Bisher ging die Technikdidaktik vom Technikbegriff mittlerer Reichweite aus. Dieser Technikbegriff macht nach Ropohl keine Aussagen zum „Wesen der Technik“ (vgl. S. 7). Die bisherigen didaktischen Überlegungen führten zu der Erkenntnis, dass aber gerade dieses „Wesen der Technik“ für den bildenden und erziehenden Charakter eines Faches bedeutsam ist. Aussagen zum „Wesen“ der Technik macht die Technikphilosophie, speziell zum Verhältnis des Menschen zur Technik die Philosophische Anthropologie. Das Verhältnis von Technik und Gesellschaft und die dort vertretenen Werte und Normen werden durch die Technikethik und die Techniksoziologie geklärt. Ein Problem stellt die Verflechtung von Technik und Kultur, sowie Technik und Gesellschaft dar. Für beide Verflechtungen können im Rahmen dieser Arbeit nur die jeweiligen philosophischen Grundlagen betrachtet werden, weil ansonsten noch umfangreiche theoretische Vorarbeiten zu leisten wären.

Die Technikphilosophie ist also die für uns in Frage kommende Bezugswissenschaft, um das enge Spektrum des bisherigen Technikbegriffs mittlerer Reichweite zu einem Technikbegriff mit größerem Spektrum zu erweitern. Wie wir weiter oben gesehen haben, fehlen auch den Ansätzen der Allgemeinen Technologie pädagogische Sichten auf die Technik. Diese sollten in einem weiteren Schritt mit Hilfe des „Filters“ Allgemeine Fachdidaktik aus der Fachphilosophie zu gewinnen sein.

Die Technikphilosophie ist, abgesehen von Ansätzen in der griechischen Antike, eine junge Disziplin. Meist wird als neuzeitlicher Startpunkt entweder Beckmanns „Anleitung zur Technologie“ (1777) oder Ernst Kapps „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ (1877) genannt. Da es sich um eine junge Disziplin handelt, werden auch Philosophen herangezogen, die nicht als ausgewiesene Technikphilosophen gelten, sich aber zur Technik geäußert haben (z. B. Cassirer, Heidegger, Ortega y Gasset). Wegen der pädagogisch bedingten Verflechtung von Fach und Mensch muss auch die Philosophische Anthropologie einbezogen werden.

Die Zeit von 1900 bis 1959 ist technikphilosophisch von besonderem Interesse, weil in diesen Zeitraum nicht nur zwei Weltkriege mit neuen Waffensystemen (U-Boote, Panzer, Flugzeuge, Raketen, Chemiewaffen, Atombombe) mit Millionen Toten fallen, sondern auch technische Umwälzungen im Bereich der Mobilität (Autos statt Kutschen, Flugzeuge, …), der Medien (Film, Radio, Fernsehen) und der Kommunikation (drahtlose Telegrafie, Telefonie…). Die Technikphilosophie trat meist erst „nachsorgend“Footnote 1 auf den Plan und durchdachte Ursachen und Folgen dieser umwälzenden Entwicklungen. Wenn sich diese Untersuchung schwerpunktmäßig mit diesen frühen technikphilosophischen Überlegungen beschäftigt, so ist ein wichtiger Grund darin zu sehen, dass wir heute vor ähnlich umwälzenden Entwicklungen stehen. Vier Problembereiche stehen exemplarisch für Zukunftsprobleme, die momentan im Vordergrund stehen:

  1. 1.

    Das schon vor Jahren angekündigte Ende des fossilen Zeitalters und die mit dem fossilen Zeitalter gekoppelte Klimaproblematik

  2. 2.

    Die weltumspannende Digitalisierung mit den Problembereichen Datenschutz, Privatsphäre, Realitätsverlust und Ungleichheit in der Entwicklung.

  3. 3.

    Nachhaltigkeit bei der Nutzung natürlicher, stofflicher und energetischer Ressourcen und die damit verbundenen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (vgl.: https://sdgs.un.org/goals zuletzt abgerufen: 2.1.2022)

  4. 4.

    Corona Pandemie als aktuelles Beispiel für die Unverfügbarkeit trotz aller technischen Hilfsmittel und technischer Machbarkeit!

  5. 5.

    Ukrainekrieg als aktuelles Beispiel für die Beeinflussung technischer Entwicklungen durch kriegerische Handlungen (Rüstung, Rohstofflieferungen, Unterbrechung von Lieferketten).

Aber auch die damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Probleme sind ähnlich gravierend wie die Probleme zwischen den Weltkriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg (z. B. Flüchtlingsproblematik).

Damit soll jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, dass diese fünf exemplarisch genannten Probleme die inhaltlichen Schwerpunkte eines künftigen Technikunterrichts darstellen sollen. Dies würde auch der oben geäußerten Kritik an Klafkis „Schlüsselproblemen“ und seiner Analysefrage nach der Zukunftsbedeutung von Unterrichtsgegenständen widersprechen.

Vielmehr soll nun der rote Faden des wissenschaftlichen Ganges weiterverfolgt werden, indem wir mit dem Prisma der Fachphilosophie das fachliche Spektrum erweitern und anschließend mit dem Filter der Allgemeinen Fachdidaktik daraus pädagogische Perspektiven für die Fachdidaktik gewinnen (3.Stufe der Modellierung).

4.1 Technik mit Bewusstheit erleben und wahrnehmen

4.1.1 Wahrnehmung ist der Anfang von Allem oder die Ästhetik und Anästhetik der Technik

4.1.1.1 Ästhetik als Aisthetik

Für die menschliche Wahrnehmung sind unsere Sinne verantwortlich. Diese dienen dazu, physikalische und chemische Signale aus der Außenwelt und aus dem Körper(!) in Signale umzuwandeln, die weiterverarbeitet werden können. Klassisch werden dem Menschen fünf Sinne zugeschrieben (Seh-, Geruchs, Tast-, Hör- und Geschmackssinn). Das ist insofern symptomatisch als den vier weiteren Sinnen, dem Temperatur- und Gleichgewichtssinn, sowie dem Schmerz- und Körperempfinden kaum Bedeutung beigemessen wird. Das Körperempfinden lässt sich weiter ausdifferenzieren in das Lage- und Bewegungsempfinden (Propriozeption) und die Organsinne (Viszero- oder Enterozeption). Letztere sind dafür verantwortlich, dass wir körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst usw. und unsere Gefühle wahrnehmen können. Wenn in der Überschrift die Ästhetik der Technik angesprochen wird, dann ist damit nicht die gängige Bedeutung von Ästhetik als „Wissenschaft vom Schönen, Lehre von der Gesetzmäßigkeit und Harmonie in Natur und Kunst“ oder „das stilvoll Schöne“ (Baer 2002, S. 96) gemeint. Wegen der Vielzahl der sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten wird in diesem Kapitel zunächst nur die umfassendere Definition von Welsch verwendet.

„Ich möchte Ästhetik generell als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen“ (Welsch 2017, S. 11 f).

Im Zusammenhang mit dem „Verstehen der Technik“ wird es nötig werden, auch die von Kant aufgebrachte epistemologische Seite der Ästhetik ins Spiel zu bringen (vgl. S. 233).

4.1.1.2 Die Anästhetik der Technik und ihr Verhältnis zur Natur

Fragt man sich, warum die technische Bildung in Deutschland eine so geringe Bedeutung hat, so lautet meine zentrale These dazu:

Technik ist im Wesentlichen bildungs- und kulturfern, weil sie anästhetisch, d. h. nicht wahrnehmbar ist.

Die Anästhetik, die Nicht-Wahrnehmbarkeit, liegt in unserer westlichen, hochtechnisierten Welt vor allem an der umfassenden Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse durch die Technik und dem überwiegend perfekten Funktionieren der Technik. Fehlende Wahrnehmung verhindert eine aktive geistige Auseinandersetzung und eine vernünftige Urteilsbildung und macht dadurch anfällig für „Einflüsterungen“ und Manipulationen aller Art, sei es im Bereich der Werbung oder der politischen Meinungsbildung.

Wahrnehmung von Technik tritt erst dann ein, wenn Technik nicht funktioniert, unerwünschte und schädliche Auswirkungen überdeutlich werden oder die „organisatorische Hülle“Footnote 2 der Technik, zu dem auch die technischen Berufe gehören, gefährdet ist. Wahrnehmung von Technik tritt auch dann auf, wenn wir Ereignissen hilflos ausgeliefert sind, wie unlängst bei der Coronapandemie oder bei Naturkatastrophen. Der Mangel an technischer Beherrschbarkeit macht uns die Grenzen der Machbarkeit und damit die UnverfügbarkeitFootnote 3 deutlich.

Der Begriff der Anästhetik wird hier auch in Welschs Sinne verwendet.

„Anästhetik verwende ich als Gegenbegriff zu Ästhetik. Anästhetik meint jenen Zustand, wo die Elementarbedingungen des Ästhetischen- die Empfindungsfähigkeit- aufgehoben ist“ (Welsch 2017, 12).

Dass die These von der Nicht-Wahrnehmbarkeit nicht gänzlich neu ist, soll im Folgenden belegt werden. In ähnlicher Weise, sprachlich überhöhter, tritt sie schon 1926 in Heideggers „Sein und Zeit“ auf:

„Das nächstzuhandene Seiende kann im Besorgen als unverwendbar, als nicht zugerichtet für eine bestimmte Verwendung angetroffen werden. Werkzeug stellt sich als beschädigt heraus, das Material als ungeeignet. Zeug ist hierbei in jedem Fall zuhanden. Was aber die Unverwendbarkeit entdeckt, ist nicht das hinsehende Feststellen von Eigenschaften, sondern die Umsicht des gebrauchenden Umgangs. In solchem Entdecken der Unverwendbarkeit fällt das Zeug auf. […] Das Zuhandene kommt im Bemerken von Unzuhandenem in den Modus der Aufdringlichkeit“ (Heidegger 2006, 73).

Technik wird demnach bemerkt, wenn sich das Werkzeug als beschädigt herausstellt, oder sich das Material als ungeeignet erweist. Dieses Beispiel Heideggers lässt sich jedoch auch auf höhere Stufen der Technikentwicklung verallgemeinern. Den damit verbundenen „Wesenszug“ der Technik kristallisiert Ortega y Gasset heraus, wenn er feststellt:

„Das heißt, er (der Mensch, Anm.THM) kann das Bewußtsein von der Technik und den geistigen Bedingungen, unter denen sie entsteht, schließlich verlieren, indem er wie der Primitive in ihr nur natürliche Fähigkeiten sieht, die man sofort hat und die keinerlei Anstrengung erfordern“ (Ortega y Gasset 1949, 108).

Diesen Bewusstseinsverlust begründet er mit der künstlichen, durch Technik geschaffenen Umgebung, in die der Mensch hineingeboren wird.

„Da der Mensch, wenn er die Augen der Existenz öffnet, sich von einer Menge von Gegenständen und Vorgängen, die die Technik erschaffen hat, umgeben findet, so groß, daß sie eine erste künstliche Landschaft bilden, die so dicht ist, daß sie die ursprüngliche Natur dahinter verbirgt, wird er geneigt sein zu glauben, all dies sei wie jene aus sich selbst da“ (Ortega y Gasset 1949, 108).

Zugleich spricht Ortega y Gasset in diesem Zitat das Verhältnis von Natur und Kultur und damit das Verhältnis von Natur und Technik an. Weil der Mensch in eine künstliche Welt hineingeboren wird, diese ihm aber als „natürlich“ gegeben erscheint, verwischen die Unterschiede zwischen Natur und Technik. Dies hat weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit der Natur. Das Erleben von Technik ist ein Erleben der Verfügbarkeit, der Machbarkeit. Überträgt man nun dieses Erleben auf die Natur, so resultiert daraus auch ihr gegenüber eine Einstellung der Verfügbarkeit. Erst durch das Erleben der Natur als schön, wunderbar und unverfügbar wird sich eine Differenzierung zwischen Natur und Technik einstellen können. In seinen Briefen vom Comer See aus den Jahren 1924/25 ahnt Romano Guardini die Entfremdung des Menschen von der Natur voraus:

„Wie steht nun diese Menschenwelt zur Naturwelt? Sie entfernt sich notwendig von ihr. Sie hebt die natürlichen Dinge und Beziehungen in eine andere Sphäre, die des Gedachten, Gesetzten, Gewollten, Geschaffenen, immer irgendwie Naturfernen: die Sphäre des Kulturellen“ (Guardini 1990, 19).

Führt das auf Dauer dazu, dass wir nur noch in einer „schönen neuen Technikwelt“ leben, wie man in Anlehnung an den Romantitel „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley fragen könnte. Vergleicht man Zitate aus seinem Roman aus dem Jahre 1932 mit Bildern von heute, dann könnte dieser Verdacht aufkommen (Abb. 4.1, Abb. 4.2).

„Primeln und Landschaften, erläuterte er, hätten eben einen entscheidenden Nachteil: Es gebe sie umsonst. Die Liebe zur Natur laste keine Produktionsanlagen aus. Man beschloss daher, die Liebe zur Natur abzuschaffen, zumindest bei den niederen Kasten, nicht aber den Bedarf an Transport. […]

Abbildung 4.1
figure 1

Liebe zur Natur? (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

„Wir konditionieren die Massen“, schloss der Direktor, „auf Naturfeindlichkeit bei gleichzeitiger Begeisterung für alle Natursportarten. Und wir sorgen dafür, dass alle Natursportarten die Nutzung vielfältiger Geräte erfordern““ (Huxley 2015, S. 30 f).

Abbildung 4.2
figure 2

„Natur“ sportarten. (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Schaut man auf die Klimaproblematik und die immer knapper werdenden Rohstoffe, dann scheint das Verfügbarmachen der Natur an seine Grenzen zu stoßen, wie es schon 1972 durch den Club of Rome in „Die Grenzen des Wachstums“ prophezeit wurde (vgl.(Club of Rome, 2000).

Gibt es Wege der Versöhnung zwischen Natur und Technik?

Bei den Betrachtungen zum Naturbegriff (vgl. S. 66) ist bereits der Zusammenhang zwischen dem christlichen Weltbild, der ontologischen Depotenzierung der Natur (vgl. (Hösle 1994, 52)) und dem Anthropozentrismus erläutert worden. Stellvertretend für die anthropozentrische Position kann das Werk „Die Ordnung der Dinge“ von Michel Foucault gelten. Dem gegenüber zeigt Bruno Latour in seinem Buch „Existenzweisen“ einen möglichen Weg der Versöhnung von Natur, Mensch und Technik, indem er mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) eine oft fehlverstandene symmetrische Anthropologie vorschlägt. Foucault sieht den Menschen als „dichte und ursprüngliche Realität, als schwieriges Objekt und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkenntnis" (Foucault 1974, 375) und definiert die Soziologie als „eine Untersuchung des Menschen im Rahmen von Regeln und Konflikten“ (a.a.O., 429). Bei dieser Sicht der Soziologie spielt nur das menschliche und zwischenmenschliche Handeln eine Rolle. Alles Nicht-Menschliche, alle Dinge sind aus dieser Sicht ausgeklammert.

Bruno Latour hingegen schließt in seine „Soziologie der Assoziationen“ (Latour 2018, 563) alles Nicht-Menschliche und Dinge als Akteure bzw. Aktanten ein. Netzwerke sind für Latour „nicht nur eine technische Vorrichtung (…) wie ein Eisenbahn-, Wasser-, Abwasser oder Telefonnetz“ (Latour 2018, 70), sondern Netzwerk

„bezeichnet eine Serie von Assoziationen, die dank einer Prüfung aufgedeckt wird […] und die zu verstehen erlaubt, welche Reihe von kleinen Diskontinuitäten man passieren muß, um eine gewisse Kontinuität der Handlung oder Aktion zu gewinnen“ (a.a.O., 73).

Akteure in Netzwerken sind nicht nur die Menschen, sondern auch Gegenstände und Prozesse, die Verbindungen zwischen den Menschen herstellen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) will damit den Menschen nicht depotenzieren, sondern eine Verbindung zwischen der materiellen Kultur und den sozialen Beziehungen herstellen. Deshalb spricht sich Latour auch vehement dagegen aus, Technik allein auf eine Zweck- Mittel-Relation zu beschränken.

„Wenn es eine unwürdige Weise gibt, die Techniken zu behandeln, so die, zu glauben, sie wären Mittel für Zwecke“ (Latour 2018, 312 f).

Er sieht die „Theorie der Effektivität durch die Übereinstimmung zwischen Form und Funktion“ (a.a.O., 313) in der Technologie als ebenso irrig an, wie die Meinung, eine Landkarte wäre mit dem Territorium identisch. Vor allem die Materialität, die Findigkeit und Ingeniosität der Schöpfer von Technik verdienen nach Latour viel mehr Beachtung.

„Wenn es eine Sache gibt, die der Materialismus niemals zu feiern verstanden hat, so ist es die Vielfalt der Materialien, diese unendliche Alterierung der verborgenen Potenzen, die denen, die sie erkunden werden, Findigkeit verleiht“ (Latour 2018, 313).

Neben der Vielfalt der Materialien und deren verborgenen Potenzen ist für Latour das Unsichtbare der Technik auch durch „Umweg, Labyrinth, Raffiniertheit, Findigkeit“ (Latour 2018, 315) gekennzeichnet. Die Unsichtbarkeit der „Ingeniosität“, für die „alles in den Materialien Geist“ (a.a.O., 315) ist, führt auch zu der von Latour beklagten

„befremdliche(n) Blindheit bei den Modernen gegenüber der kostbarsten Quelle aller Schönheit, aller Annehmlichkeiten, aller Wirksamkeiten. Welcher Mangel an Höflichkeit für ihr eigenes Genie“ (Latour 2018, 315)!

Zur genaueren Bestimmung des „Seinsmodus“ der Technik mit ihrem „Zickzack“, dem „Aufblitzen“, den „Umwegen und Diskontinuitäten“ benutzt Latour den Ausdruck der technischen Faltung“ (Latour 2018, 323 f).

„Der Begriff der Faltung wird uns den Schnitzer ersparen, von der Technik auf respektlose Weise zu sprechen, so als wäre sie nur eine Anhäufung von Objekten, oder ein bewunderungswürdiges Beispiel der Meisterschaft, Transparenz, Rationalität, welches die »Herrschaft des Menschen über die Materie« beweisen würde. Technik heißt immer Falte um Falte, heißt immer Implikation, Komplikation, Explikation“ (Latour 2018, 324).

Eine klare Absage an die Auffassung, Technik könne allein mit wissenschaftlichen Prinzipien erklärt werdenFootnote 4, eine Absage aber auch an die Auffassung eines Homo faber, dessen Kompetenz erst die Performanz hervorbringtFootnote 5.

In völliger Übereinstimmung mit der kulturhistorischen Theorie Leontjews kommt Latour zu dem Schluss:

„Die Humanoiden sind Menschen geworden- und zwar sprechende und denkende Menschen-, dadurch daß sie die Wesen der Technik, der Fiktion und der Referenz häufig frequentiert haben. Sie sind geschickt, phantasievoll und fähig zur objektiven Erkenntnis geworden, dadurch daß sie viel zu schaffen hatten mit diesen Existenzmodi“ ((Latour 2018, 507), Hervorh.i.Orig.).

Nimmt man Vygotskijs Erkenntnisse zur Entwicklung des Denkens und der Sprache hinzu (vgl. (Vygotskij 1981) und die zum wiederholten Male auftretende Parallelität von Onto- und Phylogenese des Menschen, dann ist der zwingende Schluss, dass es die Aufgabe von Technischer Allgemeinbildung sein muss, die „technischen Faltungen“ wahrzunehmen, sie zu entfalten, um sie zu verstehen und die Ingeniosität würdigen zu können.

Es sei noch angemerkt, dass die Anästhetik der Technik und deren Überwindung auch mit der nicht-symmetrischen Philosophischen Anthropologie Plessners (vgl. Abschn. 2.2.2.4) zu verstehen ist. Plessner hat in „Die Stufen des Organischen und der Menschen“ gezeigt, dass der Mensch aufgrund seiner „exzentrischen Positionalität“ (Plessner 1975, 325) „von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich“ ist (a.a.O., 310). Mit diesem „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ (a.a.O., 309) kann nun aber gerade das Bewusstsein für die Künstlichkeit verloren gehen, wenn der Mensch aus einer zentrischen Position heraus agiert. Erst „von der exzentrischen Position aus wird diese Unmittelbarkeit als „vermittelte Unmittelbarkeit“ reflektiert“ (Fischer 2004, 31) und der Mensch kann die künstlichen Umgebung wahrnehmen, eine Grundvoraussetzung für das Verstehen und die Zuschreibung von Sinn und Bedeutung.

„Im Akt der Reflexion, des Aufmerkens, Beobachtens, Suchens, Erinnerns bringt das lebendige Subjekt auch seelische Wirklichkeit zustande und diese wirkt selbstverständlich auf die zum Objekt gemachte Wirklichkeit […] ein“ (Plessner 1975, 297).

Wie wir später noch sehen werden, ist dieser Akt des Bewusstwerdens eine Grundvoraussetzung für Verstehen und Lernen.

4.1.1.3 Doppelaspekt der Erscheinungsweise: Ding- und Ausdruckswahrnehmung

Wenn Plessner vom Zustandebringen von seelischer Wirklichkeit spricht, dann ist dem noch vorgelagert die Umwandlung der Wahrnehmungen, in Bedeutungen.

Bei der Wahrnehmung, die man auch als Subjekt-Objekt-Beziehung charakterisieren kann, setzt Plessner beim Objekt, beim „Wahrnehmungsding“ an und schreibt diesem einen „Doppelaspekt in der Erscheinungsweise“ (Plessner 1975, 81) zu. Ein Aspekt ist die „reell präsente Seite“ (a.a.O., 82) des Wahrnehmungsdings, die aber auf den anderen Aspekt, das „tragende Ganze“ (ebd.), auf „den substantiellen Kern des Dings“ (a.a.O., 83) zielt.

„Der Gegenstand zerbricht nicht an diesem Zweispalt eines nie erscheinenden, d.h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt werdenden Außen, sondern formt sich geradezu aus ihm zu seiner typisch dinglichen Einheit“ (Plessner 1975, 88).

Plessner verortet die „anschauungsimmanente Dingintention“ (a.a.O., 88) im Wahrnehmungsding selbst, im Artefakt, nicht im wahrnehmenden Subjekt. Dies ermöglicht es auch, intersubjektiv zu gleichen Ergebnissen bezüglich der Dingintention zu kommen. Demnach gäbe es eine äußere und innere Seite der Dingwahrnehmung, die im Ding selbst verortet sind. Denkt man aber an die individuelle Bedeutung, die ein Mensch einem Objekt zuschreibt, z. B. die Bedeutung eines Stofftieres für ein Kleinkind, so wird diese Zuschreibung durch die Differenzierung Plessners nicht erfasst. Hier hilft uns die Unterscheidung Cassirers weiter. Auch er unterscheidet die Wahrnehmung in zweifacher Richtung,

„die wir […] als die Richtung auf das »Es« und als die Richtung auf das »Du« bezeichnen können. Immer besteht in der Wahrnehmung eine Auseinanderhaltung des Ichpoles vom Gegenstandspol. Aber die Welt, die dem Ich gegenübertritt, ist in dem einen Fall eine Dingwelt, in dem andren Falle eine Welt von Personen“ (Cassirer 2011, 42).

Sieht man die Welt der Technik als eine Welt der Dinge an, so verwundert es auf den ersten Blick, dass Cassirer die Wahrnehmung dieser Welt weiter differenziert in die Ding- und AusdruckswahrnehmungFootnote 6. Die Ausdruckswahrnehmung ist für Cassirer die Wurzel des Mythos und zugleich ist „der Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung das, was die mythische Weltansicht charakterisiert“ (Cassirer 2011, 43).

An dieser Stelle fragt man sich, ob in der heutigen Zeit die „mythische Weltansicht“ und damit die Ausdruckswahrnehmung überhaupt noch eine Rolle spielt.

Cassirer charakterisiert den Mythos folgendermaßen:

„Für ihn kann die Welt in jedem Augenblick ein anderes Gesicht gewinnen, weil der Affekt es ist, der dieses Gesicht bestimmt. In Liebe und Haß, in Hoffnung und Furcht, in Freude und Schreck verwandeln sich die Züge der Wirklichkeit“ (Cassirer 2011, 43).

Vergleicht man diese Beschreibung des Mythos mit Erkenntnissen zur Wahrnehmungs- und Persönlichkeitspsychologie, so stellt man fest, dass jede Wahrnehmung im Gehirn zunächst in den entwicklungsgeschichtlich älteren Arealen (Thalamus, Hippocampus) unbewusst, parallel und schnell verarbeitet wird und mit negativen Affekten, in der Amygdala, oder positiven Affekten, im Nucleus accumbens, versehen wird. Die affektive Bewertung der Wahrnehmung erfolgt im Erfahrungsgedächtnis, das einerseits genetisch festgelegte Affektzuschreibung, wie z. B. „Angst“, vornimmt, andererseits aber, in viel größerem Maße, den Wahrnehmungen erlernte Affekte zuschreibt. Von der Intensität der Affekte hängt es ab, ob es in einem zweiten Schritt überhaupt zu einer bewussten Wahrnehmung kommt. Erst die bewusste Wahrnehmung kann man als Dingwahrnehmung charakterisieren, die

„an die Stelle der Ausdrucksqualitäten, der »Charaktere« des Vertrauten oder Furchtbaren, des Freundlichen oder Schrecklichen, die reinen Sinnesqualitäten der Farbe, des Tones usf.“ (Cassirer 2011, 43)

setzt. An dieser Stelle begegnet uns erneut die Parallelität von Onto- und Phylogenese, der körperlich, geistigen Entwicklung des Menschen und seiner Gehirnstrukturen und der kulturellen Entwicklung der Menschheit vom Mythos hin zu den Wissenschaften, die wir bei der weiteren Untersuchung im Blick behalten werden. Erst die Dingwahrnehmung ermöglicht Wissenschaft als ein System von intersubjektiv und universell gültigen Sätzen (vgl. Cassirer, 2011, 44).

Die alleinige Anerkennung der Dingwahrnehmung führt jedoch dazu, dass wir die kulturelle Bedeutung der Dinge und die individuellen Bedeutungszuschreibungen nicht erfassen können, denn:

„Die Religion, die Sprache, die Kunst: das alles ist für uns nicht anders faßbar als in den Monumenten, die sie sich geschaffen haben. Sie sind die Wahrzeichen, die Denk- und Erinnerungsmale, in denen wir allein einen religiösen, einen sprachlichen, einen künstlerischen Sinn erfassen können. Und ebendies Ineinander macht dasjenige aus, woran wir ein Kulturobjekt erkennen“ (Cassirer 2011, 45).

Der obigen Aufzählung Cassirers von Religion, Sprache und Kunst müssen wir die Technik hinzufügen, denn auch sie ist nicht anders fassbar als in den von ihr geschaffenen Dingen und Prozessen, durch die wir deren kulturellen Sinn erfassen können. Die Erweiterung der Aufzählung rechtfertigt sich auch mit der Einleitung Cassirers in seinen Aufsatz „Form und Technik“ aus dem Jahre 1930:

„Wenn man den Maßstab für die Bedeutung der einzelnen Teilgebiete der menschlichen Kultur in erster Linie ihrer realen Wirksamkeit entnimmt, wenn man den Wert dieser Gebiete nach der Größe ihrer unmittelbaren Leistung bestimmt, so ist kaum ein Zweifel daran erlaubt, daß, mit diesem Maß gemessen, die Technik im Aufbau unserer gegenwärtigen Kultur den ersten Rang behauptet“ (Cassirer 1996, 157)

In diesem Aufsatz denkt Cassirer im Zusammenhang mit der „Unterwerfung“ des Geistes unter den „Primat der Technik“ auch über eine andere Form des Sehens nach, der Wahrnehmung der Folgen technischer Entwicklungen, die nicht allein an den geschaffenen Dingen und Prozessen abzulesen sind. Er fordert dazu auf: „selbst dort, wo er (der Geist, Anm.THM) sich einer fremden Macht überantwortet und seinen Fortgang durch sie bestimmt sieht, muß er zum mindesten in den Kern und Sinn dieser Bestimmung selbst einzudringen suchen“ (ebd.). Dies ist die Aufforderung zur technischen Mündigkeit und damit auch eine didaktische Forderung. Cassirer verbindet damit eine Hoffnung:

„Aus der Klarheit und Bestimmtheit des Sehens geht eine neue Kraft des Wirkens hervor: eine Kraft, mit der sich der Geist gegen jede äußere Bestimmung gegen jede bloße Fatalität der Sachen und Sachwirkungen zur Wehr setzt“ (a.a.O., 158).

Die Hoffnung, dass aus einer bewussten Wahrnehmung über das Verstehen ein Impuls zum Handeln und aktiven Gestalten erwächst.

Als Zwischenergebnis halten wir fest, dass Ding- und Ausdruckswahrnehmung für Technik untrennbar sind und nur gemeinsam als Voraussetzung für ein umfassendes Verstehen der Technik angesehen werden können. Die Dingwahrnehmung entspricht der wissenschaftlichen Sicht auf die Dinge, die Ausdruckswahrnehmung erfasst sowohl die kulturellen als auch die individuellen Bedeutungszuschreibungen eines Artefakts. Auch das Sehen und Verstehen der Folgen von Technik setzen bewusste Wahrnehmung voraus.

4.1.1.4 Ästhetik und Dialektik der Technik

Doch woran liegt es, dass sich Technik dieser bewussten Wahrnehmung entzieht, oder wie es Bruno Latour in „Existenzweisen“ sagt, „liebt sich zu verbergen“:

„Die Technik dagegen sucht sich vergessen zu machen. Von ihr, und nicht von der Natur, muß es heißen, daß sie es »liebt sich zu verbergen«“ (Latour 2018, 310).

Zur Begründung hilft ein Perspektivwechsel, indem wir fragen, wann Technik bewusst wahrgenommen wird und in Erscheinung tritt. Dieses ist, wie es bei Heidegger bereits angedeutet wird, immer dann der Fall, wenn Technik überraschend den Zweck, den sie erfüllen soll, nicht erfüllt. Ist es nur die Nichterfüllung des Zwecks oder wie kann Technik auch zu Störungen kommen, wie es sich Luhmann in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ fragt.

„Eine möglichst störungsfrei geplante und eingerichtete Technik hat genau darin ihr Problem, wie sie wieder zu Störungen kommt, die auf Probleme aufmerksam machen, die für den Kontext des Funktionierens wichtig sind“ (Luhmann 2018, 526).

Versuchen wir an einem Beispiel für Störungen zu Verallgemeinerungen zu kommen.

Das Verkehrsmittel Auto soll den schnellen Transport von A nach B gewährleisten, es springt aber entweder aufgrund einer defekten Batterie oder aus Treibstoffmangel nicht an, oder Staus durch hohes Verkehrsaufkommen oder Baustellen sorgen für Verzögerungen. Der Grund für fehlenden Treibstoff könnte ein Mangel an Tanklastzugfahrern zur Belieferung der Tankstellen sein. Ein funktionsfähiges Auto mit vollem Tank und freie Straßen hätten dazu geführt, dass die Fahrt von A nach B routinemäßig, ohne ins Bewusstsein zu dringen, abgelaufen wäre. Abstrahieren wir von dem konkreten Beispiel, so lassen sich hier drei Gründe für die Anästhetik finden.

Erstens sind technische Systeme im Idealfall so konstruiert, dass durch Steuerketten und Regelkreise, sowie durch das Beachten von Naturgesetzen automatische und reproduzierbare Abläufe entstehen, die die Benutzer von Denkarbeit entlasten. Mutschler spricht in seinem Buch „Die Gottmaschine“ davon, dass die „eine Vernunft in nichtüberlappenden »Rationalitätsinseln«“ ((Mutschler 1998, 14), Hervorh. THM) zersplittert und sich dadurch eine „Binnenwelt“ eröffnet, die durch eine eigene „Plausibilitätsstruktur“ (a.a.O., 15) gekennzeichnet ist. Solange die in die „Rationalitätsinseln“ eingebaute Rationalität funktioniert, entzieht sich das Funktionieren der bewussten Wahrnehmung. Die Technik ist also anästhetisch im Sinne obiger Definition.

Zweitens sorgt die organisatorische Hülle der Technik dafür, dass Technik anästhetisch bleibt, solange alle damit verbundenen Organisationsformen ineinandergreifen und ihrerseits funktionieren. „Organisatorische Hülle“ wird von Klaus Kornwachs in seiner „Philosophie der Technik“ definiert:

„Die organisatorische Hülle einer Technik umfasst alle Organisationsformen, die notwendig sind, um die Funktionalität eines technischen Artefakts überhaupt ins Werk setzen zu können“ (Kornwachs 2013, 23).

Jüngst hat die Coronakrise sichtbar gemacht, wie verletzlich die organisatorische Hülle „Logistiksystem“ ist und welche Auswirkungen die Unterbrechung von Lieferketten auf viele Technikbereiche hat.

Drittens belegt Wandschneider in seiner „Technikphilosophie“ an zahlreichen Beispielen die Dialektik der Technik. Wandschneider bezeichnet mit dialektischen Phänomenen der Technik „solche, bei denen die positive Zielsetzung ebenso ungewollt wie unvermeidlich in Negativität umschlägt“ (Wandschneider 2004, 71). Die Phänomene der Technik, bei denen sich die Dialektik offenbart, sind in komprimierter Form in Tabelle 4.1 zusammengefasst.

Das Umschlagen der positiven Zielsetzung in unvermeidbare und ungewollte Negativität führt über die negativen Emotionen, die durch die Negativität erzeugt werden, gleichzeitig zur Wahrnehmung der dialektischen Phänomene, zur Ästhetik.

Diese Form der Ästhetik der Technik ist der tiefere Grund für die ständige Weiterentwicklung der Technik, der Motor der Technik. Erst die bewussten Wahrnehmungen, die durch die negativen Gefühle ausgelösten werden, führen dazu, dass eine Situation als problematisch angesehen wird, weil ein oder mehrere menschliche Bedürfnisse nicht optimal befriedigt werden. Das ist auch der Grundgedanke von Antonio Damasios Buch „Im Anfang war das Gefühl“:

„Kulturelle Tätigkeit hat ihren Ausgangspunkt im Affekt und bleibt tief in ihm verwurzelt. Wenn wir die Konflikte und Widersprüche in der Natur des Menschen begreifen wollen, müssen wir das vorteilhafte und nachteilige Wechselspiel zwischen Gefühlen und Vernunft verstehen lernen“ (Damasio 2017, 13)

Ein weiterer Baustein für den Gedanken der ganzheitlichen Bildung von Kopf, Herz und Hand, der später bei der fachdidaktischen „Filterung“ aufgegriffen wird.

An dieser Stelle könnte der Eindruck entstehen, dass Wahrnehmung von Technik, also Ästhetik, ausschließlich ex negativo erfolgt, wenn Technik nicht funktioniert oder scheitert. Erinnern wir uns an die Wertetrias (vgl. Abschn. 2.2.4.2), so fragen wir uns jetzt, welche Rolle „das Schöne“ in der Technik spielt.

„Ästhetisches Empfinden kann versöhnend wirken, wenn etwas wundersam gefügt und in Harmonie gebracht ist. Greift alles ineinander und passt, stellt sich die kallistische (von Kallistik: Lehre der Schönheit, Anm. THM.) Bedeutungsperspektive ein, bei der man von einer Vollendungsform des Sinnlichen in der freiheitlichen Fügung zu einem Ganzen sprechen kann. Dazu sagt man schlicht: Schönheit“ (Wiesmüller 2008, 8).

Tabelle 4.1 Dialektik der Technik (nach Wandschneider 2004, S. 72–114) (Beispiele, THM)

Welsch sieht bei dieser kallistischen Bedeutungsperspektive einen „Generaltrend Ästhetisierung“ (Welsch 1996, 20), der sich aus drei Trendlinien zusammensetzt, die sich jeweils in der Technik wiederfinden.

Die „Oberflächenästhetisierung“ (a.a.O., 10) wird wahrnehmbar in einer „Verhübschung“ der Wirklichkeit (ebd.), in einem „Hedonismus als neue Matrix der Kultur“ (a.a.O., 12), bei dem als „der vordergründigste ästhetische Wert, die Lust, das Amüsement, der Genuß ohne Folgen (dominiert)“ (ebd.) und durch „Ästhetisierung als ökonomische Strategie“ (a.a.O., 13), bei der es um Verkaufsförderung von Produkten durch „ästhetische Nobilitierung“ (ebd.) geht. Der Trend zur Oberflächenästhetisierung macht sich in der Technik durch „Design“ als eigenständigem Wissenschaftszweig mit zunehmender Bedeutung bemerkbar.

Die „Tiefenästhetisierung“ (a.a.O., 14) kommt nach Welsch vor allem durch veränderte Entwurfsprozesse (z. B. 3D CAD) und veränderte Produktionsprozesse (3D CNC, 3D Druck usw.) zustande. Tiefenästhetisierung kommt vor allem aber auch durch die „Wirklichkeitskonstitution durch die Medien“ (a.a.O., 16) zustande. Hier sieht nicht nur Welsch die Gefahr, dass „Wirklichkeit medial zu einem Angebot (wird), das bis in seine Substanz hinein virtuell, manipulierbar, ästhetisch modellierbar ist“ (Welsch 1996, 16).

Auf die Rolle der Technik als Medium werden wir beim Verstehen der Technik noch näher eingehen.

Auch bei der dritten Trendlinie dem „Styling von Subjekten und Lebensformen“ (a.a.O., 17) spielt die Technik eine unübersehbare Rolle bei der medizintechnischen „Optimierung“ von Körpern, in der Fitnessbranche und vor allem in der medialen Selbstdarstellung (Instagram, TikTok usw.).

Zu dem Aspekt der Schönheit gesellt sich der Aspekt der Erhabenheit, von der Kant schreibt, dass „das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung“ (Kant 2015, 1029) weckt. Diesen Gedanken greift Pelluchon in ihrer „Ethik der Wertschätzung“ auf, indem sie zunächst die aisthesis nicht nur auf die Natur bezieht, sondern auch auf die Kultur ausdehnt.

„Durch die aisthesis- ein Wort, das sowohl die Sinneseindrücke als auch die Ästhetik bezeichnet- spüren die Menschen ihre Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt, die aus natürlichen und kulturellen Dingen besteht und sich auch auf Traditionen und auf eine Geschichte bezieht“ (Pelluchon 2019, 258).

Ein Mensch kann dem Gefühl des Erhabenen auch in der Kultur, und damit in der Technik begegnen und dadurch die Zugehörigkeit zu der Welt spüren. Das Erhabene der Technik ermöglicht uns, über unser Empfinden auf das aufmerksam zu werden, was unserem Bewusstsein sonst entgehen würde. Diese Aufmerksamkeit wird nicht durch alle Artefakte angeregt, sondern die Bewusstseinsschwelle wird nur dann überschritten, wenn

„das Werk die Kraft hat, uns in die Sinnenwelt zu versetzen, in das Mit-den-Dingen-und-mit-den-andren-Sein, wenn es uns in die Transzendenz stößt und uns überdies die Fähigkeit verleiht, mit anderen über diese Erfahrungen zu sprechen“ (Pelluchon 2019, 259 f).

Wenn der aufmerksam gewordene Mensch aufgrund der aisthesis von Schönheit und Erhabenheit ein ästhetisches Urteil fällt, dann geschieht dies immer in einem gesellschaftlich-historischen Kontext,

„aber die subjektive Universalität des Schönen und die Möglichkeit, den an die ästhetische Emotion gebundenen Gemütszustand mit seinesgleichen zu teilen, verstärken seine Bindung an die anderen Menschen und an eine Welt, die Werke überliefert hat, die die Liebe zur Schönheit nähren. Die Liebe zur Schönheit ist der Ausdruck der Liebe zur Welt und zu dem, wovon sie lebt. Aus all diese Gründen kann die Ästhetik ein privilegierter Weg der Wertschätzung sein“ (Pelluchon 2019, 258 f).

Mit der Ästhetik der Technik als Weg der Wertschätzung ist zugleich die Brücke zwischen dem Schönen und Guten, zwischen Ästhetik und Ethik gebaut.

Wertschätzung verhindert auch die von Adorno gesehene Gefahr, dass das Gefühl der Erhabenheit in Überheblichkeit des Menschen über die Natur umschlägt.

„Erhaben sollte die Größe des Menschen als eines Geistigen und Naturbezwingenden sein. Enthüllt sich jedoch die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewusstsein des Menschen von seiner Naturhaftigkeit, so verändert sich die Zusammensetzung der Kategorie ‚erhaben‘“ (Adorno 2017, 295).

Wir werden später sehen, wie es gelingen kann, beide Momente, die Ästhetik und die Anästhetik der Technik zusammen mit der Ethik der Wertschätzung als pädagogische Perspektive der Technik zu etablieren.

4.1.2 Technikerleben und Selbsterleben als doppelte Bedingtheit

„Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Karl Marx)

Die personale Seite der Wahrnehmung von Technik zeichnet sich durch eine doppelte Bedingtheit im Sinne der kategorialen Erschließung Klafkis aus. Technik wird einerseits in verschiedenen Kategorien erlebt und andererseits findet durch das Erleben der Technik ein Selbst-Erleben eine Erschließung von personalen Kategorien statt. Welche Kategorien das sind und wie dieses Erleben stattfinden kann, soll im nächsten Kapitel geklärt werden.

4.1.2.1 Ernst Kapp und Technik als Fortschritt im Selbstbewusstsein

Hierzu befragen wir zunächst eine der ersten technikphilosophischen Abhandlungen. „Ernst Kapp, ein Gymnasiallehrer, der aufgrund seiner liberalen Ideen 1849 vorübergehend von Deutschland nach Texas emigrierte und sich dort elementaren technischen Artefakten, wie z. B. Äxten, zu seiner Lebensbewältigung gegenübersah, verfasste die „Grundlinien einer Philosophie der Technik“. Ein zentraler Begriff dieses Werkes, die „Organprojektion“, taucht bei Gehlen stark verkürzt und missverstanden als „Organmängel“ (Gehlen 2007, 6) auf, aus denen die Notwendigkeit der Technik hergeleitet wird. Kapp meint mit „Projektion“ jedoch viel mehr: „In allen diesen Fällen ist Projizieren mehr oder weniger das Vor- oder Hervorwerfen, Hervorstellen, Hinausversetzen und Verlegen eines Innerlichen in das Äußere“ (Kapp 2015, 41). Der Untertitel des Buches, „Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten“, verdeutlicht, dass es Kapp um einen neuen Aspekt der Technikreflexion geht:

„Denn der unbewusst dem organischen Vorbild nachgeformte Mechanismus dient seinerseits wieder nach rückwärts als Vorbild zur Erklärung und zum Verständnis des Organismus, dem es seinen Ursprung verdankt. Nur auf diesem Umwege der selbsttätigen Erschaffung ihrer Kulturmittel feiert die Menschheit ihre Selbsterlösung aus dem gemeinen Empfindungsbewusstsein zum höheren Denk- und Selbstbewusstsein“ (ebd., S. 37).“ (Möllers 2019a, 55 f)

Damit begründet Kapp eine neue Sichtweise auf Technik.

„Am Anfang steht nicht die Kultur des Menschen, durch die er sich von anderen Lebewesen unterscheidet, sondern seine technische Fähigkeit, die ihm sein Überleben gesichert hat“ (Scholz 2020, 115).

Diese Sichtweise führt uns einerseits zu einem neuen Verständnis der Technik, andererseits ergibt sich aus den Ausführungen Kapps auch ein Hinweis auf die Selbsterkenntnis, die durch Technik möglich wird.

„Denn nicht auf eine Geschichte der Werkzeuge haben wir uns einzulassen, sondern die Aufgabe ist, die Bedeutung ihrer Formierung für den Fortschritt im Selbstbewusstsein hervorzuheben“ (Kapp 2015, 61).

Hier wird die Geschichte der Werkzeuge mit der Weiterentwicklung der Selbsterkenntnisse des Menschen und dem daraus resultierenden Fortschritt im Selbstbewusstsein gebracht. Eine erneute Parallelität von Menschheitsentwicklung und Technikentwicklung und in Wechselwirkung damit eine voranschreitende geistige Entwicklung.

Es stellen sich nun zwei Folgefragen:

  1. 1.

    Wie kommt das Selbstbewusstsein zustande?

