richtungen wirksam werden.

Beobachtet man Menschen mit Smartphones bei gesellschaftlichen Ereignissen, in Autos, in Lerngruppen, oder nur beim Bewegen im öffentlichen Raum, so fällt die permanente Ablenkung durch das Smartphone ins Auge und ins Ohr, denn die Signaltöne, die bei neu eingehenden Nachrichten durch Instant Messaging erzeugt werden, sorgen, ähnlich wie ein knackender Ast im Gebüsch bei einem Steinzeitjäger, für eine ständige Orientierungsreaktion, die angeboren ist und durch das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit zusätzlich befeuert wird. Diese Orientierungsreaktion ist wegen der mit den Nachrichten oft gekoppelten Werbebotschaften und Datenerhebungen inzwischen ein ökonomischer Faktor. Crawford stellt dazu fest,

„dass wir trotz allen Geredes über eine Informationsökonomie in Wahrheit eine Aufmerksamkeitsökonomie haben, sofern sich der Begriff „Ökonomie“ auf den Umgang mit Gütern bezieht, die knapp und daher wertvoll sind“ (Crawford 2016, 14).

Die dauernde Ablenkbarkeit, die in ihrer genetisch vorgeprägten, krankhaften Ausprägung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADS) bekannt ist, ist für ein konzentriertes Lernen abträglich. Crawford wählt den drastischen Vergleich, dass die „Ablenkbarkeit als geistiges Gegenstück zur Fettsucht bezeichnet werden könnte“ (a.a.O., 33) und verbindet mit der Unfähigkeit, sich auf eine Sache konzentrieren zu können, dauerhaft als kulturelle Konsequenz das Ende der „intellektuellen Vielfalt“ (a.a.O., 34). Dem kann Technik mit einer bildungsrelevanten Aufmerksamkeit entgegenwirken und für eine „asketische Prädisposition“ ((a.a.O., 31), Hervorh. THM) sorgen, indem sie beim technischen Handeln, z. B. beim Schleifen der Oberfläche einer Vogelskulptur (siehe Abb. 5.5) die Aufmerksamkeit dauerhaft auf dieses Tun bündelt. Crawford stellt dazu fest:

„Um uns einer Aufgabe beharrlich widmen zu können, müssen wir alle anderen Dinge, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, aktiv ausschließen“ (Crawford 2016, 31).

Die Bündelung der Aufmerksamkeit auf ein ganzheitliches ästhetisches Erleben, z. B. die Beschleunigung eines Autos, die Größe und Erhabenheit eines Bauwerks, die Form- und Farbschönheit eines Kleidungsstücks, die klanglichen Wucht einer Kirchenorgel, die Kraft und Größe eines Krans beim Montieren einer Windenergieanlage, dem Glanz und der Spiegelung in einer verchromten Metalloberfläche, dem Duft von frisch geschnittenem Holz usw., kann durch das Wechselspiel von Internalisieren und Externalisieren Kategorien für Materialien, Oberflächenbeschaffenheit, Farben, Formen, Geräusche, Gerüche, Abmessungen usw. herausbilden.

Die Sinnperspektive dieses ganzheitlichen Erlebens ergibt sich unmittelbar aus der Bedeutung, die das Artefakt oder der Prozess für den Menschen bekommt, indem er z. B. mit dem Fahrrad in kürzerer Zeit als zu Fuß große Entfernungen zurücklegen und seinen räumlichen Wirkungskreis vergrößern kann oder indem er mit einem Telefon über große Entfernungen hinweg mit anderen Menschen in Beziehung, in Kontakt treten kann.

Wer als Zehnjähriger aus einem RiopalisanderklotzFootnote 1 mit Feinsäge, Raspel, Feile und Schleifpapier eine Vogelskulptur (siehe Abb. 5.5) herstellt, der spürt nicht nur wie widerständig und hart das Holz ist, sondern wird auch den angenehmen Geruch dieses Holzes nie vergessen, denn dieser Geruch wird über das Limbische System auf immer verkoppelt sein mit der Anstrengung der Entstehung und dem tiefen Gefühl von Zufriedenheit, wenn das Werk mit dem letzten Klarlackanstrich beendet ist.

Die damit verbundene Sinnperspektive der Selbstwirksamkeit, die das Handeln vermittelt, unterstützt das Bedürfnis nach Kompetenz, Autonomie und sozialem Eingebundensein (vgl. SDT-Theorie). Damit entwickeln sich schon beim Wahrnehmen und Erleben Wertvorstellungen, die technische Artefakte und Prozesse als schön, erstrebenswert, sicher, verbindend, schützend oder auch anstrengend, bedrohlich, unheimlich, abstoßend, usw. charakterisieren.

Aus diesen ersten Wertvorstellungen können sich durch Verstehen und Anwenden beim verantwortlichen Handeln dauerhafte Gesinnungen und Haltungen (vgl. Heimann-Pyramide) bilden. Zusätzlich spiegelt sich Technik als kulturelle Realität im Bewusstsein wider, wenn zu der Dingwahrnehmung die Ausdruckswahrnehmung hinzutritt, was wir im folgenden Kapitel näher betrachten wollen.

Abbildung 5.5
figure 5

Vogelskulptur aus Riopalisanderholz

5.1.3 Technik als Kulturgut erleben durch Ding- und Ausdruckswahrnehmung

„Vygotsky turned the enterprise of developmental psychology inside out, stressing the social and cultural origins of even the most intimate and private aspects of thinking. For Vygotsky, the social context within which cognitive development takes place is not just the local cultural setting but the entire historical context within which social relations are embedded” (Shore 1998, 237)Footnote 2.

Dieses Eingangszitat Bradd Shores aus “Culture in mind“ bringt drei Dinge zusammen, die für das Erleben von Technik als Kulturgut in Schule Voraussetzung sind.

Die kognitive Entwicklung vollzieht sich nicht nach einem einfachen Reiz-Reaktions-Schema, sondern sie vollzieht sich in einem Wechselspiel von Internalisierung und Externalisierung in einem sozialen und kulturellen Kontext, zu dem die Technik gehört. Der kulturelle Kontext wiederum ist eingebettet in einen historischen Kontext. Wie wir bereits gesehen haben, können alle drei Kontexte, der soziale, kulturelle und historische in Ding- und Ausdruckswahrnehmung wahrgenommen werden.

Bisher wurde in der Technikdidaktik und im Technikunterricht die Ausdruckswahrnehmung vernachlässigt und die reine Beschreibung der technischen Dinge vorangetrieben.

Erst die Ausdruckswahrnehmung und die damit verbundene „mythische Weltansicht“ (Cassirer 2011, 43) ermöglicht das Erfassen der kulturellen Wirklichkeit der Technik.

Diese „mythische Weltansicht“ tritt uns nicht nur in gotischen Kirchen entgegen (vgl. S. 7 f.), sondern z. B. auch in der bewusst inszenierten „Kathedrale“ des „Premium Clubhouse“ in der Autostadt Wolfsburg (Abb. 5.6) oder in alltäglichen technischen Gegenständen oder Prozessen.

Die Beschreibung der Mischung aus Kunstwerk und Automobilinszenierung im Internetauftritt der Autostadt bringt die erwünschte Verschmelzung von Objekt und Betrachter zum AusdruckFootnote 3.

Abbildung 5.6
figure 6

Bugatti Veyron 16.4 (Autostadt Wolfsburg)

Die Ausdruckswahrnehmung evoziert positive oder negative Gefühle, die erst Aufmerksamkeit, Interesse und Neugier erzeugen, sich einem technischen Phänomen zuwenden und ein technisches Problem als solches wahrzunehmen. Dingwahrnehmung von Technik muss um die Ausdruckswahrnehmung von Technik erweitert werden, um motivierende Zugänge zur Technik zu ermöglichen und Kulturgüter als Bildungsgüter zu erschließen.

„Was Sinne und Verstand aufnehmen und im Gedächtnis aufstapeln und was man fälschlich oft »Bildung« nennt, bleibt, wenn es nicht ins Innere der Seele aufgenommen wird, toter Stoff“ (Stein 2018, 288).

Nach Edith Stein macht den Wert von Kulturgütern aus, dass

„etwas Geistiges- ein Stück geistigen Lebens […] geheimnisvoll in sie eingefangen (ist)- und kann von der Seele, die mit ihnen in Berührung kommt, aufgenommen werden. Wenn wir sie unter diesem Gesichtspunkt betrachten, nennen wir sie »Bildungsgüter«“ (Stein 2018, 285).

Auf die Kategorien zur Auswahl geeigneter Bildungsgüter werden wir im nächsten Kapitel eingehen. Hier gilt es, abschließend noch nach dem Zusammenhang zwischen der Schulung der Wahrnehmung und dem kulturellen technischen Kontext zu fragen. Lichau und Wulf stellen fest, dass es zu einer kulturellen Bildungspraxis gehört, dass sie die Sinne nicht als gegebene Objekte oder „Substrate“ voraussetzt, sondern, dass die Sinne erst durch diese Bildungspraxis geschult werden und hervorgebracht werden.

„Es gilt daher die kulturellen Stereotypen und Hierarchien einzelner Sinnesmodalitäten ebenso zu hinterfragen, wie den Begriff der ‚Kultur‘ selbst, insofern dieser eine Tendenz zur Disqualifikation von bestimmten Formen ‚sinnlichen Erlebens‘ und damit zur ‚ästhetischen‘ Reduktion von Kultur in sich trägt“ (Lichau und Wulf 2013, 7).

Der zunehmenden Reduktion der Kultur durch Virtualisierung und Visualisierung kann im Technikunterricht vor allem durch Schulung der kinästhetischen Wahrnehmung und Förderung weiterer Sinnesmodalitäten wie Gehör, Geschmack, Geruch und Tastsinn entgegengewirkt werden. Technisches Wahrnehmen und Erleben ist vor allem durch das eigene Tun gekennzeichnet, das durch die Widerspiegelung der Realität die kognitive Entwicklung in besonderer Weise fördert (vgl. Leontjew, Vygotskij, Bruner). Als pädagogisches Prinzip ergibt sich daraus unmittelbar die Erfahrungs- und Handlungsorientierung.

5.2 Technik verstehbar machen und sich über und mit Technik verständigen

5.2.1 Technik wissenschaftlich verstehen und sich darüber verständigen

Die große didaktische Herausforderung beim wissenschaftlichen Verstehen von Technik war in der Anfangszeit der Fachhistorie die fehlende Bezugswissenschaft bzw. die Vielzahl der Ingenieurwissenschaften als Bezugswissenschaften. Durch die Allgemeine Technologie (Wolffgramm, Ropohl) erschien dieses Problem zunächst gelöst. Schlagenhauf stellte in seinen Betrachtungen zur Bezugswissenschaft für den Technikunterricht fest, dass dieses die Fachunterrichtswissenschaft, die Technikdidaktik, sein müsse und dass diese

„nicht nur allgemeintechnologische und andere wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch Bestände nichtwissenschaftlichen Wissens und Könnens, alltagsweltliche Erfahrungsfelder und subjektive Deutungsmuster mit heranzuziehen“ (Schlagenhauf 2001, 10) hat.

Dies ist durch die philosophischen Betrachtungen nunmehr geschehen, wodurch innerhalb der Allgemeinen Technologie neue Akzentsetzungen möglich werden und mit Kornwachs Überlegungen zur „organisatorischen Hülle“ der Technik und mit der Soziologie neue wissenschaftlichen Teildisziplinen hinzugekommen sind, die für ein wissenschaftliches Verstehen der „ganzen Technik“ im Bildungskontext zentral sind.

Das reine Zweck-Mittel-Schema der Technik, und damit eine technizistische Sichtweise, wird dadurch gebrochen, dass man die Zielsetzungssysteme der Technik stärker in den didaktischen Ansatz aufnimmt. Durch den einfachen Satz, „Technik wird von Menschen für Menschen gemacht“, wird der Mensch in seinen unterschiedlichen Rollen als Homo faber, Nutzer, Vermittler und Folgebetroffener von Technik in den Mittelpunkt gerückt. Die Analyse und Gestaltung von Nutzungs- und Arbeitsbedingungen durch die Arbeitswissenschaft, sowie die Designforschung als umfassender Ansatz zur Gestaltung von Produkten und Prozessen, kommen dadurch als weitere Bezugswissenschaften in den Blick. Durch die Einbeziehung der soziologischen Perspektive wird auch der arbeitsorientierte Ansatz der Technikdidaktik in diese Untersuchung integriert, ohne jedoch zu vergessen, dass Arbeit nur eine Kategorie technischen Handelns ist.

Die soziologische Perspektive fokussiert neben der komplexitätsreduzierenden Funktion von Technik (Halfmann, Luhmann) vor allem auch die kulturelle und symbolische Bedeutung der Technik im Zusammenleben der Menschen.

Was heißt das nun für die unterrichtliche Umsetzung?

Die uns bisher aus der Allgemeinen Technologie vertrauten Analysebegriffe, Input-, Output-, Zustandsgrößen, Eingabe, Verarbeitung, Ausgabe, Stoff, Energie, Information (Daten), Wandlung, Transport, Speicherung, aber auch die naturale, ökonomische, ökologische Beschreibungsperspektiven von soziotechnischen Handlungssystemen werden weiterhin Bestand haben. Diese entstammen aber nicht der Technik selbst, sondern es sind Begriffe des kybernetischen Systemansatzes, der den Ich- und Wir-Bereich vernachlässigt und zu einem „Flachland-Gewebe von Es-heiten“ (Wilber 2001, 56) führt. Erst durch die Kulturanthropologie wird aus diesem „Flachland-Gewebe“ eine Entfaltung der kulturellen technischen Faltungen“ ((Latour 2018, 323 f.), Hervorh. THM). Das Verstehen der Technik als Teil menschlicher Kultur wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen.

Zur Verständigung über das Verstandene, zur Ko-Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit gibt es die techniktypischen „Sprachmittel“ der Symbolschaubilder, Schaltpläne, Diagramme und technischen Zeichnungen. Viele dieser Sprachmittel sind genormt und daher geeignet, sich auch international zu verständigen. Diese Universalität der technischen Verständigung ist wie das Notensystem der Musik und die Formelsprache der Mathematik und Naturwissenschaften ein Merkmal der Technik, das im Unterricht einer besonderen Erwähnung bedarf. Zusätzlich dienen neben diesen universellen Sprachmitteln auch Fachbegriffe der Verständigung. Für das Erlernen der Fachsprache müssten einerseits die fachdidaktischen Grundsätze zum Erlernen einer Fremdsprache gelten (Vokabellernen, überformende Fehlerkorrektur usw.), aber vor allem sollte Wagenscheins Grundsatz beachtet werden, dass die Umgangssprache die Sprache des Verstehens ist und die Fachsprache die Sprache des Verstanden-Habens.

Im Folgenden geht es darum, wie neben dem wissenschaftlichen Verstehen und Verständigen auch ein Verstehen und eine Verständigung über Technik als Kulturgut stattfinden kann.

5.2.2 Technik als Kulturgut verstehen und sich darüber verständigen

Die Welt, in der wir leben, ist eine weitgehend vom Menschen gestaltete Welt, bis hin zu den Landschaften, die zumindest in unseren Breiten „Kulturlandschaften“ sind. Als Angelpunkt für die Entstehung der künstlichen Dingwelt haben wir die menschlichen Bedürfnisse und Motive identifiziert (SDT-Theorie) und die damit verbundene Suche nach Sinn. Simmel hat das Spezifische des Kulturprozesses durch das „Objektwerden des Subjekts und Subjektwerden eines Objektiven“ (Simmel 2008, 202) beschrieben und uns den Weg zur kulturellen Sinnsuche dadurch gewiesen, dass im technischen Objekt

„Wille und Intelligenz, Individualität und Gemüt, Kräfte und Stimmungen einzelner Seelen (und auch ihrer Kollektivität) gesammelt sind“ (Simmel 2008, 204).

Um dieses im Objekt Gesammelte zu entschlüsseln, hilft uns das Konzept der „kulturellen Sinnkapsel“ weiter, das sich sowohl auf die Hauptbedeutung (Denotation) als auch auf die Nebenbedeutungen (Konnotation) von technischen Artefakten bezieht. Außerdem geht in dieses Konzept der Präsentative Symbolismus nach Susanne K. Langer ein, der die umgangssprachliche Wendung, „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, um die Dimension des Symbolischen bereichert.

Als Beispiel kultureller Sinnkapseln mögen zwei Bilder dienen, die für Menschen, die die Zeit erlebt haben, präsentative Symbole sind.

Das Wettrüsten und der Kalte Krieg führten zu einem technologischen Wettlauf im All, der mit dem Start von Sputnik 1 (Abb. 5.7) am 4.Oktober 1957 einen ersten Höhepunkt fand. Dieses Ereignis und die auf Kurzwelle ausgesendeten ersten Piepstöne aus dem All ließen im Westen das Narrativ des „Sputnik-Schocks“ entstehen, das sich bis in den Bildungsbereich auswirkte.

Zu einem weiteren symbolträchtigen Höhepunkt des Wettlaufs kann man die Live-Übertragung des ersten Betretens des Mondes (siehe Abb. 5.8) durch Neil Armstrong am 21.Juli 1969 und seinen live übertragenen Satz, „It’s one small step for (a) man, one giant leap for mankind“, zählen.

Abbildung 5.7
figure 7

Modell des Sputnik-Satelliten

Der Ausspruch Armstrongs deutet zumindest die Richtung an, in die die Auswahl von Kulturgütern für den Technikunterricht gehen sollte. Es sollten die Ereignisse und Artefakte von symbolträchtiger Bedeutung sein, die einen deutlichen Fortschritt in der Technikentwicklung markieren.

Ebenso symbolträchtig und disruptiv in der Technikentwicklung können auch technische Katastrophen sein.

Abbildung 5.8
figure 8

Ausstieg Aldrins aus der Mondlandefähre „Eagle“ und Fußabdruck auf der Mondoberfläche (Apollo 11)

Ein Beispiel für ein Katastrophen-Narrativ des 20.Jahrhunderts ist der Brand des Luftschiffes „Hindenburg“ am 6.Mai 1937 in Lakehurst (siehe Abb. 5.9). Die Katastrophe, die 35 Menschen das Leben kostete, bedeutete das vorläufige „Aus“ der Luftschifffahrt. Dazu trugen auch die dramatische Radioreportage und die Film- und Fotoaufnahmen der Katastrophe bei. Inwieweit der Brand des wasserstoffgefüllten Luftschiffs zu einer noch anhaltenden Zurückhaltung gegenüber dem Energieträger Wasserstoff im Transportwesen geführt hat, lässt sich nur mutmaßen. Vergleichbar disruptiv waren die Atomkatastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011, wobei Letztere den endgültigen Ausstieg Deutschlands aus der Stromerzeugung mit Hilfe von Kernenergie zur Folge hatte. Doch auch weniger spektakuläre Artefakte können einen technischen Zeitenwandel markieren, wie ein Beispiel zum Basisschema „Mobilität“ zeigt. Als Einstieg in eine Unterrichtsreihe zur Mobilität könnte die Bilderserie in Abbildung 5.10 verwendet werden, die links eine Toreinfahrt in Wien zeigt. Aus dem heutigen Kontext heraus sind die beiden Steine rechts und links der Toreinfahrt nicht zu verstehen, sie stellen eine „kulturelle Sinnkapsel“ dar. Mit dem Bild einer Holzkutsche aus dem Jahre 1900, bei der deutlich die Eisenbereifung und die vorstehende Radnabe zu erkennen ist, wird der Sinn der beiden Steine verständlich.

Abbildung 5.9
figure 9

Katastrophe von Lakehurst: Luftschiff LZ129 „Hindenburg“ gerät am 6. Mai 1937 in Brand

Abbildung 5.10
figure 10

(Fotos: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Toreinfahrt mit zwei Radabweisern, kulturelle Sinnkapsel „Radabweiser“, Break-Kutsche mit eisenbereiften WagenrädernFootnote

Die Break-Kutsche diente, wie der Name es andeutet, zum „Einbrechen“ /Einfahren junger Pferde. Beim Ausschlagen der jungen Pferde schützte das massive Fußbrett Fahrer und Beifahrer. (Fahrer und Besitzer: Dr. H. Bahrenberg; Trainer: F. Nijman).

