Bisher haben wir zunächst den Gegenstandsbereich von Bildung und Erziehung mit Natur und Kultur umrissen. Alsdann haben wir den Menschen als Zentrum aller Bildungs- und Erziehungsbemühungen unter philosophischem, psychologischem und gesellschaftlich-politischem Blickwinkel betrachtet. Den grundsätzlichen Ablauf von Lernprozessen haben wir durch den Dreischritt des Lernens aus „Erleben, Verstehen und Gestalten“ charakterisiert. Insgesamt haben wir die theoretischen Überlegungen durch das metatheoretische Interaktionsmodell, das das Drei-Triaden-Modell beinhaltet, zusammengefasst. Schließlich haben wir Ziele von Bildung und Erziehung als Norm gesetzt.

Würde man nun von einer urwüchsigen, natürlichen Bildung ausgehen, so würde sich der Mensch im Idealfall die Welt selbst zu Eigen machen, in der „regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 2017, 7), und sich selbst bilden (Drei-Triaden-Modell). „Freieste Wechselwirkung“ steht für das Ideal der rein reflexiven Bildung, bei der sich das Individuum in freier Selbstbestimmung selbst bildet.

Wir hatten aber bereits festgestellt, dass es diesen natürlichen Prozess nicht geben kann, weil der Mensch ein soziales Wesen ist, das in einer künstlichen Welt lebt. Dieses erfordert entweder eine direkte Vermittlung zwischen Bildungsobjekten und Bildungssubjekten oder eine indirekte Vermittlung über weitere Subjekte (Interaktionsmodell). Der andere Grund ist, dass die Geschichtlichkeit des Menschen und die damit verbundene Akkumulation von Wissen, von Künstlichkeit der Welt (Kultur), die Schaffung einer Institution erfordert, die sich professionell um diese Vermittlung kümmert, die Schule. Sie schränkt die Freiheitsgrade durch Pflichtveranstaltungen, feste altersgestaffelte Lerngruppen, zeitliche Taktung der Stundentafel usw. und mit didaktisch „zugerichteten“ Objekten (vgl. (Gruschka 2011, 100) ein. Im Extremfall gilt:

„Didaktiker mutieren zu Dienstleistern, Didaktik zum Transmissionsriemen für inkorporierungsbedürftiges Wissen, Fertigkeiten, Haltungen. Von daher ergibt sich für jede didaktische Reflexion, die an Bildung als Ziel festhält, die Nötigung einer pädagogischen Bestimmung des Inhalts“ (Gruschka 2011, 108).

Den Zielzustand der Freiheit müssen wir in der Mitte suchen. „Freieste Wechselwirkung“ könnte dann heißen, dass ein Individuum aus einer Vielzahl von Bildungsangeboten wählen kann. Diese Wahlfreiheit würde sich auf die äußere Differenzierung durch Fächer, durch Pflicht- und Wahlpflichtkurse ebenso beziehen wie auf die Wahlfreiheit innerhalb des Unterrichts durch innere Differenzierung, durch unterschiedliche Aufgabenstellungen und Materialien und durch wechselnde Interaktionspartner.

Schule als Vermittlungsinstanz sorgt dafür, dass das Ganze der Welt, aber nicht die ganze Welt bildend und erziehend erfahrbar wird. Sie sieht sich daher als Erstes mit dem Problem konfrontiert, welche Weltausschnitte diese Ganzheit repräsentieren, die Frage nach einem Fächerkanon oder Fächerverbundkanon. Innerhalb der Fächer stellt sich die gleiche Frage nach den Ausschnitten aus dem Ganzen (siehe Eingangszitat zu dieser Arbeit), das Kanonproblem. Für beide Probleme haben sich Wissenschaften etabliert, die Allgemeine Didaktik und die Fachdidaktiken.

Besorgte Leser werden an dieser Stelle die Nase rümpfen und sich fragen, warum man neben einer Fachdidaktik nun auch noch eine Allgemeine Fachdidaktik benötigt.

Die Gesellschaft der Fachdidaktiken (GfD), die sich 2001 aus der Konferenz der Vorsitzenden der Fachdidaktiken (KVFF) gründete, ist dennoch „Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik“, so der Titel des ersten Bandes der Forschungsergebnisse zum Thema. Warum?

Nach einem ersten Selbstverständnis der meisten Fachdidaktiken ist deren Aufgabe erstens die „Lösung von Kanonproblemen, d. h. die Auswahl exemplarisch geeigneter Unterrichtsgegenstände“ (Bayrhuber u. a. 2017, 15) und zweitens die Entwicklung, Erprobung und Evaluation von Unterrichtskonzepten. Diesem Verständnis nach „wird Fachdidaktik als Rekonstruktions- bzw. Modellierungswissenschaft aufgefasst“ (a.a.O., 15).

Erst Mitte der 90er Jahre „gewann die empirische Erforschung von Determinanten fachlichen Lernens an Boden mit dem Ziel, die Lernwirkung des Unterrichts zu erhöhen, und zwar zunächst in den Didaktiken der Naturwissenschaften und der Mathematik“ (Bayrhuber u. a. 2017, 161). Für die fachdidaktische Modellierung bei solchen Forschungsarbeiten ist zwangsläufig „eine Auswahl aus dem wissenschaftlichen Fundus der Fachwissenschaften erforderlich“ (Bayrhuber u. a. 2017, 166).

Wenn Bayrhuber weiter ausführt,

„Diese Auswahl wird durch Bezugnahme auf Theorien der fachlichen Bildung bzw. bestimmte Bildungskategorien begründet und legitimiert, die vom gesellschaftlichen Diskurs und den bildungspolitischen Vorgaben mit bestimmt sind“ (a.a.O., 166),

dann liegt genau hier das zentrale Problem. „Gesellschaftlicher Diskurs“ und „bildungspolitische Vorgaben“ heißt, dass Forschungsgelder insbesondere davon abhängen, welches gesellschaftspolitische Problem gerade durch den Bildungsbereich gelöst werden soll. Eine theoretische Fundierung, die in einer Verschränkung von Bildungswissenschaften und Fachwissenschaft bestünde und die Auswahl mit Bildungs- und Erziehungszielen legitimieren würde, findet nicht statt.

Welche Aufgabe fällt nun einer Allgemeinen Fachdidaktik zu, die diesen Trend aufhalten könnte?

Volker Frederking weist in einer Fußnote darauf hin, dass die Allgemeine Fachdidaktik

„keine eigene Disziplin (ist), sondern die Bezeichnung eines Verstehensmodus im Sinne Poppers bzw. eines Beobachtungsmodus im Sinne Niklas Luhmanns, in dem Differenzen und Kohärenzen der Fachdidaktiken gleichermaßen erfasst werden können und sollen“ (Frederking 2017, 179).

Schaut man auf die Aufgaben der Schule, dann sollte für eine allgemeine Bildung im Sinne Klafkis oder Klingbergs (vgl. S. 46) die Kohärenz der verschiedenen Fachdidaktiken angestrebt werden, damit die Summe der fachdidaktischen Zugriffe auf die Welt auch tatsächlich eine allseitige Bildung und Erziehung für alle gewährleistet.

Wie bereits oben angedeutet, besteht das Problem darin, dass sowohl die Einzeldisziplinen der Bildungswissenschaften wie auch die Einzeldisziplinen der Fächer bis auf die unterste Ebene schulischen Handelns, bis zur Planungsebene von Unterricht oft unverbunden nebeneinander liegen und den Lehrern bei der Planung die fast unlösbare Aufgabe der Verbindung der Einzelbänder zu einem ganzheitlichen Gewebe von Bildung und Erziehung zukommt.

Bisher wurde bereits der Versuch unternommen, durch die Betrachtung des Gegenstandsbereichs von Bildung und Erziehung und durch die unterschiedlichen Betrachtungen zum Menschenbild, diese Verflechtung der verschiedenen Bildungswissenschaften über das „Drei-Triaden-Modell“ und das Interaktionsmodell hin zu einer schlüssigen Setzung von Zielen zu leisten.

Jetzt kommt es darauf an, eine Methode zu finden, wie Bildungswissenschaften mit Fachwissenschaften zu einer Fachdidaktik verwoben werden können. Die dazu fehlende „Konstruktionsvorschrift“ müsste eine Allgemeine Fachdidaktik erstellen. Die „Konstruktionsvorschrift“ müsste Aussagen zur Gewinnung von Fachinhalten, Fachmethoden und zu den zu erreichenden Zielen und Kompetenzen machen, ebenso aber auch Aussagen zu der oder den Bezugswissenschaften für ein Fach. Dies ist von besonderem Interesse für diejenigen Fächer, die wegen ihrer Namensgebung oder ihres meist politisch bedingten Zuschnitts keine direkte Bezugswissenschaft gleichen Namens haben, beispielsweise die Fächer Technik oder Sozialwissenschaften.

Der wissenschaftliche Entwurf einer solchen „Konstruktionsvorschrift“ würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher wird im folgenden Kapitel ein Ausschnitt modelliert, der das Kanonproblem eines Faches lösen soll.

3.1 Allgemeindidaktische Modelle und „Geometrien“

Das folgende Kapitel verfolgt den Zweck, die bisherigen Überlegungen und die beiden daraus resultierenden metatheoretischen Modelle daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie durch existierende Didaktischen Modelle legitimiert sind.

3.1.1 Das Kreuz mit der Vermittlung und „didaktische Geometrien“

„Von daher ergibt sich für jede didaktische Reflexion, die an Bildung als Ziel festhält, die Nötigung einer pädagogischen Bestimmung des Inhalts“ ((Gruschka 2011, 108),Hervorh., THM).

Die Notwendigkeit der pädagogischen Bestimmung ergibt sich einerseits aus dem stetigen Anwachsen des Wissens und der kulturellen Fülle, andererseits aus den Bildungs- und Erziehungsnotwendigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen „Menschenbildern“ ergeben (vgl. S. 84 ff.). Diese Notwendigkeit wurde schon von Comenius erkannt, den man als Urvater der Didaktik bezeichnen kann.