  2. 2.

    Was wird uns bewusst?

4.1.2.2 Die Kulturhistorische Theorie und die Tätigkeit als psychische Widerspiegelung

Erste Hinweise auf das Zustandekommen des Selbstbewusstseins, auf die Wechselwirkung zwischen geistiger Entwicklung und Werkzeuggebrauch sind uns bereits in der kulturhistorischen Theorie nach Leontjew und Vygotskij begegnet (vgl. Abschn. 2.2.3.2). Sie gilt es nun auf Technik zu beziehen.

Zentrale Begriffe der kulturhistorischen Theorie sind die psychische Widerspiegelung und die Tätigkeit.

„Die Tätigkeit ist eine ganzheitliche, nicht aber eine additive Lebenseinheit des körperlichen, materiellen Subjekts. Im engeren Sinne, das heißt auf psychologischer Ebene, ist sie eine durch psychische Widerspiegelung vermittelte Lebenseinheit, deren reale Funktion darin besteht, das Subjekt in der gegenständlichen Welt zu orientieren“ (Leontʹev 1987, 83).

Die gegenständliche Welt besteht zu einem großen Teil aus Gegenständen, die durch Technik geschaffen wurden. Der Mensch passt sich nicht einfach an die äußeren Bedingungen an, sondern die Motive seiner Tätigkeit und die Mittel und Zwecke seiner Tätigkeit finden sich in den gesellschaftlichen Bedingungen:

„Dabei wird die Hauptsache außer acht gelassen, daß nämlich der Mensch in der Gesellschaft nicht einfach äußere Bedingungen findet, denen er seine Tätigkeit anpassen muß, sondern daß diese gesellschaftlichen Bedingungen selbst die Motive und Zwecke seiner Tätigkeit, deren Mittel und Verfahren in sich tragen; mit einem Wort, daß die Gesellschaft die Tätigkeit der sie bildenden Individuen produziert. […] Das grundlegende, […] das konstituierende Merkmal der Tätigkeit ist ihre Gegenständlichkeit“ (Leontʹev 1987, 85).

Hier begegnet uns erneut die „Ringstruktur der Tätigkeit“ (a.a.O., 87), bei der die gesellschaftlichen Bedingungen die Motive für die Tätigkeit darstellen („Ausgangsafferenz“ (ebd.)), die Tätigkeit die gesellschaftlichen Bedingungen ändert („effektorische Prozesse“ (ebd.)) und sich dadurch das auslösende Bild und Motiv ändert („Korrektur und Bereicherung des ursprünglichen Afferenzabbildes“ (ebd.)). Maturana und Varela kommen durch rein biologische Betrachtungen zu den Wurzeln menschlichen Erkennens zu vergleichbaren Ergebnissen. Sie bezeichnen die „Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen“ zwischen Subjekt und Umwelt als „strukturelle Kopplung“ (Maturana 2009, 85 f) und das Zustandekommen von Sprache als Kommunikationsmittel als „kulturelles Driften in einem sozialen Bereich“ (a.a.O., 226).

Das Erleben von Technik, und das war unser Ausgangspunkt, die „psychische Widerspiegelung der gegenständlichen Welt“ wird „durch diejenigen Prozesse, in denen das Subjekt praktische Kontakte mit der gegenständlichen Welt aufnimmt“ (Leontʹev 1987, 87) hervorgerufen.

Dieser Prozess der Veränderung der psychischen Widerspiegelung durch praktische Tätigkeit wird auch als Interiorisation oder InternalisierungFootnote 7 bezeichnet.

„Als Interiorisation bezeichnet man bekanntlich den Übergang, durch den die ihrer Form nach äußeren Prozesse, die sich mit äußeren, stofflichen Gegenständen vollziehen, in Prozesse verwandelt werden, die auf der geistigen Ebene, auf der Ebene des Bewußtseins verlaufen“ (Leontʹev 1987, 95).

Auch hier ist wieder die Parallelität von Phylo- und Ontogenese festzustellen. Die praktische Tätigkeit geht der inneren geistigen Handlung sowohl in der Menschheitsentwicklung als auch bei Entwicklung des Einzelnen voran. Die Interiorisation verändert nicht nur die psychische Widerspiegelung der Welt, sondern führt auch zu Bewusstsein,

„die Reflexion von Wirklichkeit, der eigenen Tätigkeit, seiner selbst, durch das Subjekt. […] Bewußtsein ist Mit-Wissen, aber nur in dem Sinne, daß das individuelle Bewußtsein nur bei Vorhandensein von gesellschaftlichem Bewußtsein und von Sprache existieren kann“ (Leontʹev 1987, 97).

Die Wechselwirkung und doppelte Bedingtheit von Bildung und Enkulturation und die besondere Rolle der gegenständlichen Tätigkeit bei der Herausbildung eines kulturellen Bewusstseins beschreibt Leontjew wie folgt:

„Das Werkzeug vermittelt eine Tätigkeit, die den Menschen nicht nur mit der Welt der Dinge, sondern auch mit anderen Menschen verbindet. Dadurch nimmt seine Tätigkeit die Erfahrung der Menschheit in sich auf“ (Leontʹev 1987, 97).

Dieses Zitat gibt auch eine erste Antwort auf die Frage, was uns bewusst wird. Durch die Tätigkeit und die Dinge nehmen wir die „Erfahrung der Menschheit“ die historische Entwicklung in uns auf.

4.1.2.3 Freiheit als einzige Mission der Technik?

„Die ursprüngliche Mission der Technik ist es, dem Menschen die Freiheit zu geben, er selbst sein zu können“ (Ortega y Gasset 1949, 59).

Abschließend sei noch die Frage beantwortet, welche personalen Kategorien unserer Innenwelt durch Technik erlebbar werden. Der häufig zitierte Satz von Ortega y Gasset benennt eine wichtige personale Kategorie, die durch Technik erlebbar wird, die Freiheit. Denkt man an die vielen Erleichterungen, die mit Technik verbunden sind, angefangen vom häuslichen Umfeld mit elektrischer Beleuchtung, Zentralheizung über die Wasch- und Kaffeemaschine, über das Nahfeld mit Straßen, Wegen, Verkehrsmitteln hin zum Fernfeld mit Energie- und Telekommunikationsnetzen, Industriebetrieben mit vollautomatischen Fertigungsstraßen, dann ist dieser Freiheitsbegriff intuitiv nachvollziehbar. Doch was steckt auf der personalen Ebene dahinter und ist diese Freiheit uneingeschränkt?

Erinnern wir uns an die SDT-Theorie bei den psychologischen Betrachtungen zum Menschenbild, so ist das Bedürfnis der Autonomie, das bei Deci und Ryan als das Bedürfnis, eigene Erfahrungen und Handlungen selbst zu regulieren und eine Form des Tätigseins, das begleitet wird von Gefühlen der Willensstärke, Kongruenz und des Ausgeglichenseins (vgl. S. 108) beschrieben wird, eng gekoppelt mit dem Freiheitsbegriff. Doch die Dialektik der Technik (vgl. S. 219) und die damit verbundene Negativität technischer Entwicklungen schränken diese Freiheit immer wieder ein (z. B.: Freiheit der Automobilität vs. Stau durch erhöhtes Verkehrsaufkommen). Dahinter liegt ein Wesenszug der Technik, der von Elisabeth Gräb-Schmidt sehr gut beschrieben wurde:

„Die Technik ist zwar das Realisationsprinzip unserer Freiheit, dies ist sie aber immer auf dem Grund nicht selbst gesetzter Möglichkeiten. Genau das ist ihre Grenze, und nur unter Wahrung dieser Grenze bleibt technische Freiheit frei. Und es ist diese Erkenntnis der Grenze der Freiheit in ihrer Unverfügbarkeit, die in und mit der Technik deren Transzendenzbezüge sichtbar machen, die sie an die Gestaltung der menschlichen Person bindet. Es sind diese Aspekte der Grenzen, die für die Steuerung der Freiheit auch der Technik verantwortlich sind, die in die Ethik hinüberweisen“ (Gräb-Schmidt 2012, 50).

Wir werden sowohl beim Verstehen von Technik als auch beim verantwortlichen Handeln und Gestalten auf diese Grenzen der Technik näher eingehen. Für das Erleben bleibt festzuhalten, dass es darauf ankommt, die Dialektik von Freiheit und Unverfügbarkeit wahrzunehmen und zu erleben.

Gehen wir der Kapitelüberschrift weiter nach, so fragt sich, ob Freiheit die einzige Mission der Technik ist. Auch hier liefert uns die SDT-Theorie mit den psychologischen Grundbedürfnissen den roten Faden. Neben der Autonomie sind die Kompetenz und die soziale Eingebundenheit die beiden weiteren Grundbedürfnisse. Lassen sich diese auch durch Technik erleben?

In der Selbstbestimmungstheorie bezieht sich Kompetenz auf das Grundbedürfnis, Wirkung und Meisterschaft (Herrschaft, Beherrschung) zu erfahren. Menschen müssen erfahren, dass sie in ihren bedeutenden Lebenssituationen in der Lage sind, effektiv (wirksam) zu handeln. Das Bedürfnis nach Kompetenz wird offenbar als eingewurzeltes heftiges Anstrengen, manifestiert sich in Neugier, geschickten Handgriffen und einem weiten Umfang von Erkenntnismotiven.

Angefangen beim Kleinkind, das den Zusammenhang zwischen der Betätigung des Lichtschalters und dem Leuchten der Lampe wahrnimmt, über das Kind, das bei der Weihnachtsbäckerei mit einem Drehwolf einen Spritzgebäckstrang erzeugt bis hin zu dem Heimwerker, der Einzelteile anhand einer Anleitung zu einem Schrank zusammenbaut, allen gemeinsam ist das Gefühl der Selbstwirksamkeit, der Werkstolz.

„Ernst Cassirer geht in seinem Aufsatz „Form und Technik“ noch näher auf den Akt der Reflexion und der daraus resultierenden Selbsterkenntnis, der für Technik charakteristisch ist, ein.

„Denn jede solche Auseinandersetzung fordert nicht nur Nähe, sondern Entfernung; nicht nur Bemächtigung, sondern auch Verzicht, nicht nur die Kraft des Erfassens, sondern auch die Kraft der Distanzierung. Eben dieser Doppelprozeß ist es, der sich im technischen Verhalten offenbart, und der es vom magischen Verhalten spezifisch unterscheidet“ (Cassirer 1996, 179).

Technisches Handeln ist demnach ein Doppelprozess, bei dem durch das reflektierende Beobachten eine Distanzierung erfolgt, eine Distanzierung von sich selbst und dem eigenen Tun und in Wechselwirkung damit eine Distanzierung vom Objekt des Tuns. Der mit der Distanzierung einhergehende Bedürfnisaufschub sei am Beispiel der Herstellung eines Speeres mit einer Steinspitze dargestellt, der dazu dient, aus sicherer Entfernung ein wildes Tier zur Nahrungsbeschaffung zu erlegen.

Die Rolle der Technik bei diesem Bedürfnisaufschub beschreibt Cassirer wie folgt (Abb. 4.3):

Abbildung 4.3
figure 3

„Ab-Sicht“. (Zeichnung: Ute Dahm CC BY-SA 4.0)

„Im Werkzeug und seinem Gebrauch hingegen wird gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm „abzusehen“- und eben dieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung. […] Die „Ab-Sicht“ begründet die „Voraus-Sicht“; begründet die Möglichkeit, statt auf einen unmittelbar gegebenen Sinnenreiz hin zu handeln, die Zielbestimmung auf ein räumlich Abwesendes und zeitlich Entferntes zu richten“ (Cassirer 1996, 182).

Hier begegnet uns erneut die Parallelität von Onto- und Phylogenese. Zur Zielerreichung unmittelbare Bedürfnisse hinausschieben zu können ist ein Beitrag der Technik sowohl in der Menschheitsentwicklung als auch in der Entwicklung eines einzelnen Menschen und damit bedeutsam für Bildung und Erziehung (vgl. Kap. 5).

Abbildung 4.4
figure 4

„Voraussicht“ und „inneres Wachstum“. (Zeichnungen: Ute Dahm CC BY-SA 4.0)

Cassirer geht noch weiter, wenn er sagt (Abb. 4.4):

„Der Geist mißt stets von Neuem die Gegenstände an sich und sich selbst an den Gegenständen, um in diesem zweifachen Akt die echte adaequatio die eigentliche »Angemessenheit« beider zu finden und sicherzustellen. Je weiter diese Bewegung greift und je mehr ihre Kraft anwächst, um so mehr fühlt und weiß er sich der Wirklichkeit »gewachsen«. Dieses innere Wachstum erfolgt nicht einfach unter der ständigen Leitung, unter der Vorschrift und Vormundschaft des Wirklichen; sondern es verlangt, daß wir ständig vom »Wirklichen« in ein Reich des »Möglichen« zurückgehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen erblicken. Die Gewinnung dieses Blick- und Richtpunkts bedeutet, in rein theoretischer Hinsicht, vielleicht die größte und denkwürdigste Leistung der Technik“ (Cassirer 1996, 204).

In diesem Zitat findet sich einerseits der Gedanke Schmayls wieder, dass „Technik objektivierter menschlicher Geist ist“ (Schmayl 2010, 71), andererseits die Erkenntnis, dass inneres Wachstum durch die Reflexion der Wechselwirkung von Ideenwelt und real Gewordenem erfolgen kann. Die Reflexion über die selbst geschaffenen Gegenstände ermöglicht eine direkte Selbstwirksamkeitserfahrung, die als ein wesentliches Merkmal der Technik gesehen werden muss“ (verändert nach: (Möllers 2019a)).

Schließlich blicken wir auf das Grundbedürfnis der sozialen Eingebundenheit, das nach Deci und Ryan das Gefühl betrifft, sozial verbunden zu sein. Menschen erfahren soziale Eingebundenheit am typischsten, wenn sich andere um sie kümmern. Aber soziale Eingebundenheit ist auch das Dazugehören und das Bedeutsam Sein unter anderen. Die ersten Bilder im Kopf im Zusammenhang mit Technik sind die zahlreichen Kommunikationsmöglichkeiten, angefangen beim beschriebenen Papyrus, über das gedruckte Buch, das Radio, das Telefon bis hin zur Videokonferenz. Beispiele für mono- und bidirektionale Kommunikation. Aber auch das neue Auto oder das neue Smartphone als Statussymbole tragen über das Gefühl der Bedeutsamkeit zu dem Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit bei. Wenden wir uns den erstgenannten Beispielen zu, so begegnet uns dort Technik als Medium der Kommunikation.

„Medien vermitteln nicht nur Kommunikation, sondern sichern auch deren Realitätsbezug. Technik nimmt auch diesen Doppelcharakter an: sie ist Medium der Kommunikation (aber auch von Vorstellungen des Bewußtseins), aber über ihre physische Gestalt befindet sie sich in der Umwelt sozialer (und psychischer) Systeme. Soziale Systeme sind in ihrem Fortbestand ebenso von der Umwelt der physischen Objekte (inklusive Technik) wie auch der psychischen Systeme abhängig: Kommunikationen kommen ohne (technische) Medien nicht zustande und setzen sich ohne Annahme- und Ablehnungsselektionen der Trias Information, Mitteilung und Verstehen durch Bewußtseinssysteme nicht fort“ (Halfmann 1996, 118).

Der Soziologe Jost Halfmann deckt damit ein weiteres kulturelles Basisschema für das Fortbestehen der Gesellschaft auf, die Kommunikation und klärt die Doppelfunktion der Technik als physisches Medium und Medium der Kommunikation. Wir werden im Zusammenhang mit dem Verstehen der Technik noch ausführlicher auf den Aspekt der Kommunikation eingehen, wenden uns jetzt aber noch dem Mediencharakter der Technik bei der Wahrnehmung und dem Erleben zu.

„Von Technik als (physisches, Anm. THM) Medium der Wahrnehmung läßt sich in dem Sinne sprechen, daß Veränderungen der „Zugänge“ des Wahrnehmungssystems zur Welt Zustandsänderungen im Nervensystem auslösen, die sich der historischen Beobachtung als Wandel in der Weltsicht darstellen. So haben technische Instrumente wie das Fernrohr, die Lupe, der Fotoapparat, das Fernsehen und der Film das, was sich im Bewußtsein als Sehen darstellt, enorm verändert“ (Halfmann 1996, 124).

Die durch Technik medial vermittelte Weltsicht ändert sich in doppelter Hinsicht. Denkt man beispielsweise an Virtual-Reality-Brillen (VR), dann wird dort das Verschwimmen von Virtualität und Realität sehr deutlich. In abgeschwächter Form tritt dieses Verschwimmen auch schon beim Fernsehen und am Computer auf. Der bedeutende Unterschied zwischen Realität und Virtualität besteht in der Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung. Virtualität kommt der Realität visuell und akustisch bereits sehr nah. Zur Ganzheitlichkeit der Realität fehlen aber vor allem taktile, olfaktorische und propriozeptive Reize.

Dieses ganzheitliche Wahrnehmen und Erleben sind aber für das Verhältnis von Natur und Technik und dessen Verständnis grundlegend, dem wir uns im nächsten Kapitel zuwenden.

Nehmen wir abschließend Bezug zu Marx‘ Eingangszitat dieses Kapitels zum Erleben, dann müssen wir jetzt feststellen, dass eine durch Technik geprägte, historisch gewachsene Kultur unser Erleben beeinflusst und unser Erleben das historische Wachstum der Kultur beeinflusst. Wir müssen das Eingangszitat ergänzen: Nicht nur das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern auch das Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein!

Individuum und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig.

4.2 Technik verstehen und sich darüber verständigen

„Um das Ganze verstehen zu können, muß man die Teile verstehen. Um die Teile zu verstehen, muß man das Ganze verstehen. Das ist der Zirkel des Verstehens“ (Wilber 2002, 27).

Wilbers Zitat beschreibt in Kurzform den hermeneutischen Zirkel. Auf Technik bezogen stellt sich die Frage, ob es spezifisch technische Verstehensprobleme gibt, vielleicht sogar eine „technische Hermeneutik“.

„Technik verstehen und sich darüber verständigen“ enthält mehrere Perspektiven.

Technik verstehen setzt die Wahrnehmung von Technik voraus (siehe Abschn. 4.1).

In einem nächsten Schritt geht es darum, die Wahrnehmung auch wahr zu nehmen, das Wahr-genommene mit Bedeutungen zu versehen. Wilber unterscheidet „vier Antlitze der Wahrheit“ (Wilber 2002, 42), die durch das Interaktionsmodell (vgl. Abschn. 2.4) abgedeckt sind, die uns aber zusätzlich bei der Strukturierung des Verstehens behilflich sein können (siehe Tabelle 4.2)

Tabelle 4.2 Vier Antlitze der Wahrheit (nach Wilber, 2002, 43)

Wir müssen beim Verstehen zwischen einer individuellen Seite und der gesellschaftlich-kollektiven Seite ebenso unterscheiden, wie zwischen der subjektiven und der objektiven. Die objektive Seite des Technikverstehens setzt bei der Dingwahrnehmung ein, die subjektive Seite bei der Ausdruckswahrnehmung (vgl. Abschn. 4.1.1.3). Zum subjektiven Technikverstehen gehört auch das Selbst-Verstehen durch Technik.

Die kollektive Seite des Technikverstehens umschließt sowohl die Ding- als auch die Ausdruckswahrnehmung, wird aber zusätzlich noch durch das Element der Verständigung über die objektive und kulturelle Bedeutung der Technik gekennzeichnet.

Alle Verstehensmodi bedürfen einer technischen Hermeneutik, einer Verstehensvorschrift, oder technisch gesprochen einer Decodierung. Die Verständigung über Technik bedarf einer spezifischen Codierung. Es stellen sich nun folgende Fragen:

Welches sind die Verstehensmodi der Technik? Gibt es spezielle Codes der Technik? Wie lassen sich diese entschlüsseln? Welchen Beitrag leistet die Technik zum Selbst-Verstehen? Wie lässt sich technisches Verstehen kommunizieren (codieren) und damit Verständigung erzielen? Ist Technik ein Medium?

4.2.1 Die Verstehensmodi der Technik

4.2.1.1 Ästhetik als Verstehensmodus

„Die Welt ist das einzige Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten. Von vorneherein lebt der Phänomenologe in der Paradoxie, das Selbstverständliche als fraglich, als rätselhaft ansehen zu müssen und hinfort kein anderes wissenschaftliches Thema haben zu können als dieses: die universale Selbstverständlichkeit des Seins der Welt- für ihn das größte aller Rätsel- in eine Verständlichkeit zu verwandeln“ (Husserl 1962, 183 f).

Was Husserl in seiner „Krisis-Schrift“ als die wichtigste Aufgabe des Phänomenologen beschreibt, das Selbstverständliche verständlich zu machen ist nun auch unsere Aufgabe. Wir hatten im vorangehenden Kapitel festgestellt, dass ein Wesensmerkmal der Technik ihre Anästhetik, ihre Nicht-Wahrnehmbarkeit, ihre Selbstverständlichkeit ist.

Es fragt sich nun, wie es gelingen kann, die Technik ästhetisch und damit verständlich zu machen. Gibt es für Technik eine eigene Hermeneutik, einen Verstehensvorgang, der die Technik der Selbstverständlichkeit entreißt und sie verständlich macht?

Kant begründet mit seiner „Transzendentalen Ästhetik“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ „eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori“ (Kant 2015, 84) und damit die Ästhetik als „epistemologisches Fundamentalprinzip“ ((Welsch 1996, 46), Hervorh. THM).

„Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefern uns Anschauungen, durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken muß sich […] zuletzt auf Anschauungen, mit hin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andre Weise kein Gegenstand gegeben werden kann“ ((Kant 2015, 83), Hervorh. THM).

Ziel seiner transzendentalen Ästhetik ist es

„zuerst die Sinnlichkeit zu isolieren, […] damit nichts als empirische Anschauung übrig bleibe“, um zu finden, dass „es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Raum und Zeit“ (a.a.O., 85).

Die Relativitätstheorie Einsteins lehrt uns inzwischen, dass die Kategorien „Raum“ und „Zeit“ keine „reinen Formen“ mehr sind, sondern miteinander in Beziehung stehen und selbst von Größen, wie Masse und Geschwindigkeit abhängen. Für kleine Massen und kleine Geschwindigkeit fernab der Lichtgeschwindigkeit können wir weiterhin von den klassischen Raum- und Zeitvorstellungen ausgehen und können Raumkrümmung und Zeitdilatation außer Acht lassen (vgl. (Möllers 1989, 5 ff)).

Wir halten zunächst fest, dass ein erster wesentlicher Verstehensschritt von Technik in der „reinen“ sinnlichen Wahrnehmung von Technik geschieht, also im Beobachten, im reinen Nutzen oder im nachvollziehenden Herstellen. Anschauung und Sinnlichkeit sind im ersten Schritt die kategorialen Schlüsselbegriffe. Das spezifisch Technische der Sinnlichkeit liegt in der Enaktivität, im handelnden Erleben.

Im zweiten Schritt wird aus der „reinen“ Wahrnehmung eine Interiorisation, eine Verinnerlichung und damit zugleich die Konstruktion einer eigenen „Wahrheit“.

Nietzsche führt auf der Suche nach dieser Wahrheit die Kantischen Ideen fort und zeigt,

„daß unsere Wirklichkeitsentwürfe nicht nur grundlegend ästhetische Elemente beinhalten, sondern im Ganzen von ästhetischer Art sind. Wirklichkeit ist ein Konstrukt, das wir wie Künstler mit fiktionalen Mitteln- durch Anschauungsformen, Projektionen, Phantasmen, Bilder usw.-hervorbringen. Erkennen ist eine grundlegend metaphorische Tätigkeit“ (Welsch 1996, 47).

Diese Folgerungen Welschs beziehen sich auf Nietzsches „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“:

„Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […]“ (Nietzsche 1988, 880 f).

Deshalb könne man auch nicht von einer „richtigen Perception“ als „adäquate(m) Ausdruck eines Objekts im Subjekt“ (a.a.O., 884) sprechen,

„denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung, in eine ganz fremde Sprache“ (Nietzsche 1988, 884).

Das hier von Nietzsche formulierte subjektive Moment der Perzeption würde im Extremfall zu einem radikalen Konstruktivismus führen, einer je individuellen Wirklichkeit. Die Sprache sorgt dafür, dass es eine interindividuelle Angleichung und Verständigung über die wahrgenommene Wirklichkeit gibt, denn, wenn aus der „reinen“ Wahrnehmung in Raum und Zeit ein Erkennen wird, so findet eine erste Übertragung (metha-phorá) in „Orientierungsformen“ statt, die

„ästhetisch in dreifachem Sinne (sind): Sie sind poietisch erzeugt, durch fiktionale Mittel strukturiert und ihrer ganzen Seinsweise nach von jener schwebenden und fragilen Art, die man traditionell nur ästhetischen Phänomenen attestiert und nur bei ihnen für möglich gehalten hat“ (Welsch 1996, 48).

Die wichtigste „Orientierungsform“ ist die Sprache, die versucht, das Wahr-genommene in Begriffe zu fassen, an deren „Bau“ auch die Wissenschaft arbeitet. Nietzsche bezeichnet den Menschen daher auch als

„gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdoms gelingt; freilich um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnenfäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinandergeblasen zu werden“ (Nietzsche 1988, 882).

Der „Thurmbau der Wissenschaft“, das „Columbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauung“ (a.a.O., 886) verhindert aber nicht den

„Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, […]“ (Nietzsche 1988, 887).

Die Äußerungen Nietzsches zusammengenommen sind ein Plädoyer für die Anschauung, den Vorrang der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung und für eine kritische Betrachtung der Wissenschaften, die durch das Weglassen der Ausdruckswahrnehmung lediglich den Eindruck erzeugen, sie ständen auf festem Grund.

Die Differenzierung in Ding- und Ausdruckswahrnehmung führt uns erneut zu Ernst Cassirer, der konkret in Bezug zur Technik zunächst auch die „Sinnfrage von Grund aus“ klären will, bevor die „Seinsfrage und Rechtsfrage“ (Cassirer 1985, 43) gestellt wird. Die Sinnfrage könne aber nicht beantwortet werden, „solange die Betrachtung im Kreis der technischen Werke, im Bezirk des Gewirkten und Geschaffenen verharrt“ (a.a.O., 43). Nur das Vordringen zum „Prinzip des Werdens“ in die Welt der Ideen könne die Sinnfrage klären.

„Die Welt der Technik bleibt stumm, solange man sie lediglich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und befragt- sie beginnt sich erst zu erschließen und ihr Geheimnis preiszugeben, wenn man auch hier von der forma formata zur forma formans, vom Gewordenen zum Prinzip des Werdens zurückgeht“ (Cassirer 1985, 43).

Bei dem Vordringen in „Richtung auf die »Idee«“ zu der „geistige(n) Wesensbestimmung“ (ebd.) der Technik bezieht sich Cassirer auf Friedrich Dessauer. Dessauer bezeichnet das Reich der Technik als „ideal, erfahrungstranszendent, metaphysisch im guten Sinn des Wortes. Das Ursprungsland der Technik liegt in der Idee“ (Dessauer 1933, 146). Er vertritt die Platonische Auffassung der idea, dass die „Wurzel der Dinge in der Idee“ (a.a.O., 147) liegt und diese auch wahrnehmbar ist.

„Die Anlage eines technischen Objektes, ästhetisches Empfinden hervorzubringen, scheint ihre Wurzel in demselben Urgrund zu haben, aus dem der autonome Wert entsteigt. Dieser Urgrund ist die Durchgeistigung der Form in Anschauung des Zweckes. Wenn der Sinn durch alle Formen hindurchrieselt, hindurchleuchtet, wenn der Stoff durchglüht, transparent ist von dem in ihn eingezogenen Geist, wenn dieser Geist Rhythmus der bewegten Glieder, Verteilung der Masse, Farbe, Gestalt ist, sodaß die Vielheit einer letzten Einheit sich fügt, dann enthält das technische Gerät die objektive Wurzel für das ästhetische Erlebnis“ (Dessauer 1933, 142).

Was Dessauer hier sehr poetisch, fast schon schwülstig beschreibt, drückt aus, dass es für das ästhetische Erlebnis eine objektive Wurzel (Idee) gibt, die sich über die Form, Funktion und Zweckerfüllung äußert und zu erkennen gibt und die Ästhetik damit zu einem Verstehensmodus macht. Die Aristotelische Auffassung, dass die „Wurzel der Ideen in den Dingen“ (a.a.O., 147) liegt, entspricht eher der heutigen Auffassungen von der psychischen Widerspiegelung der Welt (vgl. S. 113), stellt aber nur eine andere Richtung der Ästhetik als Verstehensmodus her. Cassirer präzisiert diesen ästhetischen Zugang zur Technik, indem er das »Sein« der Technik dadurch charakterisiert, dass es

„nur in ihrer Funktion hervor(tritt); es besteht nicht in dem, als was sie nach außen hin erscheint und als was sie sich nach außen gibt, sondern in der Art und Richtung der Äußerung selbst: in dem Gestaltungsdrang und Gestaltungsprozeß, von dem diese Äußerung Kunde gibt. So kann das Sein hier nicht anders als im Werden, das Werk nicht anders als in der Energie sichtbar werden“ (Cassirer 1985, 48 f).

Interessant ist Cassirers Vergleich dieser Erkenntnis mit der Humboldt’schen Erkenntnis zur Sprache, dass für Technik und Sprache

„die einzig wahrhafte »Definition«, die sich von ihnen geben läßt, keine andere als eine genetische sein könnte. Sie können und dürfen nicht als ein »totes Erzeugtes«, sondern sie müssen als eine Weise und Grundrichtung des Erzeugens verstanden werden“ (a.a.O., 49).

Wenn nun in der Technik, ebenso wie in der Sprache, eine Grundrichtung des Erzeugens liegt, dann stellt sich die Frage, ob man die Äußerungen der Technik als „Sprache der Technik“ verstehen kann.

4.2.1.2 Die „Sprache der Technik“ als Verstehensmetapher

„Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefaßt werden, und diese Auffassung erschließt nach Art einer wahrhaften Methode überall neue Fragestellungen. Man kann von einer Sprache der Musik und der Plastik reden, von einer Sprache der Justiz, […], von einer Sprache der Technik, die nicht die Fachsprache der Techniker ist. Sprache bedeutet in solchem Zusammenhang das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip in den betreffenden Gegenständen: in der Technik, Kunst, Justiz oder Religion“ (Benjamin, Tiedemann, und Adorno 2015, 30).

Walter Benjamin verwendet die Metapher der „Sprache der TechnikFootnote 8, weil er unter Sprache alle Äußerungen des menschlichen Geisteslebens versteht. Die Metapher kann auch in der Technik „nach Art einer wahrhaften Methode neue Fragestellungen“ (ebd.) erschließen, „indem sie den QuellbereichFootnote 9 »Sprache« mit dem Zielbereich »Technik« verbindet. Der Quellbereich »Sprache« steht für sprechen, zuhören, die Sprache verstehen, sich ausdrücken in Sprache, sich schriftlich sprachlich äußern, aber auch für Fremdsprache, Missverständnis, fehlende Ausdrucksmöglichkeiten. Der Zielbereich »Technik« steht für Technische Artefakte, Prozesse und technisches Handeln, aber auch für Diagramme, technische Zeichnungen, Input und Output technischer Systeme usw.“ (Möllers 2020, 97). Verbindet man Quell- und Zielbereich, so kann uns die Metapher „Sprache der Technik“ Sprachbilder zum Verstehen der Technik liefern. Max Eyth, selbst Ingenieur, Schriftsteller und Zeichner, lieferte 1904 bei einem Vortrag vor dem Verein Deutscher Ingenieure ein solch poetisches Sprachbild:

„Steckt keine Poesie in der Lokomotive, die brausend durch die Nacht zieht und über die zitternde Erde hintobt, als wolle sie Raum und Zeit zermalmen, in dem hastigen, aber wohl geregeltem Zucken und Zerren ihrer gewaltigen Glieder, in dem stieren, nur auf ein Ziel losstürmenden Blick ihrer roten Augen, in dem emsigen, willenlosen Gefolge der Wagen, die kreischend und klappernd, aber mit unfehlbarer Sicherheit dem verkörperten Willen aus Eisen und Stahl Folge leisten?“ (Eyth 1924, 10)

Indem Eyth in seinem Vortrag „Poesie und Technik“ die Technik als „alles, was dem menschlichen Wollen eine körperliche Form gibt“ (a.a.O., 1) und die Poesie, „was uns den geistigen Gehalt der uns umgebenden Körperwelt offenbart“ (a.a.O., 2) zusammenbringt, versucht er, die zuhörenden Ingenieure für die Poesie ihres Berufes, für den geistigen Gehalt ihres Schaffens, zu begeistern. Er schließt seinen Vortrag mit dem Aufruf:

„Wir hatten keine Muße, den Musen nachzulaufen. Das ist recht und gut. Aber nicht gut und recht ist es, wenn auch wir auf den idealen Gehalt unseres Schaffens mit einer gewissen Gleichgültigkeit herabsehen. Das sollten wir nicht tun. Nicht um unserem weltumspannenden Beruf bei Leuten Anerkennung zu verschaffen, deren „allgemeine Bildung“ sie verhindert, zu wissen, wer dem Leben unsrer Zeit seine Form und Gestalt gibt, nicht um das Wissen unseres Berufs an die Stelle zu setzen, welche heute das Wissen, die Gedanken und Gefühle einer toten VergangenheitFootnote 10 einnehmen, sondern um im eigenen Hause das Feuer der Begeisterung zu nähren, das uns in dem nie endenden Kampf für den Fortschritt, für die Zukunft der Menschheit nötig ist“ (Eyth 1924, 22).

Ein flammendes Plädoyer, den idealen Gehalt der Technik, mehr durch poetische Sprachbilder zum Ausdruck zu bringen und damit dem Verstehen von Technik Vorschub zu leisten. Zugleich auch eine Kritik am damals und heute noch vorherrschenden Begriff einer „allgemeinen Bildung“, die von der Bedeutung der Technik für das moderne Leben keine Notiz nimmt.

Lässt sich Benjamins These von der „Sprache der Technik“ weiter stützen?

Eine kulturphilosophische Begründung der Metapher ergibt sich aus den Überlegungen von Cassirer zur „Philosophie der symbolischen Formen“ (3 Bände) (1923–1929), die er später zum „Versuch über den Menschen“ (orig.: An essay on man, 1944) zusammenfasste und überarbeitete, seinen Ausführungen „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ (1942) und dem Aufsatz „Form und Technik“ (1930). Der Kerngedanke Cassirers ist die Bezeichnung des Menschen als „animal symbolicum“.

„Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren“ ((Cassirer 2007, 51), Hervorh. THM).

Als symbolische Ausdrucksformen des Menschen identifiziert er in seinem dreibändigen kulturphilosophischen Standardwerk „Philosophie der symbolischen Formen“ zunächst Mythos und Religion, Sprache, Kunst und Wissenschaft. In seinem Essay „Form und Technik“ stellt er die Technik in eine Reihe mit der Kunst, indem er zumindest bezüglich des Erlebnisgehaltes des Schaffens keinen Unterschied feststellt:

„Betrachtet man freilich den reinen Erlebnisgehalt des technischen und des künstlerischen Schaffens, so scheint sich zwischen beiden nirgends eine strenge Grenzlinie aufweisen zu lassen“ (Cassirer u. a. 1985, 84).

Überraschender Weise macht Cassirer aber bei den entstehenden Werken einen Unterschied. Von den technischen Werken sagt er:

„Das vollendete, in die Wirklichkeit hinausgestellte Werk gehört fortan nur dieser Wirklichkeit selbst an. Es steht in einer reinen Sachwelt, deren Gesetzen es gehorcht und mit deren Maßen es gemessen werden will; es muß fortan für sich selbst sprechen, und es spricht nur noch von sich selbst, nicht von dem Schöpfer, dem es ursprünglich angehört“ (Cassirer u. a. 1985, 85).

Die letzte Aussage, das technische Werk spreche nicht von dem Schöpfer, gilt nicht uneingeschränkt. Gerade die Designobjekte des 20.Jahrhunderts, z. B. ein Waschbecken von Luigi Colani, oder Kleidungsstücke namhafter Modedesignerinnen tragen sehr deutlich die „Handschrift“ ihrer Schöpfer.

Hier zeigt sich erneut wie tragfähig die Metapher von der „Sprache der Technik“ ist, denn was in der Sprache einen schriftlichen Ausdruck im Text findet, entspricht in der Technik dem Ausdruck des Menschen im technischen Artefakt. Was in der Sprache der gesprochene Satz ist, ist in der Technik der Ausdruck des Artefakts in seiner Form, Funktion und seiner Aktion. So kommt auch Sloterdijk zu der Erkenntnis:

„Nicht nur die Wortsprache hat uns etwas zu sagen, auch die Dinge reden zu dem, der seine Sensorien zu gebrauchen versteht“ (Sloterdijk 1983, 1:267).

Ein technisches Werk ist in der Sprachmetapher vergleichbar mit einem Prosatext, das Kunstwerk mit einem Lyriktext. Die Trennung von Technik und Kunst, die ursprünglich in den Worten techne und ars nicht enthalten war, wird wieder durch die gemeinsame Wurzel, den gestalterischen Ausdruck des Menschen aufgehoben.

Will man nun tiefer in das Verstehen der „Sprache der Technik“ vordringen, so macht eine methodische Anleihe bei der Semiotik Sinn, die Umberto Eco definiert als:

„In einer ersten Annäherung können wir also sagen, daß die Semiotik alle kulturellen Vorgänge (d.h. wenn handelnde Menschen ins Spiel kommen, die aufgrund gesellschaftlicher Konventionen zueinander in Kontakt treten) als Kommunikationsprozesse untersucht“ (Eco 2002, 32).

Technik erfüllt sowohl die Voraussetzung des kulturellen Vorgangs als auch des handelnden In-Kontakt-Tretens von Menschen.

Wenn wir in der o.g. Sinnfrage Cassirers voranschreiten möchten und die Definition von Steenblock, „Sinn nennen wir das, was dem menschlichen Leben Bedeutsamkeit verleiht“ ((Steenblock 2018, 348) Hervorh. THM), voraussetzen, sollte die Semiotik für die Klärung der „Bedeutsamkeit“ sorgen.

„Bekanntlich umfasst Bedeutung sowohl den Aspekt der Denotation (d.h. der nachweisbaren Bedeutung von Zeichen, wie sie etwa im Lexikon definiert sind), wie auch den Aspekt der Konnotation (d.h. der subjektiven Bedeutungen und Assoziationen), wobei Letzterer nochmals zu differenzieren ist. So unterscheidet Helene Karmasin (Karmasin 1993a) objektive und subjektive Konnotationen, und nach Ute Ritterfeld lassen sich Konnotationen „auf einem Kontinuum abbilden, deren Pole zum einen höchst individualisierte und zum anderen in hohem Maße kollektivierte bzw. generalisierte Bedeutungen umfassen" (Ritterfeld 1996, 46)“ ((Steffen 2000, 30), Hervorh.THM).

Diese Unterscheidung trifft Dagmar Steffen in „Design als Produktsprache: der Offenbacher Ansatz in Theorie und Praxis“ in Bezug auf die Produktsprache. Sie lässt sich aber mit Hilfe der Semiotik auch auf die gesamte „Sprache der Technik“ verallgemeinern. Demnach ist die Denotation „die unmittelbare Bezugnahme (…), die ein Ausdruck im Empfänger der Botschaft auslöst“ (Eco 2002, 102) oder „die unmittelbare Bezugnahme […], die der Code dem Ausdruck in einer bestimmten Kultur zuschreibt" (ebd.). Einfacher ausgedrückt ist die Denotation die Hauptbedeutung, die fest zugeschriebene Bedeutung, das, was wir in Lehrbüchern über die Technik nachlesen können.

Weniger beachtet und oft sogar übersehen tritt die Konnotation oder die Nebenbedeutung hinzu (vgl. hierzu die Definition von Eco, S. 78).

Wie schon bei Steffens angedeutet, kann sich die Konnotation als „kulturelle Einheit“ in einem breiten Spektrum von einer individuellen Nebenbedeutung bis hin zu einer kollektiven oder generalisierten Nebenbedeutung äußern. Die Besonderheit der technischen Artefakte besteht darin, dass in ihnen die generalisierten Konnotationen als „kulturelle Einheiten“ (Eco) speichern oder abkapseln lassen. Daher habe ich dafür an anderer Stelle bereits den Begriff der „kulturellen Sinnkapseln“ (vgl.(Möllers 2020)) geprägt. Bevor wir uns im nächsten Kapitel näher mit der Decodierung dieser Sinnkapseln als Verstehensmodus befassen, soll hier noch auf die Besonderheit der Symbole der Technik gegenüber anderen Symbolen eingegangen werden.

Charles W. Morris unterscheidet in „Symbolik und Realität“ zwischen dem „taktil Gegebenen“ und dem „nicht-taktil Gegebenen“ (Morris 1981, 39) und bezeichnet die Berührung als „die einzige endgültige und überzeugende Probe […], um ein bestimmtes Gegebenes als ›irreal‹ oder ›real‹, als Halluzination oder Objekt zu klassifizieren“ (Morris 1981, 39). Die materiell hergestellten Artefakte der Technik sind eindeutig taktil gegeben und haben dadurch Vorteile bei der Entwicklung des Denkens (vgl. Leontjew u. Vygotskij), Morris geht sogar so weit zu behaupten: „Denken ist ohne Symbole nicht möglich“ (Morris 1981, 51). Die Begreifbarkeit der Gegenstände führt über das Begreifen zum Verstehen der mit den Gegenständen verbundenen Zusammenhänge und Symbole. Treten danach an die Stelle der Gegenstände die Symbole, so bilden die Symbole ein „repräsentativ Gegebenes“ (a.a.O.,43) und das Verstandene wird wieder hervorgerufen. Morris sieht die Gefahr der Verselbstständigung der Symbolebene gegenüber der gegenständlichen Ebene, sieht aber auch schon den Ausweg in einer „wechselseitigen Durchdringung von Theorie und Praxis“.

„Die Entwicklung der symbolischen Ebene unter der Vernachlässigung der anderen Beziehungen zwischen den Lebewesen und der Welt, die Lernprozesse voraussetzen, führt zu der Denkmaschine, die sich in jeder nicht-symbolischen Umwelt unwohl fühlt; die mangelnde Entwicklung der symbolischen Ebene führt zu einer Person, die in der Welt der Dinge und der Menschen zu Hause ist, aber eher ein Sklave der Dinge als deren Meister ist.[...] Eine reiche Persönlichkeit erzwingt die Aufgabe dieser künstlichen Trennung und fordert die wechselseitige Durchdringung von Theorie und Praxis“((Morris 1981, 78), Hervorh.THM).

Technik ermöglicht gerade diese Durchdringung von Theorie und Praxis. Einerseits die Vergegenständlichung von Ideen, andererseits die symbolische Zuschreibung zu dem Gegenständlichen, sodass das Gegenständliche zu einer kulturellen Sinnkapsel werden kann. Das Wesen einer Sache kann jedoch auch verloren gehen, wenn wir die Lebendigkeit der Sache durch Zeichen und Symbole ersetzen, so wie es Goethe schreibt:

„Jedoch, wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten“ (Goethe 1808, 754).

Charles W. Morris würde Goethe als „geborenen Symboliker“ (Morris 1981, 77) und Genie bezeichnen, denn

„Eine hohe Symbolisierungsfähigkeit, die durch den Kontakt mit vergangenen symbolischen Ausdrucksformen und mit dem nicht-symbolischen Reichtum des Stroms des Gegebenseins genährt und entwickelt wird, ist ein grundlegendes Merkmal des Genies“ (Morris 1981, 77 f).

Soll die Sprache der Technik auch für Normalsterbliche lebendig und verstehbar sein, so kommt es darauf an, die Mischung aus Denotation und Konnotation aus Sache und Symbol, aus „Symbolisierungsfähigkeit“, „Kontakt mit den vergangenen symbolischen Ausdrucksformen“ und „Strom des Gegebenseins“ transparent zu machen.

Diese Mischung fasst Geertz zu einem semiotischen Kulturbegriff zusammen:

„Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutung sucht“ ((Geertz 2003, 9), Hervorh. THM).

Versuchen wir im Folgenden, das Bedeutungsgewebe der technischen Kultur zu durchdringen, indem wir uns fragen, inwiefern man Technik als „kulturelle Sinnkapseln“ bezeichnen kann.

4.2.1.3 Technik als kulturelle Sinnkapsel

„Im Kunstwerk ereignet sich das Entstehen und Vergehen kultureller Sinnhorizonte“ (Seel 2003, 32).

Ersetzt man in diesem Zitat das Wort Kunstwerk durch „Artefakt“ (von lat. ars, »Kunst«, und factum, »das Gemachte«), dann gilt es ebenso für alle Dinge und Prozesse, die die Technik hervorbringt.

Im Artefakt ereignet sich das Entstehen und Vergehen kultureller Sinnhorizonte.

Es spricht neben der historischen Genese des TechnikbegriffsFootnote 11 vieles dafür, zwischen Kunst und Technik den Unterschied nur im Grad der Zweckmäßigkeit der Artefakte zu sehen und Technik als den zweckmäßigeren Grenzfall der Kunst anzusehen. Was jedoch die kulturellen Sinnhorizonte angeht, so ist unstrittig, dass auch jedem technischen Artefakt dieser Sinnhorizont innewohnt. Da der Sinn oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist und viele Ziel- und Zwecksetzungen abgekapselt sind, habe ich in einer früheren Veröffentlichung den Begriff der „kulturellen Sinnkapsel“ geprägt (vgl. (Möllers 2020)). Dabei gehe ich von Steenblocks Definition von SinnFootnote 12 aus.

Kultur verstehen wir im o.g. weitesten Sinn als „Totalität menschlicher Hervorbringungen“ (König 2010, 73) (vgl. auch S. 79 f).

Steenblocks Verknüpfung von „Sinn“ und „Kultur“ wird auch schon zu einem früheren Zeitpunkt von Cassirer ähnlich vorgenommen, wenn er schreibt:

„Dieses Erscheinen eines »Sinnes«, der nicht vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen »Kultur« bezeichnen“ (Cassirer 2011, 46).

Die Berechtigung des Begriffspaars „kulturelle Sinnkapsel“ wird unmittelbar deutlich, wenn man an archäologische Ausgrabungen aus einer Zeit oder Regionen denkt, aus der keine schriftliche Aufzeichnungen vorliegen. Die Artefakte erlauben eine nachträgliche Rekonstruktion kultureller Gepflogenheiten und Bräuche, sowie die Rekonstruktion von Lebensweise und Handelsbeziehungen. So hat beispielsweise die Ausgrabung eines Schiffsgrabes in Sutton Hoo (East Anglia) aus dem Jahre 1939 das Bild der angelsächsischen Kultur allein aufgrund der gefundenen Artefakte grundlegend geändert. Das bis dahin vorherrschende Bild des „dunklen Mittelalters“ wurde durch die kunstvollen Artefakte, die wohl zu dem Grab eines Fürsten oder Anführers gehörten, auf den Kopf gestellt. Die Artefakte belegen durch die verarbeiteten Materialien (z. B. Bitumen an den Schiffsplanken aus dem Nahen Osten, Granat in den Schmuckstücken (s. u.) aus Indien) die weit verzweigten Handelsbeziehungen (Abb. 4.5).

Abbildung 4.5
figure 5

Nachbildung einer Schulterklappe aus dem Sutton Hoo Schiffsgrab. (CMS_1433897 (2) Collections – Public © National Trust / Robin Pattinson)

Eine weitere bedeutsame Wurzel des Begriffs „Sinnkapsel“ ist die philosophische Betrachtung Husserls in seiner „Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“. „Technisierung wird von Husserl als Sinnentlastung oder – dann problematisierend – als Sinnverschiebung und Sinnentleerung bestimmt“ (Kaminski 2013, 187). Husserl identifiziert die Tradition einer Sinnzuschreibung als problematisch, indem er schreibt:

„Nun treten aber Sätze und sonstige Kulturgebilde als solche, als Tradition auf; sie erheben sozusagen den Anspruch, Sedimentierungen eines ursprünglich evident zu machenden Wahrheitssinnes zu sein, während sie doch, etwa als assoziativ entsprungene Verfälschungen, keineswegs einen solchen haben müssen“ (Husserl 1962, 377).

Sinnentlastung und Sinnentleerung treten einerseits dadurch ein, dass auf einem als wahr angenommenen, aber keineswegs als wahr erwiesenen Sinn, weiter aufgebaut wird, ohne den anfänglichen Sinn erneut zu hinterfragenFootnote 13. „Und so konnte sich überhaupt die Mathematik sinnentleert unter ständigem logischen Weiterbau fortpflanzen, wie andererseits auch die Methodik der technischen Verwertung“ (a.a.O., S. 377 f)“ (Möllers 2020, 95). Andererseits scheint es aber ein Wesensmerkmal der Technik zu sein, dass Sinn abgekapselt wird und die ursprünglich „lebendige Sinnbildung“ verloren geht, wie es Blumenberg 1963 in seinen Schriften zur Technik äußert.

„Technisierung ist Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung zur Methode, die sich weitergeben läßt, ohne ihren Urstiftungssinn mitzuführen, die ihre Sinnentwicklung abgestreift hat und im Genügen an der bloßen Funktion nicht mehr erkennen lassen will“ (Blumenberg 2020, 185).

Blumenberg nimmt damit auch Bezug auf Husserls Metapher des „wohlpassenden Ideenkleids“ der „sogenannten objektivwissenschaftlichen Wahrheiten“ (Husserl 1962, 51). Dieses „Ideenkleid“ sorgt dauerhaft dafür, dass der ursprüngliche Sinn verloren geht.

„Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist- dazu da, um die innerhalb des lebensweltlich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen rohen Voraussichten durch „wissenschaftliche“ im Progressus in infinitum zu verbessern: die Ideenverkleidung macht es, daß der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der „Theorien“ unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode niemals verstanden wurde“ ((Husserl 1962, 52), Hervorh. i. Orig.).

Blumenberg greift Husserls Idee des Ideenkleides auf, indem er von der Technisierung behauptet, dass sie zwar dem Verstand zugänglich ist, sich aber der Vernunft als „vollendeter Besitz des Gegenstandes“ entzieht.

„In der Technisierung beschränkt sich der Mensch auf die Möglichkeit des Verstandes und entzieht sich dem Anspruch der Vernunft. […] Vernunft ist erfüllte Intention, vollendeter Besitz des Gegenstandes in der Fülle seiner Aspekte oder doch zumindest das Sich-Offenhalten für diese Fülle“ (Blumenberg 2020, 188).

Technisierung verhindert, dass der Verstand zur Vernunft gebracht werden kann, indem sie lediglich „Zeichenwerte“ und „nominale Repräsentationen“ vermehrt, ohne sich um den Gehalt und die Legitimität zu kümmern. Dies wirft die Frage nach der ethischen Legitimierung des technischen Handelns auf, die später noch zu beantworten ist.

„Die wesentliche innere Disposition des Bewußtseins kraft seiner Intentionalität ist nun, ständig den Verstand zur Vernunft zu bringen, […] Technisierung aber durchbricht diesen Prozeß, sie vermehrt ständig die Zeichenwerte, die nominalen Repräsentationen […] sie ist […] Herbeiführung von Besitz, anstatt Begründung von Eigentum oder Ausübung von Herrschaft ohne Rücksicht auf deren Legitimität“ (a.a.O., 188).

Blumenberg, der sich in seiner Habilitationsschrift mit der Phänomenologie Husserls auseinandersetzte, bietet uns als Therapeutikum, das den Verstand zur Vernunft bringt, die Phänomenologie an.

„So bietet sich die Einstellung der Phänomenologie fast von selbst als therapeutischer Gegenzug an, in dem die in der Technisierung vergessenen und überspielten Rückfragen nach den Fundamenten, nach dem Urstiftungssinn und nach der daraus folgenden Sinnexplikation nachgeholt werden können. Die Phänomenologie will Geschichte, und zwar in einem absoluten Sinne, wiederherstellen“ (Blumenberg 2020, 191).

Neben der Ästhetik als epistemologischen Zugang (vgl. Kant, Nietzsche, S. 233 ff) erhalten wir mit Blumenberg und seinem historisch-phänomenologischen Zugang einen weiteren Schlüssel zum Entschlüsseln kultureller technischer Sinnkapseln in die Hand.

Wenn Technik als kulturelle Sinnkapsel aufzufassen ist und Kultur die Totalität menschlicher Hervorbringungen ist, dann müssten die „Sinnkapseln“ auch einen gesellschaftlichen Bezug haben.

Weiter oben hatten wir bereits auf die Theorie Castoriadis‘ verwiesen, der Gesellschaft als imaginäre Institution auffasst (vgl. S. 129).

Welche Rolle spielt die Technik in dieser „imaginären Institution“?

Technik gehört zu den „Bildern und Figuren im weitesten Sinne“ (Castoriadis 1990, 398), die als „Träger“ ein „Magma von Bedeutungen […] wahrnehmbar zur Darstellung bringen können“ (ebd.). Castoriadis‘ Theorie

„erlaubt, die konstitutive Kraft des Imaginären und Symbolischen zu verstehen: zu verstehen, dass die symbolgestützte, anschauungsgestützte »Imagination radikal bildend ist, nicht Einbildungskraft, sondern Bildungskraft; dass sie Bilder und Formen schafft« (Castoriadis 1990, 553)“ (Delitz 2010, 122).

Delitz begründet damit in „Gebaute Gesellschaft“ die „Architektur als Medium des Sozialen“, so der Untertitel ihrer Dissertation. Sieht man die Architektur als eine Teilmenge der Technik, so kann man diese Aussagen auf die ganze Technik ausweiten. Technik schafft, in der sich stetig wandelnde Gesellschaft im Raum-/ Zeitkontinuum Fixpunkte, die gleichsam Momentaufnahmen sind. Diese Momentaufnahmen fixieren in einem Raumausschnitt auch einen Zeitpunkt und die mit diesem Zeitpunkt verbundene kulturelle Bedeutungsvielfalt.

Diese Bedeutungsvielfalt wird in einem Symbol verdichtet. Susanne K. Langer prägte für diese Verdichtung den Begriff des „Präsentativen Symbolismus“:

„Der präsentative Symbolismus zeichnet sich dadurch aus, daß eine Vielzahl von Begriffen in einen einzigen totalen Ausdruck zusammengezogen werden kann, ohne daß diesen einzelnen Begriffen durch die den Gesamtausdruck konstituierenden Teile jeweils entsprochen wird. Die Psychoanalyse bezeichnet diese in der Traumsymbolik zuerst entdeckte Eigentümlichkeit als ›Verdichtung“ (Langer 1965, 191).

Der Unterschied zu dem diskursiven Symbolismus der Sprache besteht darin, dass „die durch Sprache übertragenen Bedeutungen […] nacheinander verstanden und dann durch den als Diskurs bezeichneten Vorgang zu einem Ganzen zusammengefaßt (werden); die Bedeutung aller anderen symbolischen Elemente, die zusammen ein größeres, artikuliertes Symbol bilden, werden nur durch die Bedeutung des Ganzen verstanden, durch ihre Beziehung innerhalb der ganzheitlichen Struktur“ (Langer 1965, 103).

Damit führt Langer die Überlegungen Alfred North Whiteheads zur „Präsentativen Unmittelbarkeit“ (Whitehead 2000, 73 f) in seinem Buch „Kulturelle Symbolisierung“ fort. Nach Whitehead verschmelzen die beiden perzeptiven Wahrnehmungsmodi der „präsentativen Unmittelbarkeit“ und der „kausalen Wirksamkeit“ (a.a.O., 76) zu der einen Wahrnehmung der „symbolischen Referenz“ (a.a.O., 77).

„Das Ergebnis der symbolischen Referenz ist, was die aktuale Welt für uns ist: dasjenige Gegebene in unserer Erfahrung, das Gefühle, Emotionen, Befriedigungen und Aktionen produziert und das, wenn unser Denken in Form begrifflicher Analyse hinzukommt, schließlich das Thema des bewußten Wissens ist. »Direktes Wissen« ist das bewußte Wissen einer Perzeption in einem reinen Modus, also ohne jede symbolische Referenz“ (Whitehead 2000, 78).

Die besondere kulturphilosophische Bedeutung dieses Zitates für Bildung und Erziehung liegt darin, dass Whitehead auch der kausalen Wirksamkeit als Wahrnehmungsmodus einen Einfluss auf Emotionen und Aktionen einräumt. Damit wird die Ganzheitlichkeit von Erfahrung unterstrichen.

Wie kommen wir nun von der Ganzheit der perzeptiven Wahrnehmung der Technik als kulturelle Sinnkapsel zu der bewussten Wahrnehmung, zu dem „direkten Wissen“? Wie lassen sich die kulturellen Sinnkapseln decodieren?

4.2.2 Technik verstehen durch Decodieren kultureller Sinnkapseln

Wenn technische Artefakte als Fixpunkte im Raum-/Zeitkontinuum präsentative Symbole sind, die ganzheitlich in ihrer präsentativen Unmittelbarkeit und in ihrer kausalen Wirksamkeit wahrgenommen werden können, dann stellt sich die Frage, wie aus der unbewussten Perzeption eine bewusste Wahrnehmung und bewusstes Wissen über den Sinngehalt wird. Wie bereits angedeutet, ist sowohl die Ästhetik als epistemologischen Zugang (Kant, Nietzsche) als auch der historisch-phänomenologischen Zugang (Blumenberg) der Schlüssel zur Decodierung der kulturellen Sinnkapseln.

4.2.2.1 Die historisch-phänomenologische Dimension der „kulturellen Sinnkapseln“

Beginnen wir mit dem historisch-phänomenologischen Zugang an einem Beispiel aus der Architektur, die Heike Delitz als „Medium des Sozialen“ (vgl. (Delitz 2010) identifiziert.

Abbildung 4.6
figure 6

Portal des Hotels Solvay, Brüssel. (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Abbildung 4.6 zeigt das Hotel Solvay in Brüssel, das 1894 von Victor Horta entworfen und gebaut wurde. Wahrnehmbar ist die Symmetrie des zweiflügligen Eingangsportals und die geschwungenen, gerundeten Linien, die man mit Vorkenntnissen als Elemente des Jugendstils erkennen kann. Als Materialien kann man gebogenen Stahl, Holz, Glas und bearbeiteten Stein erkennen. Bei den bearbeiteten Steinen fallen rechts und links des Portals zwei Maueröffnungen auf, die jeweils mit einem Eisenbügel versehen sind. Während sich die Kausalität der Türen, des Glases in den Türen, der Stahlträger über dem Portal und des Balkongitters direkt erschließt, widersetzen sich die Eisenbügel in den Maueröffnungen einer intuitiven kausalen Erschließung. Der Sinn bleibt verkapselt, weil er in einer anderen Zeit in dem Artefakt fixiert wurde.

Erst durch Zuhilfenahme des historischen Kontextes der damals vorherrschenden Verkehrsmittel (siehe Abb. 4.7) und der von diesen Verkehrsmitteln produzierten Hinterlassenschaften lassen sich die Eisenbügel als Kotabstreifer decodieren.

Nach der Decodierung lässt sich die Perzeption in „direktes Wissen“ (Whitehead 2000, 78) transformieren, das eine Bewertung der historischen Bedeutung des Kotabstreifers und des Hauses möglich macht. Der Bügel diente dem menschlichen Bedürfnis nach körperlicher und olfaktorischer Unversehrtheit (Gesundheit). Das Jugendstilhaus diente neben dem Bedürfnis des Menschen nach körperlicher Unversehrtheit durch Witterungseinflüsse, Schutz des Eigentums auch dem Bedürfnis nach Ansehen. Die geschwungenen Balkon- und Türgitter sind zugleich ein Beispiel für die zeitliche und räumliche Fixierung der Ideen des Jugendstils als bewusste Gegenbewegung zu der Übernahme von Formvorbildern im Historismus.

Abbildung 4.7
figure 7

Kutschen vor dem Gare du Nord, Brüssel, um 1910

Ein nicht so weit zurückreichendes Beispiel stellt die abgebildete Sanduhr dar, deren Materialien als durchsichtiger und hinterlegter, schwarzer Kunststoff und als darin eingegossene Glassanduhr zu identifizieren sind. Die Funktion als Zeitmesser ist intuitiv über die integrierte Beschriftung „8 Minuten“ zu erfassen. Der Sinn dieser 8-Minuten-Zeitmessung erschließt sich aber auch erst im historischen Kontext. Im Jahre 1980 wurde die erste „Flatrate“, das zeitlich unbefristete Ortsgespräch im Festnetz für 23 Pfennige, abgelöst durch einen 8-Minuten-Takt, bei dem 23 Pfennige je angefangenen Takt fällig wurden (Abb. 4.8).

Abbildung 4.8
figure 8

8-Minuten Sanduhr

Die Sanduhr aus dieser Zeit diente dazu, an diesen Takt zu erinnern und die Angewohnheit des langen Sprechens bei Ortsgesprächen zu ändern. Der Sinn ergibt sich erst durch das Verstehen der „organisatorischen Hülle“ (Kornwachs 2013, 23) der Technik im historischen Kontext.

Abbildung 4.9
figure 9

v.l.: Faustkeil (Fundort: Naumburg a.d. Saale), Kumpfgefäß der Bandkeramik (Mitteldeutschland), Schnurkeramik aus Mitteldeutschland. (aus: (Buschendorf, Brandt, und Wolffgramm 1954, 256, 262))

Gehen wir von der Beispielebene weg, so verdeutlicht die Wissenschaft der Archäologie, wie man wissenschaftlich an die Decodierung kultureller Sinnkapseln herangehen kann. Vor allem, wenn Archäologen technische Artefakte aus Epochen ausgraben, in denen es noch keine schriftlichen Aufzeichnungen gab und demnach der historische Kontext nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann (Abb. 4.9).

Archäologen sind bei ihren Analysen der Artefakte einzig auf die „Dingwahrnehmung“ (Cassirer) angewiesen.

„Die physische »Natur« der Dinge ist dasjenige in den Erscheinungen, was immer in der gleichen Weise wiederkehrt und was sich in dieser Wiederkehr auf strenge, unverbrüchliche Gesetze bringen lässt. Sie ist das, was wir als Konstantes und Gleichbleibendes, aus dem Inbegriff der uns gegebenen Phänomene ausscheiden können. Aber das auf diese Weise Abgelöste und Herausgelöste ist erst das Produkt der theoretischen Reflexion“ (Cassirer 2011, 49 f).

Die Dingwahrnehmung bezieht sich auf die sinnlich wahrnehmbaren, also formalästhetischen Funktionen. Diese sind über die Sinne (Augen-, Hör-, Geruchs-, Tast- und Temperatursinn) wahrnehmbar.

Zu den mit den Augen wahrnehmbaren Elementen gehören Form, Proportionen, Material, Oberflächenbeschaffenheit und Farbe. Dieses sind Gestaltelemente, die durch „ordnende Bezüge“ (Heufler, Lanz, und Prettenthaler 2019, 65) erst zur GestaltFootnote 14 werden. Hinzu kommen die zusätzlichen Erkenntnisse, die durch wissenschaftliche Methoden das sinnliche Repertoire des Menschen erweitern, z. B. die Radiokarbonmethode zur Altersbestimmung organischer Stoffe oder die Thermolumineszenz zur Altersbestimmung von Keramik. Auch wenn „die Einführung neuer Methoden für die Archäologie nicht immer schmerzfrei war“ (Parzinger 2016a, 19), so ist gerade die Archäologie durch ihre ganzheitliche Betrachtungsweise „diejenige unter den Geisteswissenschaften, die am konsequentesten die Fortschritte der Naturwissenschaften in ihre Methoden aufnimmt und umsetzt“ (a.a.O., 20).

Das gehäufte Auftreten bestimmter Materialien, Formen oder Verzierungen veranlasste Archäologen und Historiker zu Namensgebungen kultureller Epochen wie „Steinzeit, Bronzezeit oder Eisenzeit“ (Materialien), „Bandkeramik, Schnurkeramik“ (Materialien und Verarbeitungstechniken) oder „Glockenbecherkultur“ (Form). Auch die Funktionen und die Zwecke der ausgegrabenen oder gefundenen Artefakte lassen sich z. B. der Nahrungszerlegung, -zubereitung oder -aufbewahrung zuordnen.

Zu den Messverfahren kommen Strategien hinzu, die aufgrund der räumlichen Verteilung von Artefakten (z. B. Grabbeigaben) oder der Schichtenabfolge (Stratigraphie) Aussagen über die kulturelle Bedeutung der Artefakte ermöglichen. Eine Gemeinsamkeit der archäologischen Verfahren ist das Ziel, absolute oder relative Zeit- und Altersangaben, sowie Raumangaben machen zu können, den „zwei reine(n) Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkenntnis a priori […], nämlich Raum und Zeit“ (Kant 2015, 85).

Gemeinsam ist den Verfahren auch der historisch-phänomenologische Ansatz und damit verbundene möglichst dichte Beschreibungen“ (Geertz 2003), einer Methode, die der Ethnologe Clifford Geertz als „Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“, so der Untertitel seines Buches „Dichte Beschreibung“, versteht. Während die „dünne Beschreibung“ sich lediglich mit dem Sammeln und Interpretieren von Daten begnügt, versucht die „dichte Beschreibung“ „eine Vielfalt komplexer, oft übereinandergelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“ (Geertz 2003, 15) zu fassen, um die Bedeutung kultureller Symbole zu erschließen und davon ausgehend zum „Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen“ (a.a.O., 9) zu gelangen. Vergleichbar mit der „dichten Beschreibung“ Geertz‘ sind die Ausführungen Flussers und Baudrillards zu technischen Artefakten und alltäglichen Gegenständen. Vilém Flusser gelingt es in seinen phänomenologischen Skizzen zu Dingen und Undingen durch eine der dichten Beschreibung vergleichbare Methode, neue kulturelle Aspekte an gewöhnlichen Dingen zu entdecken. Die Methode besteht darin, „Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum erstenmal“ (Flusser 1993, Umschlagtext). So gelangt er z. B. bezüglich eines Schachspiels zu der Aussage:

„Was also aus dem Schach als Produkt, das es ist, als sein Wesen zu mir spricht, ist die Stimme des anderen. Diese Stimme nun spricht zu mir als Imperativ, etwa: Spiel mich!“ (Flusser 1993, 61)

Flusser bedient sich der Metapher der „Sprache der Technik“, um zum Wesen der Artefakte vorzudringen, ein auch unter didaktischen Gesichtspunkten vielversprechende Methode (vgl. Kap. 5).

Jean Baudrillard befasst sich in „Das System der Dinge“ mit unserem „Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen“, so der Teil des Untertitels seines Buches.

Darin geht er auch auf die besondere Bedeutung alter Gegenstände ein, denen er vor allem den „Stimmungswert Historizität“ (Baudrillard 2007, 95) zuschreibt.

„Die Funktionalität des modernen Gegenstandes wird Historizität beim alten Gegenstand […] ohne daß er deswegen aufhörte, auch eine systematische Funktion, als »Zeichen«, zu erfüllen. Es ist eine »naturhafte« Konnotation, eine »Natürlichkeit«, die in diesen Zeichen vergangener Kultursysteme ihre Kulmination erreicht hat“ (Baudrillard 2007, 95).

Unsere „Vorliebe für alles Alte, Antike, Authentische, Rustikale, Handwerkliche, (…) für die Zeichen aus den Randgebieten der Zeit und des Erdkreises“ (a.a.O., 97) führt Baudrillard auf den symbolischen Wert der Gegenstände zurück.

„Im alten Objekt erkennen wir somit den Mythos vom Ursprung“ (a.a.O., 98).

Die alten Gegenstände ermöglichen einerseits die „personelle Regression […], eine Bewegung von der Gegenwart in die Vergangenheit, um in diese hinein die leere Dimension des Seins zu projizieren“ (ebd.). Diese Regression wird an Gegenständen aus der Kindheit deutlich, die für Außenstehende wertlos erscheinen, aber von hoher emotionaler Bedeutung für die betreffende Person sein können. Alte Gegenstände können andererseits auch Ausdruck einer „Versessenheit auf das Authentische“ (ebd.) sein. Diese Versessenheit wird besonders deutlich beim Sammeln von Artefakten, die berühmten Persönlichkeiten gehört haben oder von ihnen signiert wurden. Dazu zählen auch Kunstwerke als zweckfreiere Grenzfälle der Technik. Fragt man sich, woher diese „Versessenheit auf das Authentische“ rührt, so stößt man unweigerlich auf die von Walter Benjamin in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ benutzten Begriffe der Echtheit und der Aura.

„Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache. Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes verkümmert, das ist seine Aura“ (Benjamin 1996, 13).

Benjamin verallgemeinert diese auf Kunstwerke bezogene Aussage und sieht in der massenweise Reproduzierbarkeit eine „Erschütterung des Tradierten- eine Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist“ (Benjamin 1996, 13 f) (Anm.THM: der Aufsatz erschien erstmals 1936). Zu dieser Erneuerung der „menschlichen Kollektiva“ zählt Benjamin auch die „Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung“ (a.a.O., 14).

„Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren »Sinn für das Gleichartige der Welt« so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt“ (Benjamin 1996, 15 f).

Demnach müsste die Reproduzierbarkeit und „Entindividualisierung“ der Gegenstände zu einer gleichmachenden Gleichartigkeit führen.

Es stellt sich aber die Frage, ob gleichartige, reproduzierte Gegenstände nicht trotzdem eine Aura haben können, indem ihnen individuelle oder kollektive Konnotationen beigemessen werden.

4.2.2.2 Die Bedeutungsebenen der Konnotation

„Das Symbolische überformt fast überall das Zweckrationale. […] Solche Semantisierungen haben zur Folge, daß das Nichtfestgelegtsein der Technik auf präzise bestimmbare Zwecke und Anwendungsbereiche noch weiter aufgefächert wird: Die Symbolik, die mit jeder Technik untrennbar verbunden ist, überlagert die an sich schon gegebene Bedeutungsmannigfaltigkeit“ (Mutschler 1998, 29).

Mutschler lenkt mit dem Eingangszitat unseren semantischen Blick nun auf das Symbolische in der Technik. Der bisher verwendete Technikbegriff mittlerer Reichweite betont den Zweckcharakter und die Finalität von Technik. Das Symbolische wurde vernachlässigt, weil es als nicht-rational und wenig fassbar galt. Bei der Wahrnehmung von Technik hatten wir zwischen Ding- und Ausdruckswahrnehmung unterschieden. Die der Dingwahrnehmung vorausgehende Ausdruckswahrnehmung ist zunächst eine ganzheitliche intuitive Wahrnehmung, die zu einem intuitiven Verstehen des Symbolischen führt.

Will man die von Mutschler angesprochenen Bedeutungsmannigfaltigkeiten und das Symbolische auch bewusst verstehen, so müssen wir uns neben der Denotation, der Hauptbedeutung, der Konnotation, der kontext- und situationsabhängige Neben- oder Symbolbedeutung, technischer Systeme und Prozesse, sowie soziotechnischer Handlungssysteme zuwenden und werden diese auf ihre Bedeutungsebenen hin untersuchen.

Dies soll zunächst exemplarisch geschehen.

Nehmen wir als erstes Beispiel das Buch „Weltall, Erde, Mensch“ mit dem Untertitel „Ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft“. Dieses Buch wurde Jugendlichen in der Zeit von 1954 bis 1974 bei der Jugendweihe in der DDR geschenkt. Es war einerseits der Allgemeinbildung verpflichtet, enthielt aber auch Texte, die die marxistisch-leninistische Ideologie transportieren sollten. Die individuelle Konnotation bestand z. B. darin, dass mit der Übergabe dieses Geschenks bei der Jugendweihe ein Schritt in die Erwachsenenwelt verbunden war. Oft wurden die Jugendlichen ab dem Zeitpunkt der Jugendweihe gesiezt. Diese konnotative Bedeutungsaufladung des Artefaktes konnte dazu führen, das Buch als Andenken an dieses besondere Lebensereignis aufzubewahren. Ähnliches lässt sich bei zahlreichen anderen Büchern auch beobachten und führt zu dem Phänomen der vollen heimischen Bücherregale und der Unfähigkeit, Bücher wegzuwerfen oder anderweitig zu recyceln.

Manche technischen Artefakte und deren akustischen „Äußerungen“ gewinnen über die individuelle Bedeutung hinaus eine kollektive Konnotation. Eine bestimmte Alterskohorte im Westen Deutschlands wird die Geräusche eines VW-Käfers ebenso sicher erkennen wie die gleiche Alterskohorte im Osten Deutschlands die Geräusche eines Trabanten („Trabbi“) erkennen wird. Darüber hinaus werden beim Erkennen der Geräusche oder beim Betrachten der Fahrzeuge (Bild oder Original) bedeutsame, sinnstiftende „Erzählungen“ wachgerufen, wie z. B. „Er läuft und läuft und läuft…“ beim VW-Käfer oder „Plastebomber“ oder „Pappe“ beim Trabant. Diese „Erzählungen“ werden in den Sozialwissenschaften als Narrativ bezeichnet. Ein weiteres Beispiel für ein technisches Narrativ ist der „Sputnik-Schock“, der ein Umdenken im Bildungswesen Westdeutschlands mit einer stärkeren Betonung der mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Bildung zur Folge hatte.

Zu den kollektiven Konnotationen gehören auch die Nebenbedeutungen, die wir bestimmten Farben, Formen und Materialien zuschreiben. Darauf geht Baudrillard in „Das System der Dinge“ im Kapitel „Die Strukturen der Stimmung“ (Baudrillard 2007, 42–82) ausführlich ein. So „stellt Schwarz (wie Grau) noch heute einen distinktiven Wert »Kultur« dar“ (a.a.O., 45), der uns vor allem in der männlichen Uniformierung mit Anzügen entgegentritt, die „weiße Farbe hingegen dominiert vor allem im »organischen« Sektor Badezimmer, Küche, Bettwäsche und alles mit dem Körper in inniger Berührung Stehende“ und steht in diesem „Bereich der Grundverrichtungen" für „imperative Reinlichkeit“ (a.a.O, 45). Farben werden mit Stimmungen von „warm“ und „kalt“, von „natürlich“ und „künstlich“ assoziiert und diese Stimmungen werden gezielt bei der Gestaltung von Räumen erzeugt. Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung von Materialien. So wird das Material Holz

„von einer gefühlvollen Nostalgie so begehrt: weil es seine Substanz der Erde entnimmt, weil es lebt, atmet und »arbeitet«. Es besitzt eine verborgene Wärme, es glänzt nicht bloß wie Glas, es brennt von innen her“ (a.a.O., 50).

Die Gegenüberstellung von Natur- und Kunststoffen hält Baudrillard für „bloß ein Moralisieren“ (a.a.O., 51) und verdeutlicht dies an Papier und Glas als Kunststoffen, die wir inzwischen als natürlich ansehen und die „insofern einen vererbten Adel (haben), als er ihnen von einer kulturellen Ideologie verliehen wird“ (a.a.O., 51 f). Beim Glas bewirken „Reinheit, Redlichkeit, Sachlichkeit, seine hygienische und prophylaktische Konnotation, daß es zum Material der Zukunft bestimmt scheint“ (a.a.O., 56).

Die Formgebung von Werkzeugen, Maschinen und Geräten war lange Zeit durch die Antriebskraft, die Muskelkraft von Mensch und Tier, so sehr beeinflusst, dass die Konnotation der „Brauchbarkeit unterstellt“ (a.a.O., 63) blieb. Erst durch die Einführung von Hilfsenergien wie Strom, Gas, Benzin usw. wurde die „traditionelle Gebärde- Kraftaufwand“ durch die „funktionelle Gebärde- Kontrolle“ (a.a.O., 63 f) ersetzt.

„Der Abstraktion der modernen Energieformen entspricht eine Abstraktion der menschlichen Gebärden“ (Baudrillard 2007, 65).

Am Beispiel der historischen Entwicklung des Kochens verdeutlicht Baudrillard, dass mit der Abstraktion der Energieformen „nur eine abstrakte, mit Gleichungen operierende Intelligenz […] mit den neuen technischen Strukturen Schritt zu halten (vermag)“ (a.a.O., 67). Anfangs war die Kochstelle mit offenem Feuer eine symbolische Einheit aus wohliger Wärme, Kochen für das leibliche Wohlergehen und Licht gegen die Dunkelheit. Der das Feuer umschließende Kochherd schloss das Licht ein und heute werden alle drei Funktionen von unterschiedlichen Systemen erledigt, deren Energiezufuhr, abgesehen von einem Gasherd, im Verborgenen bleibt. War der Mensch anfangs durch das Hacken des Holzes, das Anfachen des Feuers noch aktiv beteiligt, so bleibt ihm heute nur noch das Schalten und Drehen an Bedienelementen. Die „Funktionalität der Formen definieren den »Stil«“, die „Transitivität der Formen (kompensieren) das Abbröckeln der symbolischen Beziehungen“ (a.a.O., 71). Ginge man vom Leitspruch des Funktionalismus der 20er Jahre „form follows function“ aus, so sollte die Form der Funktion folgen, sich ihr unterordnen und bar jeder symbolischen Funktion sein. „In den 1980er -Jahren wurde aus dem ursprünglichen „form follows function“ zuerst einmal „form follows emotion“ und schließlich „form follows fun“ (Heufler, Lanz, und Prettenthaler 2019, 81). Heute würde man den Leitspruch „form follows function“ gemäß dem erweiterten Funktionalismusbegriff nach Gros übersetzen zu „Die Form folgt den Funktionen“, wobei nicht nur die technischen Funktionen, sondern auch die Symbol- und Anzeichenfunktionen gemeint sind (nach Heufler u. a., 81). Es verwundert nicht, dass neben der Designforschung vor allem die Marktforschung ein Interesse an den Konnotationen technischer Artefakte hat. Wir wollen deren Ergebnisse vor allem dazu nutzen, Technik durchschaubarer zu machen, um zukünftige Käufer und Nutzer zu mündigen Käufern und Nutzern zu erziehen. Helene Karmasin klassifiziert Produkte in ihrem Buch „Produkte als Botschafter“ als „Träger kultureller Klassifikationen“ (Karmasin 1993, 264 ff). Kulturelle Klassifikationen sind Ergebnisse strukturalistischer Analysen (vgl. (Oppitz, 1975) und der Mythenanalyse von Claude Lévi-Strauss (vgl. (Levi-Strauss, 2008). Zu den »Mythen des Alltags« (vgl. (Barthes 1996)) gehören „Klassifikationssysteme, die Menschen von Nichtmenschen scheiden, zivilisierte Menschen von unzivilisierten Menschen, moralische von unmoralischen“ (Karmasin 1993, 200). Klassifikationen ordnen die Welt und vereinfachen sie, sie grenzen ab und schaffen Räume der sozialen Zugehörigkeit und sie reduzieren Komplexität, indem sie einfache „Basiscodes“ (a.a.O.,267) zur Verfügung stellen.

Basiscodes sind oft binäre Gegensatzpaare, die einer schnellen und sicheren Zuordnung dienen:

„Zentrum-Peripherie; Vergangenheit-Zukunft-Gegenwart-Zeitlosigkeit; das Endogame (wir)- das Exogame (die andren); Nähe-Ferne; Natur-Kultur; das Sakrale- das Profane; männlich-weiblich-kindlich; die Oberen- die Unteren“ (Karmasin 1993, 267).

Mit Hilfe von Basiscodes lassen sich bei Produkten sehr einfach Zuordnungen herstellen. Karmasin verdeutlicht diese einfachen Zuordnungen am Beispiel der Kleidung (Tabelle 4.3):

Tabelle 4.3 Merkmale und Bedeutungszuordnung bei Kleidung (nach (Karmasin 1993, 307))

Vergleichbare Zuordnungen kann man auch für teure „Männer-Autos“ und preiswerte „Frauen-Autos“ vornehmen (ebd.).

„Der Markt lebt davon, daß er Klassifikationssysteme dieser Art benützt und errichtet und dadurch die Werte zum Ausdruck bringt, die für uns wichtig sind. […] Produkte agieren auch als Ideologieträger, sie machen ganz grundsätzliche Denk- und Bewertungsmuster unserer Kultur sichtbar“ (Karmasin 1993, 200).

Die konnotierenden Klassifikationssysteme funktionieren besonders reibungslos und effektiv, wenn die Zuordnungen als normal und natürlich angesehen werden und daher im Unbewussten verankert sind. Dann verfangen auch die Werbebotschaften sehr leicht.

Will man Technik verstehen, dann muss das Verstehen neben dem wissenschaftlichen Verstehen des „Wahren“ auch die Konnotationen des „Schönen“ und „Guten“ umfassen, die entweder individuell gefärbt sind oder durch Ko-Konstruktion zu kollektiven Konnotationen werden. Die kollektiven Konnotationen werden geprägt durch kulturelle Klassifikationen, die auf Basiscodes beruhen.

Wenn wir es schaffen, die „Sprache der Technik“ zu lernen und zu lehren, werden wir der kulturellen Bedeutung der Technik als gestalterischem Ausdruck des Menschen gerechter. Damit würde auch die „Legasthenie“ der Ausdruckswahrnehmung überwunden, von der Sloterdijk sagt:

„Unsere Kultur, die uns mit Zeichen überschwemmt, erzieht uns im Gebiet der physiognomischen Erkenntnis zu Legasthenikern“ (Sloterdijk 1983, 1:267).

Es stellt sich nun die Frage, ob sich die Flut der kulturellen Zeichen ordnen lässt.

4.2.2.3 „Culture in Mind“ und Basisschemata für kulturelle Modelle

Was Helene Karmasin bezogen auf Produkte als „Basiscodes“ bezeichnet hat, müsste sich auch in Soziotechnischen Handlungssystemen kategorial verorten lassen. Im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung interessiert vor allem die Frage, ob es eine Wechselwirkung zwischen der kognitiven Entwicklung des Menschen und dem kulturellen Umfeld gibt und ob es in der Kultur prägende Kategorien (vgl. Klafki) gibt. Diese Fragen werden durch die kognitive Anthropologie untersucht. Bradd Shore als anerkannter Fachmann der kognitiven AnthropologieFootnote 15 weist an zahlreichen Studien in unterschiedlichen Kulturen in seinem Buch „Culture in Mind“ den Zusammenhang zwischen mentalen Modellen und kulturellen Modellen nach. Mentale Modelle sind „kreative und adaptive Vereinfachungen der Realität“ ((Shore 1998, 47), Übers. THM). Sie lassen sich unterscheiden in individuelle, personale Modelle und übernommene, internalisierte Modelle. Erneut begegnet uns auf der mentalen Ebene die Wechselwirkung von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation, die dialektische Struktur von Übernahme kultureller Muster und gleichzeitig aktiver Teilhabe und Gestaltung dieser Kultur. Den kulturellen Modellen liegen nach Shore Basisschemata („foundational schemasFootnote 16“ (Shore 1998, 117)) zugrunde, die nicht nur Einfluss auf einzelne Lebensbereiche haben, sondern für eine große Anzahl kultureller Modelle grundlegend sind. Als Beispiel für ein solches Basisschema nennt er die Modularität („the modularity schema“ (ebd.)).

„This modularity schema, through its power to structure a very large number of specific cultural models, virtually defines the cognitive landscape of modernity and has a lot to do with the emergence of recognizably postmodern mentality. What I call modularity schema is also understandable as a kind of high-tech cognitive style, a machinedriven logic that has powerfully affected the way in which much of our knowledge of the world has been coded” (Shore 1998, 117).

An zahlreichen Beispielen zeigt Shore, dass die Modularität unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst. Angefangen beim Schlafsofa, das multifunktional ist und die Funktionalität von Räumen beeinflusst, über den fast food Hamburger, dessen Einzelbestandteile in großen Stückzahlen herstellbar sind, der sich dann aber „individuell“ zusammenstellen lässt, hin zu den vielen, schnell wechselnden „Sehmodulen“, die im Fernsehen auf uns einstürmen und unsere Sehgewohnheiten beeinflussen (vgl. (Shore 1998, 118 ff).

Dieses Beispiel stellt ein historisch gesehen sehr spätes Basisschema dar. Will man weitere kulturelle Basisschemata systematisch identifizieren, so macht es Sinn, die Entwicklung der Menschheit in den Blick zu nehmen, um diejenigen technischen Artefakte und Prozesse zu identifizieren, die einerseits die kulturelle Entwicklung vorangetrieben haben, andererseits wechselwirkend das Denken der Menschen beeinflusst haben (vgl. Tätigkeitstheorie, S. 85 ff). Da hier keine vollständige Kulturtheorie der Technik entwickelt werden kann, orientiert sich die Suche nach den Basisschemata vereinfachend an den elementaren physiologischen und psychologischen Bedürfnissen der Menschen und den sich daraus ergebenden Motiven bzw. MotivationenFootnote 17 beim konkreten Handeln. Zu den elementarsten menschlichen Bedürfnissen gehört die Energiebeschaffung zur Aufrechterhaltung des Lebens. Diese ist verbunden mit Nahrungsbeschaffung einerseits und mit dem Schutz vor zu starkem Wärmeverlust (Kleidung, Höhlen, Hütten…) bzw. der Herstellung zusätzlicher Wärmequellen (z. B. Feuer). Die überragende Bedeutung des Feuermachens zur Konservierung und zum Bekömmlichmachen von proteinhaltigem Fleisch, sowie als Wärme- und Lichtquelle, auch zur Abwehr von Fressfeinden, kommt in zahlreichen Mythen zum Ausdruck.

So wird Prometheus von Zeus für seine List bestraft, das Feuer in einem Riesenfenchelrohr (Narthexrohr) zu stehlen und es den Menschen dauerhaft zur Verfügung zu stellen.

„Schwer erzürnt aber sprach der Wolkenversammler Zeus zu Prometheus: »Sohn des Iapetos, vor allen klug und verschlagen, offenbar hast du, mein Lieber, die listigen Künste noch nicht vergessen«. So sprach grollend Zeus, dem es nie an Rat fehlt. Seither nun dachte er stets an den Trug und gab den Eschen nicht länger die Kraft unermüdlichen Feuers für sterbliche Menschen, die auf Erden wohnen. Doch überlistete ihn der tüchtige Iapetossohn und stahl das weithin leuchtende, unermüdliche Feuer im hohlen Narthexrohr“ (Hesiodus und Schönberger 2018, 45, 47).

Obwohl Nahrungsbeschaffung, Feuermachen und Schutzsuche (Obdach, Kleidung) kulturelle Basisschemata sind, kommt es aufgrund unterschiedlicher Nahrungsangebote und Schutzmöglichkeiten zu regionalen, kulturellen Unterschieden. Durch das Zusammenleben mehrerer Menschen in einer Gruppe wird Verständigung nötig, z. B. über die Jagdtaktik oder die Arbeitsteilung. Man kann nur darüber mutmaßen, wie die Kommunikation bei den Urmenschen vonstatten ging, jedoch belegen nicht nur anatomische Funde eines Zungenbeins und die DNA-Sequenzierung des für die Sprachentwicklung wichtigen FOXP2 Gens von Neandertalern, sondern auch Artefaktfunde, dass der frühe Mensch, der die Erde ca. 200000 Jahre lang besiedelte, zur Symbolbildung fähig war und sich wahrscheinlich sprachlich verständigen konnte (vgl. (Parzinger 2016b, 49)). Eng mit der Lebensweise als Sammler und Jäger verbunden ist das Basisschema des Werkzeuggebrauchs. Archäologische Funde beweisen, dass der Neandertaler nicht nur das Feuermachen mit Feuerstein beherrschte, sondern auch Speerspitzen zum Jagen und Steinwerkzeuge zum Zerlegen der Beute, sowie zum Bearbeiten von Tierhäuten zu Kleidungsstücken benutzte. Wir haben bereits am Beispiel der Herstellung eines Speeres zum Erlegen eines wilden Tieres die Wechselwirkung zwischen dem Denken und dem Werkzeuggebrauch dargelegt (vgl. S. 229) und dabei festgestellt, dass mit dem Herstellen des Speeres aus der unmittelbaren Absicht durch den Bedürfnisaufschub eine „Voraussicht“, ein planendes Handeln wird. Zu den wichtigsten Werkzeugen des Menschen gehört die Sprache, die in ihrem mythischen Stadium noch dadurch gekennzeichnet war, dass „die Welt der Dinge und die der Namen eine einzige Wirklichkeit waren“ (Cassirer 2010a, 52). Erst der „philosophisch-spekulative Grundgedanke von der einheitlichen und unverbrüchlichen Gesetzlichkeit des Alls“ (a.a.O., 54) trennt die Welt der Worte und die Welt der Dinge. Der „magisch-mythische Kraftzusammenhang“ wandelt sich in einen „Sinnzusammenhang“ (ebd.) und mit der Sinnsuche und dem Erkennen der eigenen Endlichkeit setzten Totenkulte ein, die in der Hochkultur der Ägypter in Gestalt der gigantischen Pyramiden von Gizeh noch heute von dieser Kultur Zeugnis ablegen und das Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz ausdrücken.

Die neolithische Revolution ist nicht nur durch das Sesshaftwerden gekennzeichnet, sondern auch durch die Domestizierung von Tieren und das Anbauen von Getreide zur Nahrungsbeschaffung, durch das Herstellen von Kleidungsstücken, das Bauen von Häusern und Kultstätten. Das Denken wird vorausschauend, indem Vorräte angelegt werden, zum richtigen Zeitpunkt gesät und geerntet (Himmelsscheibe von Nebra; Steinkreise zur Bestimmung des Frühlingsanfangs), bewässert und der Boden bearbeitet wird. Aus dem Naturmaterial Ton werden Vorratsgefäße hergestellt, aus Holz und Lehm werden Häuser errichtet, die mit Schilf, Gras oder Stroh gedeckt werden, um vor Witterungseinflüssen geschützt zu sein. Durch die zunehmende Differenzierung der Fähigkeiten zur Herstellung von Artefakten zur Nahrungsbeschaffung, Kleidungsherstellung, zum Hausbau usw. entwickelt sich das individuelle Handeln hin zu einem arbeitsteiligen gesellschaftlichen Handeln. Die Arbeitsteilung erfordert zusätzliche Absprachen und erfordert, den Umfang der Verständigung zu erweitern. Die Verständigung wird zunächst durch die Verwendung von Bildsymbolen (Höhlenzeichnungen, Hieroglyphen), später durch die Erfindung der Schrift und der damit verbundenen Speichermedien (Stein, Ton, Papyrus, Pergament) zunehmend differenzierter. Die Speicherung von Informationen wird u. a. durch die Vorratswirtschaft notwendig, dient aber auch zur Speicherung von rechtlichen Vereinbarungen, die zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens notwendig werden (vgl. z. B. Ex 24,12: Steintafeln mit Zehn Geboten).

Die Zähmung des Pferdes und die damit verbundenen Erfindungen der Zäumung, des Sattels und später der Steigbügel bringen einen enormen Mobilitätsschub, der zu Wanderbewegungen, aber auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen führt.

Fortschritte in der Waffentechnik, die auf der Metallgewinnung (Kupfer, Bronze, später Eisen) fußen, befeuern die Konflikte ebenso wie die Anhäufung von Besitz und Zunahme kultureller Unterschiede in Sprache und Religion. Nicht nur die Herstellung von Bronze aus Kupfer und Zinn, die in verschiedenen z. T. sehr weit entfernten Lagerstätten gewonnen werden, erfordern ein Netz von Handelswegen mit den entsprechenden Transportfahrzeugen (Wagen, Schiffe), die durch natürliche Energien (Muskelkraft, Tiere, Wind) fortbewegt werden. Diese Handelswege, zu denen später auch die SeidenstraßenFootnote 18 (vgl. (Whitfield 2021, 15) gehören, fördern durch den Warenaustausch die kulturelle Vernetzung und den kulturellen Austausch. Der Warenaustausch ist auch verantwortlich für das „Schweizer Taschenmesser“ aller Erfindungen, das universale und absolute Mittel und Werkzeug zur Erfüllung tausendfacher Zwecke, das Geld. Georg Simmel bezeichnet in seiner „Philosophie des Geldes“ das Geld als die reinste Form des Werkzeugs (vgl. (Simmel 2018, 301)). Marx hat sich später in „Das Kapital“ mit dem Wert des Geldes und der Waren befasst und fand als „Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten“ (Marx und Engels 2008, 74). Im gleichen Atemzug bezieht er sich auf „das Genie des Aristoteles“ (ebd.) und lobt ihn dafür, „daß er im Wertausdruck der Waren ein Gleichheitsverhältnis entdeckt“ (ebd.) hat. Hätte Marx Aristoteles‘ Überlegungen zum Gleichheitsverhältnis vollständig zitiert, so wäre wahrscheinlich nicht der Marx’sche „Arbeitsbegriff“ dominant geworden, sondern der Aristotelische „Bedürfnisbegriff“. Aristoteles stellt in der Nikomachischen Ethik (Fünftes Buch, 8.Kapitel) fest:

„Daher muß alles, was untereinander ausgetauscht wird, gewissermaßen quantitativ vergleichbar sein, und dazu ist nun das Geld bestimmt, das sozusagen zu einer Mitte wird. […] Die Berechnung ließe sich aber nicht anwenden, wenn nicht die fraglichen Werte in gewissem Sine gleich wären. So muß denn für alles ein Eines als Maß bestehen […]. Dieses Eine ist in Wahrheit das Bedürfnis, das alles zusammenhält“ ((Aristoteles 2019a, 123), Hervorh. i. Orig.).

So versteht auch Höffe in „Geschichte des politischen Denkens“ Aristoteles Orientierung am Gebrauchs- und Bedürfniswert als eine „vielleicht sogar modernere Alternative“ (Höffe 2016, 57) als Marx‘ Orientierung an der menschlichen Arbeit. Neben dem Gebrauchs- und Bedürfniswert als Maßstab ist für Cassirer der Symbolbegriff das verbindende Element aller kultureller Erscheinungen. Das Symbolische kommt im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Geschichte, Technik und Wissenschaft immer mehr in den Artefakten zum Ausdruck. So z. B. in der Verfeinerung von Gebrauchsgegenständen zu Statusgegenständen durch die Verwendung von künstlichen Stoffen, wie Glas und Porzellan oder Edelmetallen wie Gold und Silber, in der Schaffung von Bauten, die der Demonstration von Macht und Besitz oder zu religiösen Zwecken dienen oder in Kunstgegenständen, die lediglich dem Schmuck, der Erbauung und auch dem Luxus dienen. Nicht zu vergessen sind all diejenigen Artefakte, die der geistigen Erbauung, der Ablenkung, der Erheiterung, dem Spiel, der Zerstreuung dienen, wie z. B. das Kolosseum, das Theater von Epidauros usw. Das Wachstum von Städten erfordert allein wegen der Lebensmittelversorgung der Bewohner einen ständigen Warenstrom in die Städte und eine erhöhte Nahrungsmittelproduktion. Erfindungen wie das Kummet ermöglichen die Bestellung größerer Ackerflächen mit Pferden, Wind- und Wassermühlen nutzen regenerative Energien zum Mahlen von Mehl, aber auch zum Pochen von Erz, zum Walken von Wolle usw. Gotische Kathedralen und Dome, wie der Magdeburger Dom, prägen noch heute zahlreiche Stadtbilder. Der Beginn der Neuzeit an der Wende vom 15. zum 16.Jahrhundert wird kulturgeschichtlich vor allem durch den Humanismus, die Reformation, die Renaissance und die Erfindung des Druckens mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg markiert. Diese Erfindung führt zu einem raschen Anstieg der Zahl von Büchern und damit zu einer Demokratisierung von Bildung, zu einer Medialisierung mit dem Buch als Leitmedium. Die einsetzende Epoche tauft McLuhan 1962 in seinem gleichnamigen Buch die „Gutenberg-Galaxis“. Sie ist gekennzeichnet durch einen Wandel des Denkens von der Bild- und Metaphernsprache der mündlichen Überlieferung des Mittelalters hin zu einer durch die Typografie linearisierten und visualisierten Sprache und dem Entstehen von Öffentlichkeit.

„Printing from movable types created a quite unexpected new environment- it creates PUBLIC” (McLuhan 2011, 1)

Der Buchdruck führt auch zu einer Vergrößerung der geografischen Ausbreitung von Büchern. Dies erfordert wiederum eine Vereinheitlichung der Sprache bis hin zu Nationalsprachen. In Deutschland trägt insbesondere die Luther-Bibel zu einer Vereinheitlichung der Schriftsprache bei. Die Demokratisierung von Bildung und die Ausbreitung von Wissen und Propaganda mit Hilfe von gedruckten Flugblättern führt durch die neue „Öffentlichkeit“ (McLuhan, s. o.) auch zu veränderten politischen Konstellationen (Französische Revolution).

Diese markiert im Denken ebenso eine Zeitenwende wir die Industrielle Revolution.

Gehlen bezeichnet „unter dem Gesichtspunkt der Daseinsbewältigung“ (Gehlen 2017, 99) die Industrielle Revolution, den Übergang „zum technisierten Industrialismus“ (ebd.), als einen der „zwei kulturgeschichtlich wirklich entscheidenden Zäsuren“ (ebd.) neben der neolithischen Revolution. Denkschemata ändern sich radikal durch veränderte Arbeitsbedingungen in Fabriken, durch das Anwachsen technischer Kraftentfaltung mit Dampfmaschinen, die durch fossile Energien betrieben werden. Dadurch wird die industrielle Produktion unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten von Wasser- und Windkraft, sowie von der Muskelkraft des Menschen und der Tiere. Mit dem Aufkommen der Eisenbahn wächst die Mobilität in einem vorher nie dagewesenen Maße. Durch die schnelle Vergrößerung des Eisenbahnnetzes und die Geschwindigkeit der Eisenbahn ändert sich nicht nur das Raumgefühl für Entfernungen, sondern auch die Dimension Zeit. Der Tageslauf in einer bäuerlich geprägten Gesellschaft wird bestimmt vom Lauf der Sonne vom Sonnenauf- zum Sonnenuntergang. Die Sonnenzeit 12 Uhr ist die Ortszeit, die den Zeitpunkt des höchsten Sonnenstandes an einem Ort angibt. Eisenbahnfahrpläne machen Mitte des 19.Jahrhunderts die Einführung von Zonenzeiten notwendig. Zeit wird immer mehr durch Uhren getaktet als durch den natürlichen Lauf der Sonne bestimmt. Das gilt auch für die Produktion in Fabriken. Der „Eisenhunger“ durch die Eisenbahnen und die Eisenbahnbrücken kann nur dank der Erzreduktion durch fossilen Kohlenstoff in Hochöfen und durch die verbesserten Puddelverfahren, später durch Windfrischverfahren (Bessemer-, Thomas- Birne) und Herdfrischverfahren (Siemens-Martin-Ofen) gestillt werden. Die Stahlproduktion ermöglicht auch die Produktion präziser Werkzeugmaschinen als Voraussetzung zur industriellen Massenproduktion verschiedenster Güter. Die Industrieproduktion macht durch die Proletarisierung der Arbeiter auch die soziale Frage immer drängender.

Der Werkstoff Stahl revolutioniert nicht nur das Verkehrswesen und den Maschinenbau, sondern auch mit dem Aufkommen von Stahlbeton die Architektur, die sich als eigene Disziplin neben dem Bauingenieurwesen etabliert.

Während der fossile Primärenergieträger Kohle zahlreiche stationäre und mobile Dampfmaschinen antreibt und das Anwachsen der Stahlindustrie ermöglicht, gewinnt der Sekundärenergieträger Strom im ausgehenden 19.Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Dies wird vor allem durch die Entdeckung des dynamoelektrischen Prinzips und dessen erfolgreiche Vermarktung durch Werner von Siemens vorangetrieben.

„Anfangs trug die elektrische Beleuchtung den Elektrifizierungsboom, in den neunziger Jahren kamen elektrische Straßenbahnen und um die Jahrhundertwende die Industrien dazu. Damit regte zunächst der Dienstleistungs- und Konsumbereich die Entwicklung und Verbreitung einer neuen Schlüsseltechnologie an […]“ (König und König 1997, 314).

Der „Kampf der Systeme oder Transformatorenschlacht“ (a.a.O., 332) zwischen Gleich- und Wechselstrom wird schließlich zugunsten des Wechselstroms entschieden, obwohl heute die Entwicklung für die Übertragung großer Energiemengen über weite Entfernungen wegen der geringeren Übertragungsverluste wieder zum Gleichstrom tendiert. Die durch die Elektrifizierung ermöglichte künstliche Beleuchtung macht nicht nur die Nacht zum Tage, sondern ändert damit auch kulturelle Schemata bis hin zur Einführung von Nachtschichten in der Industriearbeit.

„Der »Mythos der Elektrizität« löste den »Mythos des Dampfes« ab“ (König und König 1997, 543).

Weitere kulturelle Transformationen ergeben sich durch die rasante Entwicklung des Automobils und der Flugzeuge. Der Menschheitstraum, der spätestens seit dem Ikarus-Mythos im kulturellen Gedächtnis gespeichert war, erfüllt sich durch die Eroberung der dritten Dimension durch Otto Lilienthal (Abb. 4.10).

Abbildung 4.10
figure 10

Der Normal-Segelapparat von Otto Lilienthal (©Deutsches Museum, München, Archiv, BN04450). (siehe auch: (Deutsches Museum 2000, 3:40))

Zugleich verändern sich dadurch erneut die Vorstellungen von Raum, Zeit und Entfernungen aber auch die Möglichkeiten der Kriegsführung (1.Weltkrieg).

Die Weiterentwicklung neuer Medien (Radio, Fotografie, Film, Fernsehen) schafft nicht nur ein Zusammenrücken von Raum und Zeit weltweiter Ereignisse, sondern ermöglicht auch die Schaffung neuer Phantasiewelten (Film) und neue künstlerische Entwicklungen (vgl. dazu: (Benjamin 1996)).

Marshall McLuhan sieht im Zeitalter der Elektrizität eine Veränderung des Denkens von der Einseitigkeit des Visuellen des gedruckten Wortes zurück zu der Ganzheit des Gehörten und Gesehenen. Den Unterschied zu den Gesellschaften, in denen das gesamte Wissen mündlich tradiert wurde, sieht er darin, dass durch die weltweite Vernetzung ein globales Dorf entsteht.

„But certainly the electro-magnetic discoveries have recreated the simultaneous »field« in all human affairs so that the human family now exists under conditions of a »global village«” (McLuhan 2011, 36).

Nicht nur wachsende Eisenbahnnetze, Straßennetze, Schifffahrts- und Fluglinien sorgen für Verbindungen von Orten und Menschen, sondern auch die Erfindung des Telefons und dessen Vermarktung sorgt für kommunikative Verbindung von Menschen und ein globales Zusammenwachsen der Menschheit.

Die Medialisierung und Informatisierung wird zwar durch die Entwicklung von Röhren- und Relais-Rechnersystemen insbesondere für kriegerische Zwecke im 2.Weltkrieg vorangetrieben, erhält aber erst durch die Erfindung des Transistors 1947 den entscheidenden Entwicklungsschub, der mit der Integration einiger Hundertmillionen Transistoren in einem Mikroprozessor in der Jetztzeit landet und die Digitalisierung der Welt vorantreibt.

Spektakulär ist die mit bescheidenen Rechnerleistungen erzielte Eroberung des Weltraums (1957 Sputnik; 1969 Apollo 11: MondlandungFootnote 19), jedoch hat die Informatisierung auf der Erde weitergehende Auswirkungen im technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. Sie ist heute ein zentrales kulturelles Basisschema, was schon 1979 von Lyotard in „Das postmoderne Wissen“ festgestellt wurde.

„Mit der Hegemonie der Informatik ist es eine bestimmte Logik, die sich durchsetzt, und daher auch ein Gefüge von Präskriptionen über die als „zum Wissen“ gehörige akzeptierten Aussagen gegeben“ (Lyotard 2019, 31).

Mit den „akzeptierten Aussagen“ meint Lyotard alle Wissensarten, die sich mathematisieren lassen. Damit ist sowohl ein Verlust an implizitem und emotionalem Wissen des Schönen verbunden als auch das Gefühl für das Gute, das zu tun ist, geht verloren. Lyotard schien schon damals eine weitere Gefahr in der Aushöhlung demokratischer Prinzipien durch globale Informationskonzerne vorauszuahnen, wenn er feststellt:

„So verlaufen heute die Erweiterungen der Macht und ihre Selbstlegitimierung über die Produktion, Speicherung, Zugänglichkeit und Operationalität der Informationen“ (Lyotard 2019, 117).

Eng verbunden mit der Informatisierung ist die Entdinglichung (vgl. S. 143) der Wirklichkeit. Der Medientheoretiker Vilém Flusser stellt 1993 fest:

„Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge »Informationen«“ (Flusser 1993, 81).

Er räumt zwar ein, dass es immer schon Informationen gegeben hätte, das Neue sei jedoch: „Diese Undinge sind, im genauen Sinn des Wortes, »unbegreiflich«. Sie sind nur dekodierbar“ (ebd.). Die Abbildung der Welt auf Bildschirmen stellt nicht nur eine Verflachung durch Reduktion der Dreidimensionalität auf zwei Dimensionen dar, sondern auch eine Reduktion sonstiger Wahrnehmungsqualitäten, insbesondere die des Begreifens. Der Wegfall des taktilen Reizes als einzigem sicherem Nachweis für die Realität eines Gegenstandes (Morris, vgl. S. 241) führt zur Virtualisierung der Welt mit dem ethischen Problem, nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können.

Im engen Zusammenhang mit Modularität, Informatisierung und Entdinglichung steht das Basisschema des Systems. Der aus der Kybernetik stammende Ansatz des Systemdenkens hat sich inzwischen in allen Bereichen der Kultur und Gesellschaft etabliert und abstrahiert die Dinge zu black boxes.

Angefangen bei Norbert Wieners “Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine” (1948) über Ludwig von Bertalanffys „An Outline of General Systems Theory“ (1950) und John von Neumanns “The Computer and the Brain” (1958) hin zu Ropohls „Eine Systemtheorie der Technik“ (1979) sind die gemeinsamen Merkmale des Systemansatzes die Vereinfachung immer komplexer werdender Gedankengebäude und die holistische Verbindung unterschiedlicher Wissensgebiete (z. B. Biologie und Technik). Rasch hat sich dieses Basisschema auf zahlreiche andere Gebiete ausgedehnt:

Künstliche Intelligenz (John Mc Carthy), MRI (Mental Research Institute), Systemische Therapie (Virginia Satir), Kybernetische Didaktik (Felix von Cube), Autopoiesis (Maturana, Valera), Radikaler Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld), Soziologische Systemtheorie (Niklas Luhmann), geomorphologische Prozessresponzsysteme (R.J. Chorley) und Strukturalismus (Gilles Deleuze), um nur einige Ansätze und Personen zu nennen. Deutliche Kritik an dem um sich greifenden Systemdenken übt Ken Wilber, wenn er schreibt:

„Die Systemtheorie bekämpft daher in großartiger Weise den plumpen Reduktionismus, aber dafür ist sie selbst die herausragende Vertreterin des subtilen Reduktionismus, jenes »Es-ismus«, der die Moderne so nachhaltig geprägt hat. »Das hat die moderne Philosophie ruiniert« : Aber nicht nur diese, sondern auch die moderne Psychologie, Psychiatrie und Kognitionswissenschaft, weil sie nach wie vor alle Ich-heiten und alle Wir-heiten auf Info-Esheiten reduzieren, die durch neuronale Es-Pfade huschen, auf denen sie durch Es-Neurotransmitter ihren Es-Zielen entgegenbefördert werden. Gegenwart, Existenz und Bewußtsein des Menschen sind nicht mehr nötig“ (Wilber 2002, 55 f).

Die Vernachlässigung des Ich- und Wir-Bereichs führt nach Wilber zu einem „Flachland-Gewebe von Es-heiten“ ((a.a.O., 56), Hervorh. THM). Soll aus dem „Flachland-Gewebe“ ein ganzheitlicher Stoff mit Falten (Latour) werden, so muss zu der Dingwahrnehmung der Es-heiten die Ausdruckswahrnehmung der Ich- und Wir-heiten hinzutreten.

Werden die Systeme miteinander verknüpft, so entstehen unterschiedlich stark differenzierte und hierarchisierte Vernetzungen. Die vernetzten technischen Strukturen, z. B. die Energieverteilnetze, die Verkehrsnetze, das Internet und, sich daraus entwickelnd, das Internet der Dinge (IoT), das reale und virtuelle Gegenstände miteinander vernetzen soll, sind als Basisschema in die Gesellschaft eingedrungen. Die Vernetzung zeigt sich auch in Gestalt der sogenannten sozialen Netzwerke, in den Wissenschaften durch Clusterbildungen und Fächerverbindungen und in der organisatorischen Hülle der Technik durch Verknüpfung von Informations-, Rohstoff-, Waren- und Geldströmen. Vernetzung macht sich auch als Denkschema bemerkbar, wenn es darum geht, Informationen aus unterschiedlichen Wissensbereichen miteinander in Beziehung zu setzen und miteinander zu verknüpfen, so wie es in dieser Untersuchung geschieht.

Eine andere Tendenz, die mit der globalen Elektrifizierung, Informatisierung, Medialisierung und Vernetzung verbunden ist, die „Implosion“ der Welt zu einer „global village“ aufgrund der Gleichzeitigkeit von „Aktion und Reaktion“ und der weltweiten Verfügbarkeit aller Informationen. Diese „Implosion“ wurde schon früh von Marshall McLuhan im Jahre 1962 in „The Gutenberg Galaxy“ vorausgesehen und in seiner Grundlegung der Medientheorie „Understanding Media“, die sowohl den Inhalt als auch das Medium zum Gegenstand der Forschung machte, zu der bekannten Aussage „the medium is the message“ verdichtet. (vgl. (McLuhan und Gordon 2003, 5 f))

„In a culture like ours, long accustomed to splitting and dividing all things as means of control, it is sometimes a bit of a shock to be reminded that, in operational and practical fact, the medium is the message” (McLuhan und Gordon 2003, 19).

In einer späteren Veröffentlichung, die durch einen Druckfehler den Buchtitel „The medium is the massage“ (vgl. (McLuhan und Fiore 2008) erhielt, erläutert McLuhan den kulturprägenden Einfluss von Medien:

„Societies have always been shaped more by the nature of media by which men communicate than by the content of the communication” (McLuhan und Fiore 2008, 8).

Mit der Medialisierung ist sowohl die Erweiterung unserer Wahrnehmung als auch die Erweiterung unserer Handlungsmöglichkeiten verbunden. McLuhan geht dabei von einem erweiterten Medienbegriff aus, der Medien nicht nur als Kommunikationsmedien sieht.

„McLuhan thought of a medium as an extension of the human body or the mind. […] A medium, or a technology, can be an extension of the human being” (McLuhan und Gordon 2003, XIV).

Beispielsweise bezeichnet McLuhan das Rad als Erweiterung (extension) unseres Fußes, das Buch als Erweiterung unseres Auges, die Kleidung als Erweiterung der Haut und elektrische Stromkreise als Erweiterung unseres zentralen Nervensystems (McLuhan und Fiore 2008, 26–40). Mit dieser Erweiterung der Wahrnehmung und der Handlungsmöglichkeiten ist zugleich eine „Selbst-Amputation“ verbunden, die zu einer Einschränkung der Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Erkenntnis führt:

“Self-amputation forbids self-recognition” (McLuhan und Gordon 2003, 64).

Als Beispiel dafür kann man anführen, dass der häufige oder ausschließliche Gebrauch von Satellitennavigationsgeräten schließlich zum Verlust des Orientierungsvermögens führt, zur Selbstamputation des Orientierungssinns.

Aber auch die Zunahme sitzender Tätigkeit und das Fehlen körperlicher Anstrengung und Bewegung führt zu eingeschränkten Selbstentfaltungs- und Selbstwahrnehmungsmöglichkeiten und den damit verbundenen Zivilisationskrankheiten.

Hier begegnet uns erneut der scheinbare Widerspruch zwischen der Erweiterung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten und der gleichzeitigen Einschränkung derselben. Es ist der gleiche Widerspruch, der einerseits in der Oberflächenästhetisierung (vgl. S. 221) der Wirklichkeit besteht, andererseits in einem Verlust des Verstehens durch fehlende Tiefenwahrnehmung. Diese „Anästhetisierung“ oder eigentlich noch genauer und treffender „Anästhesierung“ kann man als kulturelles Metaschema identifizieren, denn es durchdringt alle Lebensbereiche.

Durch immer komplexere Systeme und Strukturen, durch Globalisierung und die dadurch bedingte Arbeitsteilung geraten viele Dinge im wahrsten Worte „aus dem Blick“, z. B. das umweltbelastende Färben von Stoffen in Indien, die Kinderarbeit beim Rohstoffabbau im Kongo, das Arbeiten im Pestizidnebel auf Bananenplantagen, das Unsichtbarmachen von Massentierhaltung in automatisierten und klimatisierten Ställen. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ lautet das nie explizit formulierte Motto, das es ermöglicht, Vieles moralisch durch Verdrängung ertragbar zu machen.

Shore weist in einer Fußnote auf das methodologische Problem eines solchen Fundamental- oder Metaschemas hin, dass derart von außenstehenden Beobachtern gewonnene Schemata in der mentalen Realität der Beobachteten keinerlei Realität haben könnenFootnote 20. Dennoch ist es sinnvoll aus didaktischen Motiven die Anästhetisierung als Metaschema weiter zu verfolgen.

Wie wir bereits am Beispiel der offenen Kochstelle gesehen haben, bezieht sich die Anästhesierung auch auf den gesamten Energiesektor. Die Abkapselung des Feuers in Brennräumen einer Heizung oder eines Kraftwerks führt zur Abstraktion der Energie hin zu dem unsichtbaren Sekundärenergieträger „Strom“. Wendet man die Metapher „Sprache der Technik“ an, so könnte man das Sprachbild entwerfen, dass durch die Abstraktion der Energie zu Strom das gleiche Problem entsteht, wie beim Ersetzen des Bargeldes durch Kreditkarten, nämlich das Leben über unsere Verhältnisse, das Leben auf Pump, weil die Anschaulichkeit des Ausgebens von Bargeld wegfällt. Dies insbesondere im Hinblick auf die Klimaproblematik und nachfolgende Generationen. Die für Strom gefundene Anästhetik lässt sich auch auf andere Energieträger übertragen. Erdgas, das im Jahre 2021 50 % der Haushalte mit Heizenergie versorgte, erreicht uns unterirdisch, unsichtbar durch ein Verteilnetz. Bei der Betankung von Autos mit Diesel oder Benzin entsteht eine Volumenvorstellung allein aufgrund der Anzeige an der Tanksäule und selbst bei Lebensmitteln ist der Energiegehalt durch Steigerung des (billigen) Zuckergehaltes oft anästhetisiert worden. Man könnte dieses Kulturphänomen als Teilmenge der Anästhetisierung daher „Energieanästhetik“ nennen. Auch die fest verbauten Akkumulatoren, die zunehmend die zumindest noch anschaulichen und handhabbaren Batterien ersetzen, folgen dem Trend der Anästhesierung. Gleichzeitig ist der Trend des Einbaus und der Verwendung von Akkus ein Beispiel für die Kopplung kultureller Basisschemata, hier die Kopplung des Basisschemas Anästhetisierung mit dem Basisschema „Mobilität“. Das Basisschema Mobilität bezieht sich z. B. auf Waren in Containern, Informationen, Geldströme und Wissen, aber auch auf die Menschen selbst, die räumliche Mobilität, z. B. bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes und die geistige Mobilität und Flexibilität beim Lernen bis ins hohe Alter.

Es wird sich später noch erweisen müssen, ob die kulturellen Basisschemata eine erfolgversprechende Möglichkeit sind, ein Kategorialgefüge für die Technikdidaktik zu gestalten, um damit Unterrichtsinhalte für Technikcurricula festzulegen. Zunächst wenden wir uns aber dem wissenschaftlichen Verstehen der Technik zu.

4.2.3 Das „wahre“, wissenschaftliche Verstehen der Technik

Wenn wir uns nun dem wissenschaftlichen Verstehen der Technik zuwenden, dann geht es um „das Wahre“ der Technik, die Decodierung der Denotation der kulturellen Sinnkapseln. Die Denotation oder Hauptbedeutung der Technik ist scheinbar hinlänglich bekannt und kommt uns in Form der Ingenieurwissenschaften, der Allgemeinen Technologie oder als Wissenschaftstheorie der Technik entgegen. Trotzdem ist die Frage zu stellen, ob es im wissenschaftlichen Bereich der Technik noch Gebiete gibt, die den bisherigen fachdidaktischen Ansätzen gefehlt haben.

4.2.3.1 Technik als „Ur-Humanum“?!

„Die Technik in ihrem Wesen und ihren ersten Ursprüngen hat ihren unbezweifelbaren menschlichen Ort. Sie ist ein Ur-Humanum, so alt wie der Mensch und mit dessen erstem Heraufkommen mitgesetzt“ (Schadewaldt 1957, 10 f).

Dieses Zitat des Literaturwissenschaftlers und Altphilologen Schadewaldt begegnet uns in der Fachdidaktik der Technik sehr häufig und dient meist dazu, die schon lang andauernde kulturelle Bedeutung der Technik hervorzuheben (vgl. z. B.(Schmayl 1989, 20), (Wiesmüller 2006, 7), (Schlagenhauf und Wiesmüller 2018, 2)).

Es fragt sich nur, an welcher Stelle im wissenschaftlichen Verständnis dieses „Ur-Humanum“ wieder zutage tritt. Nimmt man ein beliebiges Lehrbuch einer Ingenieurwissenschaft zur Hand, z. B. „Photovoltaik: Lehrbuch zu Grundlagen, Technologie und Praxis“, so taucht dort der Mensch allenfalls unter dem Stichwort „Maßnahmen zum Personenschutz“ (Mertens 2020, 204) oder indirekt unter „Probleme der heutigen Energieversorgung“ oder „Geschichte der Photovoltaik“ auf (vgl. a.a.O.,7). Selbst in einem fast 600-seitigen Lehrbuch der „Automatisierungstechnik“, das den Lehrstoff für „Fachschulen für Technik“, für den Bereich „der beruflichen Weiterbildung“ und für „Studenten der Hochschule“ (Schmid 2020, 3) vermitteln will, finden sich lediglich einige Seiten zur „Sicherheit von Maschinen und Anlagen“ (a.a.O., 371 ff), aber keine Hinweise auf Arbeitsplatzgestaltung oder Folgen von Automatisierung. Die wissenschaftliche Betrachtung der Technik scheint den Menschen aus dem Blick verloren zu haben. Das hat auch Schadewaldt schon festgestellt:

„Heute stehen wir vor der mehr als seltsamen Paradoxie, daß die mit dem Menschen selbst gesetzte Technik […] sich gegen ihn selber, den Menschen kehrt, so daß sie ihn beschränkt, ihn inmitten aller seiner errungenen Möglichkeiten verarmen läßt, ihn um das einfache Glück bringt, ein Mensch zu sein, und nun schließlich sogar in seiner nackten Existenz gefährdet“ (Schadewaldt 1957, 27).

Man könnte nun einwenden, dass es nicht zu den Aufgaben einer Ingenieurwissenschaft gehört, das eigene Verhältnis zum Menschen zu klären. Doch wer macht es dann?

Die Allgemeine Technologien scheinen diese Lücke zu füllen, insbesondere die „Soziotechnischen Systeme“ Ropohls.

„Der technische Charakter der Gesellschaft und der gesellschaftliche Charakter der Technik verschmelzen in der Symbiose des soziotechnischen Systems“ (Ropohl 1979, 181).

Der Ingenieur und Technikphilosoph Günter Ropohl hat mit seinen Dimensionen und Erkenntnisperspektiven der Technik (siehe Tabelle 4.4) die enge ingenieurwissenschaftliche Semiosphäre (vgl. Anm. 8, S. 21) verlassen und damit zugleich eine didaktische Tür geöffnet. Ropohls Verdienst besteht vor allem darin, die humane und soziale Dimension der Technik in den Vordergrund zu rücken.

Tabelle 4.4 Dimensionen und Erkenntnisperspektiven der Technik (aus: (Möllers 2016, 107) nach Ropohl, 1979, 32)

Erst durch die Integration dieser Perspektiven in die wissenschaftliche Betrachtung kann man „das Wahre“ der Technik verstehen.

Das besondere Verdienst Horst Wolffgramms besteht hingegen in der äußerst differenzierten Herausarbeitung der „Elemente, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten technologischer Systeme“, so der Untertitel der Erstauflage seiner „Allgemeinen Technologie“ (Wolffgramm 1978). Die Anwendung des kulturellen Basisschemas „System“ und das Systemdenken führten dazu, dass die verstreuten Erkenntnisse der einzelnen Ingenieurdisziplinen strukturiert zusammengefasst und somit einem tieferen Verstehen zugänglich gemacht wurden. Stoff-, Energie- und Informations-/ Daten- umsetzende Systeme sind folgerichtig im fachdidaktischen Denken und schulpraktischen Handeln fest verankert und bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Es fehlte diesem Ansatz aber zunächst die humane und soziale Dimension. Diese entwickelte Wolffgramm später in seiner Allgemeinen Techniklehre (Wolffgramm 2012), die den gesellschaftlichen Charakter der Technik durch ein eigenes Buch „Technik und Gesellschaft“ besonders herausstellt.

„Die Technik ist somit wesentliche Entstehungs-, unveräußerliche Existenz- und ständige Entwicklungsbedingung der menschlichen Gesellschaft. Technik ist in diesem Sinne eine gesellschaftliche Erscheinung“ (Wolffgramm 2012, 29).

Will man die Technik wieder zu einem „Ur-Humanum“ werden lassen, so kommt es darauf an, die soziale und humane Dimension der Technik wissenschaftlich weiterzuentwickeln und didaktisch wirksamer werden zu lassen.

Dies könnte u. a. durch die Erweiterung des bisherigen wissenschaftlichen Verstehens um die Perspektiven der „Arbeitswissenschaft“Footnote 21, die sich insbesondere mit dem Verhältnis Mensch-Technik beschäftigt (vgl. (Möllers 1986)), erfolgen.

4.2.3.2 Der entscheidende Unterschied oder Naturwissenschaften als angewandte Technik?!

Ein immer wieder in öffentlichen Diskursen, aber auch bei Technikern auftauchendes Missverständnis ist das wissenschaftstheoretische Verständnis von Technik als „angewandte Naturwissenschaft“. Wegen der Hartnäckigkeit dieser Floskel lohnt sich ein kurzer Exkurs in die Wissenschaftstheorie der Technik. Kornwachs formalisiert in seinem Buch „Strukturen technologischen Wissens“ „Sätze über technische Gegebenheiten auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen kategorialen Systemen, wie z. B. Logik, Grammatik, Analysis und unter Verwendung unterschiedlicher mathematischer Theorien“ (Kornwachs 2012, 121). Er unterscheidet dabei Eigenschaften, und

Die Formalisierung und die Konsequenzen für die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Technik sei am Beispiel der Schlussfigur des Pragmatischen Syllogismus erläutert.

„Es seien zunächst zwei Eigenschaften beschrieben:

Eigenschaft A: Gegenstand mit Impuls 1,2kgm/s

Eigenschaft B: Nagel dringt 2 cm in Holz ein

Der kausale Zusammenhang wird dargestellt als: A → B

In Worten: Wenn ein Gegenstand mit dem Impuls 1,2kgm/s auf einen Nagel trifft, dann dringt er 2 cm ins Holz ein

Seien dann eine und ein beschrieben:

Schlage mit einem 500 g Schlosserhammer aus 30 cm Höhe auf den Nagel

Nagel dringt 2 cm ins Holz ein

dann lautet die Aufforderung zum technischen Handeln:

dann tue oder versuche B per A.

In Kurzform:

„Wenn (A → B) und B ist das Ziel, dann tue oder versuche

(Kornwachs 2013, 90)

Während der kausale Zusammenhang zwischen den Eigenschaften A und B als wahr oder falsch bezeichnet werden kann und theoretisches Wissen aus Erfahrung oder der Wissenschaft darstellt, ist das technische Handeln („dann tue oder versuche B per A“) erstens durch eine Zielsetzung geprägt und zweitens durch selbst erfahrenes oder überliefertes praktisches Wissen. Das Kriterium für technisches Handeln ist die Effektivität. Erfolgreiches technisches Handeln ist nach dem Pragmatischen Syllogismus auch ohne theoretisches Wissen möglich. Dies zeigt sich in zahlreichen Beispielen der Technikgeschichte.

„Die Römer haben Gewölbe gebaut ohne die Mathematik der finiten Elemente, die Dome wurden ohne die Kenntnis von Materialkonstanten errichtet, Uhren, Mühlen oder Fuhrwerke ohne die Newtonsche Mechanik. Technik ist älter als Wissenschaft“ (Kornwachs 2021, 9).

Kausale Aussagen (know why) sind Kennzeichen der Naturwissenschaften, Aussagen zur Effektivität von Handlungen (know how) sind Aussagen der Technikwissenschaften und in der Vorstufe Aussagen des Handwerks. Kornwachs formuliert es so:

„Wissen, das in Form einer deduktiv-nomologischen Erklärung strukturiert ist, (kann) nicht dazu herangezogen werden, eine technologische Regel deduktiv zu begründen“ (Kornwachs 2012, 65).

Das heißt, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen zwei Eigenschaften besteht, dann kann man aus diesem kausalen Zusammenhang keine eindeutige technische Regel oder Handlung ableiten. Vielmehr stehen in Wirklichkeit zum Erreichen eines Zwecks oft sehr viele Mittel zur Verfügung. Der handelnde Mensch entscheidet, welches Mittel er zur Zielerreichung auswählt.

Auf unser obiges Beispiel bezogen könnte die technische Regel ebenso heißen: Schlage mit einem 1000 g Fäustel aus 15 cm Höhe auf den Nagel oder schlage in Ermangelung eines Hammers mit einem handlichen Stein auf den Nagel.

Damit ist auch die Aussage „Technik ist angewandte Naturwissenschaft“ aus wissenschaftstheoretischer Sicht falsch.

Hinzu kommt, dass sich das Kriterium der Effektivität nicht nur auf das gewählte Mittel (welchen Hammer wähle ich aus?) bezieht, sondern auch auf die Folgen (beschädige ich mit dem Hammer zusätzlich das Werkstück/ meinen Finger?).

Technisches Handeln ist oft Handeln nach Regeln, die sich bewährt haben, also nach bestimmten Kriterien effektiv sind.

Die Kriterien für die Wahl der Mittel zur Erfüllung von Zwecken und die Bewertung der Effektivität kommen nicht aus der Technik selbst, sondern werden von Menschen gefunden, ausgehandelt und gesetzt“ (abgewandelt nach (Möllers 2019a, 61 f)).

Diese Erkenntnis werden wir im Zusammenhang mit dem verantwortlichen Handeln und Gestalten weiterverarbeiten.

Als Denkanstoß an die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften sei an die bereits oben getroffene Feststellung erinnert, dass die exakten Naturwissenschaften erst zu voller Blüte kamen, als es die Reproduzierbarkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit und leichte Bedienbarkeit technisch produzierter Messgeräte erlaubte, valide, reliable und objektive Messungen vorzunehmen. Deshalb könnte man ebenso provozierend und unvollständig den Satz „Technik ist angewandte Naturwissenschaft“ abwandeln zu „Naturwissenschaften sind angewandte Technik“. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte:

„Mittlerweile ist die Wissenschaft ohne Technik nicht mehr denkbar und die Technik ist ohne wissenschaftliche Grundlage ebenfalls nicht mehr denkbar“ (Kornwachs 2021, 9).

4.2.3.3 Technik als Rationalitätsinsel mit organisatorischer Hülle

Wir haben gesehen, dass technisches Handeln auch möglich ist, ohne kausale Zusammenhänge zu durchschauen. Technische Artefakte und technisches Handeln verfolgen aber ein Ziel. Zum wissenschaftlichen Verstehen von Technik gehört demnach auch das Wissen um die Zielsetzungen der Technik.

„Zielsetzungen sind aus rein wissenschaftlichen Überlegungen nicht ableitbar, sie werden willentlich gesetzt. Ziele sind keine natürlichen, sondern institutionelle Tatsachen, d.h. es sind Menschen, die Ziele setzen. Damit spielen Normen, Interessen, Bewertungen und Werte eine Rolle“ (Kornwachs 2021, 10).

Deshalb nehmen die Zielsetzungen und Zielsetzungssysteme in der Systemtheorie Ropohls auch einen breiten Raum ein (vgl. (Ropohl 1979, 115–127).

„Ein Ziel ist ein als möglich vorgestellter Sachverhalt, dessen Verwirklichung erstrebt wird. […] Ein Ziel wird in einem Zielsatz formuliert. Ein Zielsatz enthält zwei Bestandteile: (a) die beschreibende Kennzeichnung des Sachverhaltes; (b) die Auszeichnung dieses Sachverhaltes als erstrebt, erwünscht, gefordert, befürwortet. […] Insbesondere soll der Zielbegriff auch Wünsche, Bedürfnisse, Interessen, Normen und Werte umfassen“ (Ropohl 1979, 116).

Im weiteren Verlauf definiert Ropohl Zielsysteme als Menge von Zielen und die Relationen zwischen Zielen, nämlich Indifferenz-, Konkurrenz-, Instrumental- und Präferenzrelationen, ferner Zielketten und Zielhierarchien (a.a.O., S. 117 f). Beispielhaft möchte ich eine Definition hervorheben:

„Eine Relation zwischen zwei Zielen Z1 und Z2 heißt Instrumentalrelation, […] wenn dadurch, dass Z1 erfüllbar ist, auch Z2 erfüllbar ist.“ (Ropohl 1979, 117).

Diese Instrumentalrelation ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil oft die erste Stelle in dieser Instrumentalrelation als Mittel zur Erfüllung des Zieles Z2 bezeichnet wird (Abb. 4.11).

Abbildung 4.11
figure 11

Einfache Zielkette. (nach: Ropohl, 1979,121)

Während bei der Instrumentalrelation erkennbar ist, dass es sich um zwei Ziele mit den jeweils dahinter liegenden Wünschen, Bedürfnissen usw. handelt, lässt sich das Ziel-Mittel-Schema sowohl kritisch als auch affirmativ nutzen.

„Die ‚affirmative’ Position benutzt den Dualismus von Mitteln und Zielen dazu, eine Sphäre des objektiv Gegebenen und Wertneutralen gegenüber einer Sphäre des subjektiven Wünschens, Wollens und Bewertens abzuheben und auf diese Weise einer wertfreien Wissenschaft und Technik einen Bereich zu sichern, der jeglicher Zieldiskussion und damit jeglicher im weitesten Sinne politischen Auseinandersetzung enthoben ist“ (Ropohl 1979, 121).

An einem Beispiel sei verdeutlicht, dass ein Verstehen der Technik. ohne das Verstehen der Zielsetzungssysteme nicht vollständig ist (Abb. 4.12).

Abbildung 4.12
figure 12

Bügeleisen als Beispiel für das Ziel-Mittel-Schema. (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Eine affirmative Bewertung des Bügeleisens käme zu dem Schluss: Das Mittel „Bügeleisen“ ist so und dient lediglich dem Glätten von Stoff! Daher lässt sich mit großen Männerhänden nur schlecht bügeln.

Eine kritische Sichtweise würde die Ziele bei der Konstruktion aufdecken und käme zu der Bewertung: Konstrukteur und Hersteller des Bügeleisens vertreten ein veraltetes Bild von der Arbeitsteilung im Haushalt und haben den Griff des Bügeleisens für kleinere Frauenhände konstruiert. Technik schließt einerseits die Rationalität der Planer und deren Zielsetzungen mit ein und kann sie dadurch undurchschaubar machen, andererseits machen die „eingebauten“ Kausalketten Technik durchschaubar. Damit wird Technik zu einer „Rationalitätsinsel“ (Mutschler 1998, 14), wie es Mutschler in seinem Buch „Die Gottmaschine“ ausdrückt. Diese „Rationalitätsinseln“ haben eine eigene „Plausibilitätsstruktur“ und dadurch auch eine „wohltuende Art von Durchschaubarkeit“ (a.a.O., 15). Daher sieht Mutschler auch die „Faszination des Technischen“ in der „Eindeutigkeit der technikimmanenten Funktionen, ihrer Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit“ (a.a.O., 16) begründet. In dieser Verfügbarkeit der Technik liegt zugleich auch ein Schlüssel zum Selbstverstehen durch Selbstwirksamkeit (vgl. folgendes Kapitel).