(v.l.n.r.).

Die Radabweiser schützten sowohl die Ecken der Toreinfahrt vor Beschädigungen durch die Radnabe als auch die Radnabe und Achse vor Beschädigungen, da sie meist so geformt waren, dass zwar der Eisenreifen sie berühren und auf der Schräge hinuntergleiten konnte, die Radnabe aber in sicherem Abstand von Radabweiser und Hauswand blieb. Holzrädern mit kleinerem Durchmesser haben mit ihren Radnaben dennoch Spuren am Radabweiser hinterlassen (siehe Einbuchtung im oberen Teil des Abweisers).

Am Ende der Reihe könnte ein Vergleich heutiger, überdimensionierter Autos mit vierspännigen Kutschen aus der Anfangszeit des 20. Jahrhunderts (Abb. 5.11) gezogen werden.

„Der Viererzug wird in England noch heute «Four-in-hand» genannt, womit die vier Leinen eines Viererzugs in einer Hand gemeint sind“ (Furger 2009, 210).

Aus England stammt auch die zweite Wurzel des heute noch üblichen «Four-in-hand»-Fahrens mit Luxuskutschen, dem Coaching (von engl. „coach“: Kutsche).

„Es wurde im frühen 19.Jahrhundert durch reiche Engländer begründet, die um des Vergnügens willen alte Postrouten weiter befuhren und damit den Postkutschern Englands nacheiferten“ (Furger 2009, 17).

Das Reisen auf den alten europäischen Postkutschrouten war vor allem Anfang des 20.Jahrhunderts eine „Passion reicher Amerikaner“ (ebd.), die aus Nostalgie- und Prestigegründen an der Tradition des vierspännigen Fahrens großer, schwerer Kutschen festhielten, obwohl längst das Zeitalter des Automobils hereingebrochen war. Die Zeitenwende von der Kutsche zum Automobil war auch mit dem Verschwinden, Neuentstehen und der Umorientierung ganzer Berufszweige (z. B. Wagner, Sattler, Stellmacher, Hufschmied) verbunden. Ähnlich wie man heute nostalgisch auf die Kutschenzeit zurückblickt, wird man vielleicht in 100 Jahren über die heutigen Autos im ausgehenden fossilen Zeitalter denken.

Abbildung 5.11
figure 11

(Fahrer: F.Nijman; Groom: THM; Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0))

Vierspännig gefahrene Roof-seat-Break (auch: Char-à-Banc) mit englischer Kummetanspannung.

Während es bei den historischen Beispielen kultureller Sinnkapseln darum geht, den Schülern vergangene Zeitenwenden und markante technische Errungenschaften zu erschließen, müssen auch die kulturellen Symbole der aktuellen technischen Welt für die Schüler erschlossen werden. Dazu müssen die Schüler die Sprache der Technik verstehen können. In „Design Basics“ wird die

„Produktsprache als diejenige Mensch-Objekt-Beziehung (definiert), die über unsere Wahrnehmungskanäle, über unsere Sinne, d.h. als psychische Produktwirkungen vermittelt werden“ (Heufler, Lanz, und Prettenthaler 2019, 61).

Über die Produktsprache hinaus wirkt das Produkt auch direkt physisch auf den Menschen durch die praktische Funktion, z. B. dass ein Ein-Aus-Schalter an einer Kaffeemaschine diese auch tatsächlich ein- oder ausschaltet und nicht beim Drücken nachgibt oder zerbricht. Die Produktsprache lässt sich wie eine gesprochene Sprache in Syntax und Semantik, in Form und Inhalt, unterscheiden. Die ästhetischen Funktionen eines Produkts erschließen sich dem Betrachter sinnlich über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle. Der Betrachter nimmt sie Gestalt eines Produkts wahr, die sich aus den Gestaltelementen, Form, Farbe, Material und Oberfläche unter Anwendung ordnender Bezüge ergibt. Bei der Bedeutung eines Produkts kann zwischen den Anzeichenfunktionen und den symbolischen Funktionen unterschieden werden. Die Anzeichenfunktionen, wie z. B. Gruppierung von Bedienelementen, die Überschaubarkeit und die Oberflächenstruktur visualisieren die technische Funktion eines Produkts und beziehen sich damit immer auf die praktische Funktion.

Die symbolischen Funktionen hingegen stehen entweder für einen bestimmten Zeitgeist (kulturelle Ebene), sie produzieren Status oder Prestige (soziale Ebene) oder die bewirken eine Gefühlsbindung (persönliche Ebene).

Für unterrichtliche Zwecke, z. B. eine Produktanalyse ist folgende Übersicht (Abb. 5.12) hilfreich, die den obigen Text zusammenfasst.

Abbildung 5.12
figure 12

(nach Heufler u. a., 2019, 61–84)

Produktfunktionen.

Greifen wir erneut die Definition von Technik als den zweckmäßigeren Grenzfall der Kunst auf, dann bietet sich hier das Design als Vermittlungswissenschaft zwischen Kunst und Technik für den Bildungsbereich an. Folgerichtig schlägt Andreas Käser für die Verwendung im Unterricht auch einen mittleren Designbegriff vor.

„Dieser umfasst die zweckgerichteten, materiellen, künstlichen Dinge und bedeutet damit eine Reduktion auf das Produktdesign. Dienstleistungen sowie virtuelle Produkte und Prozesse, die heute ebenso in den Bereich des Designs fallen, werden hier ausgeschlossen“ (Käser 2016, 41).

Angesichts einer durch diese Untersuchung angestrebten Erweiterung des Technikbegriffs mittlerer Reichweite, stellt sich hier aber die Frage, ob nicht z. B. auch die Gestaltung von nutzerfreundlichen Bedienoberflächen (= programmiertes, virtuelles Produkt) im Sinne eines „Designthinkings“ in den Designbegriff einbezogen werden sollte.

5.2.3 Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Technik

„Wir verstehen das Kulturgut in vertiefter Weise aus der menschlichen Sinnsuche heraus. Wir haben die Kulturgebiete als Antwort auf Fragen deuten gelernt, als Folge von Entscheidungen, Erfüllung von Sehnsüchten, als selbstische oder schöpferische Taten. Jeder Gegenstand hat in diesem Sinne eine menschliche Seite, die ihn uns in eigentümlicher Weise intimer aufschließt“ (Roth 1966b, 110).

Das Eingangszitat Roths steht hier an der Nahtstelle zwischen dem Verstehen der Technik als Kulturgut und dem Sich-selbst-Verstehen, weil man es in zwei Richtungen deuten kann. Der analytische Blick auf einen Gegenstand enthüllt uns die menschliche Seite, die Entscheidungen, die Sehnsüchte, die Antworten auf Fragen, die ein anderer Mensch oder andere Menschen in diesen Gegenstand gelegt haben. Liest man das Zitat synthetisch, dann bietet das Schaffen von Gegenständen die Möglichkeit, Sinn zu finden durch Entscheidungen, durch Erfüllung von Sehnsüchten, durch die schöpferische Tat. Beide Sichtweisen erfordern den reflexiven, exzentrischen Blick auf den Gegenstand und auf sich selbst, die Metakognition.

Das Erleben von Freiheit durch Technik (Ortega y Gasset), das Erleben von Kompetenz durch Selbstwirksamkeit (Cassirer) mit dem damit verbundenen inneren Wachstum und die Möglichkeit, durch Technik Verbindungen zu Mitmenschen herzustellen und zu kommunizieren wird nur dann sinnstiftend, wenn es auch Bedeutsamkeit (Steenblock) erlangt.

Wie wird aus dem Erleben ein sinnstiftendes Sich-selbst-Verstehen?

Dazu greifen wir auf den Beziehungsmodus der Resonanz nach Rosa zurück. Wenn wir in Beziehung zu Menschen oder zu Gegenständen und den in den Gegenständen eingeschlossenen menschlichen Sinn treten, dann lässt sich Resonanz durch die vier Merkmale, Berührung (Affizierung), Selbstwirksamkeit (Antwort), Anverwandlung (Transformation) und Unverfügbarkeit beschrieben. Im Folgenden geht es darum, diese Merkmale technikdidaktisch zu entfalten.

Durch „waches Anschauen“ (Wiesmüller), Hören, Betasten, Ausprobieren technischer Artefakte entstehen Momente der Berührung (Affizierung), z. B. lässt die Berührung beim Ausstieg aus der U-Bahnstation „Trocadéro“, beim Gang auf den Place du Trocadéro und beim ersten Blick auf den Eiffelturm nur erahnen, wie ergriffen die Besucher der Weltausstellung 1889 in Paris über diesen Anblick waren. Sehr unterschiedlich kann die Berührung durch das typische Zweitaktknattern und den charakteristische Gemischgeruch eines Trabant 601 sein, der heutzutage über den Potsdamer Platz in Berlin fährt. Die Verständigung über die höchst unterschiedlichen Gefühle und Assoziationen, die bei West- oder Ostdeutschen dadurch ausgelöst werden, kann zu einem neuen kulturellen Selbstverstehen führen.

Als Antwort auf die Affizierung erfolgt eine innere „Bewegung“, eine Emotion, die als Motivation Grundvoraussetzung für Lernen überhaupt ist. Wenn ein Mensch auf diese Berührung seinerseits mit etwas Affizierendem antworten möchte, so entspringt dies aus dem Bedürfnis nach Kompetenz und sozialem Eingebundensein (Deci, Ryan). Diesem Bedürfnis trägt der Technikunterricht insbesondere dadurch Rechnung, dass Schüler technisch handeln können.

Technisches Handeln, sei es nun das Erfinden oder Wiederentdecken, das Konstruieren und Fertigen fördert in besonderem Maße die Selbstwirksamkeitserfahrung und Resonanzfähigkeit.