Im pädagogischen Realismus des 17.Jahrhunderts ging es den „Didaktischen Reformern“ vor allem darum, das Altertum nicht zu überschätzen und den Verbalismus durch einen Realismus zu ersetzen (vgl. (Blankertz 1982, 31 f)). Zu diesen „Didaktischen Reformern“ zählt vor allem J.A.Komenský (lat.: Comenius (1592–1670)), der durch seine „Didactica Magna“ einen umfassenden Bildungsplan vorgelegt hat und Didaktik erstmals als „die Theorie des richtigen Lehrens“ (Comenius 1959, 33) definiert hat.

„Auf dem philosophischen Fundament seiner pansophischen Grundanschauung von der Harmonie des Weltganzen und der Rolle des Menschen errichtet er die Umrisse eines geschlossenen pädagogischen Systems. Ausgehend von der Notwendigkeit und Möglichkeit, alle Menschen in allem zu bilden und so ihrer letzten Bestimmung zuzuführen, werden die der „Natur“ gemäßen Wege zum Ziel, die Methoden, dargelegt und in gleicher Einheitlichkeit und Geschlossenheit die Grundzüge der Schulorganisation gewiesen“ ((Hofmann 1959, 7 f), Hervorhebung THM).

Hier tritt erstmals die Doppelbedeutung von Allgemeinbildung auf, nämlich alle Menschen in allem zu bilden.

Schnell war klar, dass das Ziel der Pansophia (Allweisheit) vor dem Hintergrund eines rasant anwachsenden Wissens nicht zu erreichen ist. In einem folgerichtigen Schritt entstanden Überlegungen zur Reduktion von Inhalten und Reduktion von Komplexität und zur Methodik des Unterrichtens, die schon von Comenius grundgelegt wurden. So ersetzte er die wissenschaftlich orientierte Sachlogik der Unterrichtsinhalte bei den septem artes liberales durch eine Methodik, die das Auffassungsvermögen und das Verständnis der Lerner in den Mittelpunkt rückte.

„Alles wird durch Beispiele, Vorschriften und Übungen gelehrt. […] Das Beispiel gehe immer voraus, die Vorschrift folge immer nach, auf die Nachahmung werde immer nachdrücklicher Wert gelegt“ (Comenius 1959, 44 f).

Die Kontextorientierung einiger Fachdidaktiken (vgl. (Rothgangel u. a. 2020, 509) scheint lediglich eine Wiederbelebung dieses Grundsatzes zu sein.

Aus der „Didactica magna“ entwickelt sich im Laufe der Zeit die weit verzweigte Wissenschaft der Allgemeinen Didaktik, die durch Modellierung versuchte, das komplexe unterrichtliche und schulische Geschehen vereinfachend abzubilden. Zu diesen vereinfachten Modellen gehören als Teilmenge unterschiedliche „didaktische Geometrien“, die auch den Anspruch haben, Unterrichtsanalyse und -planung zu unterstützen, indem die Planungsfaktoren und deren Wechselwirkungen dargestellt werden. Wenn wir uns jetzt zunächst mit den „didaktischen Geometrien“ beschäftigen, so verlassen wir den strengen roten Faden, der die verschiedenen Ebenen der Didaktik (vgl. Abb. 1.4) systematisch verfolgte, um ausgehend vom Handlungsraum Unterricht und dessen konstituierenden Dimensionen, vom „Bilde eines teleologischen Ganzen“ (Litt 1931, 132) rückwärts Aussagen über die auf Bildung und Erziehung zielenden Inhaltswahl treffen zu können.

Die bekannteste „didaktische Geometrie“, das didaktische Dreieck, stellt eine Beziehung zwischen Gegenstand, Lehrer und Schüler her (Abb. 3.1).

Abbildung 3.1
figure 1

Didaktisches Dreieck

Die Notwendigkeit und die Konstruktion von Didaktik werden dabei nicht hinterfragt. Dies ist auch die Hauptkritik Gruschkas an diesem Modell, wenn er schreibt:

„Es bestimmt und erklärt nicht, was Didaktik als das Dritte ist, sondern setzt dieses als Verselbständigtes wie eine ontologische Größe bereits voraus“ (Gruschka 2011, 100). Seine Kritik entzündet sich an dem Begriff des Gegenstandes, der oft den Anschein hat, als sei er das Bildungsobjekt selbst. Vielmehr ist der Gegenstand oft nur ein „didaktisch zugerichteter“ (ebd.) Repräsentant des Objekts, dem wesentliche Eigenschaften fehlen, der „vom Ergebnis der Erkenntnis aus strukturiert“ (ebd.) ist und „eine disziplinäre Struktur an(nimmt) unabhängig davon, ob das Objekt selbst durch die Disziplin konstituiert wird“ (a.a.O., 101). Durch die didaktische „Zurichtung“ eines Objekts kann die ursprüngliche bildende Kraft verlorengehen, wenn das Objekt lediglich den Ausschnitt der didaktischen Eingängigkeit und Lernbarkeit reduziert wird. Dann hat der didaktische Betrieb

„kein Bewusstsein mehr von den eben nicht didaktisch, sondern allein philosophisch zu vergegenwärtigenden Grundlagen der Aufgabe. […] Sie (die Didaktik, Anm. THM) bewältigt das Subjekt durch dessen Transformation in den Schüler, das Objekt durch dessen Übersetzung in einen Unterrichtsgegenstand. Sie orientiert sich weder am Eigensinn der Lernenden, noch vertraut sie auf die bildende Kraft der Welt. Sie will Schulbildung damit letztlich gegen die Subjekte und die Welt ins Werk setzen“ (Gruschka 2011, 117).

Damit knüpft Gruschka an die Streitschrift Bernfelds „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ aus dem Jahre 1925 an. Bernfeld kritisierte schon damals, dass die Didaktik dazu diene, die wahre gesellschaftliche Funktion der Schule zu verschleiern.

„Wir mißtrauen der Pädagogik und glauben nicht, daß die Aufgaben, die sie der Erziehung setzt, auch ihre wirkliche gesellschaftliche Funktion sind. Wir ahnen, daß diese Funktion verschleiert, unbekannt bleiben soll“ (Bernfeld 1973, 53).

Wie bereits weiter oben dargelegt, besteht die Entschleierung darin, als Hauptfunktion der Erziehung die Enkulturation herauszustellen und sich der philosophischen Grundlagen zu vergegenwärtigen, wie es Gruschka fordert. Er schlägt zur Entschleierung statt des didaktischen Dreiecks eine Didaktische Pyramide (siehe Abb. 3.2) vor, in der zum Ausdruck kommt, dass der Unterrichtsgegenstand etwas anderes als das Bildungsobjekt ist und dass die Sichtweisen auf den Gegenstand jeweils differenziert werden müssen in die Sichtweisen des Lehrers (GL) und die der Schüler (GS).

Abbildung 3.2
figure 2

Didaktische Pyramide (aus (Gruschka 2011, 121)) mit freundlicher Genehmigung der Majuskel Medienproduktion GmbH

Der Didaktik kommt in diesem Modell die Aufgabe zu,

„sachhaltig auszuweisen, wie sich jene ursprüngliche Relation von Objekt und Unterrichtsgegenstand ausdifferenziert und erweitert durch die Relation zwischen dem Lerngegenstand aus der Sicht des Lehrers und dem Lerngegenstand aus der Sicht des Schülers. Ernstzunehmen wäre dafür der subjektive Aneignungs- und Vermittlungsprozess zur Seite des Schülers und des Lehrers“ (Gruschka 2011, 126 f).

Die entscheidende Bedeutung ist, verstärkt „den Prozessen der Vermittlung von Subjekt und Objekt an diesen Gegenständen nachzuspüren“ (a.a.O., 127), um damit die „Krise des Nichtverstehens“ erfolgreich stufenweise zu meistern (vgl. S. 145).

Noch konkreter auf Unterricht bezogen sind Klingbergs Überlegungen zum Zusammenspiel von Inhalt, Methode, Lehren und Lernen, die er in einem Didaktischen Viereck zusammengefasst hat (vgl. Abb. 3.3).

Abbildung 3.3
figure 3

Didaktisches Viereck nach (Klingberg 1986, 46)

Als Grundrelationen identifiziert er die des Lehrens und Lernens und die zwischen Inhalt und Methode. Zugleich sieht er die Wechselwirkungen zwischen allen vier Elementen. Für die didaktische Suche nach einem Kanon von Inhalten müssen diese Relationen schon mitgedacht werden, denn es geht auch immer um die realistischen Umsetzungsmöglichkeiten in der Schule. So wäre es z. B. unrealistisch, wenn man als technisches Inhaltsfeld die medizinische Diagnostik didaktisch gut begründen könnte, eine Ausstattung aller Schulen mit einem Demonstrationstomographen als Medium aber finanziell illusorisch wäre. Das didaktische Viereck nach Klingberg hat den Vorteil, dass nicht nur das Lehren, sondern auch das Lernen mitgedacht wird und das Modell ebenso auf der untersten didaktischen Ebene der Unterrichtsplanung Verwendung finden kann, wie bei Überlegungen zur Allgemeinen Didaktik. Noch umfassender ist das „Didaktische Sechseck“ von Hilbert Meyer (siehe Abb. 3.4). Er differenziert den großen Komplex der Methoden in die drei Unterkategorien „Zeit- und Prozessstruktur (die In-Welcher-Reihenfolge-Frage), Methoden oder Handlungsstruktur (die Wie- und -Womit-Frage) und die Sozial- und Beziehungsstruktur (die Wer-mit-Wem-Frage)“ (Meyer 2007, 177). So gelangt er zu den sechs Grunddimensionen „der Ziel-, Inhalts-, Zeit-, Handlungs-, Sozial- und Raumstruktur des Unterrichts“ (a.a.O., 178), die den Handlungsraum Unterricht konstituieren und strukturieren.

Abbildung 3.4
figure 4

Didaktisches Sechseck. (nach (Meyer 2007, 178))

Diese sechs Grunddimensionen haben vier Merkmale. Erstens sind alle Dimensionen immer vorhanden, wenn Unterricht stattfindet, zweitens beziehen sich alle Dimensionen auf das Handeln aller Akteure, drittens haben alle Grunddimensionen eine eigene Logik und viertens weisen alle Dimensionen eine äußere, von außen zu beobachtende Oberflächenstruktur, und eine innere, nicht direkt zu beobachtende Tiefenstruktur auf (vgl. (Meyer 2007, 179 f)). Sowohl bei der Unterrichtsplanung als auch bei der Unterrichtsdurchführung tauchen Wechselwirkungen zwischen den sechs Grunddimensionen auf. Diese Wechselwirkungen sind in der didaktischen Literatur als „Grundrelationen“ (Klingberg 1990, 39 ff), als „Implikationszusammenhang“ (Blankertz 1980, 94) oder als „Prinzip der Interdependenz“ (Heimann, Otto, und Schulz 1965, 45) bekannt. Bei der hohen Zahl an möglichen Wechselwirkungen bei nur sechs Grunddimensionen wird sofort offenbar, warum empirische Unterrichtsforschung so schwierig ist, denn ebenso wie die Aussagen in der Quantenmechanik in ihrer Genauigkeit durch die Heisenberg’sche Unschärferelation begrenzt sind, kann eine „Messung“ leichte Verschiebungen der Gewichtung innerhalb des Didaktischen Sechsecks bewirken und damit das „Messergebnis“ verfälschen.

Jedem Unterrichtspraktiker ist die Tatsache vor Augen, dass ein einziger falsch formulierter Impuls an einer Gelenkstelle des Unterrichts einer noch so gut geplanten Stunde dem Unterrichtsgespräch einen unerwarteten Verlauf geben kann und damit das Stundenziel verfehlt wird. Nach Meyer ist es gerade das „Geflecht von Wechselwirkungen“, das den Unterrichtsprozess „lebendig und überraschungsintensiv“ macht (Meyer 2007, 180) und den Lehrberuf auch nach vielen Berufsjahren noch interessant und abwechslungsreich sein lässt.

Bezogen auf das Ausgangsproblem der Inhaltsauswahl für ein Fach zeigen die „didaktischen Geometrien“, dass das „Kreuz mit der Vermittlung“ (Untertitel der „Didaktik“ Gruschkas, 2002) darin besteht, dass die zahlreichen Wechselwirkungen schon bei der Inhaltsauswahl berücksichtigt werden müssen. Die Wechselwirkungen bedingen auch, dass als Bezugswissenschaft für die Auswahl der Inhalte eines Faches nicht die Fachwissenschaft, sondern die Fachdidaktik als Fachunterrichtswissenschaft zuständig sein muss, deren Abgrenzung des Fachbegriffs sich aber wiederum aus dem „Bilde eines teleologischen Ganzen“ (Litt 1931, 132) ergibt.

Wie entkommen wir nun dem scheinbaren Teufelskreis, der darin besteht, dass wir die Bezugswissenschaft „Fachdidaktik“ benötigen, um das „Ganze“ der fachlichen Bildung und Erziehung inhaltlich zu konturieren, gleichzeitig aber schon das „Ganze“ als Ausgangspunkt zur Konstruktion der Fachdidaktik benötigen?

Der Teufelskreis kann nur dann durchbrochen werden, wenn nicht alle sechs Ecken des Didaktischen Sechsecks gleichgewichtig sind, sondern wir ein Zielprimat fordern.

„Wenn man nicht genau weiß, wohin man will, landet man leicht da, wo man gar nicht hin wollte“ (Mager 1974, XVII).

Dieses Zitat Magers aus seinem viel verkauften Buch „Lernziele und Unterricht“ weist uns den weiteren Weg.

Wenn das Ziel von Schule eine allseitig entwickelte Persönlichkeit und die Vermittlung kultureller Werte und gesellschaftlicher Normen ist, sich die allseitig entwickelte Persönlichkeit durch die Unterdimensionen „Erleben, Verstehen und Handeln“ entwickelt und sich das Kulturelle an der Trias „das Wahre, Gute und Schöne“ messen lässt, dann wird der Raum für die Inhaltssuche in den Fächern jeweils von diesen drei Koordinatenachsen aufgespannt.

3.1.2 Didaktische Modelle für eine Allgemeine Fachdidaktik

Wir bewegen uns jetzt wieder weiter weg von der unterrichtlichen Ebene hin zu den Didaktischen Modellen und fragen uns, bei welchen Modellen das formulierte Zielprimat der Bildung und Erziehung mit Aussagen zum verantwortlichen Handeln und zur Inhaltsauswahl verknüpft wird.

Die Komplexität des Unterrichts und die Wechselwirkung von Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen erlauben es selbstverständlich nicht, aus den Zielnormen weitere Ziele im Sinne einer Deduktion abzuleiten und bis auf eine konkrete unterrichtliche Ebene herunterzutransformieren, so wie es die lernzielorientierte Didaktik einst versucht hat.

Jank und Meyer schlagen das Verfahren des „kommunikativen Kleinarbeitens“ vor.

„Das von uns für sinnvoll gehaltene Verfahren bezeichnen wir als „kommunikatives Kleinarbeiten“. Beim Kleinarbeiten geht es darum, vage, oft emotional „aufgeladene“ und schon deshalb interpretationsbedürftige Zielformeln so lange zu konkretisieren, bis ein mittleres Abstraktionsniveau erreicht ist, das einerseits den Zusammenhang zu den Prämissen noch erkennen lässt, andererseits Handlungsorientierungen gibt“ (Jank und Meyer 2014, 125 f).

Am Ende dieses kommunikativen Kleinarbeitens sollte es möglich sein, dass die auf weiter unten liegenden Theorieebenen gefundenen Prinzipien und Kriterien sich dieser obersten Norm „verpflichtet“ sehen.

Auf diese Untersuchung bezogen besteht das Kleinarbeiten darin, die vorhandenen didaktischen Modelle daraufhin zu untersuchen, ob sie gleichermaßen zur Persönlichkeitsbildung und Enkulturation, also zu Bildung und Erziehung und den bereits formulierten Zielnormen Aussagen machen und als evaluative Komponente das verantwortliche Handeln berücksichtigen. Tabelle 3.1 dient dazu, die Entstehungsgeschichte der gängigen Didaktischen Modelle und die jeweiligen wissenschaftlichen Paradigmen und ihre wichtigsten Vertreter in Erinnerung zu rufen.

Im nächsten Schritt werden die gängigen didaktischen Modelle daraufhin untersucht, ob sie Aussagen zur Persönlichkeitsbildung, zur Enkulturation, zum Handeln und zur Auswahl von Inhalten machen. Diese Aussagen werden in einer tabellarischen Übersicht dargestellt und jeweils kurz erläutert. Damit soll insgesamt das Interaktionsmodell gestützt und das Modell der Allgemeinen Fachdidaktik vorbereitet werden.

Tabelle 3.1 Übersicht der Entwicklung Didaktischer Modelle aus wissenschaftlichen Paradigmen (nach der Wissenschaftstheoretischen Landkarte in (Jank und Meyer 2014))

Der bildungstheoretische Ansatz Klafkis hat mit dem kategorialen Ansatz die Kluft zwischen formaler und materialer Bildung theoretisch überwunden. Jedoch blieb der Wunsch Klafkis nach „einer eigenständig pädagogischen Struktur- und Kategorialforschung“ (Klafki 1974, 45) sowohl in der Allgemeinen Didaktik als auch bei den Fachdidaktiken weitgehend unerfüllt. Diese Untersuchung unternimmt für den Wirklichkeitsausschnitt „Technik“ zumindest den Versuch, mit Hilfe der Bezugswissenschaften die Strukturen und Kategorien aufzudecken, die dafür sorgen können, „daß sich dem Menschen eine Wirklichkeit „kategorial“ erschlossen hat und daß eben damit er selbst- dank der selbstvollzogenen „kategorialen“ Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse- für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist“ (Klafki 1974, 44). Die Weiterentwicklung zum kritisch-konstruktiven Ansatz brachte zumindest die gesellschaftskritische Komponente mit ein und entwickelte als inhaltliche Idee die epochaltypischen Schlüsselprobleme (Tabelle 3.2).

Tabelle 3.2 Zusammenfassung: Bildungstheoretische/ kritisch-konstruktive Didaktik

Die Eignung dieser Schlüsselprobleme als Kriterium für eine Inhaltsauswahl wurde bereits kritisiert (vgl. S. 36). Die Umsetzung der Forderung nach „Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ (Klafki 2007, 54) scheitert nach wie vor am gegliederten Schulwesen mit früher Selektion und Zuweisung zu unterschiedlichen Schulformen. Dies behindert auch die Selbsttätigkeit als „zentrale Vollzugsform des Bildungsprozesses“ (Klafki 2007, 19) sofern sie über das Schreiben und Sprechen hinausgehen soll. Dem wäre entweder dadurch Abhilfe zu schaffen, dass sich auch das Gymnasium bundesweit dem Fach Technik öffnet, oder durch eine grundlegende Schulreform in allen Bundesländern, die ein Schulmodell realisiert, das innerhalb eines Gebäudes in allen Altersstufen alle „Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ (a.a.O., 57) ausbildet und durch innere Differenzierung und individuelle Förderung für eine umfassende Persönlichkeitsbildung sorgt, so, wie es im Schulsystem der DDR zumindest intendiert war.

„Die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule in der DDR ist somit eine allgemeinbildende Schule. Auch die erweiterte Oberschule hat vorwiegend allgemeinbildende Funktion, […]“ (Neuner 1973b, 139).

Wenn Hilbert Meyer das Hamburger Modell als „»Feiertagsdidaktik«, aber im besten Sinne“ (Jank und Meyer 2014, 284) bezeichnet, dann sind damit die konsequente Schülerorientierung, die Intentionalität von „Kompetenz, Autonomie und Solidarität“ und die Betonung der Ganzheitlichkeit gemeint (Tabelle 3.3).

Tabelle 3.3 Zusammenfassung: Lerntheoretische Didaktik

Heimann greift die Pestalozzi-Trias von Kopf, Herz und Hand erneut auf und differenziert sie zu einer „Pyramide“ (Abb. 3.5).

Abbildung 3.5
figure 5

Heimann-Pyramide. (aus: (Heimann 1976, 125))

Lassen wir Heimann zur Beschreibung seiner Pyramide selbst zu Wort kommen:

„Es war sein (Pestalozzis, Anm. THM) großes Anliegen, den Kopf, das Herz und die Hand zu erziehen, zu bilden. Die Hand ist nun bei uns in einer abstrakten Achse vorhanden, und zwar in der mittleren Achse. Bei ihr handelt es sich um eine „Pädagogik der Hand“, die linke Achse stellt die Symbolisierung der Pädagogik des Kopfes dar, die rechte die Pädagogik des Herzens. genauso wie Pestalozzi der Ansicht war, Kopf, Herz und Hand seien nicht jeweils isolierte menschliche „Provinzen“, genauso, wie er in ihnen die Einheit des Menschen dokumentiert sah, genauso etwa müssen wir auch die hier gegebene Schematik verstehen“ (Heimann 1976, 141).

Der weiter oben postulierte Dreischritt von „Erleben, Verstehen und Handeln“ ist dem Fundament dieser Pyramide sehr ähnlich. Der Fortschritt gegenüber Pestalozzi besteht in der Stufung und Ausdifferenzierung der drei Daseinsbereiche, Erhellung, Bewältigung und Erfüllung, und damit in einem möglichen Suchraster für unterrichtliche Planung. Dieses Suchraster kann Einseitigkeiten in der Inhaltsauswahl verhindern, indem es an die Ganzheit erinnert.

Die rechte Achse der Heimann’schen Pyramide wird später von Schulz verfeinert, indem er die emanzipatorische Relevanz ästhetischer Bildung und deren Beziehung zum kreativen Handeln herausstellt.

„Emanzipatorisch relevanter ästhetischer Unterricht bringt das in der Kommunikation Unterdrückte, bringt die Unterdrückten kompetent zur Sprache, um für Autonomisierung gegenüber inhumaner Fremdbestimmung Solidarität zu mobilisieren. Diese spezielle Leistung emanzipatorisch relevanten ästhetischen Unterrichts innerhalb der unterrichtlichen Gesamtaufgabe lassen sich in der Formel Befähigung zu kreativem Handeln zusammenfassen“ (Schulz 1997, 27)(Hervorh. im Original).

In dem später entstandenen Seminarpapier „Der Beitrag der MimesisFootnote 1“ beschreibt Schulz die Entfaltung ästhetischen Handlungsfähigkeit als

„heute und hier für die Aufklärung der Menschen über sich selbst unverzichtbar, für die Aufklärung über die Bedingungen ihres Lebens, über deren Kritikwürdigkeit und über den Horizont der Möglichkeiten einer Verbesserung“ (Schulz 1997, 60).

In dieser Zielformulierung steckt implizit sowohl die Wertetrias des Schönen, Guten und Wahren als auch die Mündigkeit und das daraus resultierende, verantwortungsvoll in die Zukunft gerichtete Handeln.

Die „Heimann-Pyramide“ und Schulz’ „ästhetische Handlungsfähigkeit“ stützen die Forderung nach einer ganzheitlichen Inhaltsauswahl, obwohl die Aussage des Berliner Modells zur Auswahl von Inhalten, „die Entscheidung selbst ist ein Akt der Freiheit, der den theoretischen Bereich transzendiert“ (Heimann, Otto, und Schulz 1965, 10) uns scheinbar von der Lösung des Kanonproblems entfernt (Tabelle 3.4).

Tabelle 3.4 Zusammenfassung: Systemisch- konstruktivistische Didaktik

Auch der systemisch-konstruktivistische Ansatz stellt mit der „Selbstbestimmung der Inhalte“ (Reich 2010, 268) ein Extrem der Inhaltsfestlegung dar. Jedoch steckt auch in diesem Ansatz ein wichtiges Kriterium der Inhaltsauswahl.

Bei der Rezeption des radikal-konstruktivistischen Ansatzes, der vor allem auf biologische Überlegungen Maturanas und Varelas zurückgeht, wird zumeist nur auf das Merkmal der Autopoiesis bei Lebewesen verwiesen.

„Unser Vorschlag ist, daß Lebewesen sich dadurch charakterisieren, daß sie sich -buchstäblich- andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech.autos=selbst; poiein=machen)“ ((Maturana 2009, 50 f), Hervorh. i. Original).

Aus dieser autopoietischen Organisation wurde vorschnell geschlossen, dass sich jeder Mensch seine Wirklichkeit selbst konstruiert. Dabei übersieht man die Feststellung Maturanas und Varelas, dass zwischen Lebewesen strukturelle Kopplungen möglich sind, die eine Verhaltensabstimmung und damit soziale Phänomene hervorbringen können. Im einfachsten Fall, wie bei Insekten über Trophallaxis, den chemischen Austausch durch Nahrungsweitergabe, oder komplexer über audio-visuelle Kopplung wie bei der Jagd von Wölfen im Rudel.

„Diese soziale Phänomenologie beruht darauf, daß die beteiligten Organismen im wesentlichen ihre individuellen Ontogenesen als Teil eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesen verwirklichen, das sie bei der Bildung von Einheiten dritter Ordnung hervorbringen“ (Maturana 2009, 209).

Dazu bedarf es der Kommunikation, die hier als „das gegenseitige Auslösen von koordinierten Verhaltensweisen unter den Mitgliedern einer sozialen Einheit“ (Maturana 2009, 210) verstanden wird. Die Besonderheit des Menschen besteht darin, dass durch die Sprache und die Schaffung künstlicher Kopplungen „kulturelles Verhalten“ entsteht, „die generationenübergreifende Stabilität von ontogenetisch erworbenen Verhaltensmustern in der kommunikativen Dynamik eines sozialen Milieus“ (Maturana 2009, 218). Enkulturation wäre demnach ein Vorgang unserer „kollektiven Ko-Ontogenese“ und Lernen ein ko-konstruktiver Vorgang.

Diese Idee der Ko-Konstruktion ist insbesondere in offenen, multikulturellen Gesellschaften, die von sehr unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen und einem fehlenden Wertekonsens geprägt sind, für die Inhaltsauswahl entscheidend, und zwar sowohl in der Phase der Wahrnehmung, des Erlebens, als auch beim Verstehen und folglich auch beim verantwortlichen Handeln in der Abwägung der Entscheidungskriterien, die je nach kultureller Prägung unterschiedlich sind. Dewey sah die Gefahr, dass an die Stelle der traditionellen „Klosterdidaktik“ eine „Wühltischdidaktik“ treten könnte (vgl. (Dewey 1989)) bei der Bildung wie jede andere Ware käuflich wird und der Lehrer als besserwissender Verkäufer auftritt.

„In diesem Kaufhaus entschwinden Disziplin, Moral und Gewissenhaftigkeit, die Tiefe der Auseinandersetzung wird durch Oberflächlichkeit ersetzt, die Geduld durch die schnelle Erwartung auf profitable Umsetzungen“ (Reich 2010, 257).

Diese Gefahr kann nur abgewendet werden durch eine Didaktik, bei der zwar der Lehrer ein Mehr-Wisser sein darf, die aber das kommunikative und pädagogische Grundverhältnis untersucht, die Beziehung zwischen Lehrer und Lerner.

Wenn Reich behauptet, dass nach 1945 die „Entwicklung der deutschen Didaktik“ […] „große Gemeinsamkeiten aufwies“ […], „wo aber von keiner Theorie ein kommunikatives Grundverhältnis hinreichend ausgearbeitet wurde“ (Reich 2010, 262), dann stimmt der erste Teil der Aussage in Bezug auf die Auffassungen von Allgemeinbildung (vgl. S. 46) (Tabelle 3.5).

Tabelle 3.5 Zusammenfassung: Dialektische Didaktik

Wie wir aber bereits bei den didaktischen „Geometrien“ gesehen haben, hat sich Klingberg bei der Ausarbeitung seiner Dialektischen DidaktikFootnote 2 ausführlich mit der Grundrelation von Lehrer und Lerner auseinandergesetzt, insbesondere in seinem Buch „Lehrende und Lernende im Unterricht“. Klingberg sieht Unterrichtsinhalte aus Lernersicht als Aneigungsinhalte.

„Das »Zu-Ende-Konstituieren« von Unterrichtsinhalt vollzieht sich in Prozessen seiner Vermittlung und Aneignung. Zur didaktischen Subjekt-Objekt-Dialektik gehören die Definition des Unterrichtsinhalts als Aneignungsgegenstand, Aneignungsobjekt“ (Klingberg 1990, 55).

Indem Klingberg den Lernern in diesem Aneignungsprozess auch Eingriffs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten einräumt, wird seine dialektische Didaktik zugleich zu einer demokratischen Didaktik.

„So erweist sich die Subjektposition der Lernenden nicht schlechthin in ihrer aktiven Position im Aneignungsprozeß, sondern vor allem darin, daß sie den Konstituierungsprozeß von Unterrichtsinhalt mit vollziehen, in diesen Prozeß eingreifen und auch mitentscheiden, ob Unterrichtsinhalt »als solcher« zu einem Inhaltselement ihrer Persönlichkeitsentwicklung wird“ (Klingberg 1990, 56).

Die Definition des Unterrichtsgegenstandes als Aneignungsobjekt und die Mitgestaltung, Mitentscheidung und Mitverantwortung (vgl. (Klingberg 1990, 78) des Aneignungsprozesses durch die Lernenden erfordert bei der Konstituierung eines Inhaltkanons für Fächer eine dialektische Vermittlung zwischen Subjekt und Objektbereich (Fach), die nur die jeweilige Fachphilosophie, genauer die Fachanthropologie leisten kann (siehe Abschn. 3.2.3).

Außerdem erfordert die Stärkung der Subjektposition der Lernenden eine bestimmte Haltung der Lehrer, eine Ethik der Erziehung, die im folgenden Kapitel kurz entfaltet werden soll, weil sie auch Auswirkungen auf das Kanonproblem hat.

3.1.3 Ethik der Erziehung im Spannungsfeld von Überwältigung und Selbstbestimmung

Trotz oder gerade wegen der zunehmenden Digitalisierung spielen bei der Umsetzung von Erziehungszielen Lehrerinnen und Lehrer in der Schule die entscheidende Rolle. In der Hattie-Studie rangieren die beiden items „Teacher clarity“ (Rang 8) und „Teacher-student relationships“ (Rang 11) weit oben in der Wirksamkeitsskala (vgl. (Hattie 2008, 118, 126)).

Erzieherisches Verhalten setzt ein „Gefälle“, einen „Niveauunterschied“ voraus. Es liegt besonders an der Haltung der erziehenden Person, ob dieses Gefälle als „Mehrwissen“ von den Zu-Erziehenden angenommen werden kann oder als „Besserwissen“ innerlich abgelehnt wird. Dazu schreibt Reich:

„Jeder Lehrer oder Pädagoge ist, wenn er Wissen vermittelt, notwendig ein Mehr-Wisser. Zum Besser-Wisser wird er dann, wenn er die Beziehungsseite nicht umfassend berücksichtigt und sein Mehr-Wissen zur Entwertung der Schüler bzw. Teilnehmer heranzieht“ (Reich 2010, 260).

Für die Beziehungsseite der Erziehung spielt die Haltung der Lehrperson gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern eine besondere Rolle. Von Hilbert Meyer stammt die provokante und oft missverstandene These: „Der Lehrer hat die Aufgabe, seine Schüler mit Liebe und Gewalt zur Selbstständigkeit zu erziehen“ (Meyer 2015, 50).

Obwohl er im Anschluss an diese These klärt, dass er strukturelle und symbolische Gewalt meint und keinesfalls physische oder psychische und mit „Liebe“ die „beharrliche und professionelle Zuwendung des Lehrers“(ebd.), möchte ich die These umformulieren und fordern:

Der Lehrer hat die Aufgabe, mit pädagogischem Wohlwollen und verantwortungsvoller Führung zur Selbstständigkeit zu erziehen, wobei Selbstständigkeit immer auch Selbsttätigkeit in sozialer Verantwortlichkeit erfordert.

Die Mischung aus pädagogischem Wohlwollen und verantwortungsvoller Führung kann nur gelingen, wenn Lehrer konsequent ihre Haltung reflektieren. Die kontinuierliche SelbstreflexionFootnote 3 dieser Haltung muss bereits in der Lehrerausbildung angebahnt werden, z. B. durch die Arbeit am pädagogischen und professionellen Selbstkonzept (PSK) (vgl. Meyer 2001, S. 236 ff).

Als „Tugenden des Erziehers“ (Bollnow 2001, 52 ff) und Grundhaltungen nennt Bollnow in „die Pädagogische Atmosphäre“ die Geduld, die Hoffnung, die Heiterkeit, den Humor und „vielleicht die oberste aller Tugenden“ (Bollnow 2001, 70) die Güte.

Lothar Klingberg hat sich schon früh in seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit dem Lehrer-Schülerverhältnis auseinandergesetzt.

Er formuliert als eine Maxime einer noch zu erarbeitenden Ethik des Unterrichts:

„Sieh im Schüler niemals ein Mittel zum Zweck der Realisierung deiner pädagogischen Konzepte, Pläne usw., sondern sieh in ihm die werdende Persönlichkeit in ihrem Selbstzweck, ihrer Subjektivität, ihrer Würde, ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung. Lernende, heranwachsende Menschen dürfen nicht ‚benutzt‘, nicht instrumentalisiert werden (weder politisch, noch pädagogisch)“ (Klingberg 1990, 72).

Die so formulierte Ethik des Unterrichts erinnert sehr an den Beutelsbacher Konsens der Politikdidaktik, der auch von einem Überwältigungsverbot spricht und aufgrund seines allgemeindidaktischen Charakters für alle Schulfächer in folgender Form gelten sollte:

„Überwältigungsverbot

Es ist nicht erlaubt, Schülerinnen und Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern.

Kontroversgebot

Was in Fachwissenschaft und Gesellschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.

Multiperspektivitätsgebot

Schülerinnen und Schüler sollen in die Lage versetzt werden, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie sie die Problemlösung im Sinne ihrer Interessen unter Berücksichtigung der Mitverantwortung für das soziale Ganze beeinflussen können“ (nach (Möllers 2016, 102 f).

Eine so formulierte Ethik des Unterrichts fordert für alle Fächer ein Multiperspektivitätsgebot bei der Inhaltsauswahl, die Einseitigkeit und Überwältigung verhindert und Kontroversität sicherstellt. Die damit verbundene besondere Verantwortung des Lehrers und der (Fach)-Didaktik formuliert Klingberg so:

„Die Arbeit des Lehrers ist immer in die Zukunft gerichtet. Mit der Bildung und Erziehung der heranwachsenden Generation prägt er die Zukunft mit, wirkt er über Jahrzehnte hinaus. Wohl kein anderer Beruf ist so auf Leitbilder und klare Zielvorstellungen angewiesen wie der des Lehrers. Ohne klare Zielvorstellungen, die wissenschaftlich begründet sind, verliert die Arbeit des Lehrers ihren tiefen Sinn: die Entscheidung für die Zukunft. Erziehen heißt Ziele verwirklichen. Das ist aber nur möglich, wenn der Lehrer die Ergebnisse des Bildungs- und Erziehungsprozesses geistig antizipiert“ ((Klingberg 1984, 51), Hervorh. THM).

Um die wissenschaftliche Begründung geht es im Folgenden, wenn die Frage nach der oder den Bezugswissenschaften für eine Fachdidaktik gestellt wird.

3.2 Das Problem der Bezugswissenschaften und Gestaltungsprinzipien von Fachcurricula

3.2.1 Bezugswissenschaften für eine Fachdidaktik

Schon im zweiten Anstoß zu dieser Untersuchung wurde in Abb. 1.3 (vgl. S. 17) das Problem der Bezugswissenschaften für eine Fachdidaktik bildlich dargestellt.

Demnach wäre es Aufgabe einer Fachdidaktik als Fachunterrichtswissenschaft die beiden großen Stränge „Bildungswissenschaften“ und „Fachwissenschaft(en)“ miteinander zu verflechten.

Das scheint auf den ersten Blick recht einfach zu sein, stellt sich aber bei näherem Hinsehen als sehr komplex dar, insbesondere, wenn man sieht, dass sich diese beiden großen Stränge in eine Vielzahl von Einzelsträngen aufteilen.

Mit dem Erscheinen des zweiten Bandes der GFD zur Allgemeinen Fachdidaktik, „Lernen im Fach und über das Fach hinaus“, und der Zusammenschau und Bündelung verschiedener Fachdidaktiken hat sich das ursprüngliche Bild (Abb. 1.3) aus „Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik“ gewandelt. Nunmehr werden übereinstimmend vier Wissenschaftsbereiche als Bezugswissenschaften für die Fachdidaktiken genannt (vgl. (Rothgangel u. a. 2020, 550 ff):

  1. 1.

    Die Fachwissenschaften:

    Während einige Schulfächer, wie z. B. Physik und Mathematik, direkt eine gleichnamige Bezugswissenschaft haben, gibt es für das Fach Technik nicht die Bezugswissenschaft „Technik“, sondern eine Vielzahl von Bezugswissenschaften, die Ingenieurwissenschaften und die Technologien, darunter auch die Allgemeine Technologie. Bei den bisherigen technikdidaktischen Ansätzen versuchte man, dieses Problem durch Hinzuziehen der Allgemeinen Technologie als Bezugswissenschaft zu lösen.

    „Die allgemeine Technologie als objektorientierter Ansatz ordnet sie Arbeitsgegenstände (Sachsysteme) der Technik: Stoff, Energie und Daten sowie die Art der Veränderung mit Blick auf die äußere Form, die innere Struktur und eine mögliche Ort- und Zeitveränderung, einander zu“ (Hüttner 2020, 431).

    Neben der hierarchischen Ordnung technischer Sachsysteme bietet der Ansatz aus didaktischer Sicht den Vorteil, „dass ein solches Ordnungssystem die Erkenntnisse zu Funktionen und Strukturen durch Aufdeckung ihrer inneren Zusammenhänge und Beziehungen möglich macht“ (ebd.).

    Der Ansatz nach Ropohl (vgl.(Ropohl 1979)) bietet darüber hinaus die Möglichkeit, mit Hilfe der soziotechnischen Handlungssysteme auch die Zielsetzungen und Folgen von Technik didaktisch in den Blick zu nehmen.

    Trotz der gelungenen Verallgemeinerung der Vielzahl der Ingenieurwissenschaften zu einer Allgemeinen Technologie stellt das so gefundene Wahre, im Sinne der Trias das Wahre, Gute und Schöne, noch nicht den alleinigen Bezugspunkt für die inhaltliche fachdidaktische Auswahl dar, denn es fehlen die weiteren Bezugswissenschaften.

  2. 2.

    Erziehungs- und Bildungswissenschaft

    Als weitere Bezugswissenschaften wurden von den Vertretern der Fachdidaktiken die Allgemeine Didaktik, die bildungstheoretische Didaktik, die Bildungswissenschaft und die Erziehungswissenschaft, sowie die Sonderpädagogik genannt. Diese Nennungen wurden zusammengefasst zu „Erziehungs- und Bildungswissenschaft“, obwohl streng genommen im Plural von Erziehungs- und Bildungswissenschaften gesprochen werden müsste.

  3. 3.

    Empirische Bildungsforschung

    Wenn als dritte Wissenschaft die Empirische Bildungsforschung aus den Nennungen „Lernpsychologie, Empirische Bildungsforschung, Pädagogische Psychologie und empirische Sozialwissenschaften“ (a.a.O., 550) gebildet wird, dann ist diese Bündelung nicht nachvollziehbar, zumal die empirische Bildungsforschung als eine echte Teilmenge der Erziehungs- und Bildungswissenschaften zu verstehen ist. Damit werden bestehende Gräben zwischen empirischer und geisteswissenschaftlicher Forschung unnötig vertieft. Sinnvoller wäre es gewesen, die Punkte 2. und 3. zu dem einen Punkt „Bildungs- und Erziehungswissenschaften“ zusammenzufassen.

  4. 4.

    andere Fachdidaktiken

    Interessant ist die Erkenntnis, dass für einige Fachdidaktiken „andere Fachdidaktiken“ als Bezugsdisziplinen genannt worden sind. Geht man von dem Ansatz aus, dass den heranwachsenden Menschen die Welt als Natur und Kultur ganzheitlich entgegentritt und diese auch möglichst ganzheitlich zur Persönlichkeitsbildung und Enkulturation beitragen soll, dann ist die schulische Trennung der Weltaneignung in fächerspezifische Sichten künstlich. Einsichtig und natürlich ist es hingegen, dass in den Rand- und Überschneidungsbereichen der Fächer die benachbarten und verwandten Fächer und deren Didaktik in den Blick geraten. Für die Technik sind diese Randbereiche vor allem durch die Naturwissenschaften und die Mathematik, aber auch durch die Sozialwissenschaften, Kunst und auch Sport (siehe später) charakterisiert.

Bei der Auswertung des Impulses „Fachdidaktische Forschung vernetzen“ ergaben sich bei der GFD Untersuchung neben den vier „konstitutiv interdisziplinären Dialogpartnerinnen“ (Rothgangel u. a. 2020, 576) zusätzliche „kontingente interdisziplinäre Dialogpartnerinnen“ (ebd.), z. B. die Ethik und die Neurowissenschaften.

Die Forschungsergebnisse werden zu einem „neuen“ Schaubild (Abb. 3.6) zusammengefasst. Neben der bereits erwähnten Inkonsistenz bezüglich der Empirischen Bildungsforschung als Teilmenge der Erziehungs- und Bildungswissenschaften, ist eine weitere Inkonsistenz in den „kontingenten“ Bezugswissenschaften zu sehen. So leisten beispielsweise die Neurowissenschaften einen Beitrag zum Verständnis von Lernvorgängen und sind demnach den empirischen

Abbildung 3.6
figure 6

Bezugswissenschaften einer Fachdidaktik. (aus: (Rothgangel u. a. 2020, 583)) © Waxmann-Verlag

Bildungswissenschaften zuzuordnen. Die Ethik ist innerhalb der Erziehungswissenschaften den philosophischen Menschenbildern zuzuordnen, die einer Allgemeinen Didaktik zugrunde liegen sollten. Schaut man auf die weiteren Nennungen der Fachdidaktiken zu den interdisziplinäreren Forschungsbereichen (vgl. (Rothgangel u. a. 2020, 575)Footnote 4, dann lesen sich diese Nennungen wie Listen in Rechenschaftsberichten zu staatlichen oder Stiftungs- Fördermitteln. Mittel, die aus gesellschaftspolitischen oder stiftungszweckgemäßen Notwendigkeiten vergeben werden und nicht aufgrund theoretischer oder empirischer Überlegungen und Gewichtungen.

Welche der oben genannten Bezugswissenschaften bei der Auswahl von Fachinhalten wie stark gewichtet wird, hängt wesentlich von den Gestaltungsprinzipien von Fachcurricula ab. Außerdem ist später zu fragen, ob die Aufzählung der Bezugswissenschaften hinreichend ist.

3.2.2 Gestaltungsprinzipien für Fachcurricula

„Bei der Entwicklung von Curricula können in der Regel drei unterschiedliche Gestaltungsprinzipien zu Grunde gelegt werden: das Wissenschaftsprinzip, das Situationsprinzip und das Persönlichkeitsprinzip“ (Hüttner 2017, 79).

Diese drei Prinzipien haben sich vor allem im Bereich der Didaktik der beruflichen Bildung etabliert und sind im allgemeinbildenden Bereich eher unbekannt.

Sie haben in ihrer Reinform zu Fehlentwicklungen geführt.

Im Folgenden sollen daher die drei Gestaltungsprinzipien genauer auf ihre Brauchbarkeit für einen Ansatz der Persönlichkeitsbildung und Enkulturation geprüft werden.

„Das Wissenschaftsprinzip (geht) von der Prämisse aus, dass die Auswahl der Lehrgegenstände an den Fachstrukturen der Wissenschaft zu orientieren ist. Die Annahme ist dabei, dass den Wissenschaften etwas innewohnt, was die Wirklichkeit repräsentativ widerspiegelt und somit die Individuen in der Gesellschaft in eine Handlungsbefähigung versetzt“ ((Gerholz und Sloane 2011, 5), Hervorh.THM).

Die alleinige Anwendung des Wissenschaftsprinzips führt sehr leicht zu einer Abbilddidaktik, bei der die Bezugswissenschaft lediglich im verkleinerten Maßstab in der Fachdidaktik abgebildet wird. Dabei entstehen unweigerlich drei Folgeprobleme:

  1. 1.

    Die Systematik der Vermittlung orientiert sich meist an der Systematik von wissenschaftlichen Lehrbüchern, einer Systematik des schon Erreichten und Erforschten. Diese Systematik fängt an mit Begriffsdefinitionen, geht weiter mit elementaren Erkenntnissen und endet in Kategorien und vernetzten Wissenssystemen. Das wissenschaftliche Gebäude wird systematisch vom Einfachen zum Komplexen aufgebaut. Durch das Setzen von Begriffen und Definitionen an den Anfang macht diese Systematik den Fehler, den Wagenschein mit „Fachsprache als Sprache des Verstanden- Habens“ bezeichnet (vgl. S. 148). Diese Systematik stimmt aber nicht mit einer Lernsystematik überein, die eine entdeckende, forschende, fragende Systematik ist, die von konkreten Problem- und Fragestellungen hin zu dem o.g. Lehrbuchwissen voranschreitet, bei der es eher darauf ankommt, von Fragen oder Problemen einer komplexen Situation wichtige Zusammenhänge selbst zu erschließen und sich das „Wissenschaftsgebäude“ erst selbst zu bauen. Eine derartige Vermittlung führt zu einer Anhäufung von trägem Wissen und der fehlenden Kompetenz, das Wissen auf andere Problemstellungen zu transferieren, wie es die TIMSS und PISA-Studien der Jahrtausendwende gezeigt haben. Die Studien führten zwar zu einer Revision der grundsätzlichen Orientierung von Input zu Output, jedoch auch gleichzeitig zu einer Vernachlässigung des Inhaltsproblems (vgl. S. 49).

  2. 2.

    Das weitaus größere Problem ist es, einen Kanon von Inhalten zu finden. Dieses ist einerseits ein quantitatives Problem, andererseits aber auch ein qualitatives, denn es müsste Kriterien für diese Inhaltsauswahl geben, die aber nicht aus der Fachwissenschaft selbst kommen können, sondern immer pädagogische sein müssen. Die pädagogischen Kriterien wiederum ergeben sich entweder aus den Situationen, für die das Gelernte später nutzbar sein soll (Situationsprinzip), in denen gehandelt werden soll, oder aus dem Beitrag, den die ausgewählten Inhalte für die Persönlichkeitsentwicklung und Enkulturation leisten können (Persönlichkeitsprinzip).

  3. 3.

    Die größte Gefahr der Abbilddidaktik ist die Vernachlässigung der kulturellen Dimension und der Mehrperspektivität, die meist in der „reinen“ Wissenschaft nicht vorkommen. Ein Ingenieur, der sich mit der Konstruktion von Turbinenschaufeln beschäftigt, ist meist nur fokussiert auf die Lösung dieses technischen Problems. Die ökonomischen, ökologischen oder humanen Auswirkungen dieser Turbinenschaufelkonstruktion interessieren ihn nicht. Gerade diese wären aber allgemeinbildend.

Das reine Wissenschaftlichkeitsprinzip ist zur Gewinnung von Curricula ungeeignet, weil die Verknüpfungen mit Bildung und Erziehung erst möglich werden, wenn aus den Didaktiken die Kriterien der Inhaltsauswahl hinzukommen.

„Eine Strukturierung von Curricula nach dem Situationsprinzip folgt der Idee, die zu fördernden Kompetenzen aus den (zukünftigen) Handlungssituationen und aus deren darin liegenden Anforderungen abzuleiten“ ((Gerholz und Sloane 2011, 6), Hervorh., THM).

Das Situationsprinzip wird hauptsächlich im Rahmen der beruflichen Bildung diskutiert, denn in den beruflichen Handlungssituationen sind bestimmte Kompetenzen nötig, auf die eine berufliche Ausbildung vorbereiten soll. Dort hat das Situationsprinzip zum Lernfeldkonzept geführt und bei der unterrichtlichen Umsetzung zu Lern- und Unterrichtssituationen (vgl.(Bader 2002)).

Die alleinige Anwendung des Situationsprinzips im allgemeinbildenden Bereich verbietet sich, denn eine Festlegung auf „zukünftige Handlungssituationen“ erscheint aufgrund der zunehmenden Differenzierung und Vielfalt der beruflichen und privaten Tätigkeiten aussichtslos. Dennoch drängt das Situationsprinzip immer wieder in den Schulbereich ein, wenn es darum geht, Nützlichkeitsanforderungen an die Schule zu stellen. Die gerade vorherrschende Situation, der Bedarf an bestimmten Berufen, die Erwerbs- und Industriestruktur in der Schulumgebung, sollen zu bestimmenden Faktoren der Inhalts- und Methodenwahl werden.

Dies war auch bei der polytechnischen Bildung in der DDR der Fall, wo der „Tag der Produktion“ als „Unterricht“ an die spezifische Situation vor Ort angepasst wurde und es ist heute der Fall, wenn eine einseitige „Digitalisierungsoffensive“ gefordert wird.

Dennoch ist das Situationsprinzip für die Suche nach typischen Handlungssituationen, die fachspezifisch auftauchen, unentbehrlich, wenn als dritter Schritt des Lernens das verantwortliche, mündige Handeln stehen soll. Die Kriterien zur Auswahl der Handlungssituation müssen sich daher aus didaktischen Überlegungen zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Enkulturation ergeben.

„Wenn die Lehrgegenstände an den Bedürfnissen der einzelnen Lernenden hinsichtlich seiner Sozialisation, Emanzipation und Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet sind, so kommt das Persönlichkeitsprinzip zum Tragen […] Persönlichkeitsaspekte wie Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit stehen hier als normative Vorgaben für die curriculare Entwicklungsarbeit“ ((Gerholz und Sloane 2011, 6), Hervorh. THM)

Das Persönlichkeitsprinzip als pädagogisches Prinzip vereinigt in sich die beiden anderen Prinzipien unter der Annahme, dass Wissenschaftlichkeit auf die Zieldimensionen „Persönlichkeitsbildung“ und „Enkulturation“ perspektiviert wird und das Situationsprinzip tatsächlich zur allseitigen Ausbildung der Persönlichkeit genutzt wird und nicht einseitigen Nützlichkeitsforderungen gehorcht.

Die Forderungen an eine Allgemeine Fachdidaktik lauten demnach:

Wissenschaftlichkeit muss reduziert und transformiert werden, sie muss pädagogisch perspektiviert werden!

Zur Anwendung des Situationsprinzip im allgemeinbildenden Bereich müssen die Lernfelder und Handlungssituationen für ein Fach identifiziert werden, die allgemeindidaktischen Kriterien, wie z. B. Gegenwartsbedeutung, Zukunftsbedeutung, Zugänglichkeit und Exemplarität genügen und auf eine ganzheitliche Ausbildung von Persönlichkeit ausgerichtet sind.

Die reine Anwendung des Persönlichkeitsprinzips im Sinne eines radikalen Konstruktivismus würde zur Vernachlässigung der beiden anderen Prinzipien und damit zu einer inhaltlichen Beliebigkeit führen. Das Persönlichkeitsprinzip muss jedoch als Leitprinzip gelten, weil das Ziel von Bildung und Erziehung die Persönlichkeitsbildung und Enkulturation von Menschen ist.

Damit überlagert sich dem „Interaktions-Modell“ der Bildung und Erziehung eine vierte Triade aus Persönlichkeits-, Situations- und Wissenschaftsprinzip. Die drei Prinzipien filtern aus der Gesamtheit des Wahren, Schönen und Guten mit Hilfe didaktischer Kriterien eine für Schule handhabbare Bildungs- und Erziehungsganzheit.

Was jetzt noch fehlt ist die wissenschaftliche Bestimmung der Konstruktion dieses Filters.

3.2.3 Das fehlende Puzzleteil: Philosophie als Bezugswissenschaft

Eine auf Kohärenz (vgl. S. 165) der Fachdidaktiken zielende Allgemeine Fachdidaktik steht nun vor der anspruchsvollen Aufgabe, eine wissenschaftliche „Filtervorschrift“ zu entwickeln, wie ein fachlicher Ausschnitt für das Weltverstehen zu bilden ist. Es ist nun zu fragen, welche Wissenschaft sich ebenso mit dem Erleben, Verstehen und Handeln wie mit dem Wahren, Schönen und Guten des jeweiligen Faches befasst. Das fehlende Puzzleteil, der gemeinsame Filter, die fehlende Bezugswissenschaft ist die jeweilige Fachphilosophie. Nur sie macht gleichzeitig Aussagen über das Wahre (Wissenschaftstheorie), das Schöne (Ästhetik) und das Gute (Ethik) und verbindet dieses mit dem Menschen in der jeweiligen Philosophischen Anthropologie und den menschlichen Hervorbringungen in der Kulturanthropologie.

3.3 „Filtermodell“ einer Allgemeinen Fachdidaktik zur Lösung des Kanonproblems

Die Fachphilosophie (Prisma in Abb. 3.7) entwickelt aus der Ganzheit des Faches (weißes Licht) ein Spektrum von humanen, sozialen, naturalen und kulturellen Zugängen zum Fach (Farben), das durch die Allgemeine Fachdidaktik (Filter) in ein didaktisches Fachverständnis (repräsentative Farben (z. B. RGB)) in die ganzheitlichen Möglichkeiten des Erlebens, Verstehens und Handelns im Fach zerlegt wird und nach der Rekonstruktion bzw. Ko-Konstruktion durch die Lernenden wieder das Ganze des Fachs (weißes Licht) ergibt.

Der Fachphilosophie (Prisma) vorgelagert ist der Filter der Allgemeinen Didaktik, der aus der ganzen Welt durch repräsentative Zerlegung fachliche Ausschnitte des Welterlebens, -verstehens und -gestaltens festlegt. Am Ende sollte durch die Rekonstruktion und die Ko-Konstruktion bei den Lernern auch das Ganze der Welt repräsentiert werden.

Abbildung 3.7
figure 7

Filtermodell der Allgemeinen Fachdidaktik. (Zeichnung: Ute Dahm CC BY-SA 4.0)

Im Idealfall wäre der Fächerkanon durch die Allgemeine Didaktik wissenschaftlich begründet und in einem daraus resultierenden Lehrplanwerk wäre die Verteilung und Verzahnung der Fächer über die verschiedenen Altersstufen festgelegt. Ein vergleichbares Lehrplanwerk hat es in den skizzierten Ansätzen in der ehemaligen DDR gegeben (vgl.(Neuner 1973a)). Man kann zwar über die ideologische Ausrichtung, die fehlende pädagogische Freiheit und die mangelnde Umsetzung in der unterrichtlichen Praxis streiten, jedoch kann man ebenso über den Flickenteppich von Schulformen und Fächern in den Bundesländern mit Fächerverbünden streiten, die nur aus einem Mangel an Lehrkräften (Naturwissenschaften) oder politischen Prioritäten (Wirtschaft) neu geschaffen wurden und über Stundenkontingente von Fächern, an denen sich eher die Lobbyarbeit von Verbänden als wissenschaftliches Arbeiten ablesen lassen.

Verfolgen wir das wissenschaftliche Vorhaben weiter, so wäre das obige Filtermodell auf alle Fächer des Fächerkanons anzuwenden.

Offen ist noch die Konstruktion des Filters „Allgemeine Fachdidaktik“.

3.3.1 Zum Modellbegriff in Bezug auf eine Objekttheorie der Allgemeinen Fachdidaktik

Auch bei dem „Filter“ Allgemeine Fachdidaktik kann es sich nur um eine ausschnitthafte Modellierung in Bezug auf das Teilproblem der inhaltlichen Kanonbildung eines Faches handeln.

Das Filtermodell beantwortet nur die „Was-Frage“ aller Fachdidaktiken, nach der Konstruktion eines Inhaltskanons und stellt somit einen Teil der Objekttheorie „Allgemeine Fachdidaktik“ dar. Hier tritt die Allgemeine Fachdidaktik nicht als Metatheorie aller Fachdidaktiken auf, die danach fragt, wie Fachdidaktiken zu ihren Theorien kommen, sondern sie liefert ein Instrument, ein Objekt, mit dem Fachdidaktiken operieren können.

Die Modellierung erfolgt stufenweise:

1.Stufe::

Zunächst wird ein heuristisches Modell konstruiert, das wesentliche Objekteigenschaften repräsentiert

2.Stufe::

Das Modell wird auf logische Konsistenz analysiert.

3.Stufe::

Das Modell wird auf einen Fall angewendet, hier auf die Fachdidaktik „Technik“, um die Eignung zu überprüfen. Dabei wird sich erweisen, ob das Modell zu neuen Lösungsansätzen für das Ausgangsproblem, „Das Ganze der Technik, aber nicht die ganze Technik“, führt.

4.Stufe::

Das Modell wird auf andere Anwendungsfälle übertragen, um die Verallgemeinerungsfähigkeit zu überprüfen. Dies wäre eine Aufgabe anderer Fachdidaktiken und könnte das Modell stützen.

5.Stufe::

Optimierung und Verfeinerung des Modells.

Die Stufen der Modellbildung werden also in einem Wechselspiel von Heuristik, Synthese und Analyse durchlaufen.

Die erste Stufe besteht im Finden eines ersten heuristischen Modells, das „wesentliche“ Objekteigenschaften repräsentiert. Dieses dient der Reduktion von Komplexität durch Reduktion der Anzahl der Attribute, ohne jedoch die Realität zu verfälschen.

Dabei ist darauf zu achten, dass das Modell anschlussfähig an bestehende Ansätze ist. Dies wird meist dadurch erreicht, dass ein neues Modell allgemeiner als bestehende Modelle ist. Zugleich soll es auch einfacher sein, um auch auf andere Fälle anwendbar zu sein. Dies wird durch veranschaulichende Analogiebildung erreicht.

Konkret angewendet auf das Problem der Bildung eines Inhaltskanons wird als erste Verkürzung das Methodenproblem eines Faches zunächst insofern ausgeklammert als es nicht unmittelbaren Bezug zur Persönlichkeitsbildung und Enkulturation (Zielprimat) hat. Damit fallen in dem Ausgangsmodell die philosophischen Anteile des Faches weg, die sich der Wissenschaftstheorie und der Erkenntnistheorie widmen. Als weitere Reduktion soll das Modell zwar die Enkulturation erfassen, es bezieht sich dabei aber im Wesentlichen auf philosophische Aussagen und tangiert damit lediglich die Grundlagen einer Fachsoziologie bzw. einer fachspezifischen Kulturwissenschaft, sofern diese überhaupt existiert.

Das Modell dient dazu, das „Wesen“ eines Faches in Bezug auf die Persönlichkeitsbildung und Enkulturation von heranwachsenden Menschen pädagogisch zu erfassen, um damit Fachinhalte aus den Fachwissenschaften filtern zu können.

3.3.2 Zur Konstruktion des „Filters“

Das Zielprimat (vgl. S. 172) erfordert es, bei der Konstruktion des Filters vom virtuell erreichten Ziel, vom „Bilde eines teleologischen Ganzen“ (Litt 1931, 132) aus, auf den dreischrittigen Prozess des Erlebens, Verstehens und Gestaltens zurück auf die Gegenstandsbereiche Natur und Kultur zu schauen. Das Ziel, mündige, selbstbestimmte und verantwortlich handelnde Menschen zu erziehen, die ihre natürliche und kulturelle Welt bewusst erleben, verstehen und mitgestalten (vgl. S. 160), wird gemäß dem Interaktionsmodell über die Triaden des Schönen, Wahren und Guten von Kopf, Herz und Hand und von Situation, Wissenschaft und Person und die sozialen und individuellen InteraktionenFootnote 5 erreicht.

Tabelle 3.6 Permutationstabelle zur Filterkonstruktion

Man stelle sich vor, die Spalten der Tabelle 3.6 wären Walzen eines Spielautomats, eines sogenannten „einarmigen Banditen“, und die Elemente einer Spalte wären frei mit den Elementen der anderen Spalten kombinierbar, dann ergäbe sich daraus 324 unterschiedliche Satz-Permutationen.

Eine Satzpermutation wäre beispielsweise: „Das Schöne der Natur wird in sozialer Interaktion mit dem Kopf in einer bestimmten Situation verstanden“, oder „das Gute in der Kultur wird individuell mit dem Herzen wissenschaftlich gestaltet“. Schon diese Beispiele zeigen, dass manche der Permutationen künstlich und wenig sinnvoll erscheinen. Deshalb wird die Anzahl der Permutationen nun durch sinnvolle Kopplungen reduziert, indem der farblich gekennzeichnete Block nunmehr aus drei fixierten „Filterlinien“ besteht, zu denen die beiden äußeren Spalten noch frei kombinierbar sind.

Die Fixierung der drei Linien erfolgt gemäß des Drei-Triaden-Modells (vgl.S. 155). Demgemäß gibt es die Zuordnung des Erlebens zum Schönen und zur affektiven Lerndimension (Herz) der Person, das Verstehen wird der kognitiven Dimension (Kopf) und dem Wahren der Wissenschaft zugeordnet und das Handeln der psychomotorischen Dimension (Hand) und dem Guten in der Situation. Variabel bleiben dazu die Gegenstandsbereiche und die Interaktionsformen, sodass die Gesamtzahl der Permutationen auf 12 reduziert wird.

Auf Stufe 2 der Modellkonstruktion ist nun das Modell auf logische Konsistenz zu prüfen. Die umfangreichen philosophischen, psychologischen und gesellschaftlich-politischen Untersuchungen haben zu den vereinfachenden Konstrukten der Wertetriade des Schönen, Guten und Wahren, der Ganzheit der personalen Bildung von Kopf, Herz und Hand und zu der Lerntrias von Erleben, Verstehen und Gestalten geführt. Die Überlegungen zu Gestaltungsprinzipien von Fachcurricula führten zu der vierten Trias des Wissenschafts-, Situations- und Persönlichkeitsprinzips (Tabelle 3.7).

Tabelle 3.7 Permutationstabelle mit drei fixierten „Filterlinien“ (kursiv)

Diese vier Triaden verfolgten den Zweck, eine virtuelle Ganzheit im Bergson’schen Sinne in eine möglichst geringe Anzahl von Differenzlinien zu teilen. Außerdem wurden die Triaden mit bestehenden didaktischen Modellen abgeglichen und die Passung der Triaden als Metamodell wurde unter der Annahme festgestellt, dass im Sinne des Interaktionsmodells auch die Interaktionen mit Mitmenschen, Natur und Kultur berücksichtigt werden.

Die vorgenommene Fixierung der drei Filterlinien soll nun keineswegs bedeuten, dass nicht beispielsweise auch das Schöne bewusst und kognitiv gestaltet werden könnte. Die Fixierung verfolgt lediglich den Zweck den Suchraum für die Inhalte eines Faches zu strukturieren und zu beschränken. Da eine Fachdidaktik eine Fachunterrichtswissenschaft ist, macht es Sinn, die pädagogische Lerntrias des Erlebens, Verstehens und Gestaltens als Leittrias bei der Behandlung des Kanonproblems anzusehen. Will man nun den so konstruierten Filter auf das durch die Fachphilosophie erzeugte Spektrum anwenden, so ergeben sich Suchanfragen der Allgemeinen Fachdidaktik an die jeweilige Fachphilosophie.

3.3.3 Suchanfragen der Allgemeinen Fachdidaktik an die Fachphilosophie

Am Anfang schuf Gott das Fragezeichen und legte es dem Menschen ins Herz

(Jüdisches Sprichwort)

Das jüdische Sprichwort weist uns den wissenschaftlichen Weg des Fragenstellens. Bergson hat uns mit seiner Philosophie der Differenz dazu angehalten, durch das Stellen der richtigen Fragen die Differenz als den wahren Anfang zu finden (vgl. S. 57). Nun gilt es, zu den drei „Filterlinien“ Suchanfragen an die Fachphilosophie zu formulieren.

Dazu wird die obige Tabelle zunächst zeilenweise abgelesen. Dadurch ergeben sich drei Linien, die ich als „Filterlinie“ bezeichne.

Filterlinie 1 „Erleben“

Bei der ersten „Filterlinie“ des Erlebens geht es darum, die Fachphilosophie daraufhin zu befragen, ob sie Aussagen zum Erleben des Faches macht. Das Erleben setzt zunächst ein bewusstes Wahrnehmen voraus, ein Wahrnehmen insbesondere des Schönen. „Das Schöne“ in der ersten Filterlinie steht stellvertretend für alles, was uns bei der Wahrnehmung emotional berührt, uns aufregt, anregt zum Nachdenken, zum Fragenstellen, zum Staunen. Es steht für den Anteil der ganzheitlichen Bildung, der bei Pestalozzi mit „Herz“ bezeichnet wird. Psychologisch gesehen steht das „Schöne“ für das, was uns motiviert, was unsere Bedürfnisse anspricht (vgl. SDT-Theorie, S. 107). Das „Erleben“ lässt sich differenzieren in ein unbewusstes, ganzheitliches Erleben, bei dem die Wahrnehmungen noch nicht ins Bewusstsein gelangen und ein Erleben, bei dem die ausgelösten Gefühle und somatischen Marker so stark sind, dass das Bewusstsein eingeschaltet wird, weil ein kognitiver Konflikt, eine starke Faszination, Begeisterung oder auch Empörung ausgelöst wurde (vgl. Abschn. 2.2.3.3). Schließlich macht die „Filterlinie“ auch Aussagen über die Gegenstandsbereiche Natur und Kultur. Jedes Fach hat sich zu fragen, welche Sicht es auf Natur und Kultur hat. Weitere Suchanfragen der Fachdidaktiken an die Fachphilosophie sind:

Gibt es Aussagen zur Wahrnehmung der Fachgegenstände?

Gibt es Aussagen zu den angesprochenen Sinnen?

Gibt es (kin-)ästhetische Bezüge, die sich durch das Fach herstellen lassen?

Gibt es Gegenstände und Fragestellungen des Faches, die in dem Sinne be-geistern, dass die Wahrnehmungen bewusstwerden?

Welche Bedürfnisse des Menschen lassen sich durch das Fach besonders ansprechen?

Gibt es Hindernisse für die Wahrnehmung und das Erleben?

Welche Haltungen beim Erleben können mit Hilfe des Faches langfristig aufgebaut werden?

Filterlinie „Verstehen und Verständigung“:

„Das Wahre“ als Schwerpunkt dieser „Filterlinie“ steht für alles, was kognitiv analysiert, erklärt und damit verstanden werden kann. Es steht für die wissenschaftlichen Anteile eines Faches, für fachliche Systematik, für Struktur und für Wahrheit, die unabhängig nachprüfbar ist. Das „Wahre“ gewinnt im Zeitalter von fake-news und hate-speech, die durch Algorithmen der sogenannten social media in den Filterblasen nach oben gespült werden und zunehmend auch zur Bedrohung der Demokratie werden können, zunehmend Bedeutung für Bildung und Erziehung.

„Verständigen“ steht für die Ko-Konstruktion von Verstehen, für die Kommunikation über das jeweils Verstandene und damit auch für die Fachsprache, die das Verstandene im Sinne Wagenscheins abschließt. Auch hier sind beide Gegenstandsbereiche zu berücksichtigen, wobei die Besonderheit der Kultur als Gegenstandsbereich darin besteht, dass „das Wahre“ hier nicht eindeutig im Sinne der Wissenschaftlichkeit ist. Bei Kultur als Gegenstandsbereich wird besonders deutlich, dass sich die Trias des Wahren, Guten und Schönen nicht trennen lässt, denn auch das Gute und Schöne haben einen Kern des Wahren, der bei der Enkulturation in der Schule erfahrbar werden muss und durch Metakognition bewusst gemacht werden muss. Der weite Kulturbegriff erfordert das Verstehen der sozialen, geistigen und materialen Dimension der Kultur (vgl. S. 80 ff.). Diese „Filterlinie“ führt zu folgenden Suchanfragen:

Gibt es Aussagen der Fachphilosophie zum Verstehen des Faches und zu Verstehensebenen?

Lässt sich das Verstehen differenzieren in ein rein fachliches, wissenschaftliches Verstehen und ein Verstehen der kulturellen Komponente des Faches?

Wird durch das Fach eher die soziale, materiale oder geistige Dimension der Kultur abgedeckt?

Welche Möglichkeiten des Selbstverstehens eröffnen sich durch das Fach?

Welche Möglichkeiten der Verständigung mit anderen Menschen bietet das Fach?

Filterlinie „Handeln und Gestalten“:

„Das Gute“ verweist auf die ethische Dimension unseres Handelns und auf die Wertdimension der kulturellen Hervorbringungen. Das verantwortliche Handeln setzt Bewertungs- und Beurteilungsmaßstäbe voraus, die zu begründeten Handlungen im Zielkonflikt führen.

Suchanfragen zur 3.“Filterlinie” sind:

Welche Formen des kreativen und verantwortlichen Handelns eröffnet das Fach?

Welche ethischen Bezüge lassen sich durch das Fach herstellen?

Welche (kin-)ästhetischen Gestaltungskriterien bietet das Fach?

Welche Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht das Fach?

Welche Erfahrungen der Kommunikation und Kooperation sind möglich?

Welche Haltungen beim Gestalten können mit Hilfe des Faches langfristig aufgebaut werden?

Als dritte Stufe der Modellierung wird nun das Modell, das Gültigkeit für alle Fächer haben soll, exemplarisch auf Technik angewendet, um zu überprüfen, ob die Ziele der Modellbildung am Beispiel der Technik erreicht werden können.