Im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit und Verlässlichkeit von Technik wird oft die „organisatorische Hülle der Technik“ außer Acht gelassen, die „alle Organisationsformen (umfasst), die notwendig sind, um die Funktionalität eines technischen Artefaktes überhaupt ins Werk setzen zu können“ (Kornwachs 2013, 22). Zwischen allen organisatorischen Hüllen, z. B. der staatlichen, wirtschaftlichen. individuellen, finden „Austauschprozesse durch Trägersubstrate“ wie „Geld, Macht und […] Information“ (a.a.O., 24) statt. Bruno Latour nennt die organisatorische Hülle „technische Infrastruktur“ und meint damit

„eine mehr oder weniger zusammengebastelte Mischung aus Vorrichtungen, die ein wenig von überall her gekommen sind, während andere diese Mischung irreversible zu machen versuchen, indem sie sie vor der Analyse schützen und daraus eine sorgfältig versiegelte und verdeckte Black Box machen“ (Latour 2018, 305).

Latour sieht einerseits die Gefahr des Unsichtbarmachens dieser technischen Infrastruktur, sieht aber gleichzeitig den „Vorteil des Konstruktivismus klar: Alles ist hier zusammengebaut; alles kann auseinandergebaut werden“ (ebd.).

Das „Auseinanderbauen“ der Black Box kann man als Bildungsauftrag auffassen.

Kommen wir zurück zur Technischen Infrastruktur und den organisatorischen Hüllen, dann fragt sich, welche Bedeutung die Technik und deren Hüllen für die Gesellschaft haben.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Technik sieht Luhmann vor allem darin, dass „technische Arrangements“ „Konsens einsparen“, weil „was funktioniert, das funktioniert“ und dass Technik „konfliktträchtige Koordination menschlichen Handelns“ erspart (Luhmann 2018, 518).

„Die maßgebende Unterscheidung, die die Form »Technik« bestimmt, ist nun die zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Sachverhalten. Extrem abstrakt formuliert, geht es also um gelingende Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 2018, 525).

Die Reduktion der Komplexität geht aber so weit, dass es zu „zahllosen nichtnatürlichen Selbstverständlichkeiten“ (a.a.O., 532) kommt, die zu einer starken „strukturellen Kopplung“ (ebd.) zwischen Gesellschaft und Technik führen.

„Das heißt: in allen gegenwärtigen Operationen muß die gesellschaftliche Kommunikation Technik voraussetzen und sich auf Technik verlassen können, weil in den Problemhorizonten der Operationen andere Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen“ (Luhmann 2018, 532)

Aus der starken „strukturellen Kopplung“ und aus den „nichtnatürlichen Selbstverständlichkeiten“ ergibt sich auch nach Luhmann indirekt ein Bildungs- und Erziehungsauftrag, denn:

„Die evolutionäre Errungenschaft Technik wird in eine Gesellschaft eingeführt, die darauf weder strukturell noch semantisch vorbereitet ist“ ((Luhmann 2018, 533), Hervorh. THM).

Trotz des strukturellen und semantischen Nicht-Verstehens erfüllt die Technik dennoch eine wesentliche gesellschaftliche Funktion.

„Ihre wichtigste Leistung besteht darin, eine Umwelt kausal erwartbarer Ereigniszusammenhänge zu konstruieren. Plakativ formuliert: Natur wird in Technik verwandelt, Intransparenz und lose Kopplung in Transparenz und enge Kopplung, ohne dass […] die Natur selbst als deterministisch aufgefasst wird. Technik als konstruiertes Außen der Gesellschaft löst die aller Transparenz und Sinnhaftigkeit beraubte Natur als Voraussetzung der Schließung der Gesellschaft als eines Sinnsystems ab“ (Halfmann 2003, 141).

Wenn Technik für die „Schließung der Gesellschaft als ein sinnverarbeitendes System nach außen“ (a.a.O., 140) sorgt, so muss dies auch für den einzelnen Menschen als Mitglied der Gesellschaft gelten. Das führt uns direkt zum „Selbst verstehen im Verhältnis zur Technik“ und zur persönlichen Sinnsuche mit und durch Technik.

4.2.4 Sich selbst verstehen im Verhältnis zur Technik

„Verum ipsum factum“ (Vico) (Der Mensch kann nur das erkennen, was er selbst gemacht hat.)

Wenn Technik die Gesellschaft durch „Fixierung und Isolation von Kausalrelationen zum Zwecke ihrer redundanten Verwendbarkeit“ (Halfmann 2003, 137) als Sinnsystem abschließt, dann stellt sich die Frage, ob dies auch für den einzelnen Menschen gilt und inwiefern Technik zur Sinnfindung und Sinnsuche beim Menschen beiträgt.

4.2.4.1 Technik und Sinn des Lebens

Der Sinn des Lebens […] ist nicht zu erfragen, sondern zu beantworten, indem wir das Leben verantworten. Daraus ergibt sich aber, daß die Antwort jeweils nicht in Worten, sondern in der Tat, durch ein Tun zu geben ist“ (Frankl 2021, 234).

Viktor E. Frankl liefert uns einen ersten Hinweis darauf, dass Technik durch das Handeln und Gestalten zu einem sinnvollen Leben beitragen kann. Will man die Frage nach der Sinnfindung durch Technik aber tiefergehend beantworten, so müssen wir zunächst an Steenblock erinnern, der Sinn als das definiert, „was dem menschlichen Leben Bedeutsamkeit verleiht“ (Steenblock 2018, 348). Nach dieser Definition scheint Sinn etwas sehr Individuelles zu sein, weil auch Bedeutsamkeit individuell konnotiert ist. Außerdem schließt diese Definition aus, dass es den einen Sinn des Lebens gibt, weil es Vieles gibt, was dem Leben Bedeutsamkeit verleihen kann. „Bedeutsamkeit“ und „Sinn“ sind auch psychologische Kategorien, die der Psychologe Julius Kuhl in seinem Buch „Spirituelle Intelligenz“ vermittelt.

„Das Wort Sinn lässt sich psychologisch erklären durch ausgedehnte Netzwerke von bedürfnisrelevanten und werthaltigen Bezügen zur Welt, wie wir sie wahrnehmen und gestalten. Damit ist Sinnfindung ein Spezialfall einer allgemeinen psychischen Befähigung: Es geht um die Fähigkeit, umfassende Bezüge und komplexe Systeme insbesondere im Hinblick auf ihre Bedeutung für die existenziellen Bedürfnisse des Menschen zu verstehen“ (Kuhl 2015, 57).

Diese Erklärung spiegelt erneut die Wechselwirkung von Individuum („bedürfnisrelevant“) und Gesellschaft („werthaltig“) und bringt die Technik dadurch ins Spiel, dass der Mensch die Bedeutung der komplexen Systeme für die eigene Bedürfnisbefriedigung verstehen will. Deci und Ryan subsumieren daher auch die Sinnsuche unter die drei psychologischen Bedürfnisse Kompetenz, Autonomie und soziale Eingebundenheit. Wir hatten bereits gesehen, dass das Erleben von Technik zu allen drei Grundbedürfnissen wichtige Beiträge liefert. Das Erleben von Freiheit durch Technik (Ortega y Gasset), das Erleben von Kompetenz durch Selbstwirksamkeit (Cassirer) mit dem damit verbundenen inneren Wachstum und die Möglichkeit, durch Technik Verbindungen zu Mitmenschen herzustellen und zu kommunizieren sind nur drei Beispiele für bedeutsames, sinnstiftendes Erleben von Technik.

Wenn aus dem Erleben aber Verstehen von Technik werden soll, dann muss noch etwas hinzukommen. Erst das Bewusstwerden des Erlebens, die Metakognition über das Erleben, ermöglichen ein tiefes Verstehen.

Georg Simmel beschreibt diesen metakognitiven Akt der Spiegelung des Subjekts in unterschiedlichen, auch technischen Formen:

„Unser Verhältnis aber zu denjenigen Objekten, an denen oder die in uns einbeziehend wir uns kultivieren, ist ein anderes, weil diese selbst ja Geist sind, der in jenen ethischen und intellektuellen, sozialen und ästhetischen, religiösen und technischen Formen gegenständlich geworden ist; der Dualismus, mit dem das auf seine Grenzen angewiesene Subjekt dem für sich seienden Objekt gegenübersteht, erlebt eine unvergleichliche Formung, wenn beide Parteien Geist sind“ (Simmel 2008, 202).

Das heißt aber auch, dass diejenigen Objekte, in denen sich der „Geist“ anderer Subjekte mehr widerspiegelt, eher zur Kultivierung beitragen können.

„Hier geschieht ein Objektwerden des Subjekts und Subjektwerden eines Objektiven, das das Spezifische des Kulturprozesses ausmacht und in dem sich, über dessen einzelne Inhalte hinweg, seine metaphysische Form zeigt“ (Simmel 2008, 202).

Will man, unabhängig von der subjektiven Betrachtung eines Objekts, diesem einen kulturellen Sinn zusprechen, so nur insofern,

„daß in ihm Wille und Intelligenz, Individualität und Gemüt, Kräfte und Stimmungen einzelner Seelen (und auch ihrer Kollektivität) gesammelt sind“ (a.a.O., 204).

Dieser kulturelle Sinn tritt mehr oder weniger deutlich in Erscheinung und ist unterschiedlich stark ausgeprägt, was für die später noch zu begründende Auswahl von Unterrichtsgegenständen bedeutsam wird.

Zu dem tieferen, sinnhaften Verstehen gehört auch das Verständnis für die Dialektik der Technik. Aus der durch Technik gewonnenen Freiheit kann schnell eine Abhängigkeit und Unfreiheit werden und dass Erleben von Kompetenz und Selbstwirksamkeit kann seine Grenzen im möglichen Scheitern der Technik durch Unfälle, menschliches Versagen oder Naturkräfte haben. Schließlich kann auch die scheinbare soziale Eingebundenheit durch Technik in Vereinsamung und Isolation enden, wenn die Rolle der Technik in menschlichen Beziehungen überschätzt wird.

Insbesondere kann eine übersteigerte Bedeutungs- und Sinnzuschreibung zur Technik dazu führen, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten vor allem im Bezug zur Natur zu überschätzen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass ein angemessenes Verstehen der Technik im Verhältnis zur Natur nur über ein objektiv, idealistisches Naturverständnis erzielt werden kann, das den Menschen nicht als die Krone der Schöpfung ansieht, sondern die bestehenden ökologischen Beziehungen achtet und beachtet, um auch in Zukunft noch menschliches Leben auf dem Planeten zu ermöglichen.

Wenn aber Technik durch die Abkapslung von Sinn und Anästhetisierung zur Schließung von Kausalität und damit zum Sinnverlust beiträgt, dann stellt sich die Frage, welche Momente für Verstehen und Sinngewinn sorgen können?

Es sind die Momente, bei denen das Erleben bewusst wird, wo Freiheit in Unfreiheit umschlägt, wo Selbstwirksamkeit in Versagen umschlägt und wo soziales Eingebundenheit in Einsamkeit und Isolation umschlagen. Verallgemeinernd sind es die Momente, bei denen die Verfügbarkeit der Technik in Unverfügbarkeit umschlägt.

4.2.4.2 Technik in der Dialektik von Machbarkeit und Unverfügbarkeit

„Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren“ (Rosa 2020, 8).

In diesem Eingangszitat Hartmut Rosas steckt sowohl die kulturgeschichtliche Begründung für Technik in dem Wunsch, die Welt verfügbar zu machen, als auch die Feststellung, dass wahres Leben erst in der Begegnung mit dem Nicht-Planbaren, Unverhofften, Unverfügbaren stattfindet. Unverfügbarkeit ist ein Begriff, der erstmals in den 1920er und 30er Jahren von dem Theologen Rudolf Bultmann verwendet wurde. „‚Unverfügbarkeit‘ ist eine Näherbestimmung von ‚Unbegreiflichkeit des Jetzt in seinem Woher, Warum, Wozu‘“ (Richter 2014, 137). Unverfügbarkeit bezieht sich also auf das Zeiterleben von Sinn, auf das „Woher“ in der Vergangenheit, auf das „Wozu“ in der Zukunft und auf das „Warum“ in der Gegenwart. Wenn man Sinn als Grund und Ziel des Denkens und Handelns, also auch des technischen Denkens und Handelns ansieht, dann kann Sinnverlust oder Sinnabkapselung die Folge haben, dass die „Ziele von Technik zum Selbstzweck“ werden. Elisabeth Gräb-Schmidt beschreibt, wie es dazu kommen konnte:

„Denn das Abhandenkommen von Grund und Ziel des Denkens und Handelns ist das Kennzeichen der Moderne und erst recht der Postmoderne. Die Werte und Normen der christlich-säkularen Kultur sind zwar noch im Bewusstsein der Menschen, jedoch die Verbindlichkeit ist nicht mehr zu legitimieren und schwindet dahin. […] Die Technik ist orientiert an der Machbarkeit. Sie ist der Motor menschlichen Strebens und Handelns […] Es kennzeichnet die Neugier, das Spielerische, die Kreativität menschlicher Freiheit. Genau das bezeichnet eben die technische Freiheit. […] Aufgrund der Hierarchielosigkeit – die eben in der Brüchigkeit der Grundziele liegt – mausern sich die Ziele der Technik zum Selbstzweck. […] Ethische Bedenken gegenüber der Technik werden kaum als Sorge um die Selbstbestimmungswürde des Menschen angesehen, sondern allein als irrationale forschungsfeindliche Schikane abgetan“ (Gräb-Schmidt 2012, 53 f).

Das Wegbrechen der „Werte und Normen der christlich-säkularen Kultur“ muss aber nicht automatisch zu einer Technik führen, der es nur noch um Machbarkeit geht, denn die Selbstbestimmungswürde des Menschen lässt sich durchaus mit der technischen Freiheit vereinbaren. Dazu müssen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Zunächst scheint es so, dass Technik uns die Welt verfügbar macht, indem die unberechenbare Natur in kausale, berechenbare Zusammenhänge gebracht wird. Aber auch Technik wird unverfügbar, wenn sich die kausalen Muster des Konstrukteurs bei der Gestaltung von Bedienelementen oder -menüs dem Nutzer nicht erschließen und der Nutzer mit Klopfen, gutem Zureden oder sonstigen Quasiritualen die Technik „zum Leben erwecken“ möchte. Gleiches gilt, wenn die Technik aus unerfindlichen Gründen den Dienst versagt. Dann fällt Technik in einen mythischen Zustand zurück. Dieser Zustand ist aber auch dann gegeben, wenn Technik an die Stelle von Religion tritt und die Artefakte als Statussymbole oder Göttin (frz.: déesse) „angebetet“ werden. Roland Barthes beschreibt dies in seinem Essay „Der neue Citroën“ am Beispiel des Mythos des Citroën DS:

„Die »Déesse«Footnote 22 hat alle Wesenszüge […] eines jener Objekte, die aus einer anderen Welt herabgestiegen sind. […] Diese Vergeistigung erkennt man an der Bedeutung und der Materie der sorgfältig verglasten Flächen. Die »Déesse« ist deutlich sichtbar eine Preisung der Scheiben, das Blech liefert dafür nur die Partitur. […] Es handelt sich also um eine humanisierte Kunst, und es ist möglich, daß die »Déesse« einen Wendepunkt in der Mythologie des Automobils bezeichnet“ (Barthes 1996, 76 f).

Noch heute gilt „die DS“ als Designikone und der Mythos Auto lebt weiter in personifizierten Autos mit Namen, die liebevoller gepflegt werden als der eigene Körper. Zeit und Geld, die in dieses „Goldene Kalb“ der Neuzeit gesteckt werden, kann man auch als „Opfer“ der Neuzeit ansehen.

Doch gerade hier wird die Dialektik von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit deutlich. Die Suche nach Sinn, nach Bedeutsamkeit über den Umweg des Konsums macht zwar das Artefakt verfügbar, nicht aber zwangsläufig den erhofften Zustand der Anerkennung und Aufmerksamkeit. Auch die erhoffte Autonomie und Unabhängigkeit kann in finanzielle Abhängigkeit und Unfreiheit führen.

Das Religiöse oder Pseudoreligiöse tritt auch oft bei neu entstehenden Techniken auf, mit denen Heilsversprechen verbunden werden.

„Wenn eine Technik neu entsteht, erzeugt sie oft einen Bedeutungshof, der bis ins Religiöse, manchmal auch Pseudoreligiöse hineinragt“ (Mutschler 1998, 20 f).

Mutschler macht dies am Beispiel der Elektrizität um die Jahrhundertwende 19./20.Jh. deutlich. So lässt sich bei einem ersten Blick auf das Wasserkraftwerk Heimbach, das 1905 in Betrieb ging, nicht feststellen, ob es sich bei dem Jugendstilbau um eine Kirche oder ein Wasserkraftwerk handelt (Abb. 4.13).

Abbildung 4.13
figure 13

Kirche oder Kraftwerk? (Fotos: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Es gibt nicht nur eine negative Seite der Unverfügbarkeit der Technik, sondern Technik kann auch positiv unverfügbar sein und so zu einem sinnerfüllten Leben beitragen. Zur näheren Beschreibung des sinnerfüllten Lebens benutzt Rosa den Begriff der Resonanz, einem Beziehungsmodus, der durch vier Merkmale bestimmt werden kann. Da sich auch die Technik in einem Beziehungsmodus zum Menschen befindet, wird im Folgenden jeweils direkt der Zusammenhang zwischen den Momenten nach Rosa und der Technik hergestellt. Dies erfolgt zunächst anhand des eingangs erwähnten Beispiels des Orgelkonzerts in einem Dom (vgl. S. 7f) und wird anschließend verallgemeinert.

Das Moment der Berührung (Affizierung):

Affizierung beschreibt ein Ereignis, das einen Menschen „»inwendig« erreicht, berührt oder bewegt“ (Rosa 2020, 39). Am Beispiel des Orgelkonzertes kann uns sowohl die Musik der Orgel als auch die Erhabenheit der gotischen Kirche oder das durch den Sonnenuntergang ausgeleuchtete Glasfenster affizieren. Im pädagogischen Fachvokabular nennt man den dadurch erreichten Zustand „intrinsische Motivation“. Betrachten wir zunächst die oben beschriebene positiv konnotierte intrinsische Motivation, so kann diese allgemein durch die Schönheit eines Artefakts, durch ein bestimmtes Geräusch oder durch die perfekte Funktionalität eines technischen Artefaktes ausgelöst werden. Andererseits vermag auch das imperfekte Funktionieren, ein unästhetisches Erscheinungsbild den intrinsischen Wunsch hervorbringen, etwas verändern oder optimieren zu wollen. Damasio macht dieses Moment der Berührung, das sich in Gefühlen äußert und Subjektivität hervorruft, verantwortlich für das Entstehen von Kultur:

„Subjektivität ist erforderlich, damit die kreative Intelligenz angetrieben wird, die ihre Ausdrucksform in der Kultur findet“ (Damasio 2017, 182)

Das Moment der Selbstwirksamkeit (Antwort)

Affektive Tiefe ist daran erkennbar, dass auf die Berührung eine eigene, aktive Antwort, eine Emotion im Sinne von e-movere, eine Bewegung nach außen, hervorgerufen wird. Rosa verwendet an dieser Stelle den Begriff „Selbstwirksamkeit“ in dem Sinne, dass „wir uns wirksam und lebendig mit der Welt verbunden fühlen, weil wir selbst in der Welt etwas (seinerseits Affizierendes) zu bewirken vermögen“ (Rosa 2020, 40). In einem Dom kann die Affizierung dazu führen, dass wir in den Gesang der Gemeinde mit einstimmen und laut mitsingen. Sie könnte in Bezug zu den Glasfenstern den Wunsch aufkommen lassen, solche Fenster erhalten oder restaurieren zu wollen oder wegen der Klangvielfalt der Orgel könnte der Wunsch entstehen, Orgelbauer werden zu wollen oder selbst Orgel zu spielen. Verallgemeinernd können die durch Technik ausgelösten Resonanzmomente zu einer tiefen Befriedigung des Wunsches nach Kompetenz (Deci und Ryan) und Selbstwirksamkeit führen.

Das Moment der Anverwandlung (Transformation):

Wenn die E-motion eine Antwort des Angesprochenen, Bewegten hervorruft, dann ändert sich dadurch die Weltbeziehung, es findet eine Verwandlung statt. „Resonanzerfahrungen verwandeln uns, und eben darin liegt die Erfahrung von Lebendigkeit“ (Rosa 2020, 41). Den gerade beschriebenen Prozess kann man ebenso gut auch als Bildung bezeichnen. Interessant ist, dass Rosa von einer „doppelseitigen Transformation“ (ebd.) spricht, bei der sowohl der Bewegte als auch das Bewegende transformiert werden. Ist das Bewegende, Berührende ein Mensch, dann ist dies sofort einsichtig, handelt es sich jedoch um ein Musikstück, eine Orgel oder den Innenraum der Kathedrale, so ist dies nicht sofort ersichtlich. Ein Bildungserlebnis, bei dem eine Transformation stattfindet, führt dazu, dass ich dem Auslöser dieses Erlebnisses eine veränderte Bedeutung beimesse, die man auch als Konnotation bezeichnen kann. Ab sofort wird sich die Wahrnehmung des Musikstücks, der Orgel, des Kirschenraumes ändern, weil durch die Resonanzerfahrung die gleichen Emotionen wie bei der Erstwahrnehmung angestoßen werden können. Finden diese Bildungserlebnisse zugleich bei mehreren Individuen durch einen Prozess der Ko-Konstruktion statt und finden die gleichen Zuschreibungen, Konnotationen, statt, so entwickelt sich dadurch ein gemeinsamer Sinn und das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft wird erweitert, es findet eine gesellschaftliche Transformation statt.

Moment der Unverfügbarkeit:

Resonanz lässt sich nicht instrumentell herstellen, sie ist „konstitutiv unverfügbar“ (Rosa 2020, 44) und „ergebnisoffen“ (ebd.), sie lässt sich „weder sicher erzwingen noch garantiert verhindern“ (ebd.). Rosa wählt zur Veranschaulichung das für Viele nachvollziehbare Beispiel des Weihnachtsfestes, an dem man nach allem Vorweihnachtsstress pünktlich zum Weihnachtsabend durch Kerzenschein, Weihnachtslieder, Düfte und Essen (Artefakte) eine berührende Stimmung erzwingen möchte, diese sich aber oft nicht einstellt. Ebenso kann es passieren, dass die Orgelmusik und die bunten Glasfenster des Doms keine Resonanz hervorrufen.

Positiv konnotierte Momente der Unverfügbarkeit und Resonanz sind auch das Versprechen der Werbeindustrie, die uns suggerieren will, dass wir Resonanzmomente, die uns in Begriffen wie Liebe oder Glück begegnen, erkaufen können.

„Die Funktionsweise der Werbung und der kapitalistischen Warenwirtschaft überhaupt beruht darauf, dass sie unser existenzielles Resonanzbedürfnis, und das heißt: unser Beziehungsbegehren in ein Objektbegehren übersetzt“ (Rosa 2020, 45).

Erweiterte Mündigkeit wäre daran erkennbar, dass das Versprechen der Werbung durch Bildung am Wahren und Schönen, durch Erkennen und Verstehen der Affizierung und Emotion durchschaut würden. Das Erkennen und Verstehen setzt Resonanzfähigkeit voraus, von der Rosa sagt:

„Responsivität oder eben Resonanzfähigkeit wird so gleichsam zur »Essenz« nicht nur des menschlichen Daseins, sondern aller möglichen Weltbeziehungen; sie geht dem Vermögen, Welt auf Distanz zu bringen und verfügbar zu machen, unaufhebbar voraus“ (Rosa 2020, 38).

Die Resonanzfähigkeit würde auch die Blindheit für die wahre Leistung von Ingenieuren beseitigen, von der Latour schreibt:

„Der Gedanke, man könne alle Windungen und Wendungen des technischen Genies a priori aus Prinzipien deduzieren, hat die Ingenieure immer schon zum Lachen gebracht. […] Für die Ingeniosität ist alles in den Materialien Geist“ (Latour 2018, 314 f).

Für Latour ist es an der Zeit „Vorsorge“ zu treffen, „um die Techniken mit allem erforderlichen Feingefühl zu lieben“ (a.a.O., 315). Damit will er der „befremdlichen Blindheit bei den Modernen gegenüber den kostbaren Quellen aller Schönheit, aller Annehmlichkeit, aller Wirksamkeit“ (ebd.) entgegenwirken. Eine Blindheit, die er als „Mangel an Höflichkeit für ihr eigenes Genie“ (ebd.) ansieht.

Resonanzfähigkeit im Zusammenhang mit Technik zu erreichen, würde Technik aus der reinen Sphäre des Wahren auch in das Reich des Guten und Schönen zurückholen und damit nicht nur die Leistungen der Ingenieure mehr würdigen, sondern über das Verstehen der Grenzen der Machbarkeit ein neues Verhältnis zur Natur aufbauen. Voraussetzung dafür ist eine achtsame Haltung, die uns zum Verhältnis von Technik und Spiritualität führt.

4.2.4.3 Technik und Spiritualität

Die Überschrift mag auf den ersten Blick erschrecken, weil Technik und Spiritualität scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Spiritualität wird hier aber nicht als

„popularisierender Ausdruck für das Ziel einer nicht alltäglichen Sinnsuche (verstanden), die sich meist eklektisch auf Traditionsbestände westlicher wie östlicher Mystik bezieht und neben körperlichen Reinigungsübungen wie Fasten, ekstatischem Tanz, Blumenstecken oder Entspannungsübungen auch Meditation und sanfte Formen religiöser Erleuchtung vorsieht“ (Schmidt 2009, 681).

Definiert man Spiritualität als „epistemische Einstellung, bei der es um Erkenntnis geht“ (Metzinger 2014, 406), dann erscheint die Überschrift sinnvoller, weil man sich sofort fragen kann, welche Einstellungen und Erkenntnisse wir durch Technik erwerben können. Eine Erkenntniskategorie, die mit Technik erzielt werden kann, ist die Selbsterkenntnis. Eine Selbsterkenntnis könnte es sein, dass ich als Mensch in der Lage bin, eigene Ideen und Pläne in die Tat umzusetzen und diese Tat als fertiges Werkstück vor Augen bleibt. Ein Mensch kann anhand des Werkstücks darüber reflektieren, was er schon gut beherrscht und welche Fertigkeiten er noch verbessern kann. Er kann zu der Erkenntnis kommen, dass er bei genügend Durchhaltevermögen und Konzentration Ziele erreichen kann. Die Übertragung dieser Erkenntnisse auf andere Bereiche des Lebens gelingt dann, wenn man sich durch Metakognition selbst Rechenschaft über eigene Fähigkeiten ablegt.

Das dadurch einsetzende innere Wachstum und den dadurch gewonnenen Blickwinkel auf das eigene Leben hat schon Cassirer als „vielleicht die größte und denkwürdigste Leistung der Technik“ (Cassirer 1996, 204) bezeichnet.Footnote 23

Kommen wir auf den Prozess der Entstehung von technischen Artefakten zu sprechen, dann zeichnet sich dieser durch Konzentration auf die Sache und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Tun aus. Crawford postuliert als Voraussetzung dafür eine „asketische Prädisposition“ und meint damit:

„Um uns einer Aufgabe beharrlich widmen zu können, müssen wir alle anderen Dinge, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, aktiv ausschließen“ (Crawford 2016, 31).

In einer Zeit der „Aufmerksamkeitsökonomie“Footnote 24, in der wir durch Klingeltöne eingehender Messenger-Nachrichten und E-Mails ständig von einem zielgerichteten Tun abgelenkt werden und zu einer schnellen Reaktion genötigt werden, gerät die eigene Freiheit und Autonomie in Gefahr. Der Kontakt zur eigenen „Innenwelt“ ist von entscheidender Bedeutung für eine gesunde, eigenen Persönlichkeit, die durch Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit, aber auch Mitgefühl, Toleranz und Selbsttätigkeit in sozialer Verantwortlichkeit gekennzeichnet werden kann.

Der Kontakt zur eigenen Innenwelt setzt eine Aufmerksamkeitsautonomie voraus, zu der das technische Handeln durch Konzentration auf das Tun, auf das Wesentliche, beitragen kann.

Die Wurzel des lateinischen Wortes attentio (»Aufmerksamkeit«) ist tenere, was so viel bedeutet wie »anspannen«. Äußere Objekte stellen einen Befestigungspunkt für den Geist dar, sie ziehen uns aus uns selbst heraus. In der Begegnung zwischen dem Selbst und der rohen, fremden Andersartigkeit des Wirklichen wird Schönheit möglich“ (Crawford 2016, 49 f).

Wenn das technische Handeln und Gestalten unsere ganze Aufmerksamkeit fordern, dann ergibt sich der scheinbare Widerspruch, dass die Objekte des Handelns unsere Freiheit einschränken und uns durch ihr Material oder ihre Konstruktion zu einer bestimmten Handlungsabfolge, einem Algorithmus zwingen. Dieser scheinbare Widerspruch wird dadurch gelöst, dass wir durch das Tun Kompetenzen entwickeln und „das in der Welt handelnde Selbst eine klare Form an(nimmt). Es passt zu einer Welt, die es begriffen hat“ (a.a.O., 46). Statt eine Freiheit zu gewinnen, die nur eine Scheinfreiheit ist, gewinnt der Mensch durch den handelnden Umgang mit Objekten die „Handlungsmacht“ (a.a.O., 49) zurück.

„Denn wenn wir einer gekonnten Praxis nachgehen, öffnet sich uns eine Welt, die ihre eigene, von unserem Selbst unabhängige Wirklichkeit hat“ (Crawford 2016, 49).

Durch die „Unterwerfung“ unter die Gesetzmäßigkeiten des Materials, der Handlungsabläufe und des Werkzeuggebrauchs erlangen wir neue Welt- und Selbsterkenntnisse. Beziehen sich diese neuen Selbsterkenntnisse auch auf das „Gute“, also auf das moralisch richtige Handeln, dann kann daraus intellektuelle Redlichkeit entstehen, die für Metzinger bedeutet, „dass man nicht bereit ist, sich selbst etwas in die Tasche zu lügen“ (Metzinger 2014, 385) und die „mit sehr altmodischen Werten wie Anständigkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu tun (hat), mit einer bestimmten Form von »innerem Anstand«“ (ebd.). Intellektuelle Redlichkeit setzt Bewusstheit (conscientiaFootnote 25) voraus

„Bewusstheit, das ist der Moment, in dem der Erkenntnisvorgang selbst noch einmal reflexiv wird. In der inneren Wendung auf den Vorgang des Wissenwollens und des Erkenntnissuchens selbst entstehen dann Spiritualität, die spirituelle Einstellung und aus ihr heraus die intellektuelle Redlichkeit- und dies ist dann Kernbestandteil der wissenschaftlichen Methode, des selbstkritischen Rationalismus“ (Metzinger 2014, 410).

An dieser Stelle wird deutlich, dass

„Wissenschaft und die spirituelle Einstellung aus derselben normativen Grundidee entstehen, aus einer gemeinsamen Wertvorstellung. […] Erstens der unbedingte Wille zur Wahrheit […] und zweitens das normative Ideal der absoluten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber“ (Metzinger 2014, 409).

Technisches Handeln als spirituelle Praxis mit Bewusstheit kann zu intellektueller Redlichkeit und damit zu einem achtsameren Umgang mit sich selbst, mit Mitmenschen und Dingen unserer Umwelt beitragen.

Eine weitere Erkenntniskategorie ist die Erkenntnis über unsere kulturelle Umwelt, unsere Beziehung zu den Dingen, die uns umgeben.

Anselm Grün stellt in einer Abhandlung über Achtsamkeit den Zusammenhang zwischen der Beziehungslosigkeit und der fehlenden Achtsamkeit gegenüber den Dingen dar:

„Die eigentliche Krankheit unserer Zeit ist die Beziehungslosigkeit. […] Weil viele nicht mehr in Beziehung zu den Dingen sind, gehen sie brutal mit ihnen um. Sie benutzen sie nur für die eigenen Zwecke, sie beuten sie aus, sie zerstören sie. […] Der Achtsame atmet das Leben ein und hat darin alles, wonach er sich sehnt. […] Er fühlt sich als Teil der Schöpfung, geborgen, getragen, wertvoll, lebendig“ (Grün 2014, 11).

Wir hatten bereits das „Dialogische Prinzip“ Bubers kennengelernt. Bubers Ausgangspunkt aller Beziehungen ist die „Ich-Du“-Beziehung und die „Ich-Es“-Beziehung.

„Dies gehört zur Grundwahrheit der menschlichen Welt: Nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unserem Du zu einem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem.“ (Buber 2017, 36).

Die „Es-Welt“ der Artefakte kann geordnet werden und diese Ordnung wirkt auf den Menschen zurück (Vygotskij, Leontjew). Das Gewinnen einer achtsamen Beziehung zu der geordneten Welt der Artefakte wirkt zurück auf die achtsame Beziehung zwischen den Menschen, die „Ich-Du“-Beziehungen.

Spielt Technik damit eine Rolle bei der Lösung von „Lebensproblemen“?

Wenn Wittgenstein in Satz 6.52 seines Tractatus logico-philosophicus schreibt:

„Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleiben dann eben keine Fragen mehr; und eben dies ist die Antwort“ (Wittgenstein 2016, 110 f),

und in Satz 7

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ (a.a.O., 111),

dann könnte man meinen, dass wir über einen Großteil unserer Probleme und Befindlichkeiten nicht sprechen können und damit der Großteil unserer Lebensprobleme ungelöst bleibt.

Die Sätze Wittgensteins beziehen sich jedoch nur auf Sprache als Ausdrucksmittel. Der Mensch hat aber im Laufe der Geschichte gerade für die unaussprechlichen übersinnlichen, metaphysischen Dinge Ausdrucksmöglichkeiten jenseits von Sprache gefunden, das, was Susanne K. Langer mit „Präsentativer Symbolismus“ (vgl. S. 247) beschreibt oder Cassirer mit, der Mensch als „animal symbolicum“, ausdrückt. Zu diesen symbolischen Ausdrucksmitteln gehören die technischen Artefakte, die Teil unserer Kultur sind.

Wenn wir als Ziel von Bildung und Erziehung Aufklärung und Mündigkeit in einem o.g. erweiterten Sinne anstreben, dann ist sowohl das rationale Verstehen als auch das symbolische Verstehen, das Spiritualität voraussetzt, notwendig.

„Das gemeinsame Ziel ist das Projekt der Aufklärung, die systematische Erhöhung der eigenen geistigen Autonomie. Es gibt zwei Grundformen des epistemischen Handelns: subsymbolisch und kognitiv, in der Stille und im Denken- nämlich mit der Aufmerksamkeit […] und auf der Ebene des kritischen, vernünftigen Denkens, der wissenschaftlichen Rationalität“ (Metzinger 2014, 411 f).

Beiden Grundformen des epistemischen Handelns liegt die gleich normative Grundhaltung der intellektuellen Redlichkeit zu Grunde. Nur durch die ganzheitliche Verschränkung beider Erkenntniswege sind wir in der Lage, alles zu durchschauen und zur geistigen Autonomie zu gelangen.

4.2.5 Verständigung mit und über Technik

Aus dem Blickwinkel der Persönlichkeitsentwicklung geht es dem einzelnen Individuum um das Verstehen der Technik. Dem Menschen als gesellschaftliches Wesen, als enkulturiertes Wesen, kommt es aber auch auf Verständigung an. Verständigung untereinander, bei dem die Technik die Rolle des Mediums spielt, und eine Verständigung über Sinn und Bedeutung der Technik.

4.2.5.1 Technik als Medium

„Wird Medialität mit Vermittelung übersetzt, dann ist […] bereits die Seinsweise des Menschen medial. Entsprechend seiner dreifachen Positionierung als Körper, im Körper und außerhalb des Körpers vermittelt sich ihm die Welt als Außenwelt, als Innenwelt und als Mitwelt. Vermittelte Unmittelbarkeit ist die Medialität menschlichen Seins, also der Kultur“ (Fischer 2004, 103).

Mit diesem Zitat bezieht sich Peter Fischer auf die exzentrische Positionalität des Menschen nach Plessner (vgl. Abschn. 2.2.2.4) und die dadurch gegebenen drei Welten. Die Technik ist in diesem Konstrukt das Medium, das dem Menschen die Außenwelt vermittelt und zugleich die Innenwelt nach außen vermittelnd in Erscheinung treten lassen kann. Diese philosophische Sicht Plessners wird durch den psychologischen Ansatz der Widerspiegelung Vygotskijs, der in die kulturhistorische Theorie mündet, gestützt. Darin ist Technik ein Werkzeug der Interiorisation und Exteriorisation und damit ein Medium im Sinne eines Vermittlers. Auch Jost Halfmann begründet in seinem gleichnamigen Aufsatz „Technik als Medium“ (Halfmann 2003, 133) aus anthropologischer und soziologischer Sicht und kommt wie Luhmann zu dem Schluss, dass Technik „ein Medium der Gesellschaft als Ganzes“ (a.a.O., 139) ist, „als Medium der Konstruktion einer geordneten materiellen Umwelt der Gesellschaft“ (ebd.) zu verstehen ist und „mit Hilfe des Schemas der kausalen Erwartung in Bezug auf Umweltereignisse“ „die Fremdreferenz von Sinn (generalisiert)“ (ebd.).

Die soziologische Bedeutung der Technik als Medium besteht vor allem darin, dass durch die Technik Kommunikation vereinfacht und entlastet wird und dass dadurch „Technik die zentrale Form der Schließung der Gesellschaft als ein sinnverarbeitendes System nach außen“ (Halfmann 2003, 140) ist. Ähnlich wie die Sprache erreicht die Technik dies durch Dekontextualisierung, d. h. Technik funktioniert verlässlich in unterschiedlichen Kontexten immer gleich. In der Möglichkeit des Nicht-Funktionierens und Scheiterns der Technik und der Unverfügbarkeit, die damit verbunden ist, steckt aber zugleich eine „Feststellung […] der Gesellschaft“, eine „Selbstgefährdung der Gesellschaft“ (a.a.O., 141). Dieses Paradoxon ist uns schon im Zusammenhang von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit begegnet.

Ropohl kritisiert die Verwendung des „Kautschukwortes »Medium«“ (Ropohl 2010, 47) im Zusammenhang mit Technik, weil dadurch nur der „Entdinglichung der Technik“ Vorschub geleistet würde und „deren Sachhaftigkeit vernachlässigt“ (ebd.) würde. Es gebe „in der Welt nach wie vor auch unübersehbar viele stofflich-gegenständliche und energetische Phänomene“ und „Gesellschaft besteht nicht nur aus „Kommunikation“, sondern ebenso sehr aus Kooperation“ (ebd.). Bei seinen Betrachtungen setzt Ropohl den auf „Kommunikation“ verkürzten Medienbegriff voraus. Vielmehr muss man aber Technik als Medium in zweifacher Hinsicht definieren.

„Das technische Mittel als Medium ist Mittler von etwas, nämlich von realen Möglichkeiten seines Gebrauchs im Hinblick auf bestimmte Gegenstände. Als Instrument dient das technische Mittel zu etwas, nämlich zur Realisierung eines konkreten Zwecks aus dem Bereich der realen Möglichkeiten“ ((Fischer 2004, 107), Hervorh. THM).

Ein Hammer als Medium schließt in sich viele reale Möglichkeiten ein, z. B. am Stiel angefasst zu werden, mit dem Hammerkopf Nägel einzuschlagen, ein glühendes Stück Eisen zu bearbeiten oder ein Sparschwein zu zertrümmern. Diese Möglichkeiten vermittelt der Hammer dem Nutzer über seine Konstruktion, seine Materialität oder sie werden über die Kommunikation mit anderen Nutzern vermittelt. Als Instrument dient der Hammer einem konkreten Zweck, z. B. dem Einschlagen eines Nagels zum Aufhängen eines Bildes. Die von Fischer getroffene Unterscheidung in Medium und Instrument vermeidet die Doppeldeutigkeit eines Medienbegriffs, der beides umfasst.

Sobald neben dem technischen Artefakt andere Menschen ins Spiel kommen, geht es entweder darum, mit oder über Technik zu kommunizieren oder durch und mit Technik zu kooperieren.

Damit beschäftigen wir uns in den nächsten beiden Kapiteln.

4.2.5.2 Sich verständigen mit Technik

Man könnte meinen, dass die Verständigung mit Technik eine der wichtigsten Aufgaben von Technik als Medium ist und dass man darüber keine Worte verlieren müsste. Jedoch hatten wir schon gesehen, dass hinter vielen Selbstverständlichkeiten im Zusammenhang mit Technik auch viel Anästhetisches, Verdecktes steckt, das aufgedeckt werden muss. Wir fragen uns daher, welche Aspekte der Verständigung mit Technik das Denken und Handeln nachhaltig beeinflussen. Daher wird im Folgenden an einigen markanten historischen Stationen der Technikentwicklung das Phänomen der Verständigung mit Technik beleuchtet. Als wichtigste Erfindung zur Verständigung ist die Schrift zu nennen, die einerseits der Erfindung eines allseits akzeptierten und verständlichen Codes, andererseits der Möglichkeit zur Generierung von Schriftzeichen bedarf und schließlich eines Trägermediums für die Schriftzeichen, seien es Tontafeln, Steine, Papyrus, Papier oder Bildschirme.

Die Erfindung der Schrift in der Uruk-Kultur war Folge einer sich rasch ausbreitenden Kultur im Zweistromland, die neben der „Erfindung der rasch rotierenden Töpferscheibe“ auch im „Ausbau der Kanäle und Bewässerungssysteme Ausdruck fand“ (Parzinger 2016a, 105). Da die Städte der Uruk-Kultur zugleich auch Zentren des Fernhandels bis in die Golfregion und in den Mittelmeerraum waren, wäre „all das administrativ nicht mehr zu beherrschen gewesen ohne die Einführung neuer Verwaltungssysteme, was im späten 4.Jahrtausend v.Chr. schließlich zur Erfindung der Schrift führte“ (a.a.O., 107). Hier wird erneut die Wechselwirkung von Technik und der organisatorischen Hülle der Technik deutlich.

Geht man noch weiter in der Menschheitsgeschichte zurück, dann kann man schon die „Aufbringung von Ornamenten auf Werkstoffen- beispielsweise eine Kreuzschraffur auf einem Ockerstück- und die Produktion persönlicher Schmuckstücke“ (a.a.O., 47) und die Höhlenmalerei von Lascaux als symbolische Verständigungsmöglichkeiten einer „kulturellen Modernität“ (ebd.) deuten. Unabhängig von der Zuordnung der kulturellen Artefakte zu Mythos, Religion, Kunst oder Technik bedurfte die Schaffung dieser Artefakte technischer Fähigkeiten.

Die Entwicklung der Schrift war aber insofern ein Meilenstein in der Menschheitsentwicklung als durch sie eine zeitlich und räumlich versetzte Kommunikation möglich war und vor allem war es möglich, die Geschichte und Kultur zu tradieren. Dies erfolgte auch durch die hergestellten Gegenstände, die errichteten Bauten und Kultstätten und durch die mündliche Weitergabe von Wissen über die Herstellung von Artefakten aller Art. Im Zusammenhang mit den „kulturellen Sinnkapseln“ und den kulturellen Basisschemata der Technik ist diese weitere Verständigungsmöglichkeit mit Technik bereits angesprochen worden, die Verständigung mit Technik über kulturelle Symbole, die zumeist ganzheitlich, „präsentativ“ (Susanne K. Langer) sind.

Auch diese Verständigungsmöglichkeit mit Technik unterliegt einem ständigen Wandel, der hier nur skizziert werden kann.

Ein historischer Indikator für die kulturelle Überhöhung von technischen Artefakten zu Symbolen ist die eher ins Künstlerische hineinreichende Gestaltung der Artefakte, die schon beim Neandertaler zu beobachten ist.

„Von seinem ausgeprägten Sinn für Ästhetik zeugen zudem die vielen vorzüglich gearbeiteten Steingerätschaften, und sogar das Sammeln von Kuriosa, wie zum Beispiel Versteinerungen“ (Parzinger 2016a, 44).

Im weiteren Verlauf der Geschichte lässt sich aus Grabbeigaben der soziale Status der begrabenen Person ablesen. Die beigegebenen Artefakte sind entweder reine Schmuckstücke oder beigelegte Waffen sind aus Gold oder mit besonderen Verzierungen versehen.

Kunst ist hier nicht mehr der zweckfreie Grenzfall der Technik, sondern der Zweck besteht gerade darin, die Macht und das Ansehen der Person durch besonders kunstvolle Gestaltung und durch besonders erlesene Materialien symbolisch auszudrücken.

Auch in der christlichen Symbolik spielen mitunter Alltagsgegenstände die präsentative Bedeutung, Gemälde oder Skulpturen von Aposteln, Evangelisten oder Heiligen für Menschen verständlich zu machen, die keine Schrift lesen können. So erkennt man den Apostel Petrus an einem Schlüssel in der Hand, den Hl. Nikolaus an einem Schiff oder die Hl. Barbara an den Bergbauwerkzeugen als Attribute.

Verständigung ist immer auch mit einem In-Beziehung-treten von Menschen verbunden, direkt oder indirekt über Medien. Spätestens in der Bronzezeit wird offensichtlich, dass die direkte Verständigung mit Technik über große Entfernungen stattfindet, denn die zur Bronzeherstellung benötigten Rohstoff Zinn und Kupfer kommen meist nicht an einem Ort gleichzeitig vor. Zur Verständigung mit Technik trugen demnach auch Verkehrsmittel wie Schiffe oder Verkehrswege bei. Brücken verkürzten und vereinfachten nicht nur Wege, sondern sie trugen zum „Brückenbauen“ zwischen Menschen bei, die vorher durch Flüsse oder Täler getrennt waren.

„Eine der folgenreichsten technischen Neuerungen des ausgehenden Mittelalters war ohne Frage das Buchdruckverfahren“ ((Schmayl 2017, 52), Hervorh. THM)

Zwar gab es auch schon vorher Druckstöcke mit ganzen Buchseiten, das geniale der Erfindung Gutenbergs bestand in der Beweglichkeit und leichten Reproduzierbarkeit der Metalllettern. Durch diese Erfindung, im Zusammenspiel mit einer aufkommenden Papierproduktion (vgl. (Schmayl 2017, 50 f)) und einer verbesserten Druckpresse wuchs ab 1450 die Zahl der gedruckten Bücher sprunghaft an und führte auch zu einer Verbreitung von Wissen in breiten Bevölkerungsschichten. Dadurch gingen Wissensmonopole und Deutungshoheiten verloren und Bildung wurde ansatzweise demokratisiert.

Springen wir in der Geschichte weiter, so sind es die Blitze als Symbole für die Macht der Elektrizität, die einerseits Faszination andererseits Angst auslösten und in vielen Darstellungen des späten 19.Jh. Anfang des 20.Jh nicht fehlen durften.

Mit der Erforschung der Elektrizität gingen auch zahlreiche Erfindungen einher, insbesondere die Telegrafie, z. B. die Morsetelegrafie, die eine Beschleunigung der Verständigung über große Entfernungen darstellte. Weiter Fortschritte in der Beschleunigung der Kommunikation gingen mit den Transatlantikkabeln Mitte des 19.Jh. einher. Schließlich führte die Erfindung des Telefons durch Reis und Bell (Patent 1876) zur direkten Sprachverständigung über große Entfernungen. Ende des 19.Jahrhundert, Anfang des 20.Jahrhunderts entwickelten sich kabellose Funkverfahren, die mit den heutigen mobilen Funktelefonen, oder sollte man besser Funkcomputern sagen, einen Höhepunkt erreichen. Zusätzlich zur Übertragung von Sprache gewann die Übertragung von bewegten Bildern (Film, Fernsehen) schnell an Bedeutung. Zu der weltumspannenden Kommunikation und Information via Satelliten leistet heute die zivile Raumfahrt einen wesentlichen Beitrag.

Eine einschneidende Veränderung herkömmlicher Verständigung ergab sich durch die Einführung des Internets im Jahre 1969, zunächst als Arpanet. Die wichtigsten Dienste des Internets, World Wide Web (WWW), E-Mail und File Transfer Protocol (FTP), ermöglichen den weltweiten, schnellen Austausch von Informationen und Daten. Neben dem Vorteil der weltweiten, schnellen Verfügbarkeit von Informationen sind mit der Struktur des Internets zahlreiche gesellschaftliche Probleme verbunden, wie z. B. neue soziale Ungleichheit durch unterschiedlichen Zugang zum Internet, Fake-news, Anonymität, Spam-Mails, Kontrollmöglichkeiten durch totalitäre Regime, Suchtverhalten u.v. a.m. Ein weiteres Beispiel, bei dem sich die Dialektik der Technik zeigt. Betrachten wir im Folgenden die Jetztzeit, dann sieht Felix Stalder in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ in der heutigen Entwicklung einerseits das Ende einer kulturellen Epoche, zugleich aber das Entstehen neuer kultureller Formen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die frühe Prophezeiung McLuhans:

„Bereits vor einem halben Jahrhundert hat Marshall McLuhan das Ende der Moderne als kulturelle Epoche ausgerufen, die er, mit dem Verweis auf die gedruckte Schrift als prägendes Medium, die Gutenberg-Galaxis nannte. Was damals noch abstrakte medienwissenschaftliche Spekulation war, erleben wir heute als konkrete Realität des Alltags. Mehr noch, wir können weit über diesen Befund hinausgehen. Denn es lässt sich nicht nur konstatieren, dass alte kulturelle Formen, Institutionen und Gewissheiten erodieren, sondern auch, dass sich neue herausbilden […]“ (Stalder 2016, 9).

Wodurch zeichnet sich diese neue „Kultur der Digitalität“ aus, die man einem Vorschlag Coys folgend auch „Turing Galaxis“ nennen könnte?

Stalder betont drei Perspektiven. Aus der historischen Perspektive ist „eine Auflösung der kulturellen Geografie von Zentrum und Peripherie“, „die Aufweitung der Felder der Kultur“ und „der Aufstieg des Designs zur kreativen Generaldisziplin“ (Stalder 2016, 12) festzustellen.

Das „Zentrum-Peripherie“ Gegensatzpaar ist uns schon bei Karmasin als Basiscode der Produktsprache begegnet. Es hat aber für die Kultur die zentralere Bedeutung, dass durch „Zentrum“ die Mitte eines kulturellen Raumes markiert werden soll und mit „Peripherie“ alles, was am Rande liegt und nicht mehr dazu gehört. Dieses Schema gerät durch die Digitalisierung und Globalisierung ins Wanken und damit die zugehörigen Gegensatzpaare „weiß-schwarz“, „Mann-Frau“, „West-Ost“ usw. Die Auflösung der „kulturellen Geografie“ ist zwangsläufig auch mit der Aufweitung der Felder der Kultur verbunden. Diese Aufweitung erfordert gesteigerte Kommunikation und Verständigung über Werte. Bei dieser gesteigerten Kommunikation spielen die neuen Medien und sozialen Plattformen eine erhebliche Rolle. Dabei wird beständig Ko-Konstruktion von „Realität“ betrieben. Realität in Anführungszeichen, weil die ko-konstruierte Realität durchaus eine virtuelle Realität oder eine kontrafaktische Realität sein kann.

Zu der historischen Perspektive gehört auch die „Kulturalisierung der Ökonomie“ (Stalder 2016, 59), deren Ziel die „Herstellung symbolisch-affektiver Identifizierungen und die Sicherung von Unterscheidbarkeit“ (Reckwitz 2012, 181) ist. Dadurch bekam das Design den Status der „Generaldisziplin der Kreativökonomie“ (Reckwitz 2012, 180). Verständigung setzt an dieser Stelle vor allem das „Verständlich-Machen“ der Bild- und Produktsprache und der ökonomischen Motive voraus.

Die zweite Perspektive Stalders sind die drei Formen kultureller Praxis, Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität.

„Referentialität, also die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion, ist eine zentrale Eigenschaft vieler Verfahren, mit denen sich Menschen in kulturelle Prozesse einschreiben“ (Stalder 2016, 13).

Diese Form kultureller Verständigung kann man einerseits kritisieren, weil oft das Kriterium des geistigen Eigentums und das Urheberrecht tangiert sind, andererseits kann man die Fortführung des kulturellen Erbes in neuer Form begrüßen.

Die Gemeinschaftlichkeit als weitere Eigenschaft kultureller Prozesse sorgt über „einen kollektiv getragenen Referenzrahmen“ für die Stabilisierung von Bedeutungen, für die Generierung von Handlungsoptionen und für die Zugänglichkeit von Ressourcen (vgl. (Stalder 2016, 13). Während Referentialität und Gemeinschaftlichkeit durch die zur Verfügung stehenden technischen Kommunikations- und Produktionsmittel moduliert werden, ist die Algorithmizität ein technisches Merkmal im engeren Sinne. Algorithmen sorgen im Hintergrund für eine automatische Filterung und Sortierung von Informationen, die auf die jeweiligen Nutzer abgestimmt wird. Die Intransparenz dieser Algorithmen sorgen für Filter- oder Informationsblasen, in denen wir uns z. T. bewegen. Algorithmen sorgen auch dafür, dass bestimmte Informationen durch „likes“ an vorderste Stellen der Suchmaschinen gelangen und andere Informationen im WWW verschwinden.

Eng damit verbunden ist die dritte Perspektive, die Stalder anspricht, die politische Dimension neuer kultureller Praktiken. Ob Gemeinschaftlichkeit und Referentialität ihren gesellschaftlichen Ausdruck finden in „konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Projekten“ (a.a.O., 14), hängt wesentlich davon ab, wie digitale, technische Strukturen aufgebaut und institutionell reglementiert werden.

Intransparente Algorithmen, die entweder durch einzelne Unternehmen oder durch Staaten kontrolliert werden, können zu postdemokratischen, autoritären Strukturen führen, bei denen es zur „Entkopplung von Beteiligungs- und Entscheidungsmöglichkeiten“ (ebd.) kommt.

„»Commons« meint hingegen Ansätze, neue, umfassende Institutionen zu entwickeln, die nicht nur Beteiligung und Entscheidung direkt miteinander verbinden, sondern die die in der Moderne weitgehend getrennten Sphären des Ökonomischen, Sozialen und Ethischen zusammenführen“ (Stalder 2016, 14 f).

Der Commons-Ansatz kann charakterisiert werden „als die radikale Erweiterung und Erneuerung der Demokratie von der Repräsentation hin zur Partizipation“ (a.a.O.,15).

Voraussetzung ist erneut „technologische Aufklärung“ in dem Sinne, dass sowohl eine Mitentscheidung und Mitwirkung an den Algorithmen möglich ist als auch die Möglichkeiten und Grenzen der technischen Mittel verständlich gemacht werden.

Die bisher geschilderte historische Entwicklung bis zur „Kultur der Digitalität“ hat gezeigt, dass die Verständigung mit Technik sehr vielfältig geworden ist, aber neben Chancen auch Risiken birgt, die oft verdeckt sind. Das Entdecken dieser Risiken als eine Bildungsaufgabe setzt vor allem Verständigung über Technik voraus. Damit beschäftigen wir uns im nächsten Kapitel.

4.2.5.3 Sich verständigen über Technik

„Die ubiquitäre sofortige Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit für jedermann hat, trotz der Beschleunigung der Lebenszyklen, die Zeit, die notwendig ist, um eine Information zu verstehen, weder nennenswert verkürzt noch komprimiert. Es ist die Zeit, die wir brauchen, Informationen in persönliches Wissen zu überführen, das nützlich und mitteilbar ist und das seinen Träger zu einem Guten (sic!) InformantenFootnote 26 und zu einem Guten (sic!) Erbauer macht“ (Kornwachs 2012, 277).

In dieser Aussage Kornwachs‘ stecken mehrere Probleme im Zusammenhang mit Verstehen von und Verständigung über Technik. Das grundlegende Missverständnis unserer Zeit ist das Gleichsetzen von Information und Wissen und das darüberhinausgehende Missverständnis, dass Wissen automatisch Können bedeutet. Diese Missverständnisse führen auch zu der Fehlannahme, dass die Ausstattung von Schulen mit digitalen Endgeräten und flächendeckendem WLAN alle Wissens- und Könnensprobleme beheben würde. Dabei wird außer Acht gelassen, dass eine der wichtigsten Aufgaben guten Unterrichts eine gelungene didaktische Reduktion ist, die neben der qualitativen Reduktion auch in der Reduktion der Informationsfülle in nützliche und verstehbare Informationen besteht.

Diese didaktische Reduktion ist auch für alle Situationen zu fordern, bei denen es um das Verstehen von und die Verständigung über Technik über den schulischen Kontext hinaus geht. Dazu muss das technische Wissen, das in unterschiedlichen fachsprachlichen Formen existiert, in umgangssprachliche Formen vermittelnd übersetzt werden. Mit Fachsprache sind hier alle Formen der Äußerungen technischen Wissens gemeint. An vorderster Stelle die weltweit einheitliche Sprache der technischen Zeichnung, aber auch alle weiteren technischen Symbolsprachen, wie z. B. Programmablaufpläne, digitaltechnische Symbolpläne, Sankey-Diagramme usw. Diese „Sprachen“ haben den Vorteil der weltweiten Normung und Einheitlichkeit. Hinzu kommen die ebenfalls weltweit verständliche mathematische Formelsprache und technische Fachausdrücke, die trotz zunehmender Anglizismen noch häufig übersetzt werden müssen.

Verständigung über Technik ist nur dann zu erzielen, wenn Sender und Empfänger über den gleichen Symbolvorrat verfügen, d. h. die gleiche Sprache sprechen und verstehen. Da dies meist nicht der Fall ist, muss zwischen den unterschiedlichen Sprachen vermittelt und übersetzt werden. Diese Vermittlung kann nur dann erfolgreich sein, wenn es Menschen gibt, die beide Sprachen sprechen, Fachsprache und Umgangssprache, aber auch beide Sprachen verstehen. Diese Menschen bezeichnet Kornwachs als „Gute Informanten“. Sie müssen zugleich didaktisch kompetent sein, weil Verständigung implizit didaktisch ist, denn zur Verständigung ist neben der Reduktion von Information auch die Abstimmung zwischen Sender und Empfänger notwendig. „Gute Informanten“ können nicht nur einzelne Personen sein, sondern „auch ein Kollektiv oder eine Institution“ (Kornwachs 2012, 263), „wenn die einzelnen Subjekte darin so miteinander kommunizieren, dass sie sich bezüglich definierbarer Teilprobleme als Gute Informanten erweisen“ (ebd.).

Wenn er auch von den „Guten Erbauern“ spricht, dann verbirgt sich darin das Problem der technikspezifischen Wissensarten, die sich auf das technische Handeln und Gestalten beziehen.

An dieser Stelle ist es hilfreich, Kornwachs‘ Aufstellung zu unterschiedlichen Wissensarten zur Kenntnis zu nehmen, um daraus Folgerungen für Verstehen und Verständigung abzuleiten.

Kornwachs‘ Abstufung der Wissensarten in „Wissenschaftliches Wissen“, „Technisch handwerkliches Wissen“ und „Alltagswissen“ impliziert zugleich unterschiedliche Verstehenskategorien. So setzt das Alltagswissen, einen WLAN-Router kurzzeitig vom Stromnetz zu trennen, wenn es Schwierigkeiten mit der Verbindung zwischen Router und Computer gibt, keinerlei wissenschaftliches Wissen über Verbindungsprotokolle und Systemabstürze voraus, kann aber trotzdem sehr effektiv sein. Das Alltagswissen wird zu einer Technischen Regel, wenn eine Verallgemeinerung dieser Handlung auf alle mikroprozessorgesteuerten Systeme mit einem Systemabsturz erfolgt (Abb. 4.14).

Abbildung 4.14
figure 14

Wissensarten. (aus: Kornwachs, 2012, 237)

Der „Gute Erbauer“ oder „Hersteller“ braucht neben dem expliziten Regelwissen auch implizites praktisches Wissen technisch-handwerklicher Art, das nicht „durch Verstehen von Informationen im kommunikativen Akt zustande(kommt), sondern durch direkte, gleichsam sprachlose Erfahrungsakkumulation“ (Kornwachs 2012, 264). Diese sprachlose Erfahrungsakkumulation erfolgt meist durch das Vor- und Nachmachen von Handlungsabläufen, sowie das anschließende Üben der Abläufe.

An dieser Stelle wird deutlich, dass der „Gute Erbauer“ ebenso wie der „Gute Informant“ auch kollektiv gemeint sein kann, als eine Gemeinschaft, ein Team, das durch Expertise und Austausch dieser Expertise gemeinsam ein technisches Problem löst (vgl. Fußnote 120, Kornwachs, 2012, 266). Information ist demnach nicht gleichbedeutend mit Wissen und Wissen ist nicht gleichbedeutend mit Können. Darauf werden wir noch beim Technischen Handeln und Gestalten zurückkommen.

Abbildung 4.15
figure 15

Phasen des Großprojektmanagements nach VDI-Norm 7000. (aus: https://www.vdi.bayern/fileadmin/sn_config/mediapool_lv/doc/VDI_lV_Forum_11-11_Brennecke.pdf (Zugriff: 6.3.2022))

Gleich, ob es sich um explizites Wissen oder implizites praktisches Wissen handelt, besteht die Gefahr der Oberflächlichkeit dieses Wissens, die „mit dem tat sächlichen oder vermuteten Verlust der Kriterien der Überprüfung der Zuverlässigkeit des aus Informationen gewonnenen Wissens bezüglich seiner Wahrheit und seiner Rechtfertigung zusammen(hängt)“ (Kornwachs 2012, 279). „Zuverlässigkeit“ und „Wahrheit“ sind einerseits Kriterien der Wissenschaft, andererseits sind es auch Werte, die mit der Vertrauenswürdigkeit einer Person oder einer Institution zusammenhängen und damit für „das Gute“ der Technik stehen.

Will man im Sinne Ropohls bei dem Projekt „technologische Aufklärung“ (vgl. (Ropohl 1991)) voranschreiten, so kommt es darauf an, durch o.g. didaktisierte Vermittlungsprozesse breite Bevölkerungskreise „mitzunehmen“. Dies gilt insbesondere in Zeiten umwälzender Transformationsprozesse, wie der Digitalisierung oder der Energiewende.

Diese Erkenntnis findet in Bezug auf das Projektmanagement bei Großprojekten schon seinen Niederschlag in der VDI-Norm 7000, die eine frühe Sensibilisierung und eine begleitende Öffentlichkeitsarbeit vorsieht (Abb. 4.15). Diese Vermittlungsprozesse stellen bei entsprechender Didaktisierung auch eine Fortsetzung der Bildungskette von der Elementar- über die Primar- und Sekundarausbildung in die Erwachsenenwelt dar. Die bereits oben angedeutete Lücke zwischen dem reinen Wissen und dem Können und verantwortlichen Handeln werden wir im folgenden Kapitel schließen.

4.3 Verantwortliches technisches Handeln und Gestalten

„Tra il dire e il fare c’e di mezzo il mare“ (italienisches Sprichwort)Footnote 27

„Denn das Wesen des Menschen ist Handeln. Je weniger er aber über sich selbst reflektiert, desto thätiger ist er“ (Schelling 1995, 251).

Das Zitat Schellings soll an dieser Stelle nicht dazu dienen, darüber nachzudenken, ob das Tätigsein der Techniker dazu geführt hat, dass so wenig über Technik philosophisch reflektiert und geschrieben wurdeFootnote 28, es dient vielmehr dazu, den Fokus nunmehr auf die evaluative Komponente zu richten. Das technische Handeln als der Ausdruck, als die Gestaltung, als das Ergebnis von Gedanken, Plänen, Zielsetzungen, Abwägen und Urteilen.

Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt dabei weniger auf der detaillierten Analyse technischen Handelns. An diese Analyse, die bereits in umfassender Form vorliegt (vgl. (Binder 2014), soll angeknüpft werden. Sie soll um die Komponente der Verantwortung und der Mündigkeit beim Handeln erweitert werden und das im Zusammenhang mit der kulturellen Sicht auf Technik, die die ästhetische Komponente einschließt.

Wir werden daher das technische Handeln und Gestalten entlang der Trias des Wahren, Schönen und Guten betrachten.

4.3.1 Das „wahre“ technische Handeln und Gestalten

4.3.1.1 Was ist technisches Handeln und Gestalten?

Martin Binder entwickelt in „Technisches Handeln- Eine Studie zu einem zentralen Begriff Technischer Bildung“ zunächst anhand phänomenologischer Betrachtungen zum Handeln ein allgemeines Handlungsprozessmodell und ein Zweck-Motiv-Mittel-Strukturmodell (vgl. Abb. 4.16 und 4.17). Beide Modelle eignen sich für die Beschreibung und Charakterisierung aller Handlungen und lassen sich demnach nicht nur auf die Domäne „Technik“ anwenden.

„Das Prozessmodell bildet die rekursiv-verzweigende Verlaufsstruktur einer Handlung mit ihren zahlreichen Bewertungs- und Entscheidungssituationen ab“ (Binder 2014, 80).

Abbildung 4.16
figure 16

Handlungsprozessmodell. (aus: Binder, 2014, 71)

Es bietet gegenüber einfachen linearen Handlungsmodellen den Vorteil, dass es auch die zahlreichen, während des Handlungsprozesses verworfenen Handlungsvarianten berücksichtigt. Ebenso wird deutlich, dass während des Handlungsprozesses ständige Bewertungen von Varianten und Zwischenergebnissen stattfinden und dass während des Handelns weitere Informationen aus der Umwelt in den Handlungsprozess integriert werden. Auch der Abbruch einer Handlung und die Ausführung von Handlungen durch Experten finden Berücksichtigung.

Eine Begrenzung erfährt das Modell dadurch, dass es nur eine individuelle Handlung abbildet, keine kollektive Handlung. Dazu müsste das Modell zusätzlich die zahlreichen Interaktionen berücksichtigen, wie z. B. Absprachen über den gemeinsamen Bedarf, über das anzustrebende Ziel und über die Arbeitsteilung bei der Zielverfolgung. Das kollektive Handlungsprozessmodell würde dann auch für Makrosysteme gelten, z. B. wenn die Entscheidung über den Neubau und die Inbetriebnahme einer Gaspipeline, zwischen Staaten, Bundesländern, Aktiengesellschaften und Anrainern verabredet und entschieden werden muss. Dieses kollektive Handeln im Zielkonflikt wird uns noch beim „guten“ Handeln beschäftigen.

Das Zweck-Motiv-Mittel-Strukturmodell (Abb. 4.17) einer Handlung macht vor allem Aussagen über Handlungsanlass und -motivation, sowie über die eingesetzten Mittel und erreichten Handlungsergebnisse.

In Übereinstimmung mit dem PSI-Modell der Persönlichkeit (vgl. S. 124) wird bei den Handlungsanlässen zwischen der rationalen, eher bewussten, und der emotionalen, eher unbewussten Dimension der persönlichen Ausgangssituation unterschieden. Wie wir bereits festgestellt haben, erwächst der Handlungsanlass aus einem Erleben der Technik (vgl. 4.1). Der Grad der Bewusstheit des Handlungsanlasses hängt vom Grad der Bewusstheit der Wahrnehmung der durch Technik bestimmten Situation ab, also auch von der Ästhetik oder Anästhetik der Technik.

Abbildung 4.17
figure 17

Zweck-Motiv-Mittel- Struktur einer Handlung. (aus: Binder, 2014, 79)

Die beiden Handlungsmotivationen Persönlichkeitsentfaltung und soziale Entfaltung lassen sich mit der SDT-Theorie nach Deci und Ryan insofern in Übereinstimmung bringen, dass man die Motive „Kompetenz“ und „Autonomie“ der Persönlichkeitsentfaltung zuschreiben kann und die soziale Entfaltung mit dem Motiv der „sozialen Eingebundenheit“ in Einklang zu bringen ist.

Zu den persönlichen Motivationen müsste man auch die elementaren Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Sicherheit, Wärme usw. hinzurechnen. Wenn Binder unter Zweck den „Beweggrund einer Handlung“ (a.a.O., 74) versteht und Beweggrund nur ein anderes Wort für Motivation ist, dann ließe sich die Kategorie „Zweckerfüllung“ als Teilmenge der beiden anderen Handlungsmotivationen auffassen.

Eindeutiger wäre es, Zwecke im Sinne Hubigs zu definieren:

Zwecke nun sind gewünschte und als herbeiführbar erachtete Sachverhalte in der Zukunft, d. h., um zu Zwecken zu gelangen, müssen zwei Identifikationen vorgenommen werden: 1. muß ein zukünftiges Ereignis als Sachverhalt identifiziert werden, 2. muß dieser Sachverhalt als gewünschter und herbeiführbarer Sachverhalt identifiziert werden, d. h. er erfährt zusätzlich eine zweite intentionale Interpretation“ ((Hubig 1981, 171), Hervorh. THM).

Diese Definition enthält neben der Intentionalität auch die Erwünschtheit und Herbeiführbarkeit als Sachverhalt. Von den Zwecken sind die Mittel abzugrenzen, mit denen der angestrebte Sachverhalt realisiert werden soll:

Mittel hingegen gehören nicht in den Bereich der Sachverhalte, sondern den der Gegenstände (Hammer) oder Ereignisse (Hammer schwingen), sie umfassen also Dinge oder faktische Handlungen oder faktisch existierende Handlungsschemata (Institutionen), sofern sie objektiviert sind“ ((Hubig 1981, 171 f), Hervorh. THM).

Diese Mitteldefinition schließt neben den Gegenständen auch die Handlungen und Handlungsschemata ein und ist somit umfassender als die reine Gegenstandsdefinition. Ein Handlungsschema wäre z. B. die Anwendung der VDI-Norm 7000 bei der Realisierung eines technischen Großprojekts, z. B. die Trassierung einer Hochspannungsleitung zum Transport von Windstrom von Nord nach Süd.

Die Endsituation, das Ziel einer Handlung, lässt sich differenzierter mit den Zielsetzungssystemen nach Ropohl beschreiben (vgl. S.279).

Mit diesen Definitionen lässt sich auch der Unterschied zwischen Zweckrationalität und Instrumentalität erfassen:

„Zweckrationalität ist eine Rationalität über Intentionen, beherrscht den intentionalen Kontext, d. h. die Interpretation von Sachverhalten; Instrumentalität ist eine Beziehung zwischen Gegenständen und Ereignissen, was sich im umgangssprachlichen in der Rede von den „Sachzwängen“ bereits ausdrückt“ (Hubig 1981, 172).

Das Handlungsmodell Binders geht nun über die reine Zweckrationalität hinaus und berücksichtigt auch die unbewussten Anteile an den Handlungsmotivationen, die der Persönlichkeits- und sozialen Entfaltung zuzurechnen sind. Ein Nachteil der beiden Handlungsmodelle besteht darin, dass sich das „Rubikonmodell der Handlungsphasen“ nach Heckhausen hier nicht mehr wiederfindet, obwohl Binder es erwähnt (vgl. Binder, 2014, 33). Das Rubikonmodell ordnet zwar als Nachteil die einzelnen Handlungsphasen als lineare Kette an, der Vorteil dieses Modells liegt aber darin, dass neben den Bedürfnissen, Motiven und der Intention auch der Wille (Volition) zur Umsetzung der Handlung in die Tat, der zur „Überschreitung des Rubikons“ führt, eine Rolle spielt (vgl. dazu auch (Storch 2007, 63 ff)) (Abb. 4.18).

Abbildung 4.18
figure 18

Der Rubikon-Prozess. (nach: Storch, 2007, 65)

Ist aus den unbewussten, im limbischen System entstehenden Wünschen, Antrieben und Bedürfnissen ein bewusstes Motiv geworden, dann lässt sich dieses als Handlungsziel kommunizieren. Die Darstellung ist insofern vereinfacht, als meist mehrere Bedürfnisse und mehrere Motive bei der Formulierung eines Handlungsziels auch konfligierend zusammenwirken. Erst wenn

„das unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeitende System der somatischen Marker (Anm.THM, vgl. S. 122) den entscheidenden «Go!»- Befehl über den Rubikon erteilt […] liegt das, was der Mensch gerne tun möchte, in einem neuen Reifestadium vor, es wurde eine Intention gebildet“ (Storch 2007, 71).

Der Wille zur Handlung ist nun vorhanden, jedoch kann die Umsetzung in eine Handlung noch daran scheitern, dass in der präaktionalen Phase weder implizites noch explizites Wissen über die Umsetzung vorhanden ist.

„Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Umsetzung einer neu gebildeten Intention kann darin bestehen, dass für das neue Handlungsmuster, das mit der neu entwickelten Intention korrespondiert, noch keine genügend elaborierten und neuronal gebahnten Automatismen vorliegen“ (Storch 2007, 73 f).

An dieser Stelle können Lernprozesse einsetzen, die in einer Verschränkung von Kognition (Motiv, Intention), Emotion (Bedürfnisse, Motivationen) und Psychomotorik (Handlung) bestehen, um die neuen Handlungsmuster auszubilden. Diese Lernprozesse sind insbesondere dann wichtig, wenn unbewusste Bedürfnisse als „Widersacher“ der bewussten Intentionen immer wieder dafür sorgen, dass Handlungen abgebrochen werden oder erst gar nicht in Angriff genommen werden („Aufschieberitis“, unvollendete „Baustellen“). Dem ist nur durch Aufspüren der unbewussten Bedürfnisse über die somatischen Marker und über die Emotionen beizukommen.

Am Ende der Handlung steht das Ergebnis der Handlung, das Erreichen des Ziels, die Erfüllung oder auch Nichterfüllung der Handlungsintention. Ob die Handlung erfolgreich im Sinne der Zielerreichung ist, hängt nicht nur von der neuronalen Bahnung und Elaboriertheit der Handlungsmuster ab, sondern auch von den für die Handlung zur Verfügung stehenden Mitteln. Das Ergebnis des Handelns besteht neben den intendierten Folgen auch in nicht intendierten oder nicht antizipierten Folgen. Diese Folgen wirken im Sinne eines Regelkreises zurück auf die Ausgangssituation und können für den Handelnden oder für Mitmenschen erneute Handlungsanlässe sein. Die hier neu auftretende Rolle von Menschen, deren Handlungsanlass aus den Folgen anderer Handlungen entsteht, nenne ich die Rolle der Folgebetroffenen. Sie wird später noch beim mündigen und verantwortlichen Mitbestimmen aufgegriffen werden.

Was macht nun die Spezifik des technischen Handelns aus?

Hierzu schlage ich zunächst eine möglichst offene Arbeitsdefinition vor:

Technisches Handeln ist Handeln mit technischen Mitteln und/ oder Handeln in von Technik mit bestimmten Situationen.

Sucht man nach den Gemeinsamkeiten des technischen Handelns, so kann man entweder auf die obige Definition zurückverweisen oder man befragt die Technikwissenschaften, die Technikphilosophie und die Techniksoziologie.

Bezogen auf das technische Handeln im engeren Sinne kann man auf zahlreiche Erkenntnisse der Technikwissenschaften zurückgreifen, hier aber insbesondere auf die integrativen Betrachtungen der Allgemeinen Technologie (vgl. Ropohl 1979, Wolffgramm 2012) und der Wissenschaftstheorie (vgl. Kornwachs 2012). Als Gemeinsamkeit lässt sich mit Grunwald feststellen, dass sich technisches Handeln „durch die Figur der technischen Regel rekonstruieren“ (Grunwald, Armin 2010, 117) lässt.

„Technische Regeln stellen das Immer-wieder-Gelingen einer Handlung unter bestimmten Bedingungen in Aussicht“ (ebd., Hervorh. THM).

In der Regelhaftigkeit liegt ein Unterscheidungsmerkmal zwischen der Handlung eines laienhaften Nutzers und eines professionellen Herstellers und gleichzeitig beruht die Regelfindung gerade darauf, „eine einmal gelungene Handlung unter bestimmten Bedingungen (in einem Geltungsbereich) wiederholbar zu machen“ (a.a.O., 118).

Die Form des Handelns, bei der es um die Herstellung von Produkten geht, soll Gestalten genannt werden.

„Die Gestalt eines materiellen Produktes setzt sich zusammen aus der Gesamtheit seiner geometrisch beschreibbaren Merkmale sowie seiner Werkstoffart und -charakteristika. Die Produktgestalt ist somit als die Summe geometrischer und werkstofflich beschreibbarer Merkmale eines Produktes zu verstehen“ ((Ponn 2008, 124), Hervorh. i. Orig.).

Die Produktgestaltung besteht einerseits in der Festlegung der Produkteigenschaften.

„Eine Eigenschaft setzt sich zusammen aus einem Merkmal und seiner Ausprägung, die Ausprägung ist dabei Teil einer merkmalspezifischen Wertemenge. Eine konkrete Eigenschaft wird dadurch gebildet, das dem entsprechenden Merkmal (beispielsweise der Form) eine Ausprägung zugeordnet wird“ ((Ponn 2008, 124), Hervorh.i.Orig.).

Andererseits müssen die Funktionsstrukturen des Produkts zu Wirkprinzipien und Wirkstrukturen entwickelt werden.

„Hierbei spielen neben den technischen Produktfunktionen Aspekte eine Rolle, die „menschenbezogene“ Funktionen fokussieren (beispielsweise die Ästhetik) sowie solche, die nicht nur die Nutzungsphase des Produktes, sondern seinen gesamten Lebenszyklus berücksichtigen“ (ebd.).

Bei der Gestaltung kommt es demnach nicht nur auf technische Kriterien im engeren Sinne an, sondern auch auf ästhetische, ökonomische, ökologische, juristische usw.

Auf diese Kriterien werden wir beim „schönen“ und „guten“ Handeln und Gestalten zu sprechen kommen.

Hier gilt es nun Merkmale zusammenzufassen, die typisch für das technische Handeln sind.

Binder verbindet mit dem technischen Handeln vier Merkmale:

Ausrichtung auf Zwecke

Der technisch Handelnde reagiert aus einem bewussten („äußeren“) oder unbewussten („inneren“) Handlungsanlass, indem er mit ausgewählten Mitteln einen Zielzustand anstrebt. Das Erreichen des Zielzustandes ist der Zweck der Handlung.

Rationalität als angestrebtes Entscheidungskriterium

Obwohl bei jeder Entscheidung und jedem Handeln eines Menschen neben den rationalen und bewussten Entscheidungskriterien auch unbewusste eine Rolle spielen, ist es im Sinne einer sicheren und wahrscheinlichen Zielerreichung sinnvoll, Rationalität als Entscheidungskriterium zu fordern. Damit eng verbunden ist die Notwendigkeit, die unbewussten Anteile der Entscheidungen möglichst über den Umweg der somatischen Marker und der durch Handlungsanlässe ausgelösten Emotionen der Ratio zugänglich zu machen, um vor Manipulation und Angstmache geschützt zu sein (vgl. S. 123).

Sachsystemintegration

Zum Erreichen von Zielen setzen Subjekte Dinge ein. Bei diesem Einsatz kommt es zu einer „soziotechnischen Integration“ (Binder 2014b, 119), die nach Ropohl in zwei Phasen abläuft.

„Wenn ein menschliches Handlungssystem bei einem Sachsystem eine Funktion identifiziert hat, die mit einer Teilfunktion einer geplanten oder zu planenden Handlung äquivalent ist, verbindet es sich mit diesem Sachsystem zu einer Handlungseinheit“ (Ropohl 1979, 196).

Subjekt und Objekt verschmelzen „im Verwirklichen der Absicht zu einem Sinnzusammenhang, wobei sich das Verschmelzen in den Wahrnehmungen und kognitiven Verarbeitungen des Handelnden vollzieht“ (Binder 2014, 120). Die Tatsache, dass die Verwirklichung der Handlungsabsicht ohne „die sächlichen Artefakte weithin überhaupt nicht mehr vorstellbar ist“ (Ropohl 1979, 197), bezeichnet Ropohl als „Beleidigung des menschlichen Souveränitätsanspruchs“ (a.a.O.,196). Diese „Beleidigung“ wird aufgrund der „natürlichen Künstlichkeit“ (Plessner) und der Anästhetik der Technik meist erst dann empfunden, wenn die Technik nicht greifbar, handhabbar oder funktionsfähig ist. Aebli beschreibt in Band 1 von „Denken: Das Ordnen des Tuns“, dass man sich die „Verschmelzung“ auf der kognitiven Ebene als kumulativen Aufbau von vernetztem episodischem Handlungs- und Prozesswissen vorstellen kann (vgl. (Aebli 1980, 127 ff)).

Der Handlungsmodus

Anknüpfend an die Feststellung Grunwalds, dass durch technische Regeln das Immer-wieder-Gelingen einer technischen Handlung gewährleistet werden soll, lassen sich drei Handlungsmodi nach dem Grad des „Immer-wieder-Gelingens“ voneinander abgrenzen. Der Modus der einfachen Zweckerfüllung trifft auf alle technischen Handlungen zu, der Modus des guten Funktionierens stellt eine auf den Zweck bezogen „gut“ ausgeführte Handlung dar und schließlich bezieht sich der Modus des Immer-wieder-Gelingens unter bestimmten Bedingungen auf institutionalisierte technische Handlungen, die dem professionellen technischen Handeln zugeordnet werden können (vgl. (Binder 2014, 111 ff).

Überträgt man die vier spezifischen Merkmale technischen Handelns auf das weiter oben aufgestellte allgemeine Handlungsmodell, so ergibt sich ein allgemeines Modell technischen Handelns (vgl. Abb. 4.19).

Abbildung 4.19
figure 19

Allgemeines Modell individuellen technischen Handelns. (aus: Binder, 2014, 138)

Dieses Modell erfasst im Gegensatz zu dem allgemeinen Handlungsmodell auch mögliche Rückkopplungen von Handlungsergebnissen und -folgen als mögliche neue Handlungsanlässe. Das Rubikonmodell könnte in dem allgemeinen Modell individuellen technischen Handelns Platz finden, indem die „Handlungsmotivation“ durch die Verkettung von Bedürfnis, Motiv, Intention und präaktionale Vorbereitung ersetzt wird.

Die im allgemeinen Handlungsmodell noch vorhandene Entwicklungsaufgabe der Person und die symbolische Funktion der Mittel und der Handlung sind in der „soziotechnischen Integration“ verschmolzen, sie sind jedoch so wichtig, dass sie in den folgenden Kapiteln noch gesondert behandelt werden. An dieser Stelle sei auf die noch offene Aufgabe verwiesen, dieses individuelle Handlungsmodell zu einem kollektiven Handlungsmodell auszubauen.

Im folgenden Kapitel gehen wir der Frage nach, in welchen Rollen der Mensch technisch handelt.

4.3.1.2 Die Rollen des Menschen beim technischen Handeln

Im vorangehenden Kapitel sind bereits Unterschiede beim technischen Handeln genannt worden, die wir nun, vor allem aus didaktischen Gründen, zu vier Rollen zusammenfassen wollen.

Die vordergründigste Rolle, in der ein Mensch technisch handelt, lässt sich mit folgenden Verben beschreiben:

  • erfinden, entwickeln, konstruieren, testen, verbessern, optimieren, herstellen, distribuieren, beseitigen, recyceln.

Diese Verben beschreiben die schöpferische Komponente des technischen Handelns. Als Rollenbezeichnung wird häufig die des Herstellers gewählt, was aber den geistig vorgelagerten Anteil des Erfindens und Konstruierens aus dem Blick geraten lässt. Es geht dann nur noch um das „ins Werk setzen“ um das Machen. Würde man die Rolle als „Macher“ bezeichnen, dann ist mit diesem umgangssprachlichen Begriff schon viel besser ausgedrückt, dass dieser Mensch auch die Willensstärke, die Volition, braucht, um die Absicht in die Tat umzusetzen. Doch auch dem „Macher“ fehlt die vorgelagerte geistige Leistung. Diese ist in der Bezeichnung „Homo faber“ inkludiert. An dieser Stelle wird dem schulgebildeten Leser sofort der gleichnamige Roman von Max Frisch mit dem Untertitel „ein Bericht“ in den Sinn kommen. Der Icherzähler dieses „Berichts“, der Schweizer Ingenieur Walter Faber, dessen Selbstbild als Rationalist, der nicht an „Fügung und Schicksal“ (Frisch 1978, 22) glaubt und der „um das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen“ „keinerlei Mystik“ (ebd.), sondern nur Mathematik braucht, ist für Viele der Inbegriff des Homo faber. Wenn Faber seiner Ex-Freundin und Mutter der gemeinsamen Tochter Elisabeth, Hanna, die drei Aussagen „Weltlosigkeit des Technikers“ (a.a.O., 169), „Technik (laut Hanna) als Kniff, die Welt so einzurichten, daß wir sie nicht erleben müssen“ (ebd.) und „wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben“ (a.a.O., 170) zuschreibt, dann kommt damit eine Entfremdung zum Ausdruck, die ursprünglich mit dem Begriff des Homo faber nicht gemeint war. Bergson verwendete den Ausdruck „Homo faber“ als einer der „ersten Autoren (…) explizit und nicht nur der Sache nach“ (Irrgang 2010, 17) in seinem Werk „Schöpferische Evolution“ (vgl. (Bergson 2013, 162)). In der lateinischen Bedeutung des Adjektivs „faber“, „geschickt, kunstfertig“ (Stowasser 2021, 281), stecken zwei wesentliche Komponenten, die Bergson mit dem Ausdruck „Homo faber“ verbindet. Die Geschicklichkeit des Tuns, die aufgrund der evolutionären Entwicklung der Hand möglich wurde, aber noch viel mehr die Intelligenz als „die Fähigkeit, künstliche Gegenstände herzustellen“ ((Bergson 2013, 162), Hervorh. THM). Homo faber wird damit zu einer Entwicklungsstufe in der Menschheitsentwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der schöpferische Faber innere Bilder in Gegenstände verwandelt und damit über die Externalisierung für eine Dauerhaftigkeit der inneren Bilder sorgt. Nur dadurch kann Kultur als „Dauer“ (durée) im Bergson’schen Sinne entstehen. Für Bergson bedeutet „Dauer Erfindung, Schöpfung von Formen, kontinuierliche Bildung von absolut Neuem“ (a.a.O., 21). Die Gegenstände ermöglichen den Austausch, das Sprechen über diese inneren Bilder. Dadurch wird die Technik des Homo faber zur Möglichkeit der Verständigung, zum universalen Werkzeug. Paläontologisch wird daher der Homo faber als Voraussetzung für den Homo sapiens gesehen. Die kognitive Stärke des Homo sapiens ist erst durch das schöpferische Wirken des Homo faber möglich geworden,

„Menschliche Kognition ist demnach zuallererst in der ›Produktionsintelligenz‹ (intelligence-de-produire) des faber begründet, aus der sich die theoretisch-reflexive Intelligenz des sapiens erst herausgebildet hat“ (Hussain 2018, 53).

Diese paläontologische Aussage zur Entwicklung der Menschheit (Phylogenese) ist uns in ähnlicher Form schon bei der entwicklungspsychologischen Erklärung der kulturellen Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Menschen (Ontogenese) bei der kulturhistorischen Theorie begegnet (vgl. S. 116). Eine frühe Förderung der „Technikbegabtheit“ des „faber-Kindes“ müsste sich gemäß dem folgenden Zitat auch positiv auf die späteren kognitiven „Weltzugänge“ des „sapiens-Jugendlichen“ auswirken.

„Die im Homo faber angelegte ›Technikbegabtheit‹ des Menschen schafft demgegenüber ein evolutionäres Entwicklungspotenzial, das der Kognitivität des sapiens logisch vorgelagert ist und zudem ›genetisch‹ zu erklären vermag. Das Potenzial für neuartige kognitive Weltzugänge muss nach Bergson deshalb vor allem in der ›Dauerhaftigkeit‹ des faber angelegt sein“ (Hussain 2018, 52).

In der „Kunstfertigkeit“ des Homo faber steckt noch ein zweiter Aspekt, der für die Menschheitsentwicklung und vor allem für den Übergang vom Homo neanderthalensis zum Homo sapiens entscheidend gewesen sein könnte. Hussain weist insbesondere an den Kunstwerken der Frühmenschen die, „wechselseitige Verschränktheit von Sozialität und Kognition“ (Hussain 2013, 107) nach, „die zu einem spezifischen Vermögen ‘sozialer Kognition’ führt“ (ebd.).

„Jene soziale Kognition ist wesentlich durch das Moment des Empathischen ausgezeichnet. Als Humanspezifikum erhebt Empathie den Menschen zum modernen Menschen“ (ebd.).

Nicht nur die ästhetische Wahrnehmung von Artefakten, sondern auch deren Schöpfung setzen Empathie voraus. Das Vorausschauen und Vorausahnen der zukünftigen Möglichkeiten, die in dem Artefakt verwirklicht werden, aber auch das Hineinversetzen in die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer eines Artefaktes, sind der entscheidende Fortschritt hin zum Homo faber.

Dieser Fortschritt scheint heute wieder stattzufinden, indem sich Technik zunehmend an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, wie es Irrgang feststellt.

„Entscheidender als früher ist die Mensch-Maschinen-Interaktion, das Verhältnis von Technik und Mensch. […] (Daher) beginnt hypermoderne Technologie mehr und mehr, sich an menschlicher Leiblichkeit und an ihren Bedürfnissen auszurichten“ (Irrgang 2010, 212).

Daher verstehen wir den Homo faber der Jetztzeit nicht als gefühllosen Rationalisten und Technokraten, sondern als einen emphatisch (Herz), geistvoll (Kopf) Handelnden (Hand), der sich „am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung orientiert“ (a.a.O., 225). Im Übrigen vollzieht auch Walter Faber, der Protagonist in Frischs Roman, den späten Wandel vom reinen Rationalisten hin zum empathischen, kunstsinnigen Menschen.

Über die zentrale Rolle des Homo faber vergisst man leicht die drei anderen Rollen, in denen technisch gehandelt wird.

Nutzer handeln technisch, wenn sie technische Mittel kaufen, anwenden, warten, reparieren, abnutzen und entsorgen (wegwerfen, recyceln). Dies schließt die symbolische Konnotation, z. B. beim Kauf aufgrund des Statuswertes, ebenso mit ein, wie die Nutzung technischer Artefakte als Schmuck, zum Spielen (vgl. S. 63), zur Unterhaltung, zum Sport usw.

Auf den ersten Blick geht es hier um die reine Praxis des Gebrauchs, doch auch diese Praxis unterliegt einer Theorie. Die Wechselwirkung von Theorie und Praxis, von Herstellung und Gebrauch und die damit verbundenen auch außerhalb der Technik liegenden Theoriebedarfe beschreibt Tuchel wie folgt:

„Die schöpferische Konstruktion bezeichnet den Weg von der wissenschaftlichen Theorie zur Praxis der Herstellung. Das für definierbare Funktionen geschaffene Gebilde dient in der Praxis des Gebrauchs bestimmten Zwecken. Der verbreitete Gebrauch, der Voraussetzung und Grund der weltgestaltenden Wirkung der Technik ist, erfordert zur Beeinflussung, Lenkung und Planung der technischen Entwicklung wiederum Theorie oder genauer: eine Anzahl gesellschaftlicher Theorien, die von der Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft bis zur Philosophie und Pädagogik reichen. Jedes technische Gerät oder Verfahren entsteht aufgrund von Theorie in einer Praxis und wird in einer Praxis gebraucht, die wiederum Theorie erfordert“ (Tuchel 1967, 31).

Das Gesagte wird in Abbildung 4.20 zusammengefasst.

Abbildung 4.20
figure 20

Dimensionen der technischen Wirklichkeit. ((nach: Tuchel 1967, S. 31) aus Binder, 2014, 160)

Einschränkend zu Tuchel ist anzumerken, dass nicht jede Praxis technischen Handelns notwendig eine Theorie voraussetzt. Zahlreiche Beispiele in der Technikgeschichte zeigen, dass es beim technischen Handeln vor allem auf die Effektivität ankommt, auf die Zielerreichung (vgl. S. 279). Es ist insbesondere Schlagenhauf (vgl. (Schlagenhauf 2009, 11 f)) zu verdanken, auf die noch unzureichende Ausgestaltung der Theorie des Gebrauchs hinzuweisen und darauf zu dringen, diesen für Schüler dominierenden Bereich in fachdidaktischen Ansätzen und in den Bildungsstandards (vgl. (VDI (Hrsg.) 2007)) zu berücksichtigen.

Ansätze zu einer theoretischen Durchdringung liefern Ropohl mit erläuterten Programmablaufplänen zu einem „Handlungskreis“ und zu einer Ablaufstruktur einer Sachsystemverwendung (vgl. (Ropohl 1979, 137, 188) und Fies mit einer detaillierten Handlungsstruktur beim Bedienen und Gebrauchen von Sachsystemen (siehe Abb. 4.21).

Abbildung 4.21
figure 21

Handlungsstruktur beim Bedienen/ Gebrauchen von Sachsystemen. (aus: Fies, 2011, 11), (© Neckar-Verlag))

Fies unterscheidet in Anlehnung an Johannsen drei „Ebenen des Wissens, Könnens und Handelns“ (Fies 2011, 9). Auf der Ebene der „reinen Handlungsstrukturen“ ist lediglich „Bedienungswissen“ (ebd.) vorhanden, die Kenntnis der Bedien- und Anzeigeelemente, sowie deren Handhabung. Auf der nächsten Ebene „sind die Handlungsstrukturen mit funktionalen Strukturen“ zu einem „Funktionswissen (ebd.) gekoppelt, was auch schon anspruchsvollere Handlungen, wie Fehlersuche, Demontage, Wartung und Recycling ermöglicht. Die höchste Stufe stellt das „Konstruktionswissen“ über die „Konstruktion und den Aufbau des Systems“ (ebd.) dar. Dies ist die berufliche Stufe des Wissens, mit dem „Handlungsformen des Herstellens, Prüfens, Optimierens, sicheren Demontierens und Remontierens, Reparierens usw.“ (a.a.O., 10) verbunden sind.

Neben dem Bedienen und Gebrauchen stellt das technische Handeln im engeren Sinne, das Planen, Konstruieren und Fertigen einerseits den Schwerpunkt des beruflichen technischen Handelns dar andererseits findet es auch Eingang in den privaten Bereich. Man denke nur an den enormen Zulauf in den Baumärkten während der Corona-Lockdowns, die Do-it-yourself-Bewegung und Repaircafes.

Als dritte Rolle lässt sich der mündige Folgebetroffene identifizieren. Er nimmt wahr, informiert sich, versucht zu verstehen, beteiligt sich, wählt, entscheidet sich für oder gegen Technik. Für den mündigen Folgebetroffenen ist es wichtig, durch Wahrnehmen und Verstehen rationale Urteilsfähigkeit zu erlangen, um gegen populistische Vereinnahmungen, Angstmache oder unlautere Werbeversprechen gewappnet zu sein und im Zielkonflikt entscheiden zu können.

Eine bisher wenig beachtete Rolle ist die des Vermittlers.

Er recherchiert, informiert, vermarktet, verkauft, übersetzt, reduziert didaktisch, macht aufmerksam auf Technik. Der Vermittler beherrscht einerseits die Fachsprache der Technik, ist aber andererseits in der Lage, diese Fachsprache auf ein verständliches Niveau zu reduzieren und zu übersetzen. Die beiden letztgenannten Rollen finden bei vorhandenen fachdidaktischen Ansätzen bisher noch wenig Berücksichtigung.

Die Verben, die in der Beschreibung der Rollen auftauchen, charakterisieren zugleich die unterschiedlichen Tätigkeiten, die das technische Handeln ausmachen. Sie lassen sich unterscheiden in technisches Handeln im engeren Sinne (z. B. planen, konstruieren, herstellen) und technisches Handeln im weiteren Sinne (z. B. informieren, übersetzen, vermarkten). Obwohl schon die vorangehende Aufzählung das weite Spektrum technischen Handelns zeigt, ist aus historischen Gründen eine Abgrenzung zum Arbeitsbegriff angezeigt.

4.3.1.3 Technisches Handeln und Arbeiten- eine Abgrenzung

Dieses kurze Kapitel stellt sich die Aufgabe, den Begriff der Arbeit innerhalb des technischen Handelns zu verorten und die heutige gesellschaftliche Bedeutung des Arbeitsbegriffs einzuordnen. Der Hintergrund dieser Einordnung ist die Dominanz des Arbeitsbegriffs im fachdidaktischen Ansatz der Arbeitslehre und im Ansatz des polytechnischen Unterrichts der DDR, die historisch auf Marx zurückzuführen ist.

In seiner ersten These gegen Feuerbach hat Marx seine grundlegende Kritik an der damals vorherrschenden Materialismusauffassung geübt und die sinnlich menschliche Tätigkeit in den Mittelpunkt gestellt (vgl. S. 110). Damit wendet er sich gegen die „Abwesenheit der verachteten Arbeitstätigkeit im philosophischen Überbau“ (Bloch 2019, 297), die schon seit der Antike vorherrscht. Marx sieht die Verdienste der Phänomenologie darin, dass sie „das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift“ (MEGA I, 3, S. 156, zitiert nach (Bloch 2019, 298)).

Damit, so Bloch, hat Marx eine Lücke geschlossen in dem „bloß anschauenden Materialismus“, „die dauernd oszillierende Subjekt-Objekt-Beziehung, die Arbeit heißt“ (Bloch 2019, 298).

Diese oszillierende Subjekt-Objekt-Beziehung, von der Bloch spricht, ist aber nicht das alleinige Charakteristikum von Arbeit, sondern aller technischer Handlungen und darüber hinaus auch von anderen Handlungen, bei denen eine Wechselbeziehung zwischen Menschen und Objekten vorliegt, z. B. einer künstlerischen Handlung.

Gehen wir der Geschichte des Arbeitsbegriffs weiter nach, so stoßen wir auf „Das Kapital“ von Karl Marx, in dem er die damaligen industriellen Produktionsverhältnisse analysiert und dabei feststellt:

„Die Natur der großen Industrie bedingt daher Wechsel der Arbeit, Fluss der Funktionen, allseitige Beweglichkeit des Arbeiters. Andererseits reproduziert sie in ihrer kapitalistischen Form die alte Teilung der Arbeit mit ihren knöchernen Partikularitäten“ (Marx und Engels 2008, 511).

Die veränderten dynamisierten Arbeitsbedingungen, „der Wechsel der Arbeiten“, erfordern als „allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz“ die „möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter“ (a.a.O., 512). Das bisherige „Teilindividuum, der bloße Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion“ wird ersetzt „durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind“ (a.a.O., 512).

Es ist verwunderlich, dass Marx trotz der Kritik an den Produktionsverhältnissen zu Schlussfolgerungen bezüglich der Erziehung von Jugendlichen kommt, die eher geeignet sind, die bestehenden Produktionsverhältnisse zu festigen, statt sie zu revolutionieren. Er fordert eine

„Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen“ (a.a.O., 508).

Diese Ideen Marx‘ wurden nach dem zweiten Weltkrieg in der DDR aufgegriffen und dienten als Grundlage zur Entwicklung des polytechnischen Unterrichts. Dabei wird vor allem auf die wissenschaftliche Entwicklung der Technik abgehoben, die Produktionsprozesse gleich und berechenbar und damit lehrbar macht. Frankiewicz zitiert in „Technik und Bildung in der Schule der DDR“ dazu Marx‘ Verständnis von Erziehung aus „Instruktion für die Delegierten des Generalrats“ (1866):

„Polytechnische ErziehungFootnote 29, welche die allgemeine wissenschaftlichen Grundsätze aller Produktionsprozesse mittheilt und die gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und in die Handhabung der elementaren Instrumente aller Geschäfte“ (Marx 1971 Bd.16, 190 ff zitiert nach (Frankiewicz 1968, 14)).

Es erscheint schon bei Marx widersinnig, dass er eine solche polytechnische Erziehung fordert, die Kinder und Jugendliche optimal auf die Produktionsverhältnisse der „großen Industrie“ vorbereitet, deren ausbeuterische Verhältnisse an anderer Stelle kritisiert werden. Auch zu Marx‘ Zeiten gab es außer der Fabrikarbeit noch andere Formen der Arbeit und andere Formen des technischen Handelns. Erst recht erscheint es widersinnig, diese Vorbereitung auf industrielle Produktionsprozesse auch noch aufrecht zu erhalten unter veränderten gesellschaftlichen und produktiven Verhältnissen.

Es kann nur auf ideologische und ökonomische Gründe zurückgeführt werden, dass sich die einseitige Sicht auf technisches Handeln als „produktive Arbeit“ als nützlichkeitsorientierte Sichtweise so lange gehalten hat.

Wie muss man aus heutiger Sicht den Stellenwert von Arbeit im technischen Handeln bewerten?

Wie wir bereits im vorangehenden Kapitel gesehen haben, handeln Menschen in verschiedenen Rollen technisch. Manche dieser Handlungen, insbesondere das Handeln im engeren technischen Sinne (Planen, Konstruieren, Herstellen) sind auch mit Erwerbsarbeit verbunden. Viele andere technische Handlungen aber werden im privaten oder öffentlichen Bereich durch Techniknutzer, Folgebetroffene und Technikvermittler ausgeführt.

Bei der Erwerbsarbeit fällt auf, dass 2021 mit 33,671 Millionen Beschäftigten der Dienstleistungssektor weit vor dem Produktionssektor mit 8,08 Millionen Beschäftigten lag (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1248/umfrage/anzahl-der-erwerbstaetigen-in-deutschland-nach-wirtschaftsbereichen/).

Verfolgt man weitere gesellschaftliche Trends, so kann man feststellen, dass sich durch veränderte Gesetzgebung und veränderte Werthaltungen das Verhältnis zwischen Erwerbs- und Familienarbeit geändert hat. Beispielsweise hat sich der Anteil der Männer in Elternzeit in den letzten Jahrzehnten deutlich gesteigert. Er betrug 2003 nur 5 %Footnote 30 und lag im Jahre 2020 schon bei 25 %Footnote 31.

Andere Formen der Arbeit, wie das Ehrenamt, tragen erheblich zum Funktionieren von gesellschaftlichem Zusammenleben bei. Im Jahre 2020 haben sich in Deutschland 17,11 MillionenFootnote 32 Menschen ehrenamtlich betätigt. Zu diesen Tätigkeiten zählt z. B. auch das Engagement beim Technischen Hilfswerk (THW) in Katastrophensituationen, wie der Flutkatastrophe des Jahres 2021 im Ahrtal. Auch die Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen zeigt, dass ein grundsätzliches Neudenken von Arbeitsleben, Erwerbs-, Familien- und ehrenamtlicher Arbeit stattfindet.

Insgesamt zeigt sich, dass die Vielfalt technischer Handlungen in den unterschiedlichen Rollen als technisch Handelnde eine besondere Hervorhebung von „Arbeit“ und „Produktion“ nicht mehr rechtfertigt. „Arbeit und Produktion“ als Teilmenge technischen Handelns hat aber im pädagogischen Kontext wegen des kulturtheoretischen Hintergrunds (vgl. Abschn. 2.2.3.2) und der damit verbundenen Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und Enkulturation einen hohen Stellenwert (vgl. auch Kap. 5). Handlungen und Tätigkeiten verbinden den Menschen mit der Dingwelt und gleichzeitig mit den Mitmenschen und übernehmen dabei eine psychische Vermittlerfunktion, wie es Leontjew ausdrückt.

„Entsprechend unterschied Wygotski zwei wechselseitig zusammenhängende Hauptmomente, die der psychologischen Wissenschaft zugrunde gelegt werden müssen. Das sind die Werkzeugstruktur (die „instrumentale“ Struktur) der Tätigkeit des Menschen und zum anderen ihr Einbezogensein in das System der Wechselbeziehungen mit anderen Menschen. Eben diese Momente bestimmen die Besonderheit der psychischen Prozesse beim Menschen. Das Werkzeug vermittelt eine Tätigkeit, die den Menschen nicht nur mit der Welt der Dinge, sondern auch mit den anderen Menschen verbindet“ (Leontʹev 1987, 96 f).

4.3.1.4 Erzieht technisches Handeln?

Die Lehrmittelzentrale der Deutschen Arbeiterfront (DAF), dem Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der NS-Zeit, hat den Grundlehrgang „Eisen erzieht“ (vgl. Abb. 4.22) herausgegeben,

„weil die Eisenbearbeitung für die angestrebte Förderung kämpferischer Qualitäten und die Erzeugung von Arbeitsdisziplin von unübertrefflichem Wert zu sein schien. […] Die Tugenden, die mit dem disziplinierenden Grundlehrgang angestrebt bzw. gefördert werden sollten, waren: Exaktheit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit, Härte, Zähigkeit, Willensstärke, Hingabebereitschaft, Opferwilligkeit und Einsatzbereitschaft“ (Kipp 2006, 28).

Abbildung 4.22
figure 22

Grundlehrgang „Eisen erzieht“. (aus: Kipp, 2006,28)

Die Wendung „Eisen erzieht“ überdauerte die NS-Zeit und schien noch lange Zeit die Berufsausbildung in den Metallberufen zu beeinflussen. In unserem Zusammenhang ist zu fragen, ob technisches Handeln erziehend sein kann.

Fasst man „Erziehen“ als Handlungen auf,

„durch die Erwachsene („Erzieher“, „Lehrer“) versuchen in den Prozeß des Werdens heranwachsender Persönlichkeiten (…) einzugreifen, um Lernvorgänge zu unterstützen oder in Gang zu bringen, die zu Dispositionen und Verhaltensweisen führen, welche von den Erwachsenen als sein-sollend oder erwünscht angesehen werden“ (Brezinka 1975, 26)(vgl. S. 31),

dann würde Eisen als „Erzieher“ ausscheiden, denn die personale Komponente fehlt. Diese käme nur über den Umweg ins Spiel, dass man den Lehrgang „Eisen erzieht“ als eine von Menschen konzipierte und auf Erziehung zielende Methode ansehen würde.

Fasst man jedoch den Erziehungsbegriff an dieser Stelle weiter als eine gezielte Beeinflussung von Verhalten, dann kann man technisches Handeln als erziehend bezeichnen.

Der Grund dafür liegt in der oben erwähnten Regelhaftigkeit, die das Immer-wieder-Gelingen (Grunwald) einer technischen Handlung gewährleisten soll.

Oft erfordert die Sachlogik eine festgelegte Abfolge von Handlungsschritten, z. B. Messen, Anreißen, Absägen. Würde man die Handlungsschritte vertauschen zu Absägen, Anreißen, Messen wäre das Ergebnis der Handlung wahrscheinlich nicht gelungen oder würde weitere Handlungsschritte erfordern. Auch technische Handlungen als Nutzer von Technik erfordern eine festgelegte Abfolge von Handlungsschritten, z. B. Einfüllen von Obst, Schließen des Deckels, Einschalten des Mixers, Ausschalten des Mixers, Entnehmen des Saftes.

Der oben angesprochene teleologische Aspekt der gezielten Beeinflussung von Verhalten steckt in der Konstruktion der Artefakte durch Menschen. Er wird immer erst dann bewusst, wenn das Denken der Konstrukteure nicht mit dem Denken der Nutzer übereinstimmt und man z. B. jahrelang zum Herunterfahren eines Computers auf einen „Start“-, statt auf einen „Ausschalten“- Button klicken musste. Zwar führen auch von den ursprünglich intendierten Handlungsschritten abweichende technische Handlungen oft zum Ziel, z. B. häufiges Anfahren des Autos im 2.Gang, jedoch ergeben sich aus diesen Handlungen auch unerwünschte Folgen, z. B. frühzeitiger Austausch der Kupplung. Auch das regelmäßige Warten technischer Artefakte, z. B. Ölen einer Fahrradkette verfolgt das Ziel einer langen Lebensdauer und angemessenen Funktionsfähigkeit, das sowohl im Sinne des Konstrukteurs und des Nutzers sowie im gesellschaftlichen Interesse (Nachhaltigkeit) sein kann.

Kehren wir noch einmal zu dem Lehrgang „Eisen erzieht“ zurück, so lassen sich insbesondere für technische Handlungen als Planer, Konstrukteur und Hersteller von technischen Artefakten Tugenden finden, die durch das technische Handeln erzieherisch gefördert werden können, wie z. B. „Exaktheit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit, Härte, Zähigkeit, Willensstärke, Hingabebereitschaft, Opferwilligkeit und Einsatzbereitschaft“ (Kipp 2006, 28). Diese aufgrund des disziplinierenden Charakters und des geschichtlichen Hintergrunds z. T. negativ konnotierten Tugenden lassen sich aber ergänzen durch Tugenden wie Mut, Entschlossenheit, Tatkraft und Optimismus, denn technisches Handeln führt durch direktes Feedback zu Selbstwirksamkeitserfahrungen, die persönlichkeitsstärkend sind. Mit Feedback ist hier gemeint, dass das Erreichen eines Ziels mit Hilfe technischer Mittel oder das beim Handeln entstandene Produkt eine direkte Rückmeldung an den Handelnden gibt. Als Feedback kann im Falle der Nichteinhaltung der technischen Regeln im schlimmsten Fall ein Unfall passieren. Definiert man Unfall als „das unkontrollierte oder ungeplante Freiwerden potenziell verletzungs- und/oder schadensbewirkender Energie“ (Kliemt 1978, 20), so steckt in dem Ungeplanten wiederum eine Komponente des technischen Handelns. Zugleich kann durch Planung und Bedächtigkeit das technische Handeln selbst oder pädagogisches Handeln einen Beitrag zur Sicherheitserziehung leisten.

Mit einem erweiterten Erziehungsbegriff lässt sich wegen des normativen Charakters technischen Handelns und des teleologischen Charakters technischer Artefakte durchaus davon sprechen, dass technisches Handeln erzieht.

4.3.2 Das „schöne“ technische Handeln und Gestalten

In diesem Kapitel wollen wir der „Herz-und Hand-Komponente“ des technischen Handelns und Gestaltens nachgehen, den ästhetischen, psychomotorischen und affektiven Anteilen und dem Begriff der „Kreativität“, der allein durch die „Kopf-Komponente“ nicht zu erklären ist.

4.3.2.1 „Die Erfindung“: Anamnesis (Platon) oder vier Ursachen (Aristoteles)?

„Wer aber je dem geheimnisvollen Entstehen einer Erfindung nachgespürt hat, wem jemals der Gedankenblitz zum Bewußtsein gekommen ist, dem wir jede wahrhaft große Erfindung verdanken, der weiß, daß es keine Regung in der menschlichen Seele gibt, die mit größerem Recht geistig genannt werden muß, als das Erfinden“ (Eyth 1924, 14).

Was Max Eyth in seinem Vortrag „Poesie und Technik“ aus dem Jahre 1904 beim Verein Deutscher Ingenieure zum Ausdruck bringt, ist die Tatsache, dass man eine große Erfindung als einen geheimnisvollen Vorgang und als eine geistige Regung der Seele ansehen muss. Geheimnisvoll insofern, als der oft plötzlich auftretende Gedankenblitz zwar scheinbar aus dem Nichts kommt, jedoch hat sich vorher bereits eine geistige „Hochspannung“ aufgebaut, die deshalb so geheimnisvoll ist, weil viele heuristische Prozesse unbewusst, schnell und in paralleler, netzwerkartiger Verarbeitung im Gehirn stattfinden. Die scheinbare Genialität beruht aber oft auf einem ausgedehnten Wissens- und Könnensnetz aus unterschiedlichen technischen Kenntnissen und Fähigkeiten, die durch Neukombination, Ergänzung und Variation zu etwas Neuem kombiniert werden. Dieses Er-finden legt nahe, dass es sich dabei um ein „Finden“ handelt. Etwas zu finden, heißt aber, dass es schon vorhanden ist, wenn auch nur in einer Welt der Ideen. Diese Auffassung geht auf die Platonische Ideenlehre zurück, deren Inhalt „ist ein angenommenes Reich immaterieller, ewiger und unveränderlicher Wesenheiten, der Ideen (griech. eidos, idéa). Ideen im Sinne Platons sind Urbilder der Realität, nach denen die Gegenstände der sichtbaren Welt geformt sind“ (Kunzmann, Burkard, und Weiß 2017, 39). Im Höhlengleichnis stellt Platon den „Aufstieg zu den Ideen“ (a.a.O., 41) dar, der ein Wiedererinnern, eine Anamnesis ist. „Die Seele hat die Ideen in der Präexistenz geschaut, aber beim Eintritt in den Körper vergessen“ (a.a.O.,41). Der Eros „weckt im Menschen die Sehnsucht, sich der Schau der Ideen zu widmen“ (a.a.O., 41). Das Streben nach wahrer Erkenntnis beschreibt Platon im Symposion als stufenweisen Prozess,

„von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne“ (Plato 2019, 221 f).

Durch das Wiedererinnern des Schönen selbst und das Abbilden der Ideen werden Gegenstände geschaffen. Das Schaffen der Gegenstände selbst ist im Verhältnis zum vernunftmäßigen Erfassen der dahinter liegenden Ideen ebenso unwichtig wie der Leib im Verhältnis zur Seele, der die „Herrschaft über den Körper zukommt“ (Kunzmann, Burkard, und Weiß 2017, 43). Die Dominanz der Vernunft, konkretisiert in den vier Kardinaltugenden der Weisheit, der Tapferkeit, der Mäßigung und der Gerechtigkeit, führt zu einer Abwertung der Körperlichkeit und Leiblichkeit und damit auch der Arbeit und dem Schaffen von Gegenständen. Dieser „Geburtsfehler“ der Philosophie im Hinblick auf die Technik, begegnet uns noch heute in der abschätzigen Bezeichnung „Banause“ „vom altgriechischen bánausos und heißt dort einfach «Handwerker»“ (Janich 2015, 15). Die antike Geringschätzung des Handwerkers beruhte darauf, dass er „einen nicht in der Tätigkeit selbst liegenden Zweck“ (ebd.) verfolgte. „Als ethisch wertvoll galt aber nur eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird“ (ebd.). Daran änderte sich auch nichts als sich Platons Schüler Aristoteles später gegen die Ideenlehre wandte, indem er in seiner Metaphysik den Dualismus von Idee und Gegenstand dadurch überwindet, dass er fordert, dass das „Wesen der Dinge in ihnen selbst liege“ (Kunzmann, Burkard, und Weiß 2017, 49).

Tabelle 4.5 Die vier Ursachen des Aristoteles

Der aristotelische Dualismus ist der von Stoff (griech.: hyle; lat.: materia) und Form (griech.: eidos/ morphe lat.: forma). Die Entfaltung des Wesens der Dinge (Entelechie) setzt ein Ziel (télos) voraus. Das Wesen der Dinge, das in der Materie nur als Möglichkeit (dynamis) existiert, entfaltet sich durch vier mögliche Ursachen zur Wirklichkeit (enérgeia).

Die vier Ursachen sind die Formursache (causa formalis), die Zweckursache (causa finalis), die Antriebsursache (causa efficiens) und die Stoffursache (causa materialis) (nach (Kunzmann, Burkard, und Weiß 2017, 49) (Tabelle 4.5).

Wir machen nun einen großen Sprung in der Ideengeschichte und wenden uns direkt den technikphilosophischen Überlegungen des 20.Jahrhunderts zu, weil sich diese beiden fundamentalen Grundströmungen nach Platon und Aristoteles noch im heutigen Denken wiederfinden. Die Frage ist, ob die Wurzel der Idee in den Dingen ist (Aristoteles) oder die Wurzel der Dinge in den Ideen (Plato).

So wird Anfang 1927 die platonische Ideenlehre von Dessauer in „Philosophie der Technik“ aufgegriffen:

„Denn so sicher wie das vierte Reich (die Technik, Anm.THM) in die konkrete Welt durch die neuen Gestalten hineinragt und der Erfahrung sich bietet, so sicher reicht es in seinem Ursprung über die Sinneserfahrung hinaus, ist ideal, erfahrungstranszendent, metaphysisch im guten Sinn des Wortes. Das Ursprungsland der Technik liegt in der Idee. Und die Beschaffenheit des potentiellen Seins, der breiten Dinge, ist vorgebildet, eindeutig bestimmt“ ((Dessauer 1933, 146 f), Hervorh. THM).

Dessauer bringt zusätzlich eine religiöse Komponente mit ein, indem er feststellt:

„Die Bekanntschaft mit dem Wesen der Technik und die Beobachtung der Entfaltung ihrer autonomen Kräfte in der Menschheit zwingen zu dem Schluß, daß Technik ethischen Eigenwert hat, immanente Religion trägt, daß sie, in der Sprache der Religion gesprochen, nicht gottesfern ist, sondern vom Schöpfer kommt und zu Gottes Thron führt“ (a.a.O., 144).

Der ethische Eigenwert der Technik ist unbestritten und wird später noch ausführlich beleuchtet, die Ideenlehre und die Herkunft der Ideen „vom Schöpfer“ sind zumindest umstritten.

Auch Heidegger greift 1953 in „Die Frage nach der Technik“ mit dem „Entbergen“ scheinbar die platonische Ideenlehre auf:

„Technik ist eine Weise des Entbergens. Die Technik west in dem Bereich, wo Entbergen und Unverborgenheit, wo άληθεια (aletheia, Anm. THM), wo Wahrheit geschieht“ (Heidegger 2000, 14 f.).

Während Heidegger der handwerklichen Technik dieses ursprüngliche Entbergen noch zugesteht, beschreibt er den Charakter der modernen Technik als

„Dasjenige Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, entfaltet sich nun aber nicht in einem Her-vor-bringen im Sinne der ποίησιζ (poiesis, Anm. THM). Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann“ (a.a.O., 15).

Die drei von Heidegger genannten Beispiele der Kohleförderung, der „motorisierten Ernährungsindustrie“ (a.a.O., 16) und eines Wasserkraftwerks mögen dem Aspekt der Herausforderung der Natur zur Lieferung von Energie genügen. Viele andere Beispiele lassen sich aber nur unter den schwerpunktmäßigen Aspekten der Stoff- oder Informations- „Herausforderung“ betrachten. Auch Heideggers vieldiskutierte Begriffskonstruktion des „Ge-stells“ scheint uns auf den ersten Blick in der Frage nach der Erfindung nur bedingt weiterzubringen.

„Wir nennen jetzt jenen herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versammelt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen- das Ge-stell“ (a.a.O., 20).

„Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen“ (a.a.O., 21).

Der Gleichklang von Gestell und „Ge-stell“ führt oft zu der missverständlichen Vorstellung, dass Heidegger mit Ge-stell lediglich die technischen Artefakte meinte. Er selbst klärt dieses Missverständnis auf, indem er das Ge-stell als „eine geschickte Weise des Entbergens, nämlich das herausfordernde“ (a.a.O., 30) bezeichnet. Damit ergibt sich für diese Untersuchung eine doppelte Potenz des Begriffs. Einerseits im Hinblick auf das Erfinden, andererseits im Hinblick auf das Entbergen des Wesens bestehender Technik, also des Verstehens von Technik. Damit kann der Begriff des Ge-stells, der oft in Zusammenhang mit TechnikpessimismusFootnote 33 und Gefahren der Technik gebracht wird, doch noch eine positive Konnotation erhalten.

Das Rettende liegt nach Heidegger in der Technik selbst, wenn man sie sich nicht nur als Instrument vorstellt, sondern danach fragt „wie das Instrumentale als eine Art des Kausalen west“ (a.a.O., 37) und als Antwort dieses „Wesende als das Geschick eines Entbergens“(ebd.) erfährt. Nun besteht dieses Geschick aber nicht nur im Entbergen des Wahren, also die Herausforderungen durch die Natur zu meistern, sondern auch im Entbergen des Schönen, also die Herausforderungen der Kultur zu berücksichtigen. Diesen Zusammenhang entfaltet Heidegger, indem er die Nähe von Technik und Kunst feststellt:

„Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihr doch grundverschieden ist.

Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen“ (Heidegger 2000, 36).

Indem Heidegger der Kunst zuschreibt, dass „das Dichterische jede Kunst durchwest, jede Entbergung des Wesenden ins Schöne“ (ebd.) und zugleich die Nähe von Technik und Kunst feststellt, wird auch der Technik die „Entbergung ins Schöne“ zugesprochen. Heidegger liefert uns zugleich mit dem „Fragen“ den Schlüssel zum Verstehen des Wesens der Technik:

„Je mehr wir uns der Gefahr nähern, um so heller beginnen die Wege ins Rettende zu leuchten, um so fragender werden wir. Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ (Heidegger 2000, 36).

Wenden wir uns wieder der in der Überschrift aufgeworfenen Frage „Anamnesis“ oder „vier Ursachen“, Platon oder Aristoteles zu, dann erhalten wir mit Heidegger darauf die Antwort, indem er beide zusammenführt.

Heidegger zeigt an dem aristotelischen Beispiel der silbernen Opferschale (vgl. Tab. 4.5), dass die vier Ursachen vier „unter sich zusammengehörige Weisen des Verschuldens“ (Heidegger 2000, 10) sind. „Verschulden“ ist dabei weder „moralisch als Verfehlung zu verstehen“, noch „als eine Art des Wirkens zu deuten“ (a.a.O., 11), sondern indem etwas ins Erscheinen kommt, ist „das Verschulden das Ver-an-lassen“ (a.a.O., 12). Und hier schließt sich der Kreis von Aristoteles zu Platon, der im „Symposion“ schreibt:

Jede Veranlassung für das, was immer aus dem Nicht-Anwesenden über- und vorgeht in das Anwesen, ist ποίησιζ, ist Her-vor-bringen“ (Platon, Symposion (205b) zitiert nach (Heidegger 2000, 12)).

Das Hervorbringen ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, „nicht nur das handwerkliche Verfertigen, nicht nur das künstlerisch-dichtende zum Scheinen- und ins- Bild-Bringen“, sondern „auch die φύσιζ (physis, Anm.ΤΗΜ), das von-sich-her Aufgehen, ist ein her-vor-bringen, ist ποίησις. Die φύσιζ ist sogar ποίησιζ im höchsten Sinne“ (ebd.).

Für das Hervorbringen von Verborgenem ins Unverborgene steht im Griechischen das Wort άλήθεια, lateinisch „veritas“, oder zu Deutsch „Wahrheit“.

„Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eineFootnote 34 Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahr-heit“ (Heidegger 2000, 13).

Die Wahrheit und die Schönheit wird durch die Technik entborgen, findet sich aber ebenso verborgen in der Technik und harrt der Entbergung. Wenn Max Eyth in seinem Vortrag „Poesie und Technik“ feststellt,

„Die Welt, selbst die sogenannte gebildete Welt, fängt an zu erkennen, daß in einer schönen Lokomotive, in einem elektrisch bewegten Webstuhl, in einer Maschine, die Kraft in Licht verwandelt, mehr Geist steckt als in der zierlichsten Phrase, die Cicero gedrechselt, in dem rollendsten Hexameter, den Virgil jemals gefeilt hat“ (Eyth 1924, 15),

dann ist damit der Wunsch verbunden, dass dieses Entbergen von Wahrheit und Schönheit, das auch den wahren Geist einer Erfindung erfasst, auch heute für die „gebildete Welt“ gelten möge.

4.3.2.2 Technisches Handeln zwischen Flow und Kontrolle

Das Entbergen des Wahren und Schönen durch die Technik setzt nicht nur Geist voraus, sondern auch ganzheitliches Handeln mit Kopf, Herz und Hand. Wir wollen zunächst an einem Beispiel sehen, wodurch dieses Handeln gekennzeichnet ist.

Stellen wir uns dazu einen Telekommunikationselektroniker bei der Arbeit vor. Er muss nach einem Plan ein Bündel verschiedenfarbiger und mit Strichcodes versehener Leitungen in einem Schaltschrank anschließen. Er ist ganz im „hier und jetzt“, jeder Handgriff ist geübt und geschickt. Plan und Ergebnis werden beim Tun abgeglichen. Er ist ganzheitlich feinmotorisch und geistig gefordert. Er merkt nicht, wie schnell die Zeit verfliegt. Der Psychologe und Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi bezeichnet diesen Zustand als Flow. Was zeichnet diesen Zustand aus?

Flow tritt ein, wenn eine intrinsisch motivierte Handlung ausgeführt wird, die die ganze Konzentration fordert und sich in einem optimalen kognitiven Anforderungsbereich bewegt. Das gesamte Tun erscheint wie in einem zusammenhängenden Fluss (engl. flow). Dieser Flow-Zustand kann auch durch andere Tätigkeiten erreicht werden. Entgegen landläufiger Meinung, dass dazu Stille, Meditation und Bewegungslosigkeit ideal sind, kam Csikszentmihalyi zu der Erkenntnis, dass gerade die Bewegung, das Zusammenspiel von Geist und Körper und das Herausfordern von Geist und Körper zu dem Flow-Erlebnis führen. Ein wesentliches Kennzeichen der Flow-Aktivität ist, dass sie „in sich selbst (be-)lohnend“ (Csikszentmihalyi 2019, 23) ist. Beim technischen Handeln und Gestalten erfolgt genau diese selbst(be-)lohnende Rückmeldung durch die erfolgreiche Handlung, durch die Anwendung des eigenen Könnens und durch das Produkt. Damit reiht sich das technische Handeln in die von Csikszentmihalyi untersuchten „autotelischen Aktivitäten“ (a.a.O., 34) ein, deren gemeinsames Merkmal bei Befragungen war, dass allein „die Lust an der Aktivität und an der Anwendung von Können“ und „das Muster, die Handlung, die darin liegende »Welt«“ (a.a.O., 35) dazu führen, dass die Aktivität als „in sich selber lohnend“ (a.a.O., 36) empfunden wurden. Bei einer Untersuchung von Merkmalen autotelischer Aktivitäten ergab sich als Gemeinsamkeit, dass alle Aktivitäten „deutliche Herausforderungen“ (a.a.O., 53) stellen.

„Diese Herausforderungen können zwei Grundformen annehmen: die Herausforderung des Unbekannten, welche zu Entdeckungen, Erkundungen, Problemlösen führt und für Tätigkeiten wie Komponieren, Tanzen, Klettern und Schachspielen zentral ist, und die äußerst konkrete Herausforderung des Wettbewerbs, welche Aktivitäten wie das Basketballspiel prägt“ (Csikszentmihalyi 2019, 53).

Das von Csikszentmihalyi entwickelte Modell eines Flow-Zustandes geht von einer optimalen Herausforderung aus, ähnlich wie sie schon Vygotskij in seinem Modell der Entwicklungszonen (vgl. S. 117) forderte. Die optimale Herausforderung zeichnet sich nach Csikszentmihalyi durch eine Abstimmung der Fähigkeiten zum Handeln und der Anforderung beim Handeln aus. Abbildung 4.23 stellt dies modellhaft dar.

Abbildung 4.23
figure 23

Modell des Flow-Zustandes. (nach: (Csikszentmihalyi 2019, 75))

Sowohl mangelnde Fähigkeiten, z. B. Bedienung einer Formatkreissäge, als auch zu hohe Handlungsanforderungen, z. B. selbstständiges Teilen einer 3mx3m großen Sperrholzplatte mit Hilfe der Formatkreissäge, können zu Angst führen. Überforderungen können zu Sorgen führen, Unterforderungen zu Langeweile. Im Optimalbereich kann es zu Flow-Zuständen kommen.

Schauen wir uns wieder das technische Handeln an, so hatten wir in Abschnitt 4.3.1.2 verschiedene Rollen als Homo faber, Nutzer, Folgebetroffene und Vermittler zunächst mit Verben beschrieben, die das Handeln charakterisieren. Berücksichtigen wir jetzt die Erkenntnisse zur optimalen Aktivierung, so spielt dabei insbesondere die affektive Komponente des Handelns eine Rolle, die wir mit Adjektiven beschreiben können. Je nach Grad der Bewusstheit des Handelns lassen sich die mit dem Handeln verbundenen Affektzustände auf einer Skala von „unbewusstes Handeln im Flow“ bis „bewusstes, kontrolliertes Handeln“ zuordnen. Die zuzuordnenden Adjektive des Handelns würden variieren zwischen „risikobereit“ und „sicherheitsbewusst“, zwischen „befreit“ und „kontrolliert“ oder zwischen „selbstwirksam“ und „selbst-misstrauisch“. Andere Gegensatzpaare im Hinblick auf das Überschreiten des Rubikons (vgl. S. 310 f) könnten sein „tatkräftig“ und „abwartend“, „mutig“ und „vorsichtig“ oder im Hinblick auf das Handeln selbst „ausdauernd“ und „kurzatmig“, „nachhaltig“ und „kurzsichtig“, „zweckmäßig“ und „unzweckmäßig“, „perfekt“ und „schludrig“.

Das technische Handeln im engeren Sinne als Homo faber kann man mit Adjektiven wie kreativ, materialgerecht, materialsparend, genau, exakt, präzise, normgerecht, usw. beschreiben. Das Flow-Modell eröffnet zwei weitere Perspektiven des technischen Handelns, die auch für den Bildungsbereich nutzbar sind. Erstens die spielerische Komponente, die man mit Adjektiven wie selbstvergessen, befreiend, erfreuend, kreativ usw. beschreiben kann und zweitens die Motivation über Wettbewerbe, die mit Adjektiven wie ehrgeizig, erfolgsorientiert, teamorientiert, kreativ usw. beschreiben kann.

Das allen Handlungen gemeinsame Adjektiv technischen Handelns ist „kreativ“, denn es wird entweder etwas Neues geschaffen (Prozess oder Artefakt) oder es wird eine zielorientierte Handlung ausgeführt, eine Bewegung vollzogen, die zu einem Ergebnis führt, das meist selbst(be-)lohnend ist.

Mit diesem gemeinsamen Element der Kreativität befasst sich das folgende Kapitel.

4.3.2.3 „Die Erfindung der Kreativität“: Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ

Der Sinn des Lebens […] ist nicht zu erfragen, sondern zu beantworten, indem wir das Leben verantworten. Daraus ergibt sich aber, daß die Antwort jeweils nicht in Worten, sondern in der Tat, durch ein Tun zu geben ist“ (Frankl 2021, 234).

Das einleitende Zitat ist uns bereits im Kapitel „Technik und Sinn des Lebens“ begegnet. Es wird hier noch einmal aufgegriffen, weil mit dem Begriff der Kreativität ein besonders sinnhaftes Tun verbunden wird. Einer Standarddefinition von Runco und Jaeger folgend muss Kreativität zwei Forderungen erfüllen, sie muss etwas Neues hervorbringen und dieses Neue muss nützlich seinFootnote 35 (vgl. (Runco und Jaeger 2012, 92). Doch schon diese einfache Definition wirft eine Reihe von Fragen auf: Wenn Kreativität nützlich sein muss, ist Kunst dann überhaupt noch kreativ? Gerade der Gegensatz von Kunst und Technik wird oft über die Nützlichkeit definiert. Welche Norm wird an die Nützlichkeit angelegt und wer definiert diese Norm? Ist es eine individuelle, eine Gruppen- oder gar eine gesellschaftliche Norm?

Die Frage nach der Reichweite von Kreativität führt zu den Bezeichnungen „Big C“ (vgl. (Kozbelt, Beghetto, und Runco 2010, 23) für kreative Leistungen großer Bedeutung und Reichweite, wie z. B. der Viertakt Ottomotor oder der Schnellschütz von John KayFootnote 36(vgl.(Bohnsack 2002, 21)), und „Little C“ für die alltägliche Kreativität, z. B. bei der Abwandlung eines Kochrezepts aufgrund fehlender Zutaten. Bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Kreativität gibt es zahlreiche Ansätze. Der auf Mel Rhodes zurückgehende Ansatz der „four P's of creativity“: process, product, person (or personality), and place (or press)” (Kozbelt, Beghetto, und Runco 2010, 24), beschreibt die vier Grundelemente der Kreativität, die Person, den Prozess, das Produkt und das Umfeld. Guilford räumte mit seiner Arbeit mit dem Hochbegabten-Paradigma von Kreativität auf und stellt stattdessen fest, dass jeder Mensch, der divergent denken kann, auch kreativ sein kann (vgl. (Guilford 1967) nach (Hüttner 2005)). Von den zahlreichen Untersuchungen, die sich inzwischen mit Persönlichkeitsmerkmalen kreativer Personen befasst haben, sei die Untersuchung von Csikszentmihalyi „Flow und Kreativität“ herausgegriffen. Er unterteilt das „Umfeld“ von Kreativität in die beiden Teilsysteme „Domäne“ und „Feld“.

„Die erste Komponente dieses Systems ist die Domäne, die aus einer Reihe von symbolischen Regeln und Verfahrensweisen besteht. […] Die Domänen sind wiederum in dem verankert, was wir gemeinhin als Kultur bezeichnen […]“ (Csikszentmihalyi 2019, 47).

Technik wäre demnach eine Domäne großer Reichweite, die man in Unterdomänen, z. B. Elektrotechnik, Alltagstechnik usw. unterteilen könnte. Eine Domäne kleiner Reichweite wäre z. B. ein einzelner Haushalt mit vier Personen, die in einer bestimmten Regelhaftigkeit zusammenleben.

„Die zweite Komponente der Kreativität ist das Feld; dazu gehören alle Personen, die den Zugang zur Domäne überwachen. Sie treffen die Entscheidung, ob eine neue Idee oder ein neues Produkt in die Domäne aufgenommen werden soll“ (ebd.).

Das Feld könnte ebenso eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, eine bestimmte Gesellschaftsschicht als Verbraucher und Nutzer oder auch nur die Familie eines Haushalts sein.

„Die dritte Komponente des kreativen Systems ist schließlich das Individuum. Kreativität findet statt, wenn ein Mensch, der mit den Symbolen der bestehenden Domäne wie Musik, Technik, Wirtschaft oder Mathematik arbeitet, eine neue Idee oder ein neues Muster entwickelt, und wenn diese Neuentwicklung von dem entsprechenden Feld ausgewählt und in die relevante Domäne aufgenommen wird“ (a.a.O., 47).

In diesem Systemmodell ist Kreativität „jede Handlung, Idee oder Sache, die eine bestehende Domäne verändert oder eine bestehende Domäne in eine neue verwandelt“ (a.a.O., 48).

Für diese Untersuchung ist von besonderem Interesse, dass Csikszentmihalyi für kreative Individuen als zentrales Persönlichkeitsmerkmal die „Komplexität“ herausgefunden hat. Damit meint er, dass die Personen „Denk- und Handlungstendenzen zeigen, die bei den meisten Menschen getrennt sind. Kreative Menschen vereinen widersprüchliche Extreme in sich- sie bilden keine individuelle »Einheit«, sondern eine individuelle »Vielheit«“ (Csikszentmihalyi 2014, 88).

Er veranschaulicht diese Komplexität an „zehn scheinbar antithetischen Merkmalspaaren“ […], „die bei kreativen Menschen häufig gemeinsam auftreten und durch ein dialektisches Spannungsverhältnis verbunden sind“ (a.a.O., 89) (Tabelle 4.6).

Csikszentmihalyi kommt bezüglich dieser zehn antithetischen Merkmalspaare zu dem Schluss, dass man die Merkmale „selten in ein und derselben Person antrifft“ (Csikszentmihalyi 2014, 115), dass aber beide Pole für Kreativität notwendig seien.

„Deshalb ist die Neuheit, die überlebt und eine Domäne verändert, normalerweise das Werk eines Menschen, der auf beiden Seiten dieser Polarität operieren kann- und das ist der Typ des Menschen, den wir als »kreativ« bezeichnen“ (Csikszentmihalyi 2014, 115).

Vorerst bleibt festzustellen, dass die antithetischen Merkmalspaare keine unveränderbaren Persönlichkeitseigenschaften sind, sondern zu großen Teilen durch Bildung und Erziehung beeinflusst werden. Technische Kreativität äußert sich „im Produkt, im neu geschaffenen Artefakt und auch im Verhalten des kreativ Tätigen“ (Jeretin-Kopf und Haas 2018, 222). Daher ist „(i)m Zusammenhang mit der Frage nach den Fördermöglichkeiten der technischen Kreativität […] sowohl die Performanz, das sichtbare und beobachtbare kreative Verhalten, als auch das Produkt von Interesse“ (a.a.O., 222).

Diese Fördermöglichkeiten beziehen sich nicht nur auf das „P“ der Person, sondern auch auf den Prozess der Kreativität, der einerseits von der Person maßgeblich beeinflusst wird, andererseits auch eine methodische Komponente aufweist.

Tabelle 4.6 Zehn antithetische Merkmalspaare kreativer Menschen (Seitenzahlen nach Csikszentmihalyi, 2014)

Ein zentrales Merkmal des kreativen Prozesses ist die geistige Antizipation, die Marx in einem anschaulichen Vergleich zwischen Biene und Baumeister zum Ausdruck bringt:

„Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vorneherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war“ (Marx und Engels 2008, 193).

Damit sind die geistigen Operationen angesprochen, die dem kreativen Denken zugrunde liegen. Entgegen der Annahme, dass dieses Denken streng algorithmisch in einer bestimmten Abfolge von Analysieren, Synthetisieren, Vergleichen, Abstrahieren, Kombinieren, Induzieren, Deduzieren zurück zum Analysieren erfolgt (vgl. Abb.1 in (Hüttner 2005, 7)), fand Karl Duncker 1935 bei der Untersuchung von produktiven Problemlösungsprozessen heraus, dass der Lösungsprozess zugleich mit einem Umformulieren und Konkretisieren des ursprünglichen Problems verbunden ist. „Stets dienen die zunächst gefundenen Lösungseigenschaften, die Funktionalwerte, als produktive Umformung der ursprünglichen Problemstellung“ (K. Duncker 1966, 9). Durch das Voranschreiten im Lösungsprozess werden die zunächst nur grob formulierten wesentlichen Zielformulierungen verfeinert und es ergibt sich ein Wechselspiel von Lösungsfindung und Problemreformulierung.

„Es hat somit einen guten Sinn, zu sagen, die eigentliche Leistung beim Lösen von Problemen bestehe darin, daß das Problem produktiver gestellt wird. […] Die Endform einer Lösung wird typisch auf dem Weg über vermittelnde Prozeßphasen erreicht, deren jede nach rückwärts Lösungscharakter, nach vorwärts Problemcharakter besitzt“ (K. Duncker 1966, 10).

Die o.g. Denkoperationen spielen alle eine Rolle bei kreativen Prozessen, aber als „kreativ kann die Anwendung heuristisch planbarer und nicht planbarer Operationen bezeichnet werden“ (Tönnsen 2019, 91). Tönnsen fasst die Phasen eines Problemlösungsprozesses aus der Sicht der Psychologie zu vier Schritten zusammen:

„Der Erfassung des Problemraums (innere Repräsentation der Problemsituation), der Situationsanalyse (Bildung eines definierten Ist-Zustandes und eines konkreten Ziels), der Bestimmung des Suchraums (Verknüpfung verfügbarer Handlungsoptionen mit den Merkmalen der Problemsituation) und der Realisierung der Lösung (Ausführung und Evaluation der Lösung)“ (Tönnsen 2019, 91).

Zusammen mit den „vier „P“ entwickelt Tönnsen daraus ein „integratives Modell ‚kreatives Problemlösen‘“(a.a.O.,92) (Abb. 4.24). Das Modell berücksichtigt insbesondere die unterschiedlichen Operationsklassen beim kreativen Handeln, von der Routine bis hin zur Intuition, und dem damit verbundenen Grad der Planbarkeit, von logisch-mathematisch planbar, über heuristisch planbar bis hin zu nicht planbar.

Abbildung 4.24
figure 24

Integratives Modell „kreatives Problemlösen“. (aus Tönnsen, 2019, 92)

Denkt man jedoch an die unterschiedlichen Rollen beim technischen Handeln, so trifft das Modell insbesondere auf die Rolle des Homo faber zu, weniger auf die Rollen des Nutzers, Vermittlers oder Folgebetroffenen. Insbesondere beim Nutzer von Technik stehen oft keine ProblemeFootnote 37 im Vordergrund, sondern das Handeln wird eher durch einfache BedürfnisseFootnote 38 motiviert.

Das Handeln kann dabei durchaus kreativ sein, z. B. bei der kreativen Nutzung eines Skateboards zur Bewältigung eines variantenreichen Parcours oder beim kreativen Verzieren von Kleidung durch Applikationen. Als Ziele stehen dabei oft Selbstverwirklichung und soziale Anerkennung im Vordergrund und nicht eine technische Problemlösung. Ersetzt man das Wort „Problem“ durch „Bedürfnis“ und „Problemlösen“ durch „Erfüllen von Bedürfnissen“, dann lässt sich das Modell auf ein größeres Spektrum technischen Handelns anwenden.

Dennoch gilt auch für das Erfüllen von Bedürfnissen der von Duncker in „Zur Psychologie des produktiven Denkens“ schon 1935 gefundene Zusammenhang, dass „die Lösung auf Grund der Übereinstimmung zwischen der geforderten und der dem Gesuchten innewohnenden Eigenschaft gefunden werden“ (K. Duncker 1966, 22) kann und das „vermöge der „Antizipation“ oder „Signalisierung“ ihrer spezifischen Lösungs- bzw. Hinführungseigenschaft“ (ebd.). Mit Hinführungseigenschaft ist beispielsweise gemeint, dass eine frühere Beobachtung der Umlenkung des Sonnenlichts durch eine glatte Wasseroberfläche zu einer Lösung „hinführen“ kann, deren Problemstellung die Umlenkung von Licht um eine Ecke mit einem Spiegel „signalisiert“.

Mit dem um den Begriff des Bedürfnisses erweiterten integrativen Modell kreativer Problemlöseprozesse sind nun drei der vier „canonical P’s“ geklärt.

Bleibt abschließend noch die kulturelle Bedeutung kreativen Handelns zu klären. Diese steckt im vierten „P“, „place“ oder „press“, dem Umfeld, das in Wechselwirkung mit Prozess, Produkt und Person steht. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz stellt in einer ausführlichen Analyse gesellschaftlicher Veränderungen eine Transformation fest, „weniger eine technologische als eine kulturelle. Sie findet seit den 1970er Jahren statt und betrifft die Entstehung und Verbreitung eines »kreativen Ethos«“ (Reckwitz 2012, 9).

Das kreative Ethos drückt sich in einer „Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung“ (a.a.O., 10) aus.

„Man will kreativ sein, und soll es sein“ (ebd.). Der Begriff der Kreativität wird in einer doppelten Bedeutung aufgefasst, als die „Hervorbringung des Neuen, […] als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht“ (ebd.) und als „ein Modell des »Schöpferischen«, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet“ (ebd.).

Reckwitz‘ Leitthese ist, dass sich die Dopplung aus Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ nicht nur auf die Felder Arbeit und Konsum ausdehnt, die sich im „ästhetischen Kapitalismus“ (a.a.O., 11) dem „Imperativ permanenter Innovation“ (ebd.) unterwerfen, sondern was sich abspielt, ist die „Ausbildung eines ebenso heterogenen wie wirkmächtigen Kreativitätsdispositivs (Reckwitz 2012, 15). Dabei bezieht sich Reckwitz auf Michel Foucaults Konzept des Dispositivs.

„Ein Dispositiv bildet keine bloße Institution, kein abgeschlossenes Funktionssystem, kein Wert- und Normmuster und mehr als einen Diskurs. Es umfasst ein ganzes soziales Netzwerk von gesellschaftlich verstreuten Praktiken, Diskursen, Artefaktsystemen und Subjektivierungsweisen, die nicht völlig homogen, aber doch identifizierbar durch bestimmte Wissensordnungen koordiniert werden“ (Reckwitz 2012, 49).

In Ergänzung zu Foucault stellt Reckwitz besonders die „soziale Affektivität“ (a.a.O., 50) des Kreativitätsdispositivs fest, das, „was die Subjekte dazu motiviert, sich in diese sozialen Formen zu fügen“ (a.a.O., 51). Das affektive Moment des Kreativitätsdispositivs ist, „dass es ein kulturell Imaginäres aufspannt und die Teilnahme an ihm Faszination und Befriedigung, das heißt einen dauerhaften affektiven Reiz, verspricht“ (a.a.O., 51).

Dieses „kulturell Imaginäre“ entsteht nicht plötzlich, sondern es ist ein langer historischer Prozess, ansetzend im 18.Jahrhundert „mit der Ausbildung eines bürgerlichen Kunstpublikums“ (a.a.O., 52), dem es um „Originalität“ und „Kreation des künstlerisch Neuartigen“ (ebd.) geht. In der Fortsetzung vermischen sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts, angefangen bei der Arts-and-Crafts-Bewegung, künstlerische und ökonomische Motive im Design, in der Mode und in der Werbung. Durch die „Entgrenzung künstlerischer Praktiken“ und die „Entmythologisierung der Künstlerindividualität“ (a.a.O., 53), durch eine das Individuelle betonende Psychologie und durch Massenmedien, die Film- und Musikstars hervorbringen, wird das Ästhetische und Kreative immer mehr aus dem Bereich der Kunst entgrenzt und breitet sich in unterschiedliche gesellschaftliche Systeme aus. Eine „krisenhafte Verdichtung der Elemente des Dispositivs“ […] „findet in den 1960er und 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Counter Culture, der Formierung der Jugendkulturen und der kritischen Protestbewegungen statt“ (a.a.O., 53). Schließlich landet das Kreativitätsdispositiv in den 1980er Jahren im mainstream der „creative industries“ und der „creative cities“ (a.a.O., 53) und strebt nach „kultureller Dominanz“ (ebd.). Voraussetzung dafür ist die Verwurzelung in einer „ästhetischen Sozialität“ (a.a.O., 322), deren Besonderheit darin besteht, „dass sie vier spezifische Instanzen und Einheiten miteinander verknüpft, nämlich Subjekte als Kreateure, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte und eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeiten“ (Reckwitz 2012, 323).

In allen vier Instanzen spielt technisches Handeln eine entscheidende Rolle. Das Subjekt als Kreateur macht sich als „ästhetisch performatives Subjekt zum Gegenstand einer ästhetischen Selbstgestaltung vor einem Publikum“ (a.a.O., 325). Dies geschieht vor allem über ästhetische Objekte, zumeist technische Artefakte.

„Im Kern der ästhetischen Sozialität zirkulieren nicht intersubjektive, sondern »interobjektive« Relationen zwischen Dingen und ihren Produzenten beziehungsweise Rezipienten, die nicht unmittelbar miteinander, sondern über die Objekte miteinander verknüpft sind“ (Reckwitz 2012, 324)

Der kreative Imperativ des ständig Neuen sorgt dafür, dass Aufmerksamkeit gezielt gelenkt wird und sich soziale Formen nicht verfestigen. „Handeln und Wahrnehmen sind nicht auf eine berechenbare Reproduktion von Regelsystemen ausgerichtet, sondern auf eine dynamische Selbsttransformation der sozialen Formen“ (a.a.O., 325). Insbesondere die sogenannten Sozialen Medien sorgen mit ihren Algorithmen für gezielten Tabubruch, fake news und Verbreitung von Lügen nur um der Aufmerksamkeit willen und den damit verbundenen Werbemöglichkeiten.

Die ästhetische Sozialität lässt sich auch positiv wenden, indem man die „Aktivierung (der Subjekte) als kreative Instanz“ (a.a.O., 326) in den Vordergrund rückt und die damit verbundene „kreative Hervorbringung“ um ihrer selbst willen.

„Sich selbst zum Gegenstand kreativer Gestaltung zu machen, markiert dann die reinste Form der Kreativität: Hier ist das Subjekt als Körper, Geist und Praxis sein eigens ästhetisches Objekt“ (Reckwitz 2012, 327).

Diese reinste Form der Kreativität sollte ein Ziel technischer Allgemeinbildung sein. Jedoch sollte das Regime des Neuen um des Neuen willen durch ein Regime des Fortschritts (siehe später) abgelöst werden, das auf Nachhaltigkeit und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zielt.

Die damit verbundenen Fragen nach Verantwortlichkeit für das technische Handeln und den mit dem technischen Handeln verbundenen Werten werden wir im folgenden Kapitel betrachten.

4.3.3 Das „gute“ technische Handeln und Gestalten

„An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,20).

4.3.3.1 Wertedimensionen technischen Handelns (VDI 3780)

„Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ (Kant GMS: 68 [= BA 77]) (Kant 2016, 61)(Hervorh. i. Orig.)

Dieses Eingangszitat Kants aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (GMS) wirft für die Technik die Frage auf, ob in diesem „Reich der Zwecke“ alles nur einen Preis hat, oder auch eine Würde, die Kant später gleichsetzt mit einem „inneren Wert“ (ebd.). Es ist die Frage nach den Werten im technischen Handeln und den Werten der technischen Artefakte. Entscheidungen beim technischen Handeln als Homo faber, Nutzer, Vermittler oder Folgebetroffener beruhen auf diesen Werten, die in der VDI-Richtlinie 3780 wie folgt definiert werden:

„Werte kommen in Wertungen zum Ausdruck und sind bestimmend dafür, dass etwas anerkannt, geschätzt, verehrt oder erstrebt wird; sie dienen somit zur Orientierung, Beurteilung oder Begründung bei der Auszeichnung von Handlungs- und Sachverhaltsarten, die es anzustreben, zu befürworten oder vorzuziehen gilt. […] Der Inhalt eines Wertes kann aus einem Bedürfnis hervorgehen; er konkretisiert sich insbesondere in Zielen, Kriterien und Normen“ (Lenk 1993, 339 f).

Diese Richtlinie ist in langjähriger Arbeit namhafter Wissenschaftler und IngenieureFootnote 39 in Westdeutschland in Zusammenarbeit mit dem VDI (Verein Deutscher Ingenieure) entstanden. 1976 wurde im Rahmen der Hauptgruppe „Der Ingenieur in Beruf und Gesellschaft“ der Bereich „Technikbewertung“ gegründet. Ein Ergebnis dieser Arbeitsgruppe war 1991 die VDI-Richtlinie 3780 „Technikbewertung-Begriffe und Grundlagen“ (nach Kaiser 2006, 244). Die Werte im technischen Handeln werden in der Richtlinie ausführlich erläutert und weiter ausdifferenziert.

Stichpunkte zu diesen Ausdifferenzierungen werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst (Tabelle 4.7).

Tabelle 4.7 Werte und deren Unterkategorien (nach Lenk 1993, 361–363)

Fast 30 Jahre nach Erscheinen dieser Richtlinie ist zu fragen, ob aus der heutigen Sicht diese Werte im technischen Handeln noch die gleiche Gültigkeit besitzen und ob Werte hinzugefügt oder neu geordnet werden müssen, die sich aufgrund der historisch-technischen Entwicklung ergeben haben.

Zunächst fällt auf, dass der Wert „Nachhaltigkeit“ nicht als eigenständiger Wert in dem Oktagon (Abb. 4.25) vorhanden ist, aber indirekt z. B. in „Umweltqualität“, „Gesundheit“, „Persönlicher Entfaltung und Gesellschaftsqualität“ enthalten ist. Nachhaltigkeit als Wert erfährt spätestens seit der Formulierung der 17 Sustainable Development Goals (SDG’s) durch die Vereinten Nationen weltweite Zustimmung und Aufmerksamkeit (Tabelle 4.8).

Tabelle 4.8 Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN (Sustainable Development Goals). (Quelle: https://www.un.org/sustainabledevelopment/news/communications-material/ (Zugriff: 25.4.2022))

Obwohl alle 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung direkt oder indirekt Bezug zur Technik haben, so eignen sich die Ziele 2, 6, 7, 9, 11, 12 und 13, die einen direkteren Bezug zur Technik aufweisen, später zur Festlegung von inhaltlichen Kernen für den Technikunterricht.

Was dem Werteoktagon jedoch noch fehlt ist der ästhetische Wert der Technik. Wie wir bereits gesehen haben, leben wir in einer „ästhetischen Sozialität“ (Reckwitz 2012, 322), deren Besonderheit darin besteht, „dass sie vier spezifische Instanzen und Einheiten miteinander verknüpft, nämlich Subjekte als Kreateure, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte und eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeiten“ (Reckwitz 2012, 323). Bei allen vier Instanzen findet technisches Handeln statt, das jeweils einer Bewertung unterliegt.

Das Werteoktagon ließe sich dadurch erhalten und umgestalten, dass man die wirtschaftlichen Werte zu „Wohlstand“ (einzel- und gesamtwirtschaftlich) zusammenfasst, stattdessen die persönliche Entfaltung und Gesellschaftsqualität trennt und als neuen Punkt die „Schönheit“ der Technik als Wert aufnimmt. Dadurch würde sich unter Weglassen der Instrumental- und Kausalbeziehungen ein verändertes Oktagon ergeben (vgl. Abb. 4.25).

Der Begriff „Qualität“ begegnet uns im Werteoktagon als Gesellschaftsqualität und Umweltqualität. Er kann sich aufgrund seiner Doppelbedeutung für die später noch folgende didaktische Umsetzung als hilfreich erweisen. Ursprünglich leitet sich die Wortbedeutung vom lateinischen qualitas ab und bedeutet Beschaffenheit, Eigenschaft, Eigenart (Stowasser 2021, 575). Dieser Eigenschaftsbegriff ist auch Grundlage der ISO 9000, in der Qualität als „ein Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale eines Objekts Anforderungen erfüllt“ (Hohnsträter 2021, 69) definiert wird. Im heutigen Sprachgebrauch kommt z. B. im Wort Lebensqualität die zusätzliche Bedeutung „Güte, Wert“ (Baer 2002, 832) zum Ausdruck. Ein umfassendes Qualitätsverständnis im Doppelsinn von „Eigenschaft“ und „Güte“ eröffnet didaktische Perspektiven im Sinne Hohnsträters:

Abbildung 4.25
figure 25

Werteoktagon: Werte im technischen Handeln

„Wer auf Qualität Wert legt, muss sich auf die Dinge einlassen, seine Sinne schulen und unterscheiden lernen. Denn bei einem umfassenden Qualitätsverständnis geht es letztlich darum, was uns wirklich wichtig ist, womit wir Umgang haben wollen, was der Welt guttut und das Leben besser macht“ (Hohnsträter 2021, 8).

Nach der Identifizierung der Werte im technischen Handeln, muss es im Folgenden um die Praxis des verantwortlichen technischen Handelns, die Ethik der Technik, gehen. Um mit Kant zu sprechen:

„Ein der praktischen Philosophie Kundiger ist darum eben nicht ein praktischer Philosoph. Der letztere ist derjenige, welcher sich den Vernunftendzweck zum Grundsatz seiner Handlungen macht, indem er damit zugleich das dazu nötige Wissen verbindet“ (Kant, Gregor, und Kant 2017, 5).

Erst durch die praktische Weisheit, phronesis im Sinne Aristoteles, wird aus dem wissenschaftlichen Verständnis, episteme im Sinne Platons, auch hervorbringendes Handeln.

4.3.3.2 Mündiges technisches Handeln im Zielkonflikt oder Freiheit in Verantwortung

„Deshalb ließe sich der technisch-ethische Imperativ so formulieren: Handle so, dass die Bedingungen zur Möglichkeit verantwortlichen Handelns für alle Betroffenen erhalten bleiben (Prinzip der Bedingungserhaltung)“ (Kornwachs 2013, 107).

Im letzten Kapitel haben wir uns mit den Werten beim technischen Handeln und Gestalten beschäftigt. Das Wissen um diese Werte reicht aber nicht aus, denn beim Handeln geht es darum, diese in die Tat umzusetzen, also um die Ethik technischen Handelns. Das von Kornwachs formulierte Prinzip der Bedingungserhaltung ist Bestandteil einer „Ethik der Voraussicht und Verantwortung“ (Jonas 1979, 47), die Hans Jonas 1979 in „Das Prinzip Verantwortung“ entwickelte und die besonders die Folgebetroffenen technischen Handelns in den Blick nimmt.

Jonas formulierte das Prinzip des Handelns so:

„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (Jonas 1979, 36).

Er entwickelte diese „neue“ Ethik vor dem Hintergrund der Bedrohung durch das atomare Wettrüsten und durch die Gefahren der zivilen KernenergienutzungFootnote 40, die durch einen veränderten Raum- und Zeithorizont der Folgen gekennzeichnet ist. Für die bisherige Ethik galt die „Nähe der Ziele […] für Zeit sowohl als Raum. Die wirksame Reichweite der Aktion war klein, die Zeitspanne für Voraussicht, Zielsetzung und Zurechenbarkeit kurz, die Kontrolle über Umstände begrenzt“ (a.a.O., 22 f). Die Folgen eines Reaktorunfalls machen nicht an einer Landesgrenze Halt und können ganze Landstriche für lange Zeit unbewohnbar machen.

Aus heutiger Sicht ist das Prinzip der Bedingungserhaltung nicht nur durch die atomare Bedrohung (Tschernobyl, Fukushima, Ukrainekrieg), sondern auch durch die Klimakrise und die sich abzeichnende Rohstoffknappheit aktueller denn je.

Doch welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das konkrete technische Handeln und Gestalten?

Der Mensch ist kein Einzelwesen ohne Umwelt, sondern ein soziales Wesen in einer Umwelt. Deshalb ist sein Handeln nicht losgelöst vom Handeln anderer Menschen zu betrachten und nicht losgelöst von den Folgen für die organische und anorganische Umwelt.

Da seine Ziele mit den Zielen anderer Menschen konfligieren können, ist sein Handeln immer ein Handeln im Zielkonflikt. Dieser Zielkonflikt taucht auch beim individuellen Handeln auf, von dem keine Mitmenschen tangiert werden, wenn unterschiedliche Zieldimensionen, z. B. Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Funktionalität miteinander im Zielkonflikt stehen.

Die Besonderheit des technischen Handelns ist, dass bei einem „Akteur“ (Latour) des technischen Handelns, dem technischen Artefakt, schon Zielsetzungen „eingebaut“ sind, sie sich damit der Wahrnehmung entziehen (vgl. Anästhetik!) und das Missverständnis aufkommen kann, dass „die Technik schuld ist“, wenn es zu unerwünschten Folgen und Nebenwirkungen kommt.

Daher erscheint auch die vorherrschende Haltung beim technischen Handeln die Zweckrationalität zu sein. Hinter dieser kann man sich gut verstecken, denn das technische Artefakt und damit die „eingebauten“ Zielsetzungen und die Zwecke legitimieren sich über ihr So-Sein und Da-Sein. Aber:

„Zweckrationalität als Rationalität über Intentionen verlangt eine Legitimation dieser Zwecke als Zwecke und nicht deren Verortung in einen immer historisch-kontingenten Verursachungszusammenhang zwischen Ereignissen, also zwischen Mitteln und realisierten Zwecken, der dann als Begründung interpretiert wird“ (Hubig 1981, 173).

Wie lassen sich Zwecke legitimieren und welche ethischen Prinzipien lassen sich auf das technische Handeln anwenden?

Die pflichtethische oder deontologische Position, die besonders durch Kant vertreten wurde, würde ein Handeln, bei dem auch nur wenige Personen Schaden erleiden würde, z. B. durch lokale Geräuschemissionen durch eine Windenergieanlage, ablehnen.

„Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d.i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand. […] Aus diesem Grunde kann die Ethik auch als das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft definiert werden“ (Kant, Gregor, und Kant 2017, 13).

Kann es diese „reine praktische Vernunft“ geben, oder sind es nicht gerade die widerstrebenden Motive und Ziele des einzelnen Menschen und erst recht die unterschiedlichen Zweckvorstellungen verschiedener Menschen, die dieses „reine“ System unmöglich machen?

Wenn Kant schreibt, „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in der Befolgung seiner Pflicht“ (Kant, Gregor, und Kant 2017, 28), dann wird durch den Begriff der „Stärke“ das „reine“ und „objektiv-notwendige“ des obigen Zitats relativiert, denn das Vermögen des einzelnen Menschen in der Befolgung und im Erkennen seiner Pflichten ist höchst unterschiedlich und subjektiv.

Diese subjektive Komponente bezeichnet Kant später als das „moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung), welche zu haben es keine Verbindlichkeit gibt“ (a.a.O., 33). Diese subjektiven Bedingungen, die insgesamt „ästhetisch und vorhergehende, aber natürliche Gemütslagen“ (ebd.) sind, hindern den Menschen daran das „oberste Prinzip der Tugendlehre“ umzusetzen:

„Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ (Kant, Gregor, und Kant 2017, 29)

Beim technischen Handeln wird dies insbesondere dadurch erschwert, dass nicht nur die „innere Tugendpflicht“, sondern auch die „äußere Tugendpflicht“, nicht nur das „Materiale der Tugendpflicht“, sondern auch das „Formale der Tugendpflicht“ (vgl. Abb. 4.26) zusammenspielen.

Abbildung 4.26
figure 26

Schema der Tugendpflichten. (nach Kant, 2017, 32)

Die Spannung zwischen eigener Vollkommenheit und der Glückseligkeit aller und der Moralität und Legalität löst sich im Utilitarismus, einer konsequentialistischen Ethik, vertreten z. B. durch John Stuart Mill oder Jeremy Bentham, durch das „größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen“ (Kunzmann, Burkard, und Weiß 2017, 165).

„Ich betrachte die Nützlichkeit als den Schlussstein aller ethischen Fragen, aber es muss Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, gegründet auf die dauernden Interessen eines Menschen als fortschreitendes Wesen“ (Mill 2014, 23).

Ein Utilitarist würde den Gesamtnutzen Vieler und den Schaden Einzelner gegeneinander abwägen und nähme den Schaden Einzelner in Kauf. Bevor wir uns im nächsten Kapitel dem „Fortschreiten“ in Mills Zitat zuwenden, gehen wir auf das Abwägen ein. Dieses Abwägen ist ein charakteristisches Merkmal sowohl des technischen Handelns als auch des politischen Handelns. Die Vergleichbarkeit des Handelns kommt zum Ausdruck, wenn man ein Zitat Detjens abwandelt, indem man „Politik“ durch „Technik“ ersetzt und „politisch“ durch „technisch“. Dann ergibt sich folgende Aussage:

„Dass technische Urteile notwendig normativ sind, hängt mit den Eigentümlichkeiten der Technik zusammen. Technik ist nämlich gestaltendes, aus Alternativen auswählendes Handeln. Menschliches Handeln ist immer teleologisch, d.h. intentional ausgerichtet. Handeln in der Technik bedeutet daher, nach Maßgabe von Gütekriterien bzw. Wertmaßstäben sowie von Zielvorstellungen sich für oder gegen etwas zu entscheiden und diese Entscheidung sich selbst oder anderen als begründeten Handlungsimperativ vorzuschreiben“ (nach (Detjen 2013, 14) abgewandelt von THM).

Wenn aber technisches und politisches Handeln aus ethischer Sicht vergleichbar sind, so müsste auf das technische Handeln auch der von Max Weber 1919 in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ vorgetragene Unterschied zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ zutreffen. Für Weber ist es „ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt- religiös geredet- »der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim« oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“ (M. Weber 2014, 82). Für Weber ist der Gegensatz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ein unauflösbares Spannungsfeld, das mal zur einen, mal zur anderen Seite hinbewegt. Das Problem des Handelns im Zielkonflikt sieht Weber darin:

„Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung »guter« Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeiten oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben, wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge »heiligt«“ (M. Weber 2014, 83).

Bei der Frage, ob es eine weitere Instanz gibt, die beim Abwägen im Zielkonflikt hilft, stoßen wir erneut auf Kant und das „Gewissen“. Kant sieht in der Gewissenlosigkeit „nicht den Mangel des Gewissens, sondern (den) Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren“ (Kant, Gregor, und Kant 2017, 35). Folgerichtig fordert er:

„Die Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden […], um ihm Gehör zu verschaffen“ (Kant, Gregor, und Kant 2017, 35).

Zu dieser Kultivierung gehört auch die „Menschenliebe“ und die „Achtung“, insbesondere die Selbstachtung (a.a.O., 35 ff), aber auch die Achtung anderer Lebewesen und der Natur als Quelle des Lebens. Damit schließt sich der Kreis von einer Ethik der Voraussicht und Verantwortung (Jonas) über die Pflicht- (Kant), Nützlichkeits- (Mill), Gesinnungs- und Verantwortungsethik (Weber) hin zu einem bereits oben erwähnten Ansatz, der dies alles einschließt, der Ethik der Wertschätzung (Pelluchon) (vgl. S. 106), die im Sinne einer Tugendethik nicht nur die Frage

„«Was soll ich tun?» (stellt), sondern «Wer will ich sein, und wie soll ich mein Leben als Ganzes führen?» […] Im Vordergrund steht die moralische Qualität der handelnden Personen“ (Bleisch 2021, 78).

Diese moralische Qualität ist auch gefragt, wenn es um das Spannungsfeld von persönlicher Freiheit und Verantwortung geht.

„Die ursprüngliche Mission der Technik ist es, dem Menschen die Freiheit zu geben, er selbst sein zu können“ (Ortega y Gasset 1949, 59).

Die freie Persönlichkeitsentfaltung hört auf, wo die Freiheit eines Mitmenschen gefährdet ist. Deshalb ist technisches Handeln nicht nur aus der Perspektive dessen zu betrachten, der selbst mit technischen Mitteln in von Technik bestimmten Situationen handelt, sondern auch aus der Perspektive der Folgebetroffenen.

Technik ist immer, direkt oder indirekt, Technik von Menschen für Menschen.

Zwei Beispiele mögen die Rolle der Folgebetroffenen beleuchten.

Auf einem Nachbargrundstück werden die nach dem Krieg entstandenen zweigeschossigen Mietshäuser, die nicht mehr den Komfort- und Energiestandards von heute entsprechen, abgerissen und sollen durch dreieinhalbgeschossige, behindertengerechte Wohnblöcke ersetzt werden. Die Interessen der Wohnungsbaugesellschaft, möglichst viel Wohnfläche auf den spärlich vorhandenen städtischen Grundstücken unterzubringen, kollidieren mit den Interessen der Nachbarn, nach wie vor einen unverschatteten Garten zu besitzen. Die Folgebetroffenen setzen sich folglich mit der organisatorischen Hülle der Technik, den Bebauungsplänen, dem Baurecht und den darin festgelegten Abstandsflächen und den juristischen Einspruchsmöglichkeiten gegen eine bereits erteilte Baugenehmigung auseinander.

Noch komplexer wird die Rolle der Folgebetroffenen, wenn die Zusammenhänge zwischen dem technischen Handeln, z. B. der Verfeuerung von Braunkohle in deutschen Kraftwerken und den Klimafolgen in anderen Ländern nicht eindeutig sind und sich die Folgen nicht nur dieser einen Handlung, sondern gleichzeitig auch den vielen anderen fossilen Verbrennungsvorgängen auf der Welt zuschreiben lassen. Trotz des hohen Vernetzungsgrades der Handlungsursachen und -folgen ergeben sich neue Handlungsanlässe, die zu veränderten technischen Handlungen führen müssen.

Ein „gutes“ technisches Handeln ließe sich zunächst mit den Adjektiven „aufmerksam“ und „wachsam“ beschreiben. Aufmerksam und wachsam für die uns umgebende technische Welt und deren Zusammenhänge. Daraus würde sich eine informierte und verstehende Grundhaltung ergeben, die als Resultat in einem abwägenden, verantwortungsvollen und nachhaltigen Handeln mündet.

Trotz aller Vernunftbezüge weist die Freiheit durch die Technik immer auch auf deren Transzendenzbezüge hin, auf deren Unverfügbarkeit (vgl. S. 289). Elisabeth Gräb-Schmidt weist darauf hin, dass die Grenzen der Freiheit der Technik in ihrer Unverfügbarkeit liegen und dass die Steuerung der Freiheit unmittelbar auf die Ethik der Technik verweisen (vgl. S. 227).

Technik ermöglicht zwar Freiheit, die Grenzen der Freiheit können aber nur durch die Sinn- und Wertdimension der Technik erschlossen werden.

Wenn wir auch in der Schule eine Ethik der Wertschätzung etablieren wollen, müssen wir im Technikunterricht auch Sinn- und Wertfragen klären.

„Technische Bildung bedeutet, sich den Sinngehalt der Technik anzueignen und ihrer als eine ‚Grundidee der Daseinsformung‘ innezuwerden, um unser Leben trotz ungeheuerlicher Macht- und Mittelerweiterung heil und human zu erhalten“ (Roth 1966a, 25).

Nachdem wir die Frage nach der Ethik des technischen Handelns geklärt haben, wenden wir uns abschließend dem „fortschreitenden Menschen“ (Mill) zu und fragen nach der Teleologie technischen Handelns, nach dem Unterschied zwischen Fortschritt und Innovation.

4.3.3.3 Technisches Handeln als utopisches Handeln- ZdF statt ZdI

„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern“ (Bloch 2019, 1).

„Die Verwirklichung eines utopischen Gesellschaftsmodells ist ihrer Natur nach, von der Verfahrensweise her, im weiteren Sinne eine technische Aufgabe“ (Rapp 1994, 130).

Technisches Handeln ist immer utopisch, im Sinne eines „noch-nicht“ erreichten Ortes, Zustandes, Artefakts usw. Es schöpft aus dem geschichtlich Gewordenen als Voraussetzung und ist in eine noch nicht gewordene Zukunft gerichtet. Technisches Handeln erfordert ein Motiv, ohne das keine Handlung zustande kommt und Tatkraft zur Umsetzung des Motivs in eine konkrete Handlung, die auf ein Ziel gerichtet ist. Das Ganze vollzieht sich in einem gesellschaftlichen Kontext und nicht rein individuell, sodass an dieser Stelle die Frage nach der Verantwortbarkeit des technischen Handelns auftaucht.

Utopisches Handeln heißt, dass nicht nur neue Entwürfe möglich sind, sondern auch verändertes Tun, was oft vergessen wird. Zum Beispiel könnte man beim Neudenken von Mobilität, statt neue Autobahnen aus dem ländlichen Raum in die Städte zu planen, um den Pendelverkehr aufzunehmen, entweder den öffentlichen Nahverkehr attraktiver machen und/ oder das Wohnen in städtischen Räumen attraktiver, weil bezahlbarer, machen. Diese Erweiterung des Möglichkeitsraums stellt auch Hubig fest, wenn er utopisches Handeln nicht von der ursprünglichen Wortbedeutung her, wo „ou topos“ etwa „nicht an einem bestimmten Ort realisiert“ meinte“, sondern als „nicht in einem bestehenden Möglichkeitsspielraum des Handelns gegeben" (Hubig 1981, 182 f) auffasst. Bei einem derart aufgeweiteten Möglichkeitsspielraum ist die Frage, welche der vielen Möglichkeiten auszuwählen ist. Hier kommt der qualitative Unterschied zwischen Fortschritt und Innovation ins Spiel, der uns bereits in der Überschrift abgekürzt begegnet ist (ZdF: Zukunft durch Fortschritt; ZdI: Zukunft durch Innovation).

Fortschritt kann zahlreiche Wertkomponenten des Werteoktagons enthalten. Mit Fortschritt sind normative Setzungen über das Gewünschte der Zukunft verbunden, Innovation dient oft nur zur Steigerung des Konsums und bedeutet ein Festhalten an der Wachstumsideologie- der einzige Wert ist „das Neue“. Der Wert des Neuen kann aber fast sinnfrei sein, wie z. B. die neuen keyless-Systems bei Autos, die durch Reichweitenverlängerer Dieben ein leichtes Stehlen von Autos ermöglichen und insofern nur einen zweifelhaften Mehrwert für die Nutzer haben. Diese sogenannten Innovationen können zu einer vollkommenen Entmündigung und Verkümmerung führen, wie das Beispiel von Navigationssystemen zeigt, die zu einer Verkümmerung des Orientierungssinnes genauso beitragen können wie Taschenrechner oder Rechner auf Smartphones zur Verkümmerung von Kopfrechenfähigkeiten. Der Mensch domestiziert sich immer mehr selbst und macht sich immer abhängiger von der Technik. Zugleich befreit er sich von monotoner, stupider und schwerer körperlicher Arbeit.

Joseph Schumpeter, der den Begriff „Innovation“ erstmals in „Theorie der Innovation“ in die Wirtschaftswissenschaften einführte, macht die Innovation als „die Konkurrenz der neuen Ware, der neuen Technik, der neuen Versorgungsquelle, des neuen Organisationstyps“ (Schumpeter 1980, 140) für den „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ verantwortlich.

„Dieser Prozess der «schöpferischen Zerstörung» ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben“ (a.a.O., 138).

Auch in neuerer Zeit markiert der von Clayton M. Christensen geprägte Begriff der disruptiven Technologie eine innovative Technologie, wie z. B. die Digitalkamera, die eine „alte“ Technologie, wie den analogen Fotoapparat, fast vollständig vom Markt verdrängt und damit einerseits einen Industriezweig neu entstehen lässt, einen anderen aber fast vollständig absterben lässt. Der entscheidende Unterschied zwischen „sustaining technologies“ (dtsch. aufrechterhaltende Technologie) und „disruptive technologies“ (vgl. (Christensen 1997, XV) liegt oft nicht in der technischen Performanz, sondern in anderen Werten, die der disruptiven Technologie zum Durchbruch verhelfen.

„Products based on disruptive technologies are typically cheaper, simpler, smaller, and, frequently, more convenient to use” (ebd.).

Obwohl die digitale Fotografie anfangs durch schlechtere Bildqualität der analogen Fotografie unterlegen war, hat sie sich dennoch wegen der schnellen Verfügbarkeit von Bildern und der Integrierbarkeit in den digitalen Workflow durchgesetzt.

Ohne an dieser Stelle die gesamte geistesgeschichtliche Entwicklung des Fortschrittsbegriff aufrollen zu wollen, lassen sich doch in Bezug auf die Technik zwei wesentliche Modelle unterscheiden. Das intentional-technomorphe Modell“ (Rapp 1992, 183), vertreten z. B. durch „Turgot, Condorcet, Saint-Simon, Comte, sowie Marx und Engels (soweit es um die Herstellung der kommunistischen Gesellschaft geht)“ (ebd.) orientiert sich am Paradigma der „Lösung von Konstruktionsaufgaben durch den Ingenieur“ (ebd.). Das akzidentell-anthropomorphe Fortschrittskonzeption“ (a.a.O., 184) beginnt mit „Vico und führt über die ökonomische Theorie von A.Smith über Herder, Kant und Hegel bis hin zu Diltheys Lebensphilosophie“ (ebd.).

„(I)m akzidentell- anthropomorphen Modell (gilt) das, was in der Geschichte schließlich eintritt, als Resultat zufälligen menschlichen Tuns, aber nicht menschlicher Planung; der Fortschritt stellt sich indirekt, vermittelt durch entsprechende strukturelle Zusammenhänge, hinter dem Rücken der Akteure als nicht intendierte Nebenwirkung ein“ (Rapp 1992, 183).

Beide Modelle stellen Pole eines Kontinuums dar, das von Planbarkeit und Vorhersagbarkeit bis Unverfügbarkeit und Zufälligkeit reicht. Für das konkrete technische Handeln als Homo faber, Nutzer, Vermittler oder Folgebetroffener kann die Ethik der Wertschätzung helfen, zwischen verantwortbarem, sinnvollem Fortschritt und Innovation, die nur dem „Herrschaftsschema“ des Marktes gehorcht, zu unterscheiden. Friedrich Rapp drückt diesen Abwägungsprozess für die Technik in „Die Dynamik der modernen Welt“ folgendermaßen aus:

„Der Mensch ist individuell und gattungsmäßig für die Zukunft offen, und die Technik bekräftigt und verstärkt diese Offenheit. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, hier eine je aufs Neue zu bestimmende und stets gefährdete Balance zu gewinnen. Das Gegengewicht zu der durch ethische Orientierungslosigkeit, populistische Massendemokratie und hedonistisches Konsumdenken entfesselte Technikentwicklung können wir nur finden in der Besinnung auf das positive Erbe unserer Tradition und in der Integration der Technik in den Gesamtzusammenhang unserer Kultur“ (Rapp 1994, 132).

Bildung und Erziehung sind notwendig, diese „Integration der Technik in den Gesamtzusammenhang der Kultur“ zu leisten, um den nachwachsenden Generationen verantwortungsvolles technisches Handeln zu ermöglichen.

Trotzdem werden sich wegen des Handelns im Zielkonflikt negative Folgen nie ausschließen lassen, seien sie nun beabsichtigt oder nicht vorausgesehen und unabsichtlich. Am Ende macht sich der Mensch bei seinem Handeln immer auch schuldig.

Dazu schreibt Hannah Arendt:

„Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit- dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat- liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit- und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen- liegt im Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten“ (Arendt 2018, 301).

Ein solches Versprechen könnte es sein, die Wachstumsideologie durch eine Suffizienzstrategie zu ersetzen und zu einer „Kultur des Aufhörens“ (Welzer, vgl. S. 152) zu kommen.

Eine „Kultur des Aufhörens“ würde auch der „theoretischen Idee der Zukunft“ Cassirers entsprechen, „jene Idee, die eine Bedingung der höheren kulturellen Tätigkeiten des Menschen darstellt“ (Cassirer 2007, 91). Technik ist das Mittel des Menschen aus Ideen neue Realität werden zu lassen und eine neue „symbolische Zukunft“ (ebd.) zu schaffen. Technik wird aber nur dann als „höhere kulturelle Tätigkeit“ Anerkennung finden, wenn es gelingt, das quantitätsorientierte Innovationsdenken durch ein qualitatives, wertorientiertes Fortschrittsdenken zu ersetzen.