Csikszentmihalyi war nicht der erste, der entdeckte, dass eine intensive körperlich-geistige Anstrengung zu Flow-Zuständen führt. Ähnliche Ideen mit anderen Bezeichnungen wurden schon vorher entwickelt. Kurt Hahn, der Gründer des Internats Salem, beschrieb den Zustand als „schöpferische Leidenschaft“. Maria Montessori sprach von „Polarisation der Aufmerksamkeit“ und Abraham Maslow von „peak experience“ (Quelle der Begriffszitate: https://de.wikipedia.org/wiki/Mihály_Cs%C3%ADkszentmihályi Zugriff: 18.3.2021 17:19 Uhr)

Diese Ideen beflügelten die Entwicklung der Erlebnispädagogik, mit der man vielleicht zunächst das Begehen eines Hochseilgartens oder eine waghalsige Kanutour auf einem wilden Fluss mit pädagogischen Absichten assoziiert.

Als ein Vater der „Modernen Erlebnispädagogik“ formulierte Jörg W. Ziegenspeck Merkmale und Zielsetzungen dieser Pädagogik:

„Unmittelbares Lernen mit Herz, Hand und Verstand in Ernstsituationen und mit kreativen Problemlösungsansätzen und sozialem Aufforderungscharakter bilden den Anspruchsrahmen erzieherisch definierter, verantwortbarer und auf eine praktische Umsetzung ausgerichteter Überlegungen, die auf individuelle und gruppenbezogene Veränderungen von Haltungen und Wertmaßstäben ausgerichtet sind und durch sie veranlaßt und begründet werden“ (Ziegenspeck o. J.).

Demnach ließe sich auch Technikunterricht als eine erlebnispädagogische Maßnahme auffassen, zumal später der Erlebnisbegriff weiter gefasst wurde und drei Prototypen von Erlebnissen definiert wurden:

„Unter Erlebnispädagogik werden alle pädagogischen Bemühungen verstanden, die mit Hilfe von pädagogisch nutzbaren Erlebnissen versuchen, pädagogische Ziele zu erreichen. Pädagogisch nutzbare Erlebnisse lassen sich in drei Prototypen unterscheiden: Tätig sein, selbständig Entdecken und herausragende Ereignisse“ (Ernst 2001, 26).

Doch nicht jedes „Tätig-sein“ ist schon ein Erlebnis im Technikunterricht im Sinne einer spirituellen Selbsterkenntnis. Wenn wir als Spiritualität als „epistemische Einstellung, bei der es um Erkenntnis geht“ (Metzinger 2014, 406) definieren, dann sind zur Gewinnung einer solchen epistemischen Einstellung mehrere Stufen zu begehen.

Bewusstes ästhetisches Erleben

Die „originale Begegnung als methodisches Prinzip“ (Roth 1966b, 109) führt zu einer

„fruchtbaren Begegnung zwischen Kind oder Jugendlichem und einem ausgewählten Ausschnitt der geistig erkannten oder gestalteten Welt, dem Kulturgut“ (ebd.).

So kann das Stehen auf oder unter der Müngstener Brücke (siehe Abb. 6.8), der höchsten Eisenbahnbrücke Deutschlands, über die Wahrnehmung der zahlreichen Eisenträger und Nieten, über das Höhenerlebnis, die Vibrationen und den Lärm beim Vorbeifahren eines Zuges zu der Motivation und Verstehenskrise führen, wie man diese Brücke an der Jahrhundertwende zum 20.Jahrhundert bauen konnte. Eine Verstehenskrise verbunden mit dem innigsten Wunsch, diese zu überwinden kann auch der einfache Rastmechanismus in einem Kugelschreiber verursachen oder die Beobachtung einer Venezianischen Säge, die zu der Frage führt, wie die Drehbewegung des Mühlrades in die Hoch- und Runterbewegung des Sägeblatts umgewandelt wird.

Erst die Überwindung der Verstehenskrise durch Nachdenken, Verstehen, Handeln und Gestalten führt über die Selbstwirksamkeitserfahrungen auch zum Selbst-Verstehen. Überträgt man den Henry David Thoreau zugeschriebenen Satz aus der Erlebnispädagogik, „the mountains speak for themselves“, auf die Technik, so könnte man anknüpfend an „Eisen erzieht“ auch formulieren, „das Material und die Abfolge der Arbeitsschritte sprechen für sich“.

Dieser methodische Grundsatz würden bedeuten, dass das Erlebnis so konstruiert ist, dass der Lernerfolg für sich spricht und keiner zusätzlichen, gezielten Reflexion bedarf. Die Hattie Studie hat jedoch die Wirksamkeit metakognitiver Prozesse deutlich herausgestellt, sodass darauf nicht verzichtet werden kann. Vielmehr kommt es in den metakognitiven Phasen darauf an, die persönlichen Selbsterkenntnisse, im o.g. Sinne der epistemischen Einstellung (=Spiritualität) abzurufen und innerhalb einer Lerngruppe interaktiv auszutauschen.

Die Erfahrung von Aufmerksamkeitsautonomie (Crawford), von Belohnung für Durchhaltevermögen und konzentriertes Arbeiten können dauerhaft zu Bewusstheit und intellektueller Redlichkeit (Metzinger) und zur Transformation durch Resonanzerfahrungen (Rosa) führen.

Die genannten Stufen, die zum Selbstverstehen durch Technik führen können, erinnern an die fünf Säulen des japanischen Ikigai (生き甲斐)

  1. 1.

    Klein anfangen

  2. 2.

    Loslassen lernen

  3. 3.

    Harmonie und Nachhaltigkeit leben

  4. 4.

    Die Freude an den kleinen Dingen erleben

  5. 5.

    Im Hier und Jetzt leben“ (Mogi 2020, 11),

die auch als Orientierung für die Stufung des Selbstverstehens dienen können.

Abschließend ist noch zu beantworten, wie die Didaktik mit der Dialektik von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit umgehen kann.

Gerade das Bestimmungsmerkmal der Unverfügbarkeit von Resonanzerfahrungen ist für Pädagogen schwer zu ertragen, denn es würde bedeuten, dass die gewollten Bildungsmomente nicht erzwingbar und planbar sind. Die Wahrheit wird in der Mitte zu suchen sein. Als Pädagoge mache ich den Schülern Angebote, im Sinne des Angebots-Nutzungs-Modells (vgl. (Helmke 2009, 71 ff.), von denen ich annehme, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit bei einer Vielzahl von Schülern ein Bildungserlebnis zu erzielen ist. Oft ist es im Unterricht tatsächlich so, dass die nicht geplanten Momente, der misslungene Versuch, die überraschende Schülerantwort, die Ablenkung durch ein Eichhörnchen im Baum vor dem Klassenfenster o.ä. zur Resonanz und zu den nachhaltigsten Bildungserlebnissen führen. In solchen Momenten kommt es vor allem für den Pädagogen darauf an, diese Resonanz selbst zu spüren, in den Dialog mit den Schülern einzutreten und nicht starr an seinem Stundenkonzept festzuhalten und den Bildungsmoment verstreichen zu lassen.

Offenheit und Flexibilität stehen nur in einem scheinbaren Widerspruch zu der oft angeführten „Stofffülle“, denn Anhäufung von „Stoff“ und totem Wissen führt nicht zu Resonanzerfahrungen und nachhaltiger Bildung. Die Stofffülle steht jedoch stellvertretend für eine Welt, die uns als „Aggressionspunkt“ (Rosa 2020, 11 ff.) erscheint. Rosa führt unser aggressives Weltverhältnis darauf zurück, dass eine Gesellschaft dann als modern gilt,

„wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, das heißt, wenn sie zur Aufrechterhaltung ihres institutionellen Status quo des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung bedarf“ (a.a.O., 14 f.).

Damit ist die Rolle der Technik bei der Wachstumsbeschleunigung und kulturellen „Reichweitenvergrößerung“ (a.a.O., 13) direkt angesprochen. Technische Allgemeinbildung, die technische Mündigkeit im Sinne eines verantwortbaren Handelns und Gestaltens anstrebt, muss diese Zusammenhänge transparent machen. Insbesondere auch den Zusammenhang zwischen unserem Resonanzbedürfnis und dem Scheinersatz durch ein Objektbegehren:

Technik als konstruiertes Außen der Gesellschaft löst die aller Transparenz und Sinnhaftigkeit beraubte Natur als Voraussetzung der Schließung der Gesellschaft als eines Sinnsystemes ab“((Halfmann 2003, 141), Hervorh.THM).

Wenn Technik immer mehr die Rolle übernimmt, die Welt rational verstehbar zu machen und in kausale Zusammenhänge zu bringen, dann besteht die große Gefahr nach Halfmann darin, dass wir uns der Technik und damit der potenziell nicht funktionierenden Technik immer mehr ausliefern und schlussendlich sogar unser Dasein als Menschen gefährden (Overkill durch Atomwaffen, Klimaproblematik, Vergiftung und Ressourcenverschwendung).

Dagegen hilft nur Technische Bildung, die einerseits die in Technik eingebaute Rationalität sichtbar und durchschaubar macht, andererseits aber auch die Veränderbarkeit und die Verbesserungsmöglichkeiten durch den Menschen und schließlich die Dialektik von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit aufzeigt.

5.3 Das verantwortliche technische Handeln und Gestalten lernen

Wir sind beim dritten Schritt des Lernens gemäß dem Interaktionsmodell angelangt, dem verantwortlichen technische Handeln und Gestalten. Das bewusste Wahrnehmen und Erleben von Technik und das Verstehen von Technik sind Voraussetzungen dafür, dass das Leben in einer technischen Umwelt auch verantwortlich gestaltet werden kann. Wie bei jedem Lernen, so ist auch beim Lernen des technischen Handelns die physiologische, psychologische und soziokulturelle Entwicklung der Lernenden zu berücksichtigen. Die Gliederung dieses Unterkapitels orientiert sich deshalb einerseits an den allgemeinen Stufen des Handelns nach Roth, bezieht dabei aber auch das allgemeine Modell technischen Handelns nach Binder (vgl. (Binder 2014, 138) und die in Abschnitt 4.3 gewonnenen Erkenntnisse mit ein.

Roth entwickelt in Band 2 seiner Pädagogischen Anthropologie eine „Reihe aufsteigender Fortschrittsstufen“ (Roth 1976, 2:381) des Handels:

  1. 1.

    „Das Erlernen der frei geführten Bewegung als erste Stufe menschlicher Handlungsfähigkeit“ (a.a.O., 448 ff.).

  2. 2.

    „Das Erlernen sacheinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Sachkompetenz und intellektueller Mündigkeit)“ (a.a.O., 456 ff.)

  3. 3.

    „Das Erlernen sozialeinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Sozialkompetenz und sozialer Mündigkeit)“ (a.a.O., 477 ff.)

  4. 4.

    „Das Erlernen werteinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Selbstkompetenz und moralischer Mündigkeit)“ (a.a.O., 539 ff.)

Er begründet die Trennung von sozialeinsichtigem und werteinsichtigen Verhalten damit, dass

„vom Handelnden in ethisch zugespitzten Konfliktlagen im strengen Sinne selbstbestimmte Handlungen erwartet werden, die in der Verantwortung der eigenen »letzten Einsichten« getroffen werden, die für den betreffenden Menschen lebensführend geworden sind“ (Roth 1976, 2:539).

Da Roth mit „zugespitzten Konfliktlagen“ z. B. „moralische Selbstbehauptungsleistungen in den Konzentrationslagern“ (a.a.O., 541) meint und solche zugespitzten Konfliktlagen beim technischen Handeln im Rahmen von Bildung und Erziehung nicht auftreten, werden wegen der engen Wechselwirkung des Erlernens von Werten und des Erlernens sozialeinsichtigen Verhaltens in dieser Untersuchung die dritte und vierte Stufe zu einer zusammengefasst.

Das von Binder entwickelte Handlungsmodell findet sich indirekt in den verbleibenden drei Stufen wieder, indem es Handlungsanlass, Motivation, soziotechnische Integration und Ergebnis/Folgen als Handlungsphasen und die querliegende Bewertungsdimension benennt. Es bezieht sich dabei eher auf eine individuelle Handlung, während die drei Stufen dazu dienen, die Kompetenzentwicklung über einen längeren Zeitraum zu beschreiben. Da das letzte Ziel dieser Arbeit der Aufbau eines Kategorialgefüges für Inhalte des Technikunterrichts ist, bietet sich der entwicklungsorientierte Stufenansatz an, der auch den langfristigen Aufbau von Werthaltungen (vgl. Heimann-Pyramide) einschließt, z. B. auch die Entwicklung von Sicherheitsbewusstsein.

5.3.1 Das „schöne“ technische Handeln und Gestalten lernen

An anderer Stelle hatten wir bereits festgestellt, dass Didaktik eine andere Anordnung von Inhalten erfordert als die Anordnung von Inhalten in der Wissenschaft oder einem wissenschaftlichen Lehrbuch. Das liegt vor allem daran, dass das „Wissensgebäude“ bei Schülern erst langsam entstehen muss und die Vernetzung mit vorhandenem Wissen gewährleistet sein muss.

Deshalb beginnt auch der Dreischritt des Lernens nicht mit dem Verstehen des „Wahren“, sondern setzt bei der Wahrnehmung und dem Erleben des „Schönen“ an. Der Dreischritt schließt ab mit technischer Mündigkeit, die sich im verantwortlichen technischen Handeln und Gestalten zeigt oder, wie Roth es allgemein formuliert,

„bis jenes Niveau menschlicher Handlungsfähigkeit erreicht wird, das wir begründet als reif, mündig, produktiv, kritisch, selbstbestimmt und verantwortlich beurteilen dürfen“ (Roth 1976, 2:381),

Das Gesagte bezieht sich auf drei Ebenen didaktischen Handelns, auf die Konstruktion von Curricula, die Konzeption von Unterrichtsreihen und die Planung von Unterrichtsstunden.

An vier Beispielen, die sich auf unterschiedlichen Schulstufen verorten lassen, soll das Verbindende des „schönen“ technischen Handelns deutlich werden.

In einer Koje der Schulküche stehen Schüler und zerschneiden auf einem Holzbrett Zwiebeln für Spaghetti carbonara mit einem Küchenmesser. Dabei tränen ihre Augen. Die Schüler der Nachbarkoje dürfen einen gekapselten Gemüsehacker (z. B. Zick Zick von Zyliss) verwenden. Ihre Augen tränen nicht. Beim abschließenden Essen werden nicht nur der Geschmack des fertigen Gerichts, die unterschiedlichen kulturellen Essgewohnheiten und das Eindecken des Tisches beurteilt, sondern es werden auch die Erfahrungen beim Zwiebelschneiden reflektiert. Dies kann zu vielfältigen Fragestellungen führen, wie z. B. „warum tränen die Augen?“, „gibt es andere Tricks das Tränen zu verhindern?“, „lohnt sich der Kauf eines ca.30€ teuren Gemüsehackers im Vergleich zu einem ca.5€ teuren Küchenmesser?“, „welchen Einfluss hat die Schärfe des Messers auf das Tränen der Augen?“, „wie kann ich das Küchenmesser schärfen?“ und „tränen die Augen auch, wenn die Zwiebel vorher gekühlt wurde?“, die die Verstehensphase des Lernens einläuten.

Schüler schöpfen mit ihren selbst hergestellten Schöpfrahmen ruhig und gleichmäßig die angerührte Papierpulpe aus der Bütte. Das Vlies wird auf ein Filztuch gegautscht, gestapelt, gepresst und zum Trocknen auf eine Leine gehängt. Es herrscht eine konzentrierte Ruhe und gespannte Erwartung auf das trockene Papier, das in der kommenden Stunde begutachtet werden soll. Schon beim gleichmäßigen oder ungleichmäßigen Verteilen des Papierbreis in der Bütte, beim langsamen oder schnellen Eintauchen und beim waagerechten oder schrägen Herausheben des Schöpfrahmens erhalten die Schüler durch die Inaugenscheinnahme des Vlieses auf dem Rahmen und durch das entstehende Produkt unmittelbare Rückmeldungen zu ihrem Handeln. Sie entwickeln ein intuitives Gefühl für das ruhige Eintauchen, gleichmäßige Verteilen des Papierbreis und langsame, waagerechte Herausheben des Schöpfrahmens. Die Aufmerksamkeitsautonomie wird gefördert und zugleich die Vorfreude auf das fertige Papier geweckt. Bei der Begutachtung des trockenen Papiers und der anschließenden Schreibprobe auf dem Papier fällt das Zerlaufen von Tinte in die Verästelungen der Fasern besonders negativ auf, was zur Optimierung der Papierzusammensetzung und -oberfläche Anlass gibt. Außerdem entsteht im Vergleich mit einem handgeschöpften Büttenpapier mit Wasserzeichen der Wunsch, den Schöpfrahmen mit einem eigenen Wasserzeichen zu versehen.

In einem Vielzweckraum herrscht reges Treiben. Wir hören das Schlagen von Tonklumpen auf die Tischoberfläche zum Verdichten, plastisch-Machen und Austreiben von Luftblasen, wir beobachten das Auswalzen von Ton zwischen zwei Vierkantstäben mit einem Nudelholz zu dünnen Tonplatten, das Rollen von gleichmäßigen Tonwürsten für die Anwendung der Wulsttechnik und das Aufbauen von kleinen Aufbewahrungsgefäßen aus Platten oder Strängen, sowie das anschließende Verputzen und Glätten der Gefäße. Andere Schüler drücken den Ton in kleine Porzellanschüsseln und erfinden damit die Serienfertigung nach. Als Differenzierungsmaßnahme ritzen einige schnelle Schüler Verzierungen in die Außenseite der Gefäße. Nach dem Trocknen und Brennen der Tongefäße werden Erfolge und Misserfolge (Bruch) analysiert, die Gefäße nach selbst aufgestellten Kriterien miteinander verglichen. Eines dieser Vergleichskriterien ist bei Schülern immer das Aussehen (Design, Schönheit). Vergleicht man dann noch die von den Schülern gefertigten Tongefäße mit Abbildungen von Tongefäßen aus der Jungsteinzeit (vgl. Abb. 4.9), so wird den Schülern augenblicklich die Bezeichnung der Geschichtsepochen als Band- oder Schnurkeramik bzw. Glockenbecherkultur verständlich.

Schüler beobachten das Ausdrucken des Bildes der ersten Seite der Gutenbergbibel auf einem funktionsfähigen Tintenstrahldrucker, dessen Druckkopf und Papiertransport sichtbar sind. Für die folgende Analysephase stehen ihnen Werkzeuge und nicht mehr funktionsfähige Drucker eines Wertstoffhofes zur Verfügung. Sie demontieren den Druckkopf und die Schrittmotoren der Druckkopfpositionierung und des Papiertransportes. Sie informieren sich durch eigenständige Recherche zum Aufbau und zur Funktion des Druckkopfes und zur Funktion von Schrittmotoren. Sie erstellen arbeitsteilig eigene Erklärfilme zum Zusammenspiel der Schrittmotoren und zum Ausstoß der Tintentropfen im Druckkopf. Im weiteren Verlauf der Unterrichtsreihe wird die exemplarische Bedeutung der Schrittmotorsteuerung durch Programmierung von Funktionsmodellen auch auf andere Anwendungen, z. B. bei CNC-Maschinen, beim Schreib-Lesekopf eines Festplattenlaufwerks, übertragen. Außerdem wird die kulturelle Bedeutung der Typographie für die Entwicklung des Denkens anhand exemplarischer Texte (z. B. McLuhan: The Gutenberg Galaxy) vertiefend bewertet.

Was ist diesen Beispielen gemeinsam? Was soll die „frei geführte Bewegung“ (Roth), das „schöne“ technische Handeln und Gestalten im Technikunterricht auszeichnen?

Das „Schöne“ der Technik muss an vorderster Stelle stehen, weil dadurch Affekte und Gefühle evoziert werden, die die Motivation zum Verstehen-Wollen bilden können. Ohne Motivation kein Lernen! Dazu soll sich das Handeln auf unterschiedlichen Affekt-Skalen von „unbewusst, autotelisch im Flow“ bis „bewusst und kontrolliert“ von „risikobereit“ bis „sicherheitsbewusst“, von „befreit“ bis „kontrolliert“ und von „selbstwirksam“ bis „selbst-misstrauisch“ bewegen.

Die Enaktivität steht am Anfang des Interiorisationsprozesses, sei es als Macher oder Nutzer von Technik. Durch das bloße Handhaben, Machen, Betrachten bildet sich die Außenwelt als Innenwelt ab, sie spiegelt sich wider. Die „Tätigkeit“ ist das zentrale Merkmal der wechselseitigen Erschließung von Subjekt und Objekten der Kultur. Über das kinästhetische Erleben bilden sich erste Vorstellungen und Konzepte zur Regelhaftigkeit technischen Handelns und ein intuitives Erstverstehen der Funktionalität und Handhabbarkeit eines Artefakts aus.

Das Gemeinsame der „frei geführten Bewegung“ ist, dass sich „ein im Hinblick auf ein antizipiertes Ziel gelenktes und gesteuertes»probierendes Handeln«“ (Roth 1976, 2:449) vollzieht, bei dem „die Mittelwahl […] im Blick auf das bewußt intendierte Ziel (erfolgt)“ (ebd.). Bei dem Grad dieser Intentionalität bei der „Überschreitung des Rubikons“ kann man unterscheiden zwischen „tatkräftig“ und „abwartend“, „mutig“ und „vorsichtig“ oder im Hinblick auf das Handeln selbst „ausdauernd“ und „kurzatmig“, „nachhaltig“ und „kurzsichtig“, „zweckmäßig“ und „unzweckmäßig“, „perfekt“ und „schludrig“. Der Mut, die Tatkraft und das Durchhaltevermögen, eine Handlung auszuführen, verstärken sich selbst durch Erfolgserlebnisse beim Handeln. Es ist daher die Aufgabe der Lehrkraft, dafür zu sorgen, dass dieses Erfolgserlebnis durch gestufte und differenzierte Aufgabenstellungen auch für alle Schüler eintritt (Entwicklungszonenmodell nach Vygotskij). Dazu gehört auch, dass sich probierendes Handeln immer dann verbietet, wenn dadurch Gesundheit oder körperliche Unversehrtheit der Schüler gefährdet sind. Der für psychomotorisches Lernen charakteristische Lehrgang, der u. a. die Phase des sicherheitsgerechten Vormachens und Nachmachens beinhaltet, erfüllt damit zugleich eine sicherheitserziehende Funktion. Zur Ausbildung von Fertigkeiten bedarf es zusätzlich des Faktors Übung, wie es in Sprichworten, wie z. B. „Übung macht den Meister“ oder „früh übt sich, was ein Meister werden will“, zum Ausdruck kommt. Im allgemeinbildenden Unterricht kommt es dabei nicht auf das Erreichen beruflicher Perfektion an, sondern auf Erreichen eines Stadiums, das vergleichbar ist mit dem Bestehen einer Führerscheinprüfung. Es ist hierbei ein Maß an Automatisierung der Handlungen eingetreten, dass man nicht mehr viel über die einzelnen Handlungen nachdenken muss, dass aber die Bewegungsausführung und Anwendung in wechselnden Kontexten durch Übung weiter perfektioniert werden kann.

Das Erleben von Selbstwirksamkeit (Werkstolz) und Bedürfnisaufschub („Ab-sicht“) durch technisches Handeln führt langfristig zur Charakterbildung, denn das Handeln erfüllt die drei Bedürfnisse der Schüler nach Autonomie, Kompetenz und sozialem Eingebundensein (Deci und Ryan).

Technik erzieht!

Das Handeln soll kreativ sein, damit es Wahrheit und Schönheit entbirgt und in diesem Sinne „physis“ in höchstem Maße auch „poiesis“ wird.

Das Handeln fördert damit das Werden einer kreativen, komplexen Persönlichkeit, die sich durch zehn antithetische Merkmalspaare auszeichnet.

Das technisches Handeln findet in einer „ästhetischen Sozialität“, der Klassen- oder Kursgemeinschaft statt, deren Besonderheit darin besteht, „dass sie vier spezifische Instanzen und Einheiten miteinander verknüpft, nämlich Subjekte als Kreateure, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte und eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeiten“ (Reckwitz 2012, 323). Damit wird die Klassengemeinschaft zum Modell der sich kulturell entwickelnden Gesellschaft, die sich als ästhetische Sozialität auch über den kulturellen Fortschritt verständigt.

Schließlich stehen alle vier Beispiele für die originale Begegnung mit kulturhistorisch bedeutsamen Elementen der Technikentwicklung, der Nahrungszubereitung mit einfachsten Werkzeugen, der Erfindung und Herstellung von Papier als preiswerter Träger von schriftlichen Informationen, der Herstellung von Vorratsgefäßen in der Jungsteinzeit aus dem Naturmaterial Ton und der Bedeutung der Drucktechnik für die Bildung und Demokratisierung.

Aus der Logik einer Unterrichtsplanung ergibt sich im Idealfall die „Krise des Nichtverstehens“ (Gruschka). Mit der Überwindung dieser Krise beschäftigen wir uns im folgenden Kapitel.

5.3.2 Das „wahre“ technische Handeln und Gestalten lernen

Die Krise des Nichtverstehens von technischen Sachverhalten und Problemen soll durch Technikunterricht überwunden werden. Wir fragen uns, woran erkennt man „intellektuelle Mündigkeit“ (Roth), woran zeigt sich, dass Schüler sacheinsichtiges technisches Handeln und Gestalten gelernt haben?

Auch dies soll zunächst an vier Beispielsituationen aufgezeigt werden, um anschließend verallgemeinernd die pädagogischen Merkmale des Handelns zusammenzufassen.

Die Schülerfirma „Fahrradwerkstatt“ öffnet ihre Pforten. Es herrscht reger Betrieb. Eine Schülergruppe überprüft anhand einer Checkliste systematisch die Beleuchtung eines Fahrrades und findet dadurch schnell den Defekt einer kaputten Glühlampe in der Rückleuchte. Die Glühlampe wird ersetzt, die Selbstkosten werden in Rechnung gestellt, kassiert und quittiert.

An einem anderen Fahrrad wird die quietschende Kette geölt und nachgespannt und die Bremsklötze der vorderen Felgenbremse werden gewechselt. Bei einem dritten Fahrrad wird der platte Reifen zunächst aufgepumpt, um zu kontrollieren, ob es sich lediglich um den Streich des Lufablassens oder um einen Defekt handelt. Ein Zischgeräusch verrät das Loch im Schlauch des Hinterrades. Auch hier geht die Reparaturmannschaft systematisch mit dem richtigen Werkzeug und der richtigen Abfolge von Arbeitsschritten bei der Identifizierung des Defekts, dem Ausbau des Hinterrades, dem Flicken des Lochs und dem Wiedereinbau des Rades vor. Da die Schüler bereits fortgeschritten sind, brauchen sie keine Checkliste mehr und sind bereits sehr geschickt und sicher bei der Verwendung der Reifenheber zur Demontage des Mantels.

Die Schüler sind sehr gespannt darauf, heute ihre Erkenntnisse aus dem Lehrgang „Bohrmaschinenführerschein“ endlich bei ihrem „Notizexpress“ anwenden zu können. Die Mittelpunkte der drei Bohrungen sind bereits mit dem Lineal ausgemessen und mit dem Bleistift angezeichnet worden. Mit einem Messcheiber ist der Durchmesser der Stifte, die in dem Stiftehalter Platz haben sollen, ausgemessen worden. Nun kommt der spannende Moment des Bohrens. Der zu dem Durchmesser und dem Material Holz passende Bohrer wird ausgesucht und im Bohrfutter eingespannt. Die Bohrtiefe wird mit dem Tiefenanschlag begrenzt. Das Werkstück wird im Maschinenschraubstock eingespannt und vor dem Einschalten der Bohrmaschine kontrolliert ein Mitschüler, ob auch die Haare zusammengebunden sind, die Kleidung enganliegend ist und der Schmuck abgelegt ist. Der ruhige Lauf des Bohrers wir ebenso registriert wie das langsame und gleichmäßige Absenken des Bohrers. Ein Schüler ist jederzeit bereit, den Not-Aus-Schalter zu betätigen. Das zufriedene Lächeln am Ende der drei Bohrvorgänge und nach der Feststellung, dass alle drei Stifte in den Stiftehalter passen, sind Feedback genug für alle Beteiligten.

Die Schüler des Wahlpflichtkurses werten den Besuch im Altenheim in der letzten Woche aus. Es ging darum, Probleme von Senioren bei der Smartphonenutzung herauszufinden und ihnen bei der Problembehebung behilflich zu sein. Insbesondere die Kommunikation via Videotelefonie und das Empfangen und Senden von Kurznachrichten waren die zwei Hauptproblembereiche. In der heutigen Stunde geht es darum, leicht verständliche Bedienungsanleitungen für die Senioren zu erstellen. Die Schüler diskutieren intensiv verschiedene Formate wie z. B. You-Tube-Videos, Erklärfilme und bebilderte Anleitung mit Text. Nachdem die Arbeit an den Skripten abgeschlossen ist und die unterschiedlichen Anleitungen erstellt wurden, werden sie bei einem nächsten Besuch im Altenheim ausprobiert und der Erfolg der Anleitungen wird evaluiert. Nach Korrekturen und Ergänzungen werden die Anleitungen den Bewohnern in der von ihnen bevorzugten Form zur Verfügung gestellt.

Abbildung 5.13
figure 13

(aus: (MSWWF (Hrsg.) 1999, 14)

Werdegang eines technischen Systems.

Mit der Bekanntmachung eines Netzbetreibers zur Planoffenlegung und Bürgerbeteiligung in der örtlichen Zeitung wird in der Oberstufe die Reihe zum Thema „Freileitung oder Kabel?“ eröffnet. Das Voraburteil der Schüler zu der Frage wird durch eine Abstimmung erfasst. Anschließend recherchieren die Schüler in unterschiedlichen Arbeitsgruppen zu den Teilthemen „Notwendigkeit von Hochspannungsleitungen zum verlustarmen Transport elektrischer Energie von Norden (Windenergiestandorte) nach Süden (Verbraucher)“, „Technische Ausführung von Hochspannungsfreileitungen und Hochspannungserdkabeln“, „Vor- und Nachteile von Hochspannungsfreileitungen und Hochspannungserdkabeln“ und „Kriterien der Trassenführung von Hochspannungsleitungen“. Die Ergebnisse der Recherche werden präsentiert und Verständnisfragen werden geklärt. Abschließend findet gemäß dem Format von „Jugend debattiert“ eine technisch fundierte Debatte zum Thema, „Soll die geplante Hochspannungsleitung als Hochspannungsfreileitung errichtet werden?“, statt. Zum Schluss erfolgt eine erneute Abstimmung.

Welche Merkmale sacheinsichtigen Handelns im Technikunterricht lassen sich feststellen?

Da der Mensch in verschiedenen Rollen als Homo faber, Nutzer, Vermittler und Folgebetroffener technisch handelt, müssen sich diese Rollen auch im Technikunterricht wiederfinden. Während die Rollen der Nutzer („Fahrradwerkstatt“) und der Homo faber („Notizexpress“) im Technikunterricht recht etabliert sind, sind die Rollen der Vermittler („Bedienungsanleitung“) und Folgebetroffenen („Freileitung oder Kabel?“) besonders im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung inhaltlich und methodisch auszubauen.

Abbildung 5.14
figure 14

(aus: (Reuter 2013, 9))

Produktentwicklungsprozess nach VDI-Richtlinien 2221 und 2222.

Technisches Handeln ist Handeln nach Regeln und Normen, die das „Immer-wieder-Gelingen in Aussicht stellen“ (Hubig). Durch die Beeinflussung von Verhalten hat dieses Handeln erzieherischen Charakter, der für pädagogische Zwecke gezielt genutzt werden kann. Das Beispiel „Notizexpress“ zeigt, dass dieses Handeln zunächst durch Lehrgänge vermittelt werden kann und auch sehr effektiv mit Hilfe von Bausätzen erfolgen kann. Aus dem regelhaften Handeln durch Nachmachen und Üben im Lehrgang wird aber nur dann das erwünschte sacheinsichtige Handeln, wenn die Regeln des Handelns auch reflektiert und verstanden wurden. Nur dann ist eine selbstständige Anwendung in veränderten Kontexten möglich.

Im Bereich des „Machens“ sollte der Werdegang eines technischen Systems (vgl. Abb. 5.13) und das Vorgehen beim Entwickeln und Konstruieren, (vgl. Abb. 5.14) mit dem Wechselspiel von Planung und Durchführung von theoretischen Überlegungen und praktischem Handeln und seinen außertechnischen Dimensionen, wie z. B. Ökonomie, Ökologie, Kultur, exemplarisch nachvollzogen werden.

Dies kann anfangs noch stark gelenkt (vgl. „Notizexpress“) erfolgen, sollte aber im weiteren Bildungsverlauf zunehmend der selbstständigen projektorientierten Vorgehensweise mit hohen selbstbestimmten Anteilen weichen. Dadurch wird insbesondere die Theorie-Praxis-Verschränkung des technischen Handelns sichtbar. Die Rolle des Machers wird von Schülern deshalb als besonders sinn-voll erlebt, weil sie etwas für sich Bedeutsames (Steenblock) schaffen dürfen, das außer den Kriterien des Funktionierens und der Nützlichkeit auch schön, schmückend, cool usw. sein darf. Indem sie ihren Vorstellungen, ihren Ideen Gestalt verleihen, erfüllt sich eines der wichtigsten Bildungsziele des Faches Technik.

„Gestaltung als Kennzeichen des zweckorientiert in seine Umwelt eingreifenden Menschen, als Persönlichkeitsdimension und als emanzipatorischer Auftrag an zukünftige Generationen ist geradezu ein Konzentrat dessen, was mit Technischer Bildung erreicht werden soll“ (Binder 2017, 10).

Mit der Gestaltung von Gegenständen und technischem Handeln vollzieht sich Persönlichkeitsentwicklung durch „inneres Wachstum“, das nach Cassirer dadurch gekennzeichnet ist,

„daß wir ständig vom »Wirklichen« in ein Reich des »Möglichen« zurückgehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen erblicken“ (Cassirer 1996, 204).

Psychologisch wird in der Rolle des Machers mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Werkstolz vor allem dem Bedürfnis nach Kompetenz Rechnung getragen, aber auch die Bedürfnisse nach Autonomie und sozialem Eingebundensein werden befriedigt.

Technisches Handeln ist gekennzeichnet durch die Zweck-Mittel-Relation, die aber den Blick versperrt für die Zielsetzungssysteme, die Intentionalität technischen Handelns. Erst durch die Betrachtung der Intentionalität, und damit der menschlichen Einflussnahme auf das technische Handeln wird die emanzipatorische Freiheitskomponente bewusst, die Ortega y Gasset als die wahre Mission der Technik beschreibt. Daher muss der Satz, „Technik wird von Menschen für Menschen gemacht“, eine zentrale pädagogische Bedeutung für das Handeln im Technikunterricht bekommen. Die Rolle des Vermittlers ist wegen der notwendigen Empathie für die potenziellen Nutzer und die notwendige Verständigung zwischen Nutzer und Vermittler besonders geeignet, sich mit den unterschiedlichen Bedürfnissen von Menschen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Zielsetzungen für die Herstellung und Nutzung von technischen Artefakten zu beschäftigen.

Schließlich macht die Rolle des Folgebetroffenen von Technik deutlich, dass das technische Handeln nicht nur aus „Arbeit“ besteht, sondern auch mit der Planung von technischer Zukunft zu tun hat und daher auch utopisches Handeln ist, das ins Gelingen verliebte Hoffen (Bloch). Die Rolle der Folgebetroffenen eignet sich auch dazu, Ziel- und Wertekonflikte aufzuzeigen, die immer mit technischem Handeln verbunden sind.

Die Folgen des technischen Handelns verweisen damit unmittelbar auf die letzte Stufe des sozialverantwortlichen, werteinsichtigen technischen Handelns und Gestaltens.

5.3.3 Das „gute“ technische Handeln und Gestalten lernen

Wir sind auf der höchsten Stufe technischen Handelns und Gestaltens angelangt.

Auch hier fragen wir uns wieder, woran man sozialverantwortliches, werteinsichtiges, „gutes“ technisches Handeln und Gestalten im Technikunterricht erkennen kann und wie dies im Technikunterricht anzubahnen ist. Dazu greifen wir auf eine frühere Veröffentlichung zurück (Möllers 2019b, 23 f.).

„Die Vermittlung von Werten und Normen führen beim Kind, später beim Jugendlichen und Erwachsenen zur Moralentwicklung. Moral verstanden als faktische Handlungsmuster von Individuen, Gruppen oder Kulturen.

Das Modell zur Moralentwicklung nach Kohlberg hat für unser Thema vor allem bei der Konzeption von Curricula die Funktion, altersstufengerechte Inhalte, Werte und Normen auswählen zu können. Für Lehrer hat dieses Modell zusätzlich die Funktion, bei der Erfassung der Lernvoraussetzungen, die bisher erreichten Stufen analysieren zu können (Tabelle 5.1 und 5.2).

Tabelle 5.1 Sechs Stufen moralischen Urteilens nach Kohlberg (nach (Europäisches ETHIKA Netzwerk. Deutschsprachige Sektion vertreten durch Franz Feiner 10, 12), Original: (Kohlberg 1996, 128–32)
Tabelle 5.2 Stufen psychosozialer Entwicklung nach Erikson (nach: (Europäisches ETHIKA Netzwerk. Deutschsprachige Sektion vertreten durch Franz Feiner 10, 13), Original: (Erikson 1999, 241–70)

Das Modell zur psychosozialen Entwicklung nach Erikson ist vor allem für den Bereich der Persönlichkeitsentwicklung analytisch und synthetisch hilfreich zur Curriculumentwicklung und Erfassung von Lerngruppenvoraussetzungen

Die bisher angestellten Überlegungen zur Persönlichkeitsbildung und Werteerziehung kombiniert mit den Modellen nach Kohlberg und Erikson lassen sich wie folgt zusammenfassen (Tabelle 5.3):“

Tabelle 5.3 Persönlichkeitsbildung und Werteerziehung mit Themenbeispielen

Die in der Tabelle aufgeführten Themenbeispiele haben die gemeinsame pädagogische Perspektive, dass die gewählten Kontexte einerseits kulturell und gesellschaftlich relevante Themen wie Sicherheit, Datenschutz und geplante Obsoleszenz ansprechen, andererseits die Schüler aber in der Lage sind, dazu konkrete Lösungen handelnd zu entwickeln.

Dies ist eine direkte Folgerung aus der Ablehnung von Klafkis „Schlüsselproblemen“, die in ihrer Aktualität, Komplexität und Unlösbarkeit durch Schüler zu großem Verdruss einiger Schülergenerationen geführt haben, weil über die unlösbaren Probleme der Erwachsenen lediglich kontrovers diskutiert wurde, ohne durch konkrete Handlungen an den Problemen etwas ändern zu können. Hier sei an Hannah Arendt erinnert, die den „Bürgern eines utopischen Morgen“ nicht „ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand“ (Arendt 2012, 258) schlagen will.

Die Themenwahl ist so anzulegen, dass im Unterricht folgende Merkmale verantwortungsvollen technischen Handelns und Gestaltens deutlich werden:

  • Technisches Handeln erfolgt im Ziel- und Wertekonflikt.

  • Technisches Handeln sollte sich am Prinzip der Bedingungserhaltung und damit an einer Ethik der Wertschätzung orientieren.

  • Technik wird von Menschen für Menschen gemacht und folgt dem Prinzip der Freiheit in Verantwortung.

  • Technisches Handeln als utopisches Handeln sollte eine qualitative „Zukunft durch Fortschritt“ (ZdF) ermöglichen, die auch eine „Kultur des Aufhörens“ einschließt, statt eine quantitative „Zukunft durch Innovation“ (ZdI).

  • Technisches Handeln kann eine höhere kulturelle Tätigkeit werden, wenn es zugleich für eine neue symbolische Zukunft sorgt

  • Werte des technischen Handelns und Gestaltens lassen sich zu einem Werteoktagon zusammenfassen.

Definiert man Ethik als „Lehre vom sittlichen (Anm.: moralischen) Wollen und Handeln des Menschen in verschiedenen Lebenssituationen“ (Baer 2002, 282 f.), dann ist das Feld der Technikethik das Wollen und technische Handeln des Menschen.

Der erweiterte Mündigkeitsbegriff eines erneuerten Humanismus fordert:

„Die Fähigkeit, vernünftige, wohlbegründete Überzeugungen auszubilden (Rationalität), die Fähigkeit zu einer autonomen und freien Lebensgestaltung (Freiheit) und die Fähigkeit, Verantwortung wahrzunehmen und zu übernehmen. Diese drei Fähigkeiten bilden zugleich die zentralen Bildungsziele des erneuerten Humanismus“ (Nida-Rümelin 2017, 20).

Dies erfordert Urteilsfähigkeit, die im Technikunterricht auf verschiedenen Stufen angebahnt werden kann (vgl. (Möllers 2016)) und sich in der Abgabe von Sach-, Wert-, Entscheidungs-, Gestaltungs- und Moralurteilen (a.a.O., 9 f.) zeigt.

Die praktische Vernunft (phronesis (Aristoteles)) im Umgang mit technischen Wertekonflikten setzt eine Verknüpfung von technischem Wissen und moralischen Haltungen voraus und führt zu verantwortlichem Handeln.

Die dazu notwendige ethische Entscheidungsfindung kann didaktisch beispielsweise durch die fünf Schritte ethischer Entscheidungsfindung nach Bleisch (vgl. Abb. 5.15) modelliert werden. Die Dialektik der Technik (Wandschneider) hat den didaktischen Vorteil, dass sich aus den dialektischen Gegensätzen überschaubare Pro- und Contra-Themen ableiten lassen, die einer strukturierten Debatte (vgl. (Hielscher 2017)) leichter zugänglich sind.

Abbildung 5.15
figure 15

(aus: (Bleisch 2021, 19)©Versus Verlag)

Schema ethischer Entscheidungsfindung.

Das Sozialverantwortliche beim technischen Handeln und Gestalten bildet sich fachmethodisch schon seit langer Zeit bei der Serienfertigung ab (vgl. (Schmayl 1995, 152 f.). Das Element der „positiven wechselseitigen Abhängigkeit“ (Brüning u. a. 2020, 144 f.), das erst durch das Kooperative Lernen in die allgemeindidaktische Diskussion Einzug gehalten hat, ist bei der Serienfertigung idealtypisch gegeben.

Inhaltlich bildet sich das sozialverantwortliche technische Handeln immer dann ab, wenn über Zielsetzungen und Zwecke technischer Artefakte und Prozesse im Unterricht verhandelt wird (vgl. Bedienungsanleitungsbeispiel, S. 395f). Auch dies findet im Technikunterricht immer schon statt, wird aber in letzter Zeit durch den Ansatz des Designthinking in besonderer Weise durch das Prinzip „Fokus Mensch“ betont, indem die Fragen, „für wen sollen wir etwas entwickeln?“ und „welche Bedürfnisse gibt es?“ (vgl. (Heidemann 2017) beantwortet werden. Auch durch den fachdidaktischen Ausbau der Rollen der Vermittler und Folgebetroffenen bekäme das Sozialverantwortliche eine stärkere inhaltliche Betonung.

5.4 Pädagogische Perspektiven und Prinzipien des Technikunterrichts

Der Doppelauftrag von Schule, den wir eingangs als Persönlichkeitsbildung und Enkulturation umrissen haben, lässt sich auf einen Doppelauftrag des Technikunterrichts herunterbrechen:

Persönlichkeitsbildung durch Technik und Entfaltung der technischen Kultur

„Entfaltung der technischen Kultur“ ist eine metaphorische Verkürzung auf eine handhabbare Kurzformulierung. Um im Vorsatzbild dieser Untersuchung zu bleiben, hat sich der bereits gewebte Stoff, die von Technik durchdrungene Kultur, in Falten vor dem Webstuhl abgelegt. Durch die Falten ist an vielen Stellen das Muster nicht mehr zu sehen, analog zu der Anästhetik der Technik, dem Sich-selbst-unsichtbar-Machen durch Erfüllen der Bedürfnisse. Technische Bildung und Erziehung haben die Aufgabe, das Muster wieder sichtbar zu machen, den Stoff zu entfalten. Didaktische Reduktion heißt dabei, sich auf einige wenige Muster zu beschränken, denn viele Muster wiederholen sich und das Verständnis eines Musters lässt sich auf die anderen Muster übertragen und anwenden.

Nimmt man nun von diesem pädagogischen Standpunkt aus den Gegenstandsbereich Technik in den Blick, dann reicht der Technikbegriff mittlerer Reichweite nicht mehr aus, um das Wesen der Technik angemessen zu beschreiben. Die philosophische Analyse in Kapitel 4 hat den Technikbegriff insbesondere um die Sinn- und Wertperspektive und die human-soziale Perspektive angereichert.

Die pädagogischen Überlegungen im 5.Kapitel lassen sich nun bündeln zu vier pädagogischen Perspektiven auf die Technik.

  • Technik ganzheitlich wahrnehmen und erleben

    Die ganzheitliche Wahrnehmung der Technik zur Überwindung der technischen Anästhetik, zur Entfaltung der technischen Kultur, macht das scheinbar Selbstverständliche sichtbar und erlebbar. Das Erleben von Technik bezieht sich auf die vier Rollen als Homo faber, Nutzer, Vermittler und Folgebetroffener und führt über die affektive Dimension zur Verstehenskrise und Handlungsmotivation.

  • Technik mehrperspektivisch verstehen in ihrer Sach-, Sinn- und Wertperspektive

    Die Verstehenskrise führt dauerhaft zu der epistemischen Grundhaltung des Fragenstellens und Wissenwollens und bezieht sich dabei sowohl auf die Klärung der Sache als auch über die Decodierung kultureller Sinnkapseln auf die Klärung von Sinn und Wert von Technik.

  • Technik mit Menschen für Menschen gestalten und sich ausdrücken

    Das Alleinstellungsmerkmal von Technikunterricht ist das Schaffen von Neuem gepaart mit der Verfolgung definierter Ziele und Zwecke. Die Festlegung von Zielen und deren Realisierung setzt Verständigung, Kommunikation und Kooperation voraus. Es werden aber auch konkrete Fertigkeiten im Umgang mit Materialien, Werkzeugen und Maschinen benötigt, um das Neue zu realisieren. Das neu Gestaltete ermöglicht zugleich die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und ein individuelles und kollektives Sich-ausdrücken.

  • Technik reflektieren, bewerten und verantwortlich handeln,

    Durch reflektierendes Einnehmen der exzentrischen Position ist es möglich, eigene und fremde Bedürfnisse und Handlungen, sowie die Ergebnisse der Handlungen mit Sach-, Wert-, Entscheidungs-, Gestaltungs- und Moralurteilen zu bewerten. Dies führt dauerhaft zu sach- und werteinsichtigem, sowie sozialverantwortlichem Handeln. Die soziale Verantwortung schließt auch die Verantwortung für sich selbst, die Reflexion und Bewertung von Risiken, und das sicherheitsbewusste Handeln mit ein.

Aus diesen vier pädagogischen Perspektiven lassen sich fünf Prinzipien des persönlichkeitsfördernden und enkulturierenden Technikunterrichts ableiten.

Ganzheitliches Wahrnehmen und Erleben erfordert das Prinzip der Erfahrungs- und Handlungsorientierung. Je früher der handelnde Umgang mit Materialien, Werkzeugen, Spielzeugen und Baukästen einsetzt, desto eher bildet sich über die Widerspiegelung der Tätigkeit durch Internalisieren ein erstes intuitives Verständnis aus, auf dem später das Verstehen durch Reflektieren und Nachdenken aufsetzt. Die Tätigkeiten können gemäß der Zone der nächsten Entwicklung zunehmend komplexer, vernetzter und kooperativer werden, um darüber die Ko-Konstruktion der kulturellen, technischen Wirklichkeit zu erreichen. Das gute, wahre und schöne technische Handeln stärken die Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialem Eingebundensein.

Geht man aus allgemeindidaktischen Gründen davon aus, dass der Beutelsbacher Konsens der Politikdidaktik auf alle Fächer anzuwenden ist (vgl. S. 187), dann liefert uns dieser als Ordnungsgesichtspunkte das Überwältigungsverbot, das Kontroversgebot und das Multiperspektivitätsgebot. Das Multiperspektivitätsgebot erfordert zum kulturellen Verstehen der Technik die Mehrperspektivität auf die humane, soziale und naturale Dimension der Technik und die Sach-, Sinn- und Wertperspektive. Dieser mehrperspektivische Blick ist fachdidaktisch zwar schon lange durch den gleichnamigen Ansatz etabliert, bietet aber mit den Problem- und Handlungsfeldern noch kein schlüssiges Kategorialgefüge zur Auswahl von Unterrichtsinhalten, sondern lediglich einen „Orientierungsrahmen für Inhaltsentscheidungen“ (Sachs 2021, 205 ff.). Dem Kontroversgebot des Beutelsbacher Konsenses wird man vor allem dadurch gerecht, dass man die Dialektik der Technik (Wandschneider), darunter auch die Dialektik von Machbarkeit und Unverfügbarkeit und die der Freiheit und Unfreiheit durch Technik immer wieder an geeigneten Beispielen deutlich macht. Schließlich erfordert das Überwältigungsgebot, dass man Schüler nicht an einer eigenen Meinungsbildung hindert.

Das Gestalten von Technik von Menschen für Menschen erfordert Verständigung und Kooperation, über Ziele und Zwecke von technischen Artefakten und über die Methoden und Verfahren zum Erreichen der Ziele.

Die letzte pädagogische Perspektive erfordert Wertorientierung, z. B. Nachhaltigkeit im Sinne des Werteoktagons oder der UN-Nachhaltigkeitsziele und zur Sicherung eines nachhaltigen Lernzuwachses das Prinzip der Reflexion und Metakognition der Handlungen und Erfahrungen.

Mit diesen pädagogischen Perspektiven und Prinzipien gehen wir nun den letzten Schritt an, den Entwurf eines inhaltlichen Kerncurriculums, wohlwissend, dass dies nur ein Anfang, eine Diskussionsgrundlage oder, um eine technische Metapher Hüttners zu gebrauchen, eine „Opferanode“ sein kann.