Menschen sind bei ihrer Geburt noch vollkommen hilfsbedürftig und abhängig und entwickeln sich durch Bildung und Erziehung zu eigenständigen, selbstbestimmten und verantwortlich handelnden Mitgliedern der Gesellschaft.

Dazu sind informelle und institutionalisierte Bildungs- und Erziehungsprozesse notwendig, die einerseits das Individuum zu einer freien, autonomen und selbstbestimmten Person werden lassen, andererseits diese Person in die Kultur, die Regeln und Normen der Gesellschaft einführen. Institutionalisierte Bildungs- und Erziehungsprozesse sind immer mit Zielsetzungen verbunden, auch wenn diese nicht explizit formuliert werden.

„Pädagogisches Tun ist gerichtetes Tun; es enthält ein Sinnziel. Man kann aber sagen: Lassen wir das Ziel zunächst auf sich beruhen, und verständigen wir uns über die ersten Wegstrecken. Das »Ziel« steckt in allem, was »Weg« heißt; schon in den ersten Schritten“ (Guardini 1965, 8 f)

Im Sinne Guardinis sollte zunächst das Ziel des Pädagogischen Tuns geklärt werden. Wenn im Zentrum aller Bildungs- und Erziehungsbemühungen Menschen stehen, die verantwortungsvoll handelnde Individuen innerhalb der Gesellschaft werden sollen, dann geht es folglich darum, vom Menschen und der Gesellschaft aus und auf den Menschen hin, Ziele und Normen für Bildung und Erziehung zu finden. Dieses Finden ist ein Setzen, ein Voraussetzen, es kann nicht deduziert werden, sollte aber transparent begründet werden.

Um in der Metapher des Vorsatzbildes zu bleiben. Wir haben den roten Faden gesponnen, der das gesamte Gewebe von Bildung und Erziehung als Kettfaden durchzieht, der Mensch als Zentrum von Bildung und Erziehung. Vom Menschen aus und auf den Menschen als Gemeinschaftswesen hin müssen alle pädagogischen Überlegungen gehen.

2.1 Bildung oder Erziehung?

Bevor wir zu den Zielsetzungen und einem Modell von Bildung und Erziehung kommen, ist zunächst zu klären, ob der Erziehungsbegriff in einer Untersuchung „im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung“ eine Rolle spielen muss. Außerdem ist zu klären, welche Begriffsbedeutungen von Bildung und Erziehung jeweils vorausgesetzt werden.

Schmayl wägt in seiner Habilitationsschrift „Pädagogik und Technik“ die beiden Begriffe Bildung und Erziehung ab und kommt zu dem Schluss:

„Der kurze Vergleich deutet auf Bildung als für unsere Fragestellung einschlägigere Kategorie. Darum soll sie unser Leitbegriff für die pädagogische Erschließung der Technik sein“ (Schmayl 1989, 122).

Weiter unten stellt er jedoch fest:

„Die erstrebte Kundigkeit in der Sache muss dem Subjekt zugute kommen, muss seine allgemeine Menschlichkeit entwickeln helfen. Deshalb muss Bildung mit Erziehung verknüpft sein, müssen Bildungsentwürfe stets auch erzieherische Elemente enthalten“ (a.a.O., S. 122 f.).

Diese Verknüpfung von Bildung und Erziehung wollen wir nun verfolgen und fragen uns, ob „erzieherische Elemente“ ausreichen, oder ob Erziehung ein gleichberechtigter Leitbegriff neben Bildung sein muss.

2.1.1 Ist Erziehung nicht mehr zeitgemäß?

Die Zukunft gehört denen, die der nachfolgenden Generation Grund zur Hoffnung geben (Pierre Teilhard de Chardin)

Die Besonderheit des deutschen Sprachraums ist die begriffliche Trennung von Bildung und Erziehung. Im englischsprachigen Raum wird der Begriff „education“ verwendet, der sowohl Bildung als auch Erziehung umfasst und beide nicht nur auf Schule bezieht, sondern auf die gesamte Lebensspanne, wie es die folgende Worterklärung zum Ausdruck bringt:

„education: a process of teaching, training and learning, especially in schools, colleges or universities, to improve knowledge and develop skills“ (Oxford Advanced Learner’s Dictionary 2015, B2-C2:490).

Aber auch im deutschen Sprachraum wandelt sich Sprache und die Benutzung von Begriffen ständig, der Erziehungsbegriff wird zunehmend durch den Bildungsbegriff verdrängt. Betrachtet man als einen möglichen Indikator für Bedeutungsverschiebungen die Benennung der Ausbildungsstätten und Fachbereiche für die Lehrerbildung, dann entwickelte sich am Beispiel des Standorts Essen aus der Pädagogischen Akademie Essen-Kupferdreh (seit 1946) die Gesamthochschule Essen (seit 1972) mit einem erziehungswissenschaftlichen Teilstudium für Lehramtskandidaten (ETL), das an der heutigen Universität Duisburg-Essen (seit 2003) „Bildungswissenschaften“ (BilWis) heißt. Die Benennungsreihe „Pädagogik-Erziehungswissenschaften-Bildungswissenschaften“ ist zugleich auch eine Bekenntnisreihe, zu einem Verständnis von Bildungs- und Erziehungsprozessen im Zeitenlauf. Brezinka schreibt zur Pädagogik als „praktische Kunstlehre“:

„Ähnlich wie schon lange erzogen worden ist, bevor Theorien über Erziehung entstanden sind, hat es längst praktische Theorien für Erzieher gegeben, ehe man die Erziehung wissenschaftlich zu erforschen begonnen hat. Die praktischen Theorien sind viel älter als die wissenschaftliche Theorie der Erziehung. Im deutschen Sprachgebiet waren für sie die Bezeichnungen „Erziehungslehre“ oder pädagogische „Kunstlehre“ gebräuchlich. […] Unter „Kunstlehre“ wurde dabei ein Wissen verstanden, das auf das Handeln gerichtet ist“ (Brezinka 1975, 166 ff).

Eine „Pädagogische Akademie“ stand ganz in der Verpflichtung, die auszubildenden Volksschullehrer handlungsfähig zu machen für die pädagogische Praxis.

Aus den Erziehungslehren gingen die Erziehungswissenschaften hervor, die aufbauend auf vorwissenschaftlichen Meinungen der Erziehungslehren, beobachtbare Tatsachen einer kritischen Überprüfung und Diskussion unterzogen. Trotz der Verwissenschaftlichung bleibt bis heute das Problem bestehen, wie man aus wissenschaftlichen Aussagen Konsequenzen für das konkrete pädagogische Handeln ableiten kann. Dazu schreibt Brezinka:

„Die wertende Interpretation der konkreten historischen Situationen, in denen erzogen werden muß, und die Formulierung von Normen und Handlungsanweisungen für Erzieher werden auch künftig notwendig bleiben. Deshalb lässt sich auf die „praktische Pädagogik“ nicht verzichten“ (Brezinka 1975, 171).

„Erwachsenenpädagogik“, „lebenslanges Lernen“, „Lehrerausbildung“ sind nur drei exemplarische Begriffe, die verdeutlichen, dass „praktische Pädagogik“ nicht nur in Schule und bis zu einem definierten Alter stattfindet, sondern lebenslang. Die damit verbundenen Vermittlungen sind immer auch mit einem hierarchischen Gefälle zwischen Lehrenden und Lernenden verbunden.

Daher soll im Folgenden ein präzisierter und erweiterter Erziehungsbegriff nach Brezinka zu Grunde gelegt werden.

„Mit „Erziehung“ sind Handlungen gemeint durch die Erwachsene („Erzieher“, „Lehrer“) versuchen in den Prozeß des Werdens heranwachsender Persönlichkeiten […] einzugreifen, um Lernvorgänge zu unterstützen oder in Gang zu bringen, die zu Dispositionen und Verhaltensweisen führen, welche von den Erwachsenen als sein-sollend oder erwünscht angesehen werden. Für die gegenseitige Verständigung der Erziehungspraktiker wie für wissenschaftliche Zwecke scheint es mir allerdings nützlich zu sein, diese traditionelle Begriffsbestimmung so zu erweitern, daß auch Handlungen mit der angegebenen Intention, die von Erwachsenen auf Erwachsene gerichtet sind, sowie die entsprechenden Handlungen Jugendlicher, die auf Kinder oder andere Jugendliche abzielen, eingeschlossen werden. Es kommt weniger auf Unterschiede des Alters oder der sozialen Stellung an, als auf solche des Wissens und Könnens der relativen Selbständigkeit und Mündigkeit. Erzieherisches Verhalten setzt wenigstens in einer Hinsicht ein Gefälle oder einen Niveauunterschied in der Leistungsfähigkeit, der sozialen Reife oder der moralischen Qualität der beteiligten Personen voraus. Da auch Erwachsene nie in jeder Beziehung vollkommen sind, ist es für sie auf vielen Gebieten möglich und zum Teil sogar notwendig (Berufswechsel, Bewältigung von Lebenskrisen usw.), lebenslang weiterzulernen“ ((Brezinka 1975, 26 f) Hervorh.THM).

Er enthält alle Elemente, die wahrscheinlich auch dazu beigetragen haben, dass der Erziehungsbegriff aus der Bildungslandschaft weitgehend verschwunden ist:

Erziehungsprozesse haben immer einen normativen Charakter („sein-sollend oder erwünscht“). Darin verbirgt sich die Frage, wer diese Normen festsetzt und das Erwünschte definiert. Eine einseitige, individuelle, undemokratische Festsetzung von Normen führt leicht dazu, dass Erziehung den Charakter von Zwang annimmt. Erziehung hat also immer einen potenziell überwältigenden Charakter, der mit Selbstbestimmung einer Person unvereinbar ist. Wenn man auf die praktische Pädagogik nicht verzichten kann, dann stellt sich die Frage, warum der Erziehungsbegriff immer mehr aus den pädagogischen Debatten verschwindet.

In einer Gesellschaft, in der Individualität vordergründig das Maß aller Dinge ist, scheint ein Begriff wie Erziehung unzeitgemäß zu sein. Erziehung scheint mit den Forderungen nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, mit persönlicher Freiheit und Würde unvereinbar zu sein. Was als Individualität dargestellt wird, ist in Wahrheit nur die Hülle einer Ideologie, die dem Einzelnen die Verantwortung für Erfolg oder Scheitern seines Lebens selbst zuschiebt und ansonsten die individuelle Selbstverwirklichung vor allem mit einem Versprechen koppelt. Dem Versprechen, dass individuelles Glück und Zufriedenheit käuflich sind. Die Verlagerung von Verantwortung auf das Individuum ist vor allem dann fahrlässig, wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt. Reichenbach kritisiert daher die Verschiebung von Verantwortung und deren Vertuschung durch kaschierendes Vokabular.

„Eigenständiges Lernen, selbstständiges Lernen, selbstreguliertes Lernen und all diese Vokabeln: Sie zeigen, dass hier eine ältere Generation der jüngeren mitteilt: „Wir sind es dann nicht gewesen, wir haben dir die Möglichkeiten gegeben, du hast daraus nichts oder zu wenig gemacht!“ Das ist die Verschiebung von Verantwortung, vertuscht und kaschiert im Kleid der Gleichheit und Gleichberechtigung“ (Reichenbach 2018, 33).

Damit knüpft Reichenbach an die Rede Hannah Arendts, „Die Krise in der Erziehung“, aus dem Jahre 1958 an. Sie führt den Autoritätsverlust im privaten Bereich und der Schule auf einen Autoritätsverlust im Politischen und eine damit verbundene Unzufriedenheit mit der Welt zurück.

„Deutlicher […] konnten moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen an dem Bestehenden gar nicht kundgeben als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen“ (Arendt 2012, 272)

Ist es nur die Unzufriedenheit mit der Welt und die daraus resultierende fehlende Verantwortungsbereitschaft, fehlt es uns an „pädagogischer Leidenschaft“ oder ist es das „Ideal der Friktionslosigkeit“ (Reichenbach 2018, 42), das zu einem nur scheinbaren Angleichen von Ungleichheit, einem scheinbaren Herstellen von Symmetrie führt, wo Asymmetrie herrscht? Reichenbach beschreibt die Folgen der „Pseudosymmetrie“ treffend:

„Doch der Preis für solche Pseudosymmetrie ist das Verschwimmen der lebensphasentypischen Aufgaben, Pflichten, Freiheiten und Selbstinterpretationen. Emotionale Überforderung und moralische Unterforderung gehen ebenso Hand in Hand wie die Behandlung der Kinder als kleine Erwachsene mit der Infantilisierung des Erwachsenenalters, dieser peinlichen Verdammung zur lebenslänglichen Post-Adoleszenz, mit welcher wir leider nur allzu gut vertraut sind“ (Reichenbach 2018, 43).

Es gilt, wieder Verantwortung zu übernehmen, Asymmetrie in Kauf zu nehmen und den Begriff der Erziehung wieder mit Leben zu füllen

Worin besteht nun die Aufgabe von Erziehung in der zunehmend komplexer werdenden Welt?

Hannah Arendt sieht im Konservativen ein Wesenszug der Erziehung, wenn sie sagt:

„Das Konservative im Sinne des Konservierenden scheint mir im Wesen der erzieherischen Tätigkeit selbst zu liegen, deren Aufgabe es immer ist, etwas zu hegen und zu schützen- das Kind gegen die Welt, die Welt gegen das Kind, das Neue gegen das Alte und das Alte gegen das Neue“ (Arendt 2012, 273)

Damit spricht sie sich auch gegen alle Ansätze aus, die Rousseau‘schen Vorstellungen folgend eine neue Welt dadurch schaffen wollen, indem sie diese in der Schule „im Modellmaßstab“ einrichten und damit Kinder mit Problemen konfrontieren, die Erwachsene zu lösen nicht imstande sind (vgl. (Arendt 2012, 259)). Ähnlich problematisch ist Klafkis Idee, epochaltypische Schlüsselprobleme in der Schule lösen zu wollen (vgl. (Klafki 2007, 56)). Wir nehmen der nachwachsenden Generation damit einerseits die Möglichkeit, selbst zu definieren, worin das Neue bestehen soll, die Möglichkeit, die Welt nach eigenen Vorstellungen umzugestalten und weiterzuentwickeln, andererseits bürden wir ihr die Probleme auf, die wir selbst nicht lösen können oder wollen.

„Aber auch die Kinder, die man zu Bürgern eines utopischen Morgen erziehen will, schließt man in Wahrheit aus der Politik aus. Indem man sie auf etwas Neues vorbereitet, schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand“ (Arendt 2012, 258).

Diese Dialektik von Erhalten und Verbessern trieb schon Schleiermacher um. Er kam 1826 zu dem Schluss:

„Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (Schleiermacher 1983, 31).

Auch Landmann sieht diese Doppelaufgabe von Erziehung, wenn er schreibt:

„Plastizität und Originalität, übernehmendes Hineinwachsen in das Frühere und tätiges Gestalten eines Neuen, dies beides […] sind die Rhizomata des Menschen, und beides muß daher auch in der Erziehung zu seinem Recht kommen“ (Landmann 1961, 101).

Worin besteht nun der Kern von Erziehung?

Geht man von dem gemeinsamen Gedanken Schleiermachers und Arendts des Konservierenden aus, so finden sich in den Verfassungen des Bundes und der Länder Zielformulierungen zu dem Schützenswerten und Erhaltenswerten. Ein Vergleich verschiedener Verfassungen zeigt, dass historische und politische Entwicklungen Einfluss auf diese Ziele nehmen. Exemplarisch seien hier die Erziehungsziele aus zwei Verfassungen zitiert:

Artikel 131 der Bayrischen Landesverfassung vom 2.Dezember 1946 (Absatz 2 geändert am 20.6.1984 mit der Aufnahme des Naturschutzes in die Landesverfassung):

  • „(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.

  • (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt.

  • (3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.

  • (4) Die Mädchen und Buben sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.“

Quelle: https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayVerf-131 (letzter Zugriff: 9.8.2021; 15:08 Uhr

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949:

  • „ARTIKEL 37

  • Die Schule erzieht die Jugend im Geiste der Verfassung zu selbständig denkenden, verantwortungsbewusst handelnden Menschen, die fähig und bereit sind, sich in das Leben der Gemeinschaft einzuordnen.

  • Als Mittlerin der Kultur hat die Schule die Aufgabe, die Jugend im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker und einer echten Demokratie zu wahrer Humanität zu erziehen.“

(Quelle: https://www.verfassung-deutschland.de/ddr-verfassung/ddr49.htm ; letzter Zugriff: 14.8.2022 14:58)

Die in den Verfassungen formulierten Erziehungsziele spiegeln Werteorientierungen im historischen Kontext der Entstehungszeit wider.

„Als Ausdruck ganz bestimmter historischer Erfahrungen sind sie dennoch nicht ohne Weiteres im Sinne eines Konsenses auf unsere Zeit übertragbar, sondern bedürfen aktueller Deutung und einer pädagogischen Konkretisierung im schulischen Rahmen“ (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2016, 22 f).

Gemeinsame, zeitinvariante Elemente dieser Zielformulierungen sind:

  • Die Achtung der Würde anderer Menschen, die sich im verantwortlichen Handeln zeigt.

  • Der verantwortliche Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, der belebten und unbelebten Natur.

  • Vermittlung der Kultur, auch der politischen.

Ich fasse diese drei Zielbereiche zu dem Begriff der Enkulturation zusammen.

Unter Enkulturation soll verstanden werden:

„In Abgrenzung zum übergreifenden Begriff der Sozialisation und zum verwandten der AkkulturationFootnote 1 aus der Kulturanthropologie übernommene Bezeichnung für den Prozess, in dem der Mensch von frühester Kindheit an kontinuierlich und zunehmend differenzierter die für seine Gesellschaft insgesamt und insbesondere für die sozialen Gruppen charakteristische kulturelle Lebensweise erlernt, in denen er lebt, deren Regeln und Symbole, Normen und Werte, Sprache und Ordnung er übernimmt und anerkennt und, unter Mitwirkung der Erziehung, deren kulturelle Kompetenz erwirbt“ (Hervorh. THM) (Böhm und Seichter 2018, 139 f).

Die Begriffsdefinition des pädagogischen Wörterbuchs geht maßgeblich auf Wurzbacher zurück, der die drei Begriffe Sozialisation, Enkulturation und Persönlichkeitsbildung voneinander abgrenztFootnote 2.

Die obige Definition geht von einem eng begrenzten Kulturraum aus, der für die „sozialen Gruppen“ und für die Gesellschaft des zu enkulturierenden Individuums gilt. Davon kann im Zeitalter der Globalisierung, der Migration und weltweiten Verflechtung von kulturellen Strömungen keine Rede mehr sein.

Inzwischen muss der Kulturraum global gefasst werden, aber jeweils regional zugeschnitten werden, denn ohne den Aspekt des interkulturellen Lernens ließe sich kaum vermitteln, warum das Fremdsprachenlernen einen so breiten Raum in der Schule einnimmt. Ein lange Zeit ausgeblendeter Aspekt in der deutschen Schullandschaft stellt die Akkulturation dar, „die Anpassung an eine zweite oder dritte Kultur, wie sie bei Immigration, Gastarbeitern und Berufstätigen mit längerem Auslandsaufenthalt stattfindet“ (Oerter 2014, 132). Je nachdem ob nur die eigene Kultur oder die fremde Kultur oder beide als wertvoll angesehen werden, prägen sich verschiedene Formen der Akkulturation aus (Tabelle 2.1).

Tabelle 2.1 Vier Formen der Akkulturation (nach Berry, 1988, zitiert nach (Oerter 2014, 159))

Dass für eine gelingende Integration die Sprache als wesentliches Kulturelement in allen Fächern von besonderer Bedeutung ist, wurde für die Schule recht spät erkannt, spiegelt sich aber inzwischen in umfangreichen Ausarbeitungen zum Thema „sprachsensibles Unterrichten“ wider.

Enkulturation geht weit über den Begriff der Tradierung hinaus, von der Heinrich Roth sagt:

„Der Wiedererwerb der Erfahrungen der vorausgehenden Generationen macht ihn (Anm.THM: den Menschen) noch nicht zu dem, was ihn als geistiges Wesen bestimmt“ (Roth 1966a, 133).

Die höhere geistige Stufe, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, die Kultur ermöglicht, ist nach Roth erst durch die „Tradierung des Geistes selbst“ (ebd.) möglich.

„Der Mensch bedarf der Tradierung des Geistes selbst, der die Voraussetzungen für dieses schöpferische Schaffen ist. Wir verwenden den Begriff des Geistigen hier für das Kulturverstehende und Kulturerzeugende im Menschen, d.h. für das Erfinderische, Entdeckerische, Schöpferische in ihm, und meinen dies nicht im Sinne genialen schöpferischen Schaffens, sondern auch im Sinne des alltäglichen schöpferischen Entdeckens“ (Roth 1966a, 133).

Enkulturation kann daher nicht allein Aufgabe der Schule sein, sondern setzt schon sehr viel früher ein und wird von verschiedenen Institutionen wahrgenommen.

Abschließend sei die Frage der Kapitelüberschrift eindeutig beantwortet.

Erziehung im Sinne der Enkulturation ist und bleibt notwendig und ist stets zeitgemäß, es kommt jedoch darauf an, sich immer wieder von Neuem über die Ziele von Erziehung zu verständigen. Dies ist ein gesellschaftlich notwendiger Prozess, insbesondere im konkreten Handeln in den Erziehungsinstitutionen. Sofern dieser nicht explizit stattfindet, besteht die Gefahr, dass Erziehungsziele implizit, „hypnopädisch“Footnote 3, intransparent in die Erziehungsinstitutionen einsickern und das Handeln der Erzieherinnen und Erzieher nur unbewusst steuern.

Insbesondere die Verständigung über Normen und Werte und über verantwortliches Handeln scheint wegen der oben angedeuteten „Verantwortungsdiffusion“ nötiger denn je und das in allen Schulfächern und Schulformen.

2.1.2 Bildung, ein allumfassender Containerbegriff?

Container haben im Zeitalter der Globalisierung und der internationalen Warentransporte eine überragende Bedeutung erlangt. Durch ihre Normierung sind sie mit zahlreichen Transportsystemen kompatibel und man sieht ihnen bei gleichem Aussehen ihre unterschiedlichen Inhalte nicht an. Wenn daher in der Überschrift von einem Containerbegriff gesprochen wird, dann ist damit einerseits die Universalität des Begriffs gemeint, andererseits die Unklarheit über den Inhalt.

Problematisch wird es dann, wenn das Äußere Assoziationen hervorruft, der versteckte Inhalt aber nicht hält, was die Assoziationen versprechen.

Besonders augenfällig ist dies beim Begriffspaar der digitalen Bildung. Nimmt man dieses Begriffspaar wörtlich, so wäre diese Bildung ein Armutszeugnis, denn es wäre eine „in Ziffern dargestellte, ziffermäßige, in Stufen erfolgende“ (Scholze-Stubenrecht 2006, 320) Bildung. Das ist offensichtlich nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr, die nachwachsende Generation fit zu machen in der Anwendung und Nutzung digitaler Medien. So wird in der Digitalstrategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) als Ziel formuliert:

„Wir verbessern die digitale Bildung und Ausbildung in allen Bildungseinrichtungen […] Ziel ist die digital und medial kompetente, verantwortungsbewusste, selbstständig handelnde Persönlichkeit“ (BMBF (Hrsg.) 2019, 6).

Bei der Definition digitaler Kompetenz treten Nützlichkeitsansprüche offen zutage:

„Digitale Kompetenz bedeutet, Medien und Informationen zielgerichtet auszuwählen, zu bewerten, für die eigenen Arbeits- und Kommunikationsprozesse zu nutzen und eigene Inhalte in digitaler Form für andere aufzubereiten(BMBF (Hrsg.) 2019, 18).

Die so verstandene Bildung ist ein Gebildet-werden also eine transitive Bildung, die eher als Ausbildung bezeichnet werden sollte.

„Im so verstandenen Bildungsprozess wird man belehrt und beschult, man lernt, erwirbt Kompetenzen und Qualifikationen“ (Schlagenhauf 2017, 5).

Das Bildungsverständnis, das wir am Beispiel der „digitalen Bildung“ aufgezeigt haben, lässt sich den materialen Bildungstheorien zuordnen, die ihren Schwerpunkt auf der Objektseite, der inhaltlichen Seite haben.

Gleichzeitig lässt sich dieser Bildungsbegriff als utilitaristisch klassifizieren, d.h., dass „die Güte einer Handlung nach der Nützlichkeit ihrer Folgen bewertet wird“ (Schmidt 2009, 733).

Im Gegensatz dazu steht das Bildungsverständnis der formalen Bildungstheorien, die das Subjekt in den Mittelpunkt des Bildungsprozesses rücken.

Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. (Bieri 2005, 1)

Dieses reflexive Bildungsverständnis Bieris geht auf die klassisch-neuhumanistischen Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts zurück und sieht Bildung als einen lebenslangen Prozess, als „den Weg der Individualität zu sich selber“ (Blankertz 1982, 101).

„Humboldt verstand Individualität als innere Formkraft, mit der der Mensch das Aufgefaßte in das eigene Wesen verwandelt. Dabei dachte er stets an einen Doppelgesichtspunkt, nämlich daß einerseits der Mensch diese Form dem Inhalt (Welt) aufprägt, daß die Individualität eine jeweils spezifische Sicht der Welt bedingt, daß aber andererseits die Welt als Bewußtseinsinhalt die individuelle Form erst zur sinnlichen Erscheinung bringt“ (Blankertz 1982, 101 f).

Die zentrale Bedeutung zur Erlangung von Individualität spielte für Humboldt die Sprache, weil sie diese Doppelfunktion erfüllt, einerseits „Medium des Allgemeinen“, „Instrument des Logos (Vernunft)“ zu sein, andererseits aber auch konstitutiv für die Entstehung des individuellen Geistes zu sein (vgl. Blankertz,1982, 102). Die inhaltliche Komponente der zunächst formalen Bildungstheorie bildete die Theorie des Klassischen. Der zwischen der subjektiven Seite und objektiven Seite vermittelnde Zentralbegriff ist die Humanität. Den Ursprung der Humanität sah Humboldt bei den Griechen, die als „eine angefangene Nation Humanität in reiner Form verwirklichen konnten“ (Blankertz 1982, 104).

Humboldt sah aber die Beschäftigung mit den Griechen nur als exemplarische Methode der intensiven Beschäftigung mit der Menschwerdung an. Wie so oft, wenn Bildungstheorien in schulische Praxis umgesetzt werden, entstanden Missverständnisse und Einseitigkeiten in der Umsetzung. Das rein formale Sprachenlernen und die zunehmende Verwissenschaftlichung der höheren Schulen führten zu einem Objektivismus, bei dem „der Bildungswert der Bildungsinhalte- sprich Wissensinhalte- ausschließlich in der wissenschaftlichen Struktur der Inhalte liegt“ (Klafki 1974, 28). Diese Einseitigkeit war von Humboldt keineswegs intendiert, wie man folgendem Zitat zum Weg der höheren Schulen zu ihrem ZielFootnote 4 entnehmen kann:

„Ihr Weg, dahin zu gelangen, ist einfach und sicher. Sie muss nur auf harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten in ihren Zöglingen sinnen; nur seine Kraft in einer möglichst geringen Anzahl von Gegenständen an, so viel möglich, allen Seiten üben, und alle Kenntnisse dem Gemüth nur so einpflanzen, dass das Verstehen, Wissen und geistige Schaffen nicht durch äussere Umstände, sondern durch seine innere Präcision, Harmonie und Schönheit Reiz gewinnt.“ (Humboldt 1809, 235).

Die Betonung liegt hier auf der allseitigen Ausbildung aller Fähigkeiten.

Die Idee der Ganzheit verfolgte auch Pestalozzi mit seiner Formel vom Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Seine Pädagogik

„hatte einen festen Ausgangspunkt im sozialen Engagement der Aufklärungspädagogik und verstand sich selbst als Beitrag zu einer Erziehung zur Industrie. Sie bestimmte im 19.Jahrhundert weitgehend die deutsche Volksschule und im Anfang des 20.Jahrhunderts die Sozialpädagogik; sie war desinteressiert an allen geistaristokratisch- elitären Komponenten und stand insofern in einer gewissen Spannung zum neuen Humanismus der Deutschen Klassik“ (Blankertz 1982, 105).

Sowohl die Humboldt‘schen Vorstellungen als auch Pestalozzis Kopf, Herz und Hand-Metapher werden durch neue bildungswissenschaftliche Erkenntnisse wiederbelebt.

Eine vorüberkehrende Abkehr von und Kritik an den materialen Bildungstheorien erfolgte durch die zahlreichen Einzelinitiativen der Reformpädagogik Ende des 19., Anfang des 20. Jh. (Jugendbewegung, Kunsterziehungsbewegung, Arbeitsschulbewegung, Landerziehungsheime, Waldorfpädagogik u. a.). Will man Gemeinsamkeiten der verschiedenen Reformbestrebungen benennen, so lässt sich eine verstärkte Hinwendung zum Bildungssubjekt zu einer formalen Bildung erkennen, eine Abkehr von der materialen, inhaltlich orientierten Bildungsidee.

Kalfki hat in seiner Dissertation 1957 den Gegensatz von formaler und materialer Bildung dialektisch zu dem Ansatz der Kategorialen Bildung verschränkt.

„Bildung ist also „k a t e g o r i a l e B i l d u n g in dem Doppelsinn, daß sich dem Menschen eine Wirklichkeit kategorial erschlossen hat und daß eben damit er selbst- dank der selbstvollzogenen kategorialen Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist“ ((Klafki 1964, 298),Hervorh. i.Orig.).

Mit diesem Ansatz hat er der allgemeinen Didaktik und den Fachdidaktiken eine Aufgabe gegeben, die er in seiner 1959 verfassten „Zweite(n) Studie: Kategoriale Bildung“ als ein Forschungsdesiderat formulierte:

„Der Didaktik erwächst aus den vorangegangenen Erwägungen die Aufgabe einer eigenständig pädagogischen Struktur- und Kategorialforschung, die von der geschichtlich gegebenen Bildungswirklichkeit und von den angesichts dieser Wirklichkeit erwachsenen Bildungsaufgaben auszugehen hätte“ (Klafki 1974, 45).

Einen eigenen Beitrag dazu hatte Klafki bereits 1958 durch seine fünf Fragen zur Didaktischen AnalyseFootnote 5 für die konkrete unterrichtliche Praxis geleistet.

Für diese Untersuchung ist an späterer Stelle zu klären, worin die fachspezifischen pädagogischen Strukturen und Kategorien bestehen (vgl. Kap 6), um „das Bezugssystem zu entwickeln, angesichts dessen die Auswahl des Elementaren, Exemplarischen, Typischen… getroffen werden kann“ (Klafki 1974, 45).

Trotz der epochalen Wirkung der Theorie der kategorialen Bildung wurden einige Kritikpunkte und Fragen geäußert, so die

„nach der Rolle des Sozialen und nach der Beziehung von Mündigkeit und Sachverständigkeit“ und nach der Unbestimmtheit „von Selbst- und Fremdkonstitution“ (Böhm und Seichter 2018, 257).

In den „Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ greift Klafki diese Desiderate auf und formuliert den Ansatz einer kritisch-konstruktiven Didaktik, der forschungsmethodisch den historisch- hermeneutischen, den empirischen und den gesellschaftskritisch- ideologiekritischen Ansatz miteinander verflicht (vgl.(Klafki 2007, 98 ff).

Während die „historisch-hermeneutische Interpretation „nur“ die intentionale und interpretative Seite, mit anderen Worten: die Sinngebungs- und Sinnzusammenhangsmomente der didaktischen Realität“ (Klafki 2007, 102) erfasst, bedarf es empirischer Methoden, um die didaktische Realität, z. B. das reale Verhalten von Lehrern und Schülern im Unterricht oder die „faktischen Auswirkungen (und nicht nur die Absichten, die Sinngebungen) eines Curriculums“ (Klafki 2007, 103) zu erforschen.

Klafki beschreibt ausführlich die Verflechtung von Hermeneutik und Empirie und bezeichnet es als „fundamentale Irrtümer“, wenn Empirie meint

„sich von Hermeneutik als vermeintlichem Gegensatz oder als Vorstufe von Wissenschaft distanzieren zu müssen. Sie verkennt dann nämlich, daß sie, die empirische Forschung und ihre „Gegenstände“, sozusagen voller hermeneutischer Probleme stecken, gleichsam von Hermeneutik durchzogen und umklammert sind“ (Klafki 2007, 104).

Für diese Untersuchung mit überwiegend hermeneutischem Charakter heißt dies, Ziele so klar zu formulieren, dass daraus empirische Fragestellungen ableitbar sind, die eine Zielerreichung überprüfbar machen.

Fehlt noch die Verflechtung mit dem gesellschaftskritischen- ideologiekritischen Ansatz, der davon ausgeht, dass

„didaktische Fragestellungen und Zusammenhänge- wie pädagogische Praxis und Theorie der Erziehung im ganzen- in umgreifende ökonomische, soziale, politische, kulturelle Verhältnisse und Prozesse verflochten sind“ (Klafki 2007, 109).

Da dieses „gesamtgesellschaftliche Beziehungsgefüge“ (a.a.O.) einem stetigen Wandel unterliegt, besteht eine Aufgabe der Allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktiken darin, die Invarianten, das zeitlich Überdauernde herauszufiltern, die andere Aufgabe besteht in der Anpassung von Konzepten an sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen, was z. B. an Lehrplanrevisionen abzulesen wäre.

Ein erklärtes Ziel dieser Untersuchung ist es, das „Ganze der Technik“ in seinem pädagogischen Kern zu erfassen, das Dauerhafte zu identifizieren.

Welche Konsequenzen hat dies für den Begriff der Allgemeinbildung und deren Zielbestimmung?

Die drei Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung nach Klafki, „Bildung für alle“ zu sein, einen „verbindlichen Kern des Gemeinsamen“ zu haben und als „Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ verstanden zu werden (Klafki 2007, 53 f) finden sich in analoger Form auch in der Zeit vor dem Mauerfall bei Klingberg. Er schreibt zu den drei Merkmalen sozialistischer Allgemeinbildung:

„Erstes Merkmal: Sozialistische Allgemeinbildung ist hohe Bildung für alle. In diesem Merkmal kommt der tiefe Humanismus der sozialistischen Auffassung von Bildung zum Ausdruck. […] Zweites Merkmal: Sozialistische Allgemeinbildung ist universale Bildung. […] Universalität der Bildung heißt allseitige, harmonische Bildung der Persönlichkeit. Drittes Merkmal: Sozialistische Allgemeinbildung ist wissenschaftliche Grundlagenbildung. Allgemeinbildung im Sinne dieses Merkmals heißt: Vermittlung beziehungsweise Aneignung der Grundlagen der Wissenschaft, der Technik und Kultur […] im Sinne des Grundlegenden, des Wesentlichen, des Übergreifenden und Fundamentalen“ ((Klingberg 1984, 54 ff), Hervorh.THM).

Vergleicht man diese beiden „Klassiker“ der allgemeindidaktischen Literatur „West-Ost“, so fallen einerseits die Gemeinsamkeiten auf, andererseits die offensichtlich nicht eingelösten Erwartungen an eine hohe Bildung für alle, in allen Dimensionen menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten und an einem gemeinsamen Kern von Technik, Wissenschaft und Kultur.

Die schon in der Industrialisierung einsetzende Stufung der Schulformen und die dahinter liegende Grundannahme, dass für bestimmte Begabungs- und Bevölkerungsschichten nur bestimmte Bildungsanteile notwendig sindFootnote 6, hat sich zumindest im Westen ebenso tradiert, wie die Auffassung, dass eine allgemeine Technische Bildung nur an Schulformen der Sekundarstufe I notwendig ist und dort auch hauptsächlich im Sinne einer Berufsorientierung bzw. Berufsvorbereitung. Vor der Wende existierte bereits ein wissenschaftlich begründetes Konzept einer polytechnischen Bildung und Hüttner stellt zu Recht an den Prozess, „den man als Verschwinden eines real existierenden Bildungskonzepts […] beschreiben muss“ (Hüttner 2017, 76) die Frage:

„Kann und darf die Wissenschaft nahezu unkommentiert und ohne tiefgreifende Analysen möglicher erhaltens- und ausbaufähiger Ansätze und Bildungsstrategien diesen Prozess schweigend begleiten und ihn damit de facto indirekt ein Stück weit legitimieren?“ (Hüttner 2017, 76)

Wie bereits angedeutet (S. 23 f.), besteht ein erklärter Anspruch dieser Arbeit in einer Verflechtung bereits existierender wissenschaftlicher Ansätze, also auch in der Einbeziehung des polytechnischen Ansatzes.

Dennoch ist es weiterhin sinnvoll, an Allgemeinbildung den o.g. dreifachen Anspruch zu stellen. Es ist im Zusammenhang mit dem Modell einer Allgemeinen Fachdidaktik (vgl. Kap. 3) zu fragen, mit welchem Fächerkanon und mit welchen Fachinhalten und -methoden dieser Anspruch einzulösen ist und ob eine Verzahnung auf der Ebene der Fachdidaktiken zu einem wissenschaftlich fundierten Lehrplanwerk mit fächerübergreifenden Bezügen führen kann, wie es zumindest ansatzweise in der DDR erarbeitet wurde (vgl.(Neuner 1973a).

Ähnlich wie man dem Erziehungsbegriff als Zielbegriff die Enkulturation zuordnen kann, lässt der Bildung die Personalisation oder Persönlichkeitsbildung zuordnen.

Personalisation im Sinne Wurzbachers verstanden als,

„individuelle Gestaltung und Entfaltung, als Selbstformung und -steuerung der eigenen Triebstrukturen wie als sinngebende, koordinierende und verantwortlich gestaltende Rückwirkung des Individuums auf die Faktoren Gesellschaft und Kultur […]. Personalisation bedeutet somit die Ausbildung und Anwendung der menschlichen Fähigkeit zur Integration des sozialen und kulturellen Pluralismus“ (Wurzbacher 1968, 14).

Die „gestaltende Rückwirkung“ zeigt an, dass eine Wechselbeziehung zwischen Enkulturation und Persönlichkeitsbildung besteht.

Diese Wechselbeziehung kommt auch in den von Klafki beschriebenen zwei Zielformulierungen zum Ausdruck. Der erste Zielbereich umschreibt den Bereich der Persönlichkeitsbildung:

„Bildung wird also verstanden als die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit eigenen Denkens und eigener moralischer Entscheidungen. Eben deshalb ist denn auch Selbsttätigkeit die zentrale Vollzugsform des Bildungsprozesses“ (Klafki 2007, 19 ), Hervorhebungen,THM).

Wenn Klafki eine „zweite Gruppe von Bestimmungen“ mit den Begriffen

„Humanität, Menschheit und Menschlichkeit, Welt, Objektivität, Allgemeines“ umschreibt und damit meint, dass „das Subjekt nur in Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozessen mit einer Inhaltlichkeit, die zunächst nicht ihm selbst entstammen, sondern Objektivationen bisheriger menschlicher Kulturtätigkeit im weitesten Sinne des Wortes ist“ (Klafki 2007, 21),

dann lässt sich dies klar dem Bereich der Erziehung und Enkulturation zuordnen.

Selbsttätigkeit ist nicht nur „die zentrale Vollzugsform des Bildungsprozesses“ (a.a.O., 19), sondern sie kann auch, im Sinne obiger Rückwirkung auf Gesellschaft und Kultur, als Ausdrucksform, als Gestaltung, als verantwortliches Handeln zugleich evaluatives Element des Bildungs- und Erziehungsprozesses sein.

Es stellt sich die Frage, ob der Kompetenzbegriff, der in den Jahren nach dem PISA-Schock inflationär gebraucht wird, dieser „evaluative“ Begriff sein sollte, oder am Ende gar der Begriff ist, der Bildung und Erziehung zusammenfasst.

Dieser Frage gehen wir im nächsten Kapitel nach.

2.1.3 Kompetenz als neuer Schlüsselbegriff?

Durch das schlechte Abschneiden Deutschland bei internationalen Vergleichstests wie TIMMS und PISA kam es um die Jahrtausendwende im Bildungswesen relativ kurzfristig zu einem Umschwenken von einer Input- zur Outsteuerung. Der neue Schlüsselbegriff scheint nunmehr der Kompetenzbegriff zu sein. Er ist in Kernlehrplänen ebenso allgegenwärtig wie in allen Bildungsdebatten.

Ist der Kompetenzbegriff als Schlüsselbegriff geeignet?

Bevor wir diese Frage beantworten können, gehen wir kurz den zeitbedingten Schwerpunktverschiebungen in der Begriffsbedeutung des Kompetenzbegriffs nach. In Heinrich Roths Pädagogischer Anthropologie wird der Kompetenzbegriff zur Ausdifferenzierung der Mündigkeit herangezogen:

„Mündigkeit, wie sie von uns verstanden wird, ist als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinn: a) als Selbstkompetenz (self competence), d.h. als Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich handeln zu können, b) als Sachkompetenz, d.h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und c) als Sozialkompetenz, d.h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- und Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können“ (H. Roth 1976, 180).

Der so verstandene Kompetenzbegriff steht in der aufklärerische-humanistischen Tradition, was eindrucksvoll mit dem ersten Band der Pädagogischen Anthropologie Roths, „Bildsamkeit und Bestimmung“, zu belegen ist. Ein so verstandener Kompetenzbegriff umfasst sowohl das, was mit Bildung als auch mit Erziehung intendiert ist.

Der Kompetenzbegriff, wie er heute im allgemeinbildenden Bereich verstanden wird, wurde von Weinert aufgebracht und hat sich seit dem Erscheinen der sogenannten Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ (Klieme u. a. 2003) fest in der bundesdeutschen Bildungslandschaft etabliert. Er fokussierte ursprünglich auf den kleinen Ausschnitt der „Leistungsmessung in Schulen“, so der Buchtitel, in dem diese Definition erstmals auftaucht.

„Dabei versteht man unter Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2002, 27 f).

Heute steht er sinnbildlich für den durch Vergleichsuntersuchungen ausgelösten Wechsel von der Input- zur Outputsteuerung im Schulwesen. Er steht in der Praxis der Schulen und Lehrpersonen für eine zunehmende Unklarheit und Unverbindlichkeit der Inhalte. Weinert selbst schien diese Gefahr vorausgesehen zu haben, als er in Bezug auf die Streitfrage, was eigentlich gemessen werden solle, schrieb:

„Dabei geht es vor allem um die Behauptung, dass fachlichen Leistungen in Zukunft eine immer geringere, fachübergreifenden Kompetenzen aber eine ständig wachsende Bedeutung zukommen wird. Diese These ignoriert die gut belegte Tatsache, dass Fächer nicht beliebige Wissenskonglomerate darstellen, sondern sachlogischen Systeme, die Schüler aktiv und konstruktiv erwerben müssen, wollen sie schwierige inhaltliche Phänomene und Probleme tiefgründig verstehen und soll zukünftiges Lernen durch Transferprozesse erleichtert werden“ ((Weinert 2002, 27), Hervorh.THM).

Auch Gruschka ahnte sehr früh die unheilvolle Entwicklung voraus, indem er schon 2002 schrieb:

„Meine Studien werden zu belegen suchen, dass gegenwärtig weder »Stratosphärendenken«Footnote 7 noch »Hintertreppenliteratur« die Szene beherrscht, sondern Tendenzen der Entsorgung der didaktischen Probleme durch die Liquidierung des Problems der Vermittlung von Bildungsinhalten“ (Gruschka 2011, 11).

Vor allem wurde da das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wo auf inhaltliche Aussagen weitgehend verzichtet wurde und dieses „Kleinarbeiten“ den Lehrpersonen vor Ort überlassen wurde. Das führt in der Praxis zu dem bei Lehrplanwechseln immer wieder auftauchenden Problem, dass man versucht, das bisher Unterrichtete in die neue Begrifflichkeit zu kleiden, ohne den Inhalt zu ändern.

Damit wurde die eigentliche Intention konterkariert, von der engen, inputorientierten Lernzielorientierung und Wissensvermittlung, die lediglich zu totem Wissen führt, hin zu einer problemorientierten Selbstaneignung und einem langfristigen, strukturierten Kompetenzaufbau zu kommen. Dieser strukturierte Kompetenzaufbau, der durch Wiederholungsschleifen mit Üben und Anwenden auf neue Problemsituationen verbunden ist, setzt aber gut strukturierte Inhalte voraus. Dazu müssten, entgegen dem herrschenden Trend Curricula sehr viel differenzierter aufgebaut werden, möglichst über alle Schulstufen (siehe Kap. 6).

Das Fehlen schlüssiger Kompetenzmodelle und fehlender Evaluationsinstrumente führt zu weiteren Unsicherheiten im Schulbetrieb.

Der Beliebigkeit der Inhalte, die schnell dem Nützlichkeitsdiktat gehorchen und keine sachlogische Struktur mehr haben, soll diese Untersuchung entgegenwirken, indem systematisch ein Technikbegriff entwickelt wird, der einen modifizierten Ansatz für einen inhaltlichen Kanon ermöglichen soll.

Gegen die Ausbreitung der „Kompetenzpädagogik“ gibt es zahlreiche weitere Einwände und Bedenken, die vor allem durch Schmayl sehr dezidiert vorgebracht wurden (vgl.(Schmayl 2010, 28–41). Schmayls Kritik gipfelt in der Feststellung:

„Es geht ihr (der Kompetenzpädagogik, Anm.THM) nicht um das Eigenrecht des einzelnen, sondern um seine Funktionalisierung für gesellschaftliche bzw. globalwirtschaftliche Interessen. Individualität und Personalität sind suspendiert. Damit löst sich die Kompetenzpädagogik von zentralen Begriffen der humanistisch-aufklärerischen Tradition wie Freiheit, Gewissen, Verantwortung, die den Menschen in seiner Würde und als Person konstituieren“ (Schmayl 2010, 39).

Diese Untersuchung stellt sich bewusst und ausdrücklich in die humanistisch-aufklärerische Tradition, möchte aber dennoch zu einer Weiterentwicklung und Ergänzung beitragen.

Dazu ist es notwendig, das Gewollte von Bildung und Erziehung, die Ziele, klar zu benennen, denn

„die Opazität um das eigentlich Gewollte schließlich ist gefährlich und verträgt sich nicht mit dem Postulat der Selbstgestaltung der Person, wie sie im personalen Bildungskonzept entwickelt wird. Fremde Zielvorstellungen, Bedürfnisse, Einstellungen und Werte müssen transparent sein“ (Wiesmüller 2006, S. 94 f.).

Schule als Bildungsinstitution hat einen Erziehungsauftrag. Dieser muss deutlich benannt und fachdidaktisch „kleingearbeitet“ werden, damit dies nicht vor Ort der einzelnen Lehrkraft überlassen bleibt oder „hypnopädisch“Footnote 8 in die Schule einsickert.

Deshalb werden im Folgenden der Bildungsbegriff und der Erziehungsbegriff in den Blick genommen. Der Kompetenzbegriff, so wie er heute verstanden wird, liegt auf einer anderen logischen Ebene und wird später noch einmal beim sachlogischen Aufbau von Curricula eine Rolle spielen.

2.1.4 Dialektisches Denken in der Pädagogik

Nachdem „Kompetenz“ als zentraler Schlüsselbegriff ausgeschieden ist, stellt sich die Frage, ob es sich bei Bildung und Erziehung tatsächlich um antinomische Begriffe handelt oder ob uns ein gänzlich anderes Denken weiterbringen kann.

Klafki belegt in seinem Aufsatz „Dialektisches Denken in der Pädagogik“ die „Einsicht in die dialektische Struktur der Erziehungswirklichkeit und des ihr korrelativ verbundenen pädagogischen Denkens“ (Klafki 1966, 159).

Er geht in seinem Aufsatz ausführlich auf andere Positionen einFootnote 9 und führt diese letztlich auf die dialektische Position zurück.

Wegen der Bedeutung des dialektischen Denkens im weiteren Verlauf der Arbeit lohnt es sich, Klafkis Skizze zu den Merkmalen dialektischen Denkens zu folgen.

„Zunächst ist dialektisches Denken immer ein Denken in Gegensätzen (Antinomien) und durch sie hindurch, d.h. ein Denken, das sich in einer Wechselbewegung zwischen verschiedenen Momenten fortbewegt. Damit steht das dialektische Denken in direktem Gegensatz zu allen Weisen »einstrahligen« Denkens, das von einem Ausgangspunkt geradlinig zu »Folgerungen« schreitet: sei es deduktiv von Axiomen zu analytisch oder kombinatorisch zu gewinnenden Untersätzen, sei es induktiv-generalisierend von einander nebengeordneten Feststellungen zu subsumierenden Gattungsbegriffen oder Obersätzen von wachsender Allgemeinheit“ (Klafki 1966, 162).

Im weiteren Verlauf klärt er, dass es sich nicht um „echte“ Antinomien handelt, bei denen

„jedes Moment des antinomischen Verhältnisses wäre, was es ist, auch wenn das andere Moment nicht wäre. […] Dialektisch vermag das Denken dort zu werden, wo es auf den überraschenden Sachverhalt stößt, daß zwei oder mehrere Momente, die sich zunächst antinomisch gegenüberstehen, gar nicht das sind, als was sie erscheinen, nämlich je selbständige und einander ausschließende Mächte, Prinzipien, Forderungen“ (Klafki 1966, 162 f).

Es stellt sich nun die Frage, ob „Bildung“ und „Erziehung“ zu diesen dialektischen Begriffspaaren gehören und inwiefern sowohl die Struktur der Erziehungswirklichkeit als auch das pädagogische Denken dialektisch sind.

Romano Guardini schreibt dazu in seiner 1928 erstmals erschienenen philosophischen Schrift „Grundlegung der Bildungslehre“:

„Das ist die erste Dialektik des lebendigen Werdens: die Selbigkeit des werdenden Individuums ist gespannt aus der eigenen Möglichkeit in die eigene Wirklichkeit. Diese Spannung entläßt ein zielgerichtetes Geschehen, das heißt eben: ein Werden aus sich. Darin gelangt es zum Ausgleich“ (Guardini 1965, 10).

Damit spricht Guardini das ständige Wechselspiel von Potentialität, von Möglichkeiten, die im Menschen angelegt, von ihm gewollt oder geplant sind und der Realität des gewordenen Lebens an. Darin steckt auch die implizite Feststellung, dass Leben von der Geburt bis zum Tod immer ein Werden ist und immer aus diesem Wechselspiel von Potentialität und Realität besteht.

„Eine zweite dialektische Spannung liegt im werdenden Leben: Werdend will ich selbst werden. […] Leben ist immer »etwas leben«. Es gibt kein Leben einfachhin. Ich kann mich selbst lebend nur verwirklichen, wenn ich über mich hinausgehe zu dem, was ich nicht bin; zum Seienden mir gegenüber: zu den Dingen, zu den Menschen, zu den Ideen, zu den Werken und Aufgaben“ (Guardini 1965, 10).

Leben besteht demnach immer in der Wechselwirkung der eigenen Person mit anderen Personen oder in der der Wechselwirkung mit Dingen, Ideen, Werken und Aufgaben. Aus diesen beiden Dialektiken ergibt sich für Guardini ein zentraler Impuls für die Bildung:

„Auf dieser doppelten Dialektik und ihren Bewegungsrichtungen ruht der Bildungsimpuls in seiner Ganzheit: Es ist der Antrieb, jenen Übergang aus dem Lebendig-Möglichen ins Lebendig-Wirkliche zu fördern; sein Wesen und die Weisen des Vollzugs zu verstehen. Zu verstehen, inwiefern der Weg zur Selbstwerdung durch die Hingabe an die Gegenstände geht; zu erkennen, welche Gegenstände im Chaos der Gegenständlichkeiten die »richtigen« sind. Zu erkennen, wie Werde-Bewegung und Hingabe- Bewegung einander bedingen und tragen und so fort“ (a.a.O., 11).

Die »richtigen« Gegenstände aus dem „Chaos der Gegenständlichkeiten“ zu finden ist eines der Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung.

Während Guardinis Gedanken hauptsächlich auf die Erziehungswirklichkeit beim Individuum und dessen „Bildung“ zielen, geht Nohl im folgenden Zitat auf die Grundantinomie von Individuum und Gesellschaft ein und damit auf die Grundspannung von Bildung und Erziehung.

„Aber hier tut sich gleich die Grundantinomie des pädagogischen Lebens vor uns auf, die die Grundantinomie auch des ethischen Lebens ist, und auch die Grenze der Pädagogik sehen läßt. Hier ist das Ich, das sich aus sich und seinen Kräften entwickelt und sein Ziel zunächst in sich selbst hat, und dort sind die großen objektiven Inhalte, der Zusammenhang der Kultur und die sozialen Gemeinschaften, die dieses Individuum für sich in Anspruch nehmen und ihre eigenen Gesetze haben, die nicht nach Wille und Gesetz des Individuums fragen. Pädagogisch gewendet heißt das: das Kind ist nicht bloß Selbstzweck, sondern ist auch den objektiven Gehalten und Zielen verpflichtet, zu denen es hinerzogen wird, diese Gehalte sind nicht nur Bildungsmittel für die individuelle Gestalt, sondern haben einen eigenen Wert, und das Kind darf nicht nur sich erzogen werden, sondern auch der Kulturarbeit, dem Beruf und der nationalen Gemeinschaft“ ((Nohl 2002, 161), Hervorh.THM).

Auch wenn Nohl diese Grundantinomie „Polarität“ nennt, so ist sie im Sinne von Klafki ein dialektisches Verhältnis. Damit stellt er den Menschen in den Mittelpunkt der Erziehung, von dem aus alle erzieherischen Bemühungen gedacht werden müssen. Zugleich wird aber deutlich, dass eine auf Individualität und Reflexivität zielende Bildung mit einer enkulturierenden Erziehung dialektisch verschränkt werden muss.

Es verwundert aufgrund der staatstragenden Bedeutung des Dialektischen Materialismus und des Historischen Materialismus nicht, dass in der DDR die Dialektik in den Erziehungswissenschaften eine zentrale Rolle spielte. Im Gegensatz zu westlichen Veröffentlichungen zu Bildungs- und Erziehungsidealen, wurde in der DDR einerseits das zugrunde liegende MenschenbildFootnote 10, andererseits aber auch der Zusammenhang zwischen Politik und PädagogikFootnote 11 klar benannt.

„Erziehungsprozesse, welcher Art auch immer, sind in ihrem Inhalt, in ihrer Richtung und ihrem Verlauf gesellschaftlich determiniert, und sie werden durch die Politik entscheidend beeinflußt, sind wesentlich ein Mittel der Politik“ (Neuner 1973b, 27).

Ohne hier zu tief in den Dialektischen Materialismus eintauchen zu wollen, lohnt es sich dennoch, den pädagogischen Gehalt, der aus den dialektischen Überlegungen resultiert, in diese Untersuchung mit einzubeziehen.

Aussagen zum pädagogischen Prozess hingegen unterscheiden sich nur in Nuancen. Klingberg kommt in seiner „Wesensbestimmung des pädagogischen Prozesses“ zu Aussagen über Erziehung, die denen von Klafki, Guardini, Litt und Nohl ähnlich sind:

„Erziehung unterliegt der Dialektik von „Außen“ und „Innen“, von äußeren Einwirkungen auf den Menschen und seinen inneren Bedingungen. Äußere Einwirkungen werden über innere (psychische und physische) Bedingungen „gebrochen“ und lösen erst dadurch Entwicklungsprozesse im Menschen aus. Diese Entwicklung des Menschen vollzieht sich in hohem Maße durch das Lösen von Widersprüchen. Erziehung unterliegt dem pädagogischen Kardinalverhältnis von pädagogischer Führung und Selbsttätigkeit“ (Klingberg 1984, 75 f).

Auffallend ist der Begriff der Selbsttätigkeit, der später noch im Zusammenhang mit psychologischen Menschenbildern (vgl. Abschn. 2.2.3) und technischer Bildung eine wichtige Rolle spielen wird (vgl. Abschn. 4.3).

Die starke Betonung der Selbsttätigkeit geht auf Marx‘ dritte These gegen FeuerbachFootnote 12 zurück. Sie führt zu einer Persönlichkeitstheorie, „wonach der Mensch aktiver Schöpfer und Gestalter der Welt und seiner selbst ist“ (Neuner 1973b, 29).

Daraus leitet Klingberg eine wichtige Aufgabe der Erziehung ab:

„Da sich der Mensch nur in der Tätigkeit entwickelt, ist es die Aufgabe der Erziehung, ihn zu vielfältiger aktiver und bewußter Tätigkeit zu veranlassen und diese Tätigkeit planmäßig zu leiten“ (Klingberg 1984, 79).

Wenn Klafki Bildung als den Zusammenhang der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, der Mitbestimmungs- und der Solidaritätsfähigkeit versteht, dann wird dabei eher die Möglichkeit und Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse“ ((Klafki 2007, 52), Hervorh. THM) gesehen und damit eher eine geistig ideelle Aktivität.

Nur durch das Zusammenspiel geistig, ideeller Aktivität (Wahrnehmen, Durchdenken, Planen) und der Umsetzung der geistigen Aktivität in eine bewusste, aktive Tätigkeit kann sich eine Gesellschaft und auch die darin handelnden Individuen fortentwickeln und wachsen. Damit sind erste Fäden für mögliche, veränderte Zielstellungen gesponnen.

Die bisherigen Ausführungen waren auf die Erziehungswirklichkeit bezogen, die Überlegungen Theodor Litts in seinem zuerst 1921 in den Kantstudien (Bd.26) erschienenen Aufsatzes „Das Wesen des pädagogischen Denkens“ sind eher grundsätzlicher, theoretischer Natur und demnach für diese Untersuchung, in der Theorie und Praxis miteinander verwoben werden sollen, bedeutsam. Litt beschreibt den scheinbar „heillosen Zirkel“ (Litt 1931, 123) von Theorie und Praxis folgendermaßen:

„Wir haben eine Praxis, genannt Erziehung. Wir suchen eine Theorie, geeignet, dieser Praxis Richtlinien zu geben, und glauben dieser Theorie einen wissenschaftlichen Wert nur dann verbürgen zu können, wenn sie den methodischen Charakter einer „angewandten Wissenschaft“ besitzt. Wir suchen den Problemgehalt der rein theoretischen „Grundwissenschaft“, auf der diese „angewandte Wissenschaft“ zu fußen hätte, zu bestimmen und finden als wesentlichen Bestandteil dieses Gehalts- das Phänomen Erziehung, also diejenige Praxis als T a t s a c h e, die als A u f g a b e in eben dieser Theorie ihre letzte Grundlage erhalten sollte“ (Litt 1931, 123).

Wie löst sich nun dieser „heillose Zirkel“ auf?

Litt kommt zu dem Schluss, dass es keine reine theoretische Grundwissenschaft der Pädagogik geben könne, sondern, dass

„die theoretische Auffassung des Tatbestandes „Erziehung“ einerseits, die praktische Stellungnahme zu den Aufgaben der Erziehung andererseits gleichsam sekundäre Ausgestaltungen e i n e r Grundeinstellung zum Problem „Erziehung“ überhaupt sind, die über dem Gegensatz von Theorie und Praxis, Tatsachenforschung und Zielsetzung steht. Hier baut sich nicht eines als Folgerung, Anwendung u.dgl. auf dem anderen auf, sondern alles entspringt demselben Zentralpunkt heraus“ (Litt 1931, 124 f).

2.1.5 Das virtuelle Ganze im Sinne Bergsons

Was ist nun mit diesem „Zentralpunkt“ gemeint, aus dem alles entspringen soll?

Wie entsteht dieser „Zentralpunkt“? Dazu Litt:

„Erst wenn die auf die zukünftige Entwicklung des Zöglings gerichteten Einzelvorstellungen sich zusammenschließen zum Bilde eines teleologischen Ganzen, erst dann bewährt sich jene eigentümliche erzieherische P h a n t a s i e, die alle auf Einzelfähigkeiten und Einzelfertigkeiten gerichtete Geschäftigkeit hinter sich läßt. Und gerade die eigentümliche Schöpferkraft dieser Phantasie, die ein Ganzes erschaut, das nicht ist, sondern erst werden soll, und dabei doch erschaut in dem, was ist, gerade sie ist es, die jenem Vergleich des erzieherischen und des künstlerischen Tuns doch schließlich ein höheres Recht gibt, als es dem Vergleich mit dem technischen Verfahren zugesprochen werden kann“ ((Litt 1931, 132), Hervorh. i. Orig.).

Der zentrale Punkt ist, dass „Seinserfahrungen und Sollensbestimmungen in Wechselwirkung“ stehen und dass das Trennen von Sein und Sollen erst ein klares Denken darüber ermöglichen, in Wirklichkeit aber als „ein Strom lebendigen Werdens“ (Litt 1931, 132), anzusehen sind, da sich Sein und Sollen im Erziehungsprozess ständig in Wechselwirkung fortentwickeln.

Der „Strom lebendigen Werdens“ erinnert sehr an den „élan vital“ (Lebensschwung) in der Lebensphilosophie Henri Bergsons, auch wenn Litt in einer Fußnote eher auf Simmel und SchelerFootnote 13 hinweist. Hier ist nicht der Platz, Bergsons Philosophie auszubreiten. Es lohnt sich im Hinblick auf Bildung und Erziehung, einige Grundbegriffe seiner Theorie zu beleuchten, um sie anschließend auf das Problem des „Zentralpunktes“ anzuwenden. Bergsons Philosophie der Differenz hat eine methodologische Komponente, bei der es um die Bestimmung der Wesensunterschiede geht und eine ontologische, die davon ausgeht, dass das Sein der Dinge in ihren Wesensunterschieden liegt. Nach Bergson kommt es darauf an, den „wahren Anfang“ durch die Bestimmung von Wesensunterschieden zu bestimmen.

„Alles läuft auf Bergsons Kritik am Negativen hinaus: zur Konzeption einer Differenz ohne Negation zu gelangen, einer Differenz, die nicht die Negation enthält, dies ist Bergsons größte Anstrengung“ (Deleuze 2003, 61).

Übertragen auf das Problem von Bildung und Erziehung lässt sich die Dialektik und das Negative, das durch den Gegensatz von positiv assoziierter Selbstbestimmung durch Bildung und negativ assoziierter Fremdbestimmung durch Erziehung nur durch das „Virtuelle“ auflösen.

„An den Widerspruch, die Negation glaubt man nur aus Unkenntnis des Virtuellen. Der Gegensatz zweier Terme ist lediglich die Verwirklichung der Virtualität, die beide enthielt“ (Deleuze 2003, 61).

Die Virtualität ist der Zentralpunkt, das Dauerhafte von Bildung und Erziehung und dieser Zentralpunkt ist die ganzheitliche Bildung und Erziehung von Menschen im Sinne einer Bildung von Kopf, Herz und Hand.

„Die Differenz ist der wahre Anfang“ (Deleuze 2003, 74).

Wenn nun im Folgenden Ziele von Erziehung formuliert werden sollen, dann lassen sich diese Sollensbestimmungen nie ohne Seinserfahrungen, ohne eine konkrete Vorstellung von Ausgangszuständen von zu Erziehenden denken. Wenn Litt von einer „erzieherischen Phantasie“ spricht, die auf das „teleologische Ganze“ gerichtet ist, dann spielt bei dieser erzieherischen Phantasie nicht nur „wissenschaftliches Verständnis (episteme)“ (Korthagen und Meyer 2002, 32) im Sinne Platos, sondern auch „praktische Weisheit (phronesis)“ (a.a.O.) im Sinne Aristoteles eine Rolle.

Folgt man Korthagen, so bildet sich dieses ganzheitliche Wissen durch erzieherische Praxis, durch Erfahrung und vor allem durch beständige Reflexion der gemachten erzieherischen Praxis heraus (vgl.(Korthagen und Meyer 2002, 27 ff).

Die Fruchtbarkeit des Differenzdenkens wird sich im Folgenden daran erweisen müssen, ob das Spannungsverhältnis antinomischer Begriffe und Forderungen gedanklich und begrifflich durch das Auffinden des „Dauerhaften“, „Virtuellen“ gelöst werden kann und ob aus dem Dauerhaften die Differenzen als Wesensunterschiede herausgearbeitet werden können.

Wir gehen die Sache mit einem ganzheitlichen intuitiven Vorverständnis aus der Praxis an, arbeiten uns anhand der dialektischen Scheidung des virtuellen Ganzen (Bergson) in die zwei Tendenzen „Persönlichkeitsbildung“ und „Enkulturation“ in die Tiefe (Theorie im Sinne von Unterscheidung) und kehren anschließend geläutert und auf einer höheren Ebene zurück, um die Tendenzen zu einem schöneren, vollständigen Ganzen zusammenzufügen (Abb. 2.1).

Abbildung 2.1
figure 1

Differenzierung der Virtuellen Ganzheit in Persönlichkeitsbildung und Enkulturation

Dies entspricht auch dem hermeneutischen Ansatz der Pädagogik nach Schleiermacher, der in der Praxis, in einem intuitiven Sinnganzen, den Ausgangspunkt für die theoretischen Überlegungen sah, von da aus Details und Einzelheiten theoretisch durchzuarbeiten, um letztendlich zu einem höheren, tieferen Verständnis zu kommen. Die Dialektik hilft uns dadurch weiter, dass wir ein virtuelles Ganzes (Bergson) zunächst in antinomische Begriffe scheiden, um zu detaillierteren Analysen kommen zu können. Wichtig ist, am Ende die Tendenzen wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen!

Die obige Abbildung fasst die Ergebnisse des folgenden Kapitels vorab übersichtlich im Sinne eines Advance Organizers zusammen.

Das virtuelle Ganze ist der Mensch unter Menschen in der Welt. Mensch unter Menschen heißt, dass ein „Ich“, eine Person mit einem „Wir“ der Gesellschaft wechselwirkt in einer Welt, die sich differenziert in die vom Menschen gemachte Kultur und die Natur. Damit stellt sich diese Untersuchung in die Hamburg-Karlsruher-Argumentationslinie, die Wiesmüller folgendermaßen zusammenfasst:

„Ich argumentiere hier entlang einer Linie, die die Person und ihre Begegnung mit den Sachen ins Zentrum stellt“ […] Der genannte Nukleus, die Begegnung des lernenden Kindes mit der Welt, hat weitere Setzungen zur Folge“ (Wiesmüller 2014, 77).

Das „Ich“ hat einen Bildungsanspruch auf Persönlichkeitsbildung, auf ein selbstbestimmtes ganzheitliches Werden. Damit es zu einer gedeihlichen, gesunden Entwicklung der Persönlichkeit kommt, müssen sowohl physiologische wie auch die drei psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt werden. Zentral ist dabei die Entwicklung von Kompetenz (im Sinne der Selbstbestimmungstheorie), die in erster Näherung mit der Abwandlung der alten Pestallozzi’schen Formel vom Lernen mit Kopf, Herz und Hand in eine neue Formel der Bildung von Kopf, Herz und HandFootnote 14 beschrieben werden kann. Die psychologischen Grundbedürfnisse nach sozialem Eingebundensein und Autonomie korrespondieren sehr eng mit dem „Wir“ der Gesellschaft mit ihrem Anspruch auf Enkulturation ihrer Mitglieder. Die Heranwachsenden sollen die „Sphären des Menschseins“ (Cassirer) erleben, verstehen und gestalten. Sie sind sich dabei der Historizität, des Geworden Seins der Welt und der Veränderungsbedürftigkeit bewusst.

Als Zielperspektive ergibt sich daraus in erster Näherung der mündige, entscheidungsfähige in sozialer Verantwortung handelnde Bürger.

2.2 Bildung und Erziehung, Persönlichkeitsbildung und Enkulturation!

„Pädagogisches Denken und Tun ist immer, bewußt oder unbewußt, an allgemeine Vorstellungen vom Menschen, seinem Wesen und seiner Entwicklung orientiert. Im Menschenbild treffen sich wie in einem Brennpunkt alle wesentlichen gesellschaftlich-politischen, philosophischen und psychologisch-pädagogischen Grundvorstellungen, die für pädagogische Theoriebildungen wesentlich sind“ (Neuner 1973b, 15).

Das obige Zitat Neuners gibt mit „gesellschaftlich-politischen, philosophischen und psychologisch-pädagogischen Grundvorstellungen“ vom Menschenbild die Suchfelder für die Ausdifferenzierung der beiden Tendenzen Persönlichkeitsbildung und Enkulturation vor. Zur Klärung des Gegenstandsbereichs von Bildung und Erziehung im weitesten Sinne sind aber auch die Begriffe Natur und Kultur und deren stetiger Bedeutungswandel zu untersuchen.

2.2.1 Natur und Kultur als Gegenstandsbereiche von Bildung und Erziehung

Wenn man als Ziele von Schule formuliert, dass Schüler die WeltFootnote 15, in der sie leben, verstehen sollen in ihrem Sein und Geworden Sein, um darin selbstbestimmt und sozial verantwortungsvoll leben und handeln zu können, dann bietet sich eine DifferenzierungFootnote 16 der Welt in Natur und Kultur an.

Die beiden Bereiche erscheinen zunächst disjunkt und die Begriffe scheinen keiner weiteren Definition zu bedürfen, doch schon einige einfache Beispiele mögen verdeutlichen, dass unsere Vorstellungen von Natur und Kultur nicht eindeutig sind und einem zeitlichen und gesellschaftlichen Wandel unterliegen.

Es ist offensichtlich, dass die Naturgesetze unabhängig von kulturellen Einflüssen sind, aber der Umgang mit der Natur und der Blick des Menschen auf die Natur ist stark geprägt von der Kultur. Das Handeln eines Christen, der mit der Bibelaussage, „füllt die Erde und macht sie euch untertan“ (1 Mo 1,28 Elberfelder Bibel) aufwächst wird sich vom Handeln eines Hindu unterscheiden, dem Kühe als heilig und unantastbar gelten. Unser Naturverständnis wird stets überlagert von kulturellen Bedeutungen. Die kulturelle Überhöhung des deutschen Waldes, die in der Romantik einsetzt und noch heute Bestand hat, führt dazu, dass er als „Natur“ angesehen wird, obwohl man von KulturFootnote 17 sprechen müsste, denn es handelt sich in den meisten Fällen um von Menschen angepflanzte, ausgedünnte und beschnittene Bäume, oft Arten, die aus fernen Ländern importiert wurden und wegen des schnellen Wachstums zur Bauholz- und Brennstoffproduktion angebaut wurden.

Vielleicht liegt auch hier ein Schlüssel zum notwendigen Nachdenken über eine Veränderung der Didaktik der Naturwissenschaften, die besonderen Wert auf die „reine“ Wissenschaftlichkeit legt, aber die kulturelle Prägung des Naturbegriffs vernachlässigt. Die coronabedingte Hinwendung zur Natur und der sich klar abzeichnende Klimawandel könnten hier neue Impulse liefern.

Abbildung 2.2
figure 2

Natur? Atlas Detektor im CERN. (Foto: Frank Hommes CC BY-SA 4.0)

Noch extremer wird der Naturbegriff in Frage gestellt, wenn man sich exemplarisch ein Experiment im LHC-Teilchenbeschleuniger im CERN in Genf anschaut (Abb. 2.2) und sich fragt, warum hier überhaupt noch von „Natur“wissenschaft die Rede ist, obwohl hochkomplizierte, teure, technische Anlagen die Natur so zurichten, dass am Ende aufgrund der Verlässlichkeit der Technik und Reproduzierbarkeit durch die Technik Grafiken und Bilder entstehen, die die Existenz bestimmter Elementarteilchen nachweisen sollen.

Spätestens hier muss man aus erkenntnistheoretischer Sicht von Naturwissenschaften als angewandte Technik sprechen.

Noch uneindeutiger ist der Kulturbegriff. Orientiert man sich am Kulturbegriff des Feuilletons, dann gehört zur Kultur nur die Gesamtheit der Künste (Kunst, Literatur, Musik, Theater, Oper, Film).

Die ca. 18000 „Büdchen“ (Abb. 2.3) im Ruhrgebiet, die man im übrigen Bundesgebiet als Kiosk oder Trinkhalle bezeichnen würde, wären demnach kein Ausdruck einer vergangenen Kulturepoche, die durch den Bergbau gekennzeichnet war, sondern lediglich ein Ort der Versorgung mit Lebensmitteln und Zeitschriften. Dennoch ist die Trinkhallenkultur am 9.6.2021 als immaterielles Kulturerbe seitens des NRW-Kulturministeriums anerkannt worden.

Abbildung 2.3
figure 3

Büdchen im Ruhrgebiet. (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Auch die Computerspielszene wäre trotz eines Anteils von 35% regelmäßig Spielenden an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung demnach keine Kulturerscheinung, sondern lediglich ein willkommener Wirtschaftsfaktor mit einem Jahresumsatz von 4,4 Mrd.€ (2019), der während der Coronapandemie auf 9,8 Mrd.€ im Jahre 2021 stieg (Quelle: https://www.game.de/guides/jahresreport-der-deutschen-games-branche-2022/; Zugriff: 16.8.2022).

Auch umsatzstarke Haushaltsuniversalkochmaschinen wie der Thermomix® von Vorwerk wären kein Ausdruck einer neuartigen KochkulturFootnote 18, sondern ebenfalls nur ein wirtschaftliches Erfolgsmodell, das vor allem durch die Vertriebsidee der Kochvorführungen im Privatbereich überzeugt. Die Beispiele zeigen, dass im Hinblick auf eine Zielverständigung für Bildung und Erziehung die Begriffe näher bestimmt werden müssen.

2.2.1.1 Besinnung auf einen Naturbegriff im Zeitalter des Klimawandels

„Der Weg, den der Mensch in die Nähe zu suchen und zu gehen hat, wäre darum ein Weg, in welchem die List, die Technik ihrer Gewalt entkleidet wären – verändert in eine Beziehung zur Natur, die den Menschen selber als die Bewahrung von Natur zurückgibt – ihr wieder nahe ist. Eine Nähe, die dem Menschen allererst seine soziale und seine naturale Identität gewähren kann und die ihm allererst seine Möglichkeit zu sein freigibt“ (Hülsmann 1981, 134).

Der Naturbegriff hat sich in der Menschheitsgeschichte oft gewandelt und damit in engem Zusammenhang das, was als Kultur und Technik bezeichnet wird.

In der Frühzeit der Menschheit und bei den wenigen noch existierenden archaischen Kulturen war der „Mensch nichts als ein Teil des großen Organismus der Natur“, er ist „noch keine eigentliche Subjektivität, sondern gleichsam Organ einer intersubjektiven Struktur“ (Hösle 1994, 49).

„Die Mythen umkreisen diese Einheit des Menschen mit der Natur, und in den Riten versuchen die Menschen, die eigene Gemeinschaft mit der Natur symbolisch zu feiern“ (Hösle 1994, 49).

Und dennoch steckt schon im Mythos der erste Schritt zur Wissenschaft, zur Trennung von Subjekt und Objekt.

„Die Verdopplung der Natur in Schein und Wesen, Wirkung und Kraft, die den Mythos sowohl wie die Wissenschaft erst möglich macht, stammt aus der Angst des Menschen, deren Ausdruck zur Erklärung wird“ (Horkheimer und Adorno 2019, 21).

Der Mensch versucht im Mythos seine Angst, die ihn ständig in Form von Naturgewalten (Blitz, Donner, Wolkenbrüche, wilde Tiere) begleitet, in den Griff zu bekommen. Auch Cassirer sieht als Grundlage des Mythos nicht die Vernunft, sondern das Gefühl, wenn er schreibt: „Das wirkliche Substrat des Mythos ist kein Gedanken-, sondern ein Gefühlssubstrat“ (Cassirer 2007, 129). Dieses „Gefühlssubstrat“ stellt die „unterste Schicht unserer sinnlichen Erfahrung“ dar- „die Schicht unserer »Gefühlsqualitäten«“ (Cassirer 2007, 125). Auf der Schicht der Gefühlsqualitäten setzt die Welt der Sinneswahrnehmungen auf, die „sekundären Qualitäten“ (ebd.). Die oberste Stufe stellen die „Begriffe von der physikalischen Welt“ dar. „Doch alle drei Stufen haben ihren funktionalen Wert“ (ebd.). Die Abwertung der unmittelbaren Gefühlsqualitäten und die „Abschiebung“ in den Bereich des Psychischen führte in der Wissenschaftsgeschichte immer mehr zu einer Trennung von Geist und Materie. Um aber auch diese „Qualitäten der mythischen Erfahrung“ wissenschaftlicher Untersuchung zugänglich zu machen, kommt es darauf an, sie „aus ihrer unmittelbaren Beschaffenheit“ (Cassirer 2007, 126) zu erfassen. Diese „Qualitäten der mythischen Erfahrung“, die in der Schicht der Gefühlsqualitäten stattfindet, ist noch eine nahezu ganzheitliche Erfahrung, bei der sich der Mensch als Teil des Ganzen der Natur empfindet. Licht, Farben, Gerüche, Geräusche, wie z. B. der Ruf des Kuckucks, lösen Empfindungen aus, werden (noch) nicht analytisch zerlegt und Begriffen zugeordnet. Zusammen mit den sekundären Qualitäten der Sinneswahrnehmungen kann daraus die Motivation, die Bewegtheit entstehen, die Welt der Natur auch zu begreifen, in Begriffe zu fassen. Der Anfang des Sich- bilden-Wollens, des Sich-selbst-Begreifens.

Ansätze zur Wissenschaft durch „Anwendung quantifizierender Methoden“ (Hösle 1994, 49) wie Geodäsie und Astronomie, kommen mit der Sesshaftwerdung und den ersten Hochkulturen auf, jedoch ist „die Wissenschaft hier noch unlöslich mit dem Mythos verbunden“ (ebd.). Artefakte, die dies belegen, sind beispielsweise die Himmelsscheibe von Nebra oder der Steinkreis von Stonehenge, die neben der Bestimmung der Jahreszeiten auch kultische Bedeutungen gehabt haben. Auch in der präoperationalen Phase (nach Piaget) der kindlichen Entwicklung werden z. B. Gegenständen Zauberkräfte zugeschrieben. Daher wird diese Phase auch die animistisch-magische Entwicklungsphase genannt (vgl. Oerter: Entwicklungspsychologie).

Erst durch die Sophistik im antiken Griechenland „werden der Mythos ebenso wie die bestehenden sozialen Institutionen einer radikalen Kritik unterzogen; der Gedanke, daß sich alles vor dem Logos rechtfertigen muß, erscheint zum ersten Mal in der Weltgeschichte“ (Hösle 1994, 50). Es wird „der Typ der deduktiven Wissenschaft, der Theoreme aus Axiomen ableitet“ (ebd.) geboren. Es fehlt aber eine Theorie des Experimentes. Mit der scharfen Abgrenzung von Leib und unsterblicher SeeleFootnote 19 bereitet Platon Descartes den Weg. Aristoteles beschäftigen im Zusammenhang mit der Natur die Antworten auf die „Weswegen-Fragen“. Das Ziel (telos) ist das, worauf die Antwort auf die Weswegen-Frage verweist. Ist z. B. das Ziel, die Nahrung optimal zu zerkleinern, dann kann man sich fragen, weswegen Schneidezähne anders geformt sind als Backenzähne. Die Antwort auf diese Frage, „die Zähne wüchsen mit Notwendigkeit (aus dem Kiefer) heraus, und zwar die vorderen scharf, geeignet zum Abbeißen, die Backenzähne aber breit und (daher) brauchbar zum Zerkleinern der Nahrung“ (Aristoteles 2019b, 54) verweist auf das Ziel. Diese Entelechie, dass alles ein Ziel in sich selbst hat, schreibt er der gesamten belebten und unbelebten Natur zu:

„Und da »Naturbeschaffenheit« doppelte Bedeutung hat, einmal als Stoff, einmal als Form, da diese aber Ziel ist und wegen des Ziels das übrige (da ist), muß es also wohl auch diese Ursache geben, die (mit dem Namen) »Weswegen«“ (Aristoteles 2019b, 56).

Bei den Ursachen des Werdens unterscheidet Aristoteles zwischen der Formursache (causa formalis), der Zweckursache (causa finalis), der Antriebsursache (causa efficiens) und der Stoffursache (causa materialis)(vgl. (Kunzmann, Burkard, und Weiß 2017, 49)).

Die Teleologie, die „Lehre von der Zielausrichtung von Naturprozessen oder menschlichen Handlungen“ (Schmidt 2009, 709) Aristoteles‘ geht von einer Zweckbestimmung als immanentem Prinzip aus. Seit „Augustinus erscheint die Zwecksetzung im Rahmen einer Schöpfungsordnung im christlichen Sinne neuformuliert und das Wesen der Dinge nicht ein-, sondern in göttlicher Voraussicht vorgeschrieben“ (Schmidt 2009, 709).

Es erscheint auf den ersten Blick paradox, dass das Mittelalter als Inbegriff des Rückschritts gegenüber dem antiken Griechenland einen Fortschritt bei der Entwicklung des Naturbegriffs hin zu einer modernen Naturwissenschaft darstellen soll.

Vergegenwärtigt man sich, dass christliches Denken im Vordergrund stand, und damit die Natur als Schöpfung eines unendlichen, transzendenten Gottes, dann folgt daraus zwangsläufig dass die Natur diesem Gott gegenüber „ontologisch depotenziert“ (Hösle 1994, 52) werden muss. Sie ist nicht mehr „Aus-Sich-Seiendes“, vielmehr ist in der Aufwertung der „Relation zum unendlichen Schöpfer die Desubstantialisierung impliziert, ihre Verwandlung in ein System funktional abhängiger Parameter“ (Hösle 1994, 52). Die Menschwerdung Gottes in Christus legt „bewußtseinsgeschichtlich den Umkehrschluss nahe, daß der Mensch Gott werden könne und müsse“ und damit ist eine „subjektivistische Wendung der Erkenntnistheorie“ (a.a.O., 53) möglich, die den Menschen als „Schöpfer der Mathematik“ ansieht, „insofern er die göttliche Schöpferkraft nachahmt“ (a.a.O.). Dieser auf Nikolaus von Kues zurückgehende Gedanke macht es auch möglich, „die empirische Welt der Natur als durch den Menschen mitkonstituiert“ (a.a.O.) anzusehen. Eine Verbindung von Naturwissenschaft und Technik findet dadurch statt. dass der Mensch durch das Experiment die Natur nachschafft und zurichtet (siehe Abb. 2.2). Dass dabei die Reliabilität der technischen Messgeräte vorausgesetzt wird, um zu validen Aussagen zu gelangen, ist eine bei Naturwissenschaftlern oft vernachlässigte wissenschaftstheoretische Grundannahme.

Den Gipfel der Entwicklung, „die Subjektivität immer radikaler aus der Welt herauszureflektieren“ (Hösle 1994, 53) stellt DescartesFootnote 20’ Dualismus von res cogitans (denkende Substanz) und res extensa (ausgedehnte Substanz) dar. Mit dieser radikalen Trennung wird selbst der Körper des Menschen zum Objekt und im Menschen selbst verläuft eine imaginäre Grenze zwischen Geist und Materie, zwischen Denken und Körper. Allen anderen Lebewesen wird die res cogitans abgesprochen. Sie werden dadurch zu gefühllosen Objekten degradiert.

„Daß sich die Subjektivität zum archimedischen Punkt der Welt macht, hat zur notwendigen Folge die Abwertung der drei anderen Sphären des Seins: Gottes, der Natur, der intersubjektiven Welt“ (Hösle 1994, 53).

Eine wesentliche Voraussetzung für den Siegeszug der modernen Naturwissenschaften war Descartes‘ Beharren darauf, dass „die nichtmenschliche Natur völlig subjektivitätslos sei“ (Hösle 1994, 54). Mit der Deontologisierung, der Beraubung um ein eigenes Sein wird „die Natur notwendig auch entteleologisiert“ ((Hösle 1994, 55), Hervorh. THM). Damit wird allein der Mensch zum Zielsetzer der belebten und unbelebten Natur mit allen damit verbundenen Auswirkungen (z. B. Klimaveränderung, Artensterben, Rohstoffmangel usw.). Diese rein objektive, rationale Sichtweise der Natur, die Natur nur als Materie ansieht, ist für eine ganzheitliche Bildung von Kopf, Herz und Hand ungeeignet, weil sie die Natur auf Ursache-Wirkungsrelationen, Begriffe und Gesetze reduziert, ihr eine Subjektivität und ein Ziel abspricht und damit das Herz, die Freude, die Faszination, die Empathie und damit das Verantwortungsgefühl für Pflanzen, Tiere, Klima, Rohstoffe ausschließt.

Anders als Descartes sah Baruch de Spinoza (1632–1677) Geist (Denken) und Materie (Ausdehnung) nicht als Dualismus, sondern als Attribute einer einzigen Substanz (Gott). Gott ist der Schöpfer (natura naturans) und alles Existierende ist durch ihn geworden (natura naturata).

Diese Ideen Spinozas entwickelt Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854) in seiner Naturphilosophie weiter. Für ihn sind natura naturata und natura naturans keine Gegensätze, sondern „alles, was da ist, ist das Produkt einer freien, sich selbst organisierenden Tätigkeit. […] Die Natur selbst, und zwar die ganze irdische, endliche Natur, gerade auch die Natur des Mängelwesens Mensch, besitzt eine eigene, wenn auch anfangs unbewusste, dunkle, produktive Kraft, die sie zur Verwirklichung ihrer Freiheit antreibt“ (Neumann 2020, 71).

Das statische Denken und das Analysieren eines Seins-Zustandes werden durch ein dynamisches Denken, ein Denken des Werdens ersetzt und damit wird die

„Philosophie […] also nichts anders, als eine Naturlehre unseres Geistes. […] Wir betrachten das System unserer Vorstellungen nicht in seinem Seyn, sondern in seinem Werden. Die Philosophie wird genetisch, d.h. sie läßt die ganze nothwendige Reihe unserer Vorstellungen vor unseren Augen gleichsam entstehen und ablaufen“ (Schelling 1995, 277).

Schaffende und geschaffene Natur haben einen gemeinsamen Kern, ein gemeinsames Telos:

„In Schellings und Hegels objektivem Idealismus ist die Natur zwar nicht schon in ihren anorganischen Gestalten beseelt, jedoch Geist-an-sich, etwas, dessen innerer Kern, dessen Telos Subjektivität ist, auch wenn sie erst nach einem langen Entwicklungsprozeß für sich wird, expliziert wird. Doch auch unabhängig von diesem Prozeß kommt der Natur eine eigene Würde zu, […] , etwas Sinnhaftes, in dem Seiendes, Gutes und Schönes konvergieren und das der Mensch als Abbild des Absoluten- nicht als seine eigene Konstruktion- zu ehren und zu lieben hat“ (Hösle 1994, 56).

Der objektive Idealismus verbindet „die Wahrheit des Realismus“, die Möglichkeit, objektive, mathematisierbare Erkenntnisse über die Natur zu gewinnen und den „subjektiven Idealismus“ (Hösle 1994, 47), der die Erfassung des Wesens der Natur ermöglicht. Mit dem objektiven Idealismus wird auch der o.g. Forderung nach einer ganzheitlichen Bildung Rechnung getragen. Das Bildungsziel, Natur und die natürlichen Ressourcen als schützenswert zu empfinden, Pflanzen und Tieren als Lebewesen mit Empathie zu begegnen, dynamische Gleichgewichte, wie z. B. das Klima als anfällig gegenüber menschlichen Eingriffen zu wissen, das alles kann man nur erreichen, wenn zusätzlich zu der rein rationalen, wissenschaftlichen Betrachtungsweise auch das Herz, die Liebe zur Natur in Heranwachsenden geweckt wird. Die Würde und Schönheit der Natur, und damit auch des Menschen, wird bildungswirksam entfaltet, indem die Subjektivität zurückgewonnen wird. Dies stellt im Zeitalter des Klimawandels, der versiegenden Rohstoffe und der Funktionalisierung des Menschen zu einem mechanistischen Objekt eine wiederzubelebende Aufgabe dar. Die indigene Botanikerin Robin Wall Kimmerer beschreibt dieses Zurückgewinnen der Ganzheit in ihrem Buch „Geflochtenes Süßgras“ sehr eindrücklich. Sie ist den Weg vom ganzheitlichen Naturerlebnis der Kindheit über die reine, eindimensionale Wissenschaftlichkeit zurück zu der ganzheitlichen, auch wissenschaftlichen Betrachtung zurück gegangen. Sie beschreibt die erwünschte Suche nach der Ganzheitlichkeit so:

Ich wollte die Architektur der Beziehungen, der Verbindungen verstehen. Ich wollte die blinkenden Fäden sehen, die alles zusammenhalten. Und ich wollte wissen, warum wir die Welt lieben, warum das normalste Stückchen Wiese uns vor Bewunderung zutiefst ergreifen kann“ (Kimmerer 2021, 61).

Das indigene Naturverständnis ist von einem Ausgleich, einem Geben und Nehmen geprägt, einer „Tradition der Ehrenhaften Ernte: Man nimmt nur, was man braucht, und verbraucht alles, was man nimmt“ (Kimmerer 2021, 172). Kimmerer, die in ihrer amerikanischen Schulzeit den Schwur auf die Flagge gewohnt war, fragt sich, welcher Schwur stattdessen sinnvoller wäre.

„Wie wäre es, auf der Grundlage der Dankbarkeit erzogen zu werden, sich als Mitglied einer Demokratie der Lebewesen an die Natur zu wenden, einen Schwur der gegenseitigen Abhängigkeit zu leisten?“ (a.a.O., 134).

Dadurch würde eine „Dankbarkeitskultur“ entstehen, eine „Kultur der Reziprozität“ (a.a.O., 137), in der jeder Mensch auch seine Verantwortung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen übernehmen würde.

Aus solch einem Naturverständnis, das einerseits an der wissenschaftlichen Erforschung der ökologischen Beziehungen und Verbindungen interessiert ist, zugleich aber auch die Schönheit und Erhabenheit der Natur einbezieht, ergeben sich auch unmittelbare Folgerungen für den Technikbegriff. Ein objektiv idealistischer Naturbegriff verträgt sich nicht mit bedingungsloser Ausbeutung von Rohstoffen, geplanter Obsoleszenz und unkontrollierten Emissionen.

2.2.1.2 Besinnung auf Kultur als Totalität menschlicher Hervorbringungen

Eine Untersuchung mit dem Titel „Technik, Kultur, Bildung“ muss auch den zugrunde gelegten Kulturbegriff klären. Dazu ist es, wie beim Naturbegriff, auch notwendig, die historischen Veränderungen der Begriffsentwicklung nachzuvollziehen, um deren Wirkung auf den Bildungsbereich zu verstehen. Analog zum Bildungs- und Erziehungsbegriff gibt es erneut eine Besonderheit im deutschen Sprachraum, die Unterscheidung in Kultur und Zivilisation.

Die Begriffe Zellkultur, Obstkultur oder Mischkultur weisen auf die ursprüngliche Wortherkunft vom lateinischen cultura (Anbau, Pflege (Stowasser 2021, 192)) hin. Daraus ergaben sich

„Übertragungen in verschiedene Bereiche: dies kann die Pflege des Menschen, seine Erziehung und Sorge um sich selbst meinen; aber auch abstrakter, die Pflege von Wissenschaften und Künsten und schließlich die übernatürlichen Dinge, die Verehrung von Göttern oder des Gottes umfassen. »Cultura autem animi philosophia est«, heißt es bei CiceroFootnote 21“ (Bollenbeck 1996, 38).

Diese »cultura animi«, die Pflege der Seele, wurde „in der Frühen Neuzeit zum Ausgangspunkt für die Etablierung des modernen Kulturbegriffs“ (ebd.).

Im Mittelalter erhielten sich nur die Bedeutungen für „cultus“ in Bezug auf religiöse Kulte und die Bedeutung für „cultura“ im landwirtschaftlichen Bereich. Die umfassenderen, abstrakten Bedeutungen gerieten in Vergessenheit.

„Ohne mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu brechen, beginnt in der Renaissance die Auflösung der theozentrisch- anthropomorphen durch eine subjektiv- anthropozentrische Perspektive“ ((Bollenbeck 1996, 42), Hervorh. THM).

Die Begriffe „cultura“ und „cultus“ werden wieder in einem erweiterten Sinne der Herausbildung von Individualität und der Bildung eines „geistigen Erfahrungskapitals“ (a.a.O., 44) benutzt. Dies ist schon als erzieherisches Programm zu werten „und so überrascht es nicht, dass mit der Cicero-Renaissance bei Erasmus oder Thomas Morus, die »cultura ingenii«, das heißt die Ausbildung aller Anlagen, gefordert wird“ (a.a.O., 45). Durch die Wiederbelebung der Antike wird die studia humanitas, die Verpflichtung des Menschen zur Selbsterkenntnis und zum Menschsein zum Namensgeber des Humanismus.

„Bei Bacon […] erscheint »cultura animi« an zentraler Stelle, nämlich in der Ethik, im Zusammenhang mit einem Persönlichkeitskonzept, das auf Erziehung als Ausweitung von Wissen in praktischer Absicht setzt. Dahinter steckt die Idee einer Pflicht des Menschen zur Erkenntnis wie die Behauptung eines Anspruchs der Menschheit auf Wissenschaft“ (a.a.O., 45).

Diese Kopplung von Selbsterkenntnis und Welterkenntnis durch Wissenschaft bildet immer noch den Kern heutiger Bildungs- und Erziehungsbemühungen.

Ähnlich wie bei cultura und cultus erhielt auch das Wort civilitas im Zeitenlauf unterschiedliche Bedeutung. Abgeleitet von Substantiv civis (Bürger (Stowasser 2021, 137)) bedeutete civilitas zunächst im antiken Latein „Freundlichkeit, Leutseligkeit“ (Stowasser 2021, 137). Die Begriffe bezeichneten Zustände und dienten einerseits als Abgrenzung gegenüber „Barbaren“, andererseits zur Kennzeichnung des städtischen Lebens als ein Leben in der Gemeinschaft, das bestimmter Regeln des Zusammenlebens bedarf.

„Voraussetzung für den Neologismus »civilisation« als moderner, geschichtsphilosophisch aufgeladener Bewegungsbegriff sind allerdings transitive Wortformen“ (Bollenbeck 1996, 51). Während durch das Entstehen von Nationalstaaten in England und Frankreich und dem damit einhergehenden Zentralismus auch die Sprache vereinheitlicht wurde, führte die Kleinstaaterei in Deutschland zu einem bunten Flickenteppich, der sich einerseits sprachlich darstellte, andererseits aber auch zu einer wissenschaftlichen Fülle führte, weil sich in unterschiedlichen Gebieten unterschiedliche Lehrmeinungen etablieren konnten, abhängig auch von den religiösen Präferenzen der Landesfürsten. Daher konnte sich auch das Wort »civilisation« in Deutschland erst sehr spät etablieren. Der deutsche Naturrechtler Samuel Pufendorf (1632–1694) rückte den Begriff »cultura« „in den Zusammenhang von neuzeitlichem Naturrecht und Aufklärung“.

„In dessen Staatslehre findet sich bei der theoriegeschichtlich folgenreichen Betonung der ethischen Freiheit und Würde des einzelnen, der Herausstellung des Sozialen wie der wechselseitigen Pflichtbindung zwischen Herrscher und Untertanen ein komplexer Bedeutungsinhalt und eine markante Bedeutungserweiterung von »cultura« und »Kultur«“ (Bollenbeck 1996, 55).

Der Begriff Kultur wird erstmals in einer strikten Abgrenzung von einem hypothetischen Naturzustand (status naturalis) verwendet, in dem der Mensch zwar einerseits eine natürliche Freiheit besitzt, andererseits aber auch vereinzelt als Mängelwesen lebt. Das zivilisierte Leben, der status civilis, wird dem status naturalis entgegengesetzt und die „»socialitas« als Fundament der Gesetzlichkeit, Ordnung und Lebensannehmlichkeit“ wird „weltimmanent erklärt“ und bedarf „keiner transzendenten Legitimation“ (a.a.O., 58).

Im Kameralismus, der deutschen Abwandlung des Merkantilismus, ging es weniger um den Aufbau von Manufakturen und Handelsmacht als vielmehr um die Steigerung des Gemeinwohls durch Verbesserung von Anbaumethoden und um den Wiederaufbau, bzw. Neubau von Siedlungen nach dem dreißigjährigen Krieg.

„Im Kameralismus ist somit bei »Cultur« in der Regel klar, was das Wort meint. Eben weil »Cultur« dem Handeln des absolutistischen Staates zugerechnet wird, bleibt der Bedeutungsinhalt unstrittig, während sich der Bedeutungsumfang, gemäß dem allgemeinen absolutistischen Politikverständnis der »allgemeinen Wohlfahrt« ausweitet. Mit dem Kameralismus beginnt sich »Cultur« in der entstehenden deutschen Nationalsprache festzusetzen“ (Bollenbeck 1996, 65).

Der Wortgebrauch ist aber weder „reflexiv noch verzeitlicht“ (a.a.O., 66), d.h. es wird weder über die Geschichtlichkeit von Kultur nachgedacht noch über andere mögliche Konstruktionen von Kultur. „‚Kultur‘ ist häufig dann zur Stelle, wenn es um die Erziehung der Geister, Milderung der Sitten, Ausbildung der Höflichkeit, Förderung der Wissenschaft und Künste, Pflege des Bodens, Entwicklung des Handels und der Industrie, oder schließlich die Organisation der Gesellschaft geht“ (a.a.O., 67), eine z. T. erzieherisch geprägte Wortbedeutung, die der „Enkulturation“ nahekommt.

Das Zeitalter der Aufklärung war dadurch gekennzeichnet, dass es um die Befreiung des Menschen aus unterdrückenden Verhältnissen des Absolutismus ging. Individuell sollte diese Befreiung insbesondere durch den Siegeszug der Vernunft geschehen, wie es das berühmte Kant-Zitat nahelegt:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant 1784a).

Diese Vernunftbetonung brachte den Rationalismus und den Empirismus und damit Fortschritte in den Wissenschaften hervor. Der Aufstieg des Bürgertums durch die Blüte von Handel und Gewerbe wandelte die Gesellschaft. „Die pädagogischen Gedanken des Philanthropismus setzen auf ein »gemeinnütziges, patriotisches und glückseliges Leben«“ (Bollenbeck 1996, 127). Die „Selbsterhaltung des Subjekts (als) leitendes Prinzip der Aufklärungsphilosophie“ bringt einen »Besitzindividualismus«Footnote 22 hervor, der auf eine Befriedigung von Bedürfnissen abzielt, ohne das Gemeinwohl dabei zu vergessen. Der Kulturbegriff umfasste daher auch „Technik und Gewerbe, Fertigkeiten und Fleiß“ (Bollenbeck 1996, 134).

Erst in der Spätaufklärung, Ende des 18.Jh., erfährt der Kulturbegriff den Wandel zur heutigen Bedeutung durch eine veränderte Geschichtsauffassung und ein gewandeltes Gesellschaftsbild. Der Kulturbegriff wird vom statischen Begriff zum Ausdruck von Dynamik, der im gleichen Atemzug mit Fortschritt, Voranschreiten und Veränderung genannt wird. Es findet aber nicht nur eine Verzeitlichung des Kulturbegriffs statt, sondern durch die Entdeckungsreisen auch eine Verräumlichung.

„Erst mit der Entdeckung der »Wilden« wird »die Menschheit« empirisch bestätigt und zugleich wieder fraglich, befinden die sich doch aus der Sicht des »civilen« Europas noch in der Barbarei. […] Aber erst mit der Verzeitlichung gerät der Unterschied in der räumlichen Gleichzeitigkeit zur historischen Ungleichzeitigkeit, zur Differenz (die Metapher macht es deutlich) der »Kulturstufen«“ (Bollenbeck 1996, 74).

Verzeitlichung und Verräumlichung des Kulturbegriffs sind Ausdruck einer neuen geschichtsbewussten Denkweise, die dem Rationalismus „der Logik der klaren deutlichen Begriffe die Logik der historischen Individualität und Prozesse entgegenstellt“ (a.a.O., 76). Indem „Kultur“ vergangene und gegenwärtige Zustände vergleichend beschreibt, sind damit auch Wertungen möglich, die gesellschaftliche Zustände als wünschenswert oder als minderwertig beurteilen, eine wesentliche Voraussetzung für ein kolonialistisches Denken, das sich aus einem kulturellen Überlegenheitsanspruch ableitet. Zugleich entsteht aber auch das Bewusstsein von der Unverfügbarkeit und Zufälligkeit von Geschichte.

Die spezifisch deutsche Wende hin zur Verwendung des Kulturbegriffs als Medium der Bildung“ (a.a.O., 96) vollzog sich in der geschichtsträchtigen Zeit zu Beginn des 19.Jh. (französische Revolution, industrielle Revolution, Neuordnung Europas durch Napoleonischen Einfluss, Abstieg der Feudalgesellschaft, Aufkommen „kapitalistisch- rationaler Mentalitäten“ (a.a.O., 99)). Die Sympathie mit der Gedankenwelt, die in Frankreich 1789 zur Revolution geführt hatte, war auch in Deutschland noch gegeben, jedoch versucht

„nach dem Schock über den Terror der Französischen Revolution […] das Gros der Intelligenz, die Ziele der Revolution reformorientiert zu erreichen, indem es auf die Emanzipationschancen des Individuums setzt und die Veränderung der Verhältnisse zurückstellt“ (Bollenbeck 1996, 128).

Das Tätig-Werden gerät in den Hintergrund, die geistigen Leistungen in den Vordergrund. „Die neuartige Wertschätzung des »rein Geistigen« bewirkt eine Herabminderung der praktischen Dinge und der Erziehung zur Praxis“ (Bollenbeck 1996, 100). Dafür waren aber nicht in erster Linie die idealistischen Philosophen (Fichte, Hegel, Schelling) verantwortlich, sondern vor allem „Theoretiker und Praktiker des Bildungswesens wie (allen voran) W.v.Humboldt, Niethammer oder von Süvern“ (a.a.O., 100). Humboldt „plädiert für die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat und propagiert eine »Reform durch fortschreitende Bildung«“ (Bollenbeck 1996, 143). Das höchste Ziel, die „Steigerung der Individualität zur Idealität“ (a.a.O., 146), kann durch „alle Objektivationen des menschlichen Geistes, Kunst, Philosophie und Sprache“ (ebd.) erreicht werden. In der Beschränkung auf Kunst, Philosophie und Sprache wird die bildungsphilosophische Begrenztheit Humboldts Entwurf deutlich. Er blendet nicht nur alle anderen Objektivationen des menschlichen Geistes, insbesondere technische Objektivationen aus, sondern ist zugleich auch naturwissenschaftsblind. Dass dies aber noch in die heutige Zeit nachwirkt, liegt vor allem an dem bildungsreformerischen Einfluss, den Humboldt durch seine soziale Vernetzung hatte. Einer Idee Arnold Gehlens folgend, sorgen erst Institutionen dafür, dass Ideen dauerhaft stabilisiert werden:

„Meine These ist die, daß Ideensysteme jeder Art ihre Stabilität, ihren zeitüberdauernden Geltungsrang, ja ihre Überlebenschance den Institutionen verdanken, in denen sie inkorporiert sind“ (Gehlen 2017, 76)

Die Zuordnung der „Kultur“ als Medium der Bildung in der Institution des humanistischen Gymnasiums sorgt für diesen stabilisierenden Effekt. Die Begriffsbedeutung von Kultur wird massiv verkürzt und es kommt zu einer symbolischen Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft

„auf drei Ebenen: Das Deutungsmuster drückt gesellschaftliche Beziehungen aus und organisiert sie; es befestigt die soziale Identität der Trägerschicht (des Bildungsbürgertums, Anm.THM) und erlaubt Distinktionen »nach oben« und »unten«; schließlich regelt es gesellschaftliche Bewußtseins- und Wissensbestände“ (Bollenbeck 1996, 159).

Noch heute zeigt sich die soziale Segregation und die damit verbundene Bildungsbenachteiligung am Besuch unterschiedlicher Schulformen (vgl. (Baumert und Deutsches PISA-Konsortium 2001).

Eine weitere begriffliche Besonderheit in Deutschland, die Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation, führte auch zu der Zuordnung der Technik zur Zivilisation.

Schon bei Kant taucht die begriffliche und normative Trennung von Kultur und Zivilisation auf, die vor allem Anfang des 20.Jh. eine besondere Brisanz erhalten sollte.

„Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus“ (Kant 1784b, 26)

Während Kant die Unterscheidung dazu verwendet, moralische Qualitäten voneinander abzugrenzen, wird sie Anfang des 20.Jh. in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland im Ersten Weltkrieg zur nationalistischen Zuspitzung genutzt, indem dem Feind im Westen Kultur abgesprochen und lediglich Zivilisation zugeschrieben wird.

Die Erfolge der Technik und der Industrie zu Beginn des 20.Jh., die zu einem Nachdenken über den herkömmlichen Bildungsbegriff hätten zwingen müssen, wurden mit dem neuen Nationalismus „der erstarkten Nation zugerechnet“ (Bollenbeck 1996, 245). Jedoch bringt diese Hilfskonstruktion auf Dauer die „stereotype Selbstaufwertung der »Gebildeten«“ (Bollenbeck 1996, 245) ins Wanken und „die Berufung auf »Bildung« und »Kultur« zeugt seit Ende des 19.Jahrhunderts eher von einer verunsicherten Identität innerhalb der »guten Gesellschaft«“ (a.a.O., 246).

In der nationalistisch aufgeladenen Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation stecken drei Probleme:

„So ist schon in der spezifisch deutschen semantischen Innovation ein gelockerter Realkontakt angelegt. Das Deutungsmuster erschwert nötige Einstellungsänderungen, und es wird auf die industrielle Moderne vorrangig kulturpessimistisch reagieren“ ((Bollenbeck 1996, 284), Hervorh.THM).

Dieser Kulturpessimismus zeigt sich noch heute bei gesellschaftlichen Gruppierungen, die auf technische Neuerungen kritisch und ablehnend reagieren und damit notwendige Einstellungsänderungen hinauszögern, auch im Bereich der Technischen Allgemeinbildung.

Die sich rasant entwickelnden Naturwissenschaften und deren Erfolge, man denke nur an Lise Meitner, Marie Curie, Robert Röntgen und Albert Einstein, passen nicht in das Bild des neuhumanistischen Bildungsideals. Die sich verändernde WissenschaftlichkeitFootnote 23 führt auch zur neuen Disziplin der Kulturphilosophie, die „in ihrer Gesamtheit […] als Amalgam aus Historismus, Neukantianismus und Lebensphilosophie“ (Bollenbeck 1996, 256) erscheint, mit Vertretern wie Stein, Simmel, Rickert, Windelband, Litt, Spengler und Cassirer.Footnote 24

Georg Simmel, der in seiner 1911 erstmals erschienen Essaysammlung „Philosophische Kultur“ die Kultur als „den Weg der Seele zu sich selbst“ ((Simmel 2008, 199), Hervorh.THM) charakterisiert, entfaltet in dem Aufsatz „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ die für Bildung und Erziehung unzertrennliche Wechselwirkung von Subjekt und Objekt. Dabei beschränkt er sich bei der Aufzählung der „Stationen“ nicht auf einen engen Objektbereich, sondern geht von einem sehr weiten Kulturbegriff aus.

„Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen- sind die Stationen, über die das Subjekt gehen muß, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur heißt, zu gewinnen“ (Simmel 2008, 201).

Persönlichkeitsbildung, Subjektwerdung, ist also nur im Wechselspiel mit den geistigen Objektivationen, der Kultur, möglich. Zugleich aber entsteht Kultur erst auf dem „Weg der Seele zu sich selbst“. Simmel drückt dies so aus:

„Kultur entsteht- und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis-, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis“ (a.a.O., 202).

Bergsons LebensphilosophieFootnote 25 scheint Simmel beeinflusst zu haben (zumal Simmel die Übersetzung Bergsons Werk ins Deutsche veranlasst hat), wenn Simmel schreibt, dass die menschliche Entwicklung „als ein Bündel von Wachstumslinien“ erscheint, die bei „singulärer Vollendung“ erst dann zur Kultivierung des Menschen werden, wenn sich eine „personale Einheit“ entwickelt (Simmel 2008, 200). Dieses Werden des kultivierten Menschen als Wechselspiel von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation wird sehr treffend durch folgendes Bild zusammengefasst:

„Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“ (a.a.O, 200)

„Entfaltete Einheit“ erscheint wie ein abgeschlossenes Produkt. Hier ist Bergsons Bild vom Leben als stetiger Wandel, als ein nicht abgeschlossener Prozess zutreffender, demzufolge auch Bildung nicht endet.

Simmels Ansatz ist stark lebensphilosophisch geprägt und deckt in einem bildungstheoretischen Kulturkonzept die personelle Seite ab, den „Weg der Seele zu sich selbst“, die Wechselwirkungen zwischen den Objektivationen und dem Subjekt. Ernst Cassirer ist in seinen kulturphilosophischen Untersuchungen auf der Suche nach einem verbindenden Element der Kultur und findet es im Symbolischen, wenn er schreibt:

„Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen der Kultur sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren“ ((Cassirer 2007, 51), Hervorh.THM).

Auch in diesem unscheinbaren Zitat steckt die Verbindung zwischen der reflexiven Bildung, der Persönlichkeitsbildung und dem Erzogen-werden, der Enkulturation. Das Verstehen von Kultur und in der wechselseitigen Bedingtheit (vgl. Klafki S. 38) auch das Sich-selbst-Verstehen in dem Kulturraum, setzt nicht nur die vernunftmäßige Erfassung, das rationale, wissenschaftliche Verstehen voraus, sondern auch das Erfassen der symbolischen Bedeutungen. Die Semiotik befasst sich mit diesen Bedeutungen und unterscheidet sie in Denotation und Konnotation.

„Unter Denotation wollen wir dagegen die unmittelbare Bezugnahme verstehen, die ein Ausdruck im Empfänger der Botschaft auslöst“ (Eco 2002, S. 102).

Umgangssprachlich kann man Denotation auch als situations- und kontextunabhängige Hauptbedeutung bezeichnen.

Konnotation ist die Gesamtheit aller kulturellen Einheiten, die von einer intensionellen Definition des Signifikans ins Spiel gebracht werden können; sie ist daher die Summe aller kulturellen Einheiten, die das Signifikans dem Empfänger institutionell ins Gedächtnis rufen kann. Dieses „kann“ spielt nicht auf psychische Möglichkeit an, sondern auf eine kulturelle Verfügbarkeit“ ((Eco 2002, S. 108), Hervorh. THM).

Konnotation kann man umgangssprachlich als kontext- und situationsabhängige Nebenbedeutung bezeichnen. Die Besonderheit von Kultur, die in Schule erfahrbar werden muss, damit man von gelungener Enkulturation sprechen kann, ist, dass ein gemeinsames Verstehen und Verständigung über einen Gegenstandsbereich in einem Kulturraum nur möglich sind, wenn sowohl die Denotationen (Hauptbedeutungen) als auch die Konnotationen (Nebenbedeutungen), alles Symbolische, Mystische, Ästhetische usw., welche erst das Ganze, das „Wesen“ eines Gegenstandsbereichs ausmachen, geklärt werden.

Der gebräuchliche Kulturbegriff des deutschen Feuilletons, der uns als Rubrikenüberschrift in Tages- und Wochenzeitungen begegnet, ist dazu ungeeignet, weil er von Vorneherein bestimmte Erscheinung, wie die Hervorbringungen der Technik, aus dem Kulturbegriff ausschließt. Er eignet sich daher nicht, das Ganze der Kultur abzubilden.

„Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutung sucht“ ((Geertz 2003, 9), Hervorh.THM)

Dieser Kulturbegriff Geertz‘ passt nicht nur zum Vorsatzbild des Webstuhls, sondern steht stellvertretend für einen geisteswissenschaftlichen Begriff, der Kultur als „System von Bedeutungen“ (König 2010, 73) definiert. Sieht man diesen Begriff als Inbegriff, der „das Grundlegende, Eigentliche, Bestimmende des menschlichen Daseins“ (König 2010, 75) erfasst und nicht nur als einen Aspekt von Kultur, dann wird dadurch das Materielle aus den Betrachtungen ausgeklammert (vgl. König, 75). Dadurch eignet sich diese Begriffsbestimmung für das Verstehen und die Verständigung, nicht aber für das Handeln und Gestalten, das sich mit den menschlichen Hervorbringungen beschäftigt. Einen dreiteiligen Kulturbegriff, der auch die Artefakte einschließt, entwickelt Schön in „Die Sprache der Zeichen“:

„Betrachten wir die Kultur als umfassendes System, lassen sich grob drei wesentliche Bestandteile ausmachen: Erstens gehört dazu eine aus einer Menge von Individuen bestehende Gesellschaft mit ihren Teilsystemen wie Religion, Wirtschaft, staatliche Institutionen und so weiter. Zweitens weist eine Kultur Artefakte auf (von lat.ars,»Kunst«, und factum,»das Gemachte«), also Gegenstände wie zum Beispiel Waren- von der Plastikgabel bis zum Flugzeug- Kunstobjekte oder Gebäude. Artefakte müssen aber nicht zwangsläufig gegenständlicher Natur sein. Hierzu zählen ebenso Lieder und Legenden, die nur mündlich tradiert werden. Drittens sind Kulturen von mentalen Vorstellungen, Konzepten und Begriffen geprägt, die selbst nicht als Artefakte existieren (können), wie etwa die Idee von Gott, Elfen oder Einhörnern oder die Begriffe der Vernunft, der Gerechtigkeit oder Ähnliches“ ((Schön 2016, 149), Hervorh.THM).

Einen zu Schön vergleichbaren Kulturbegriff entwickelt Ropohl, indem er „die Menge aller Artefakte als Kultur“ (Ropohl 2010, 51) definiert und die Artefakte klassifiziert in technische, ästhetische, symbolische, kognitive und institutionelle (a.a.O., 52; vgl. Abb. 2.4).

Abbildung 2.4
figure 4

Technik als Teil der Kultur. (aus: Ropohl, 2010, 52)

Die drei Differenzlinien der sozialen, materiellen und ideellen Kultur lassen sich zu einem Begriff von „Kultur als Totalität der menschlichen Hervorbringungen“ ((König 2010, 75), Hervorh. THM) als weiteste Definition bündeln. Dieser sehr weite Kulturbegriff als Gegenbegriff zur Natur wird zwar durch die Differenzierung wissenschaftlich handhabbar (vgl. König, S. 76), aber noch nicht bildungstheoretisch. Ballauff ordnet der Schule in seiner sehr systematischen und kleinteiligen Analyse verschiedene Funktionen zu. Der theoretischen Funktion der Schule bescheinigt er

„nicht „Weltabkehr“, […] sondern „Weltaufschluß“, in welchem nicht nur wir uns die Welt eröffnen, sondern wir selbst als Kosmopoliten, Kosmotechniten, Kosmotheoroi hervorgerufen werden“ (Ballauff 1982, 380).

Diese „höchst verdichtete dreistellige Reduktion“ (Wiesmüller 2006, 148) beschreibt den Zielzustand, die „teleologische Funktion“ (vgl.(Ballauff 1982, 306 ff)) von Schule.

Duncker fasst in Anlehnung an CassirerFootnote 26 Enkulturation nicht als Produkt, sondern als dynamischen Prozess, als einen Weg zu etwas hin, als Methode (von μετά (metá) „hinter, nach“ und όδός (hodós) „Weg“ auf. Deshalb wird hier eine andere dreistellige Reduktion von Kultur in Erleben, Verstehen und Gestalten vorgeschlagen, die später noch philosophisch untermauert wird (vgl. S. 104 f.).

Diese dreistellige Reduktion bildet sich nach Bergsons „Schöpferischer Evolution“ auch in der Sprache ab:

„Und so gelangt er (der Geist, Anm.THM), wie wir gerade gezeigt haben, zu drei Arten von Vorstellungen: 1. Qualitäten, 2. Formen oder Wesenheiten, 3.Akte. Diesen drei Arten zu sehen, entsprechen drei Kategorien von Wörtern: die Adjektive, die Substantive und die Verben, die die Grundelemente der Sprache darstellen. Adjektive und Substantive symbolisieren also Zustände“ (Bergson 2013, 344).

Die Adjektive drücken die Qualitäten des Erlebens aus (Herz), die Substantive das Substantielle, das Verstehen der Formen und Wesenheiten (Kopf) und die Verben stehen für die Akte des Handelns und Gestaltens (Hand).

Das Erleben fängt mit der Wahrnehmung, mit dem Perspektivwechsel, der Horizonterweiterung an. Unterrichtlich gesprochen würde man diese Phase als Motivationsphase bezeichnen. Das Erleben wird aber nur dann zu einer Motivationsphase, wenn das Erlebte auch mit Emotionen (wörtlich übersetzt „Herausbewegungen“) verbunden ist, die „Herz-Komponente“ in Pestalozzis Trias. Da auch eigene körperliche Bewegung zu innerer Bewegtheit (Motivation) führen kann, schließt das Erleben auch diese körperliche Komponente ein, bei Pestalozzi auf „Hand“ reduziert.

Verstehen als ein intraindividueller Prozess ist zwar von außen nicht zu beobachten aber dennoch unterrichtlich plan- und unterstützbar. Das Verstehen wird maßgeblich durch vorhandene kognitive und soziokulturelle Voraussetzungen, zu denen auch Werthaltungen zählen, bestimmt. Insbesondere die Heterogenität der soziokulturellen Voraussetzungen machen die Planung schwierig. Verstehen heißt, dem Erlebten, Wahrgenommenen eine Bedeutung beizumessen, es mit eigenem Sinn zu versehen und damit in die vorhandenen kognitiven und emotionalen Strukturen einzubetten, um aus der „geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“ (Simmel 2008, 200) zu gelangen. Dieser Verstehensprozess ist zwar auf soziale Interaktion der Enkulturationsbeteiligten angewiesen aber „theoretische Ansätze, die das soziale Moment zum Ausgangspunkt wählten (wie symbolischer Interaktionismus, soziales Lernen, Kommunikationstheorien usw.) (reichten) nicht an die wahre Substanz heran“ (L. Duncker 1994, 57). Vielmehr gilt:

„Die kulturellen Instrumente sind es, die die Menschen miteinander verbinden. […] Sie machen die Menschen überhaupt erst zu sozialen Wesen. In dieser Weise sind alle menschlichen Sozialkontakte durch kulturelle Medien vermittelt“ (Loch 1977, 403).

Soziale Interaktion ist demnach Bestandteil von Kultur und daher ist Enkulturation der „wahre Grund“ der Erziehung.

Gestalten macht Lernen und Verstehen sichtbar. Dies kann das gesprochene Wort ebenso sein, wie etwas Geschriebenes, ein Musikstück oder ein Tanz, ebenso wie ein technisches oder künstlerisches Artefakt eine Berechnung, ein Programm usw.

Die evaluative Komponente der Enkulturation lässt sich verkürzt auf die Formel bringen:

„An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“ (Mt, 7,20), (Die Bibel: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift 2017, 1085)

Damit ist ausdrücklich auch die moralische und ethische Komponente gemeint, die sich im sozial verantwortlichen Handeln zeigt und Mündigkeit und Urteilsfähigkeit voraussetzt.

Deshalb wird in dieser Untersuchung der weite Kulturbegriff, der Kultur als Totalität menschlicher Hervorbringungen versteht, als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen zur Enkulturation herangezogen, wohlwissend, dass mit dem hohen Abstraktionsgrad sowohl die Gefahr der Beliebigkeit als auch die Gefahr der Überforderung verbunden sind.

Bei den nächsten Konkretisierungsstufen, insbesondere bei der Formulierung des Modells einer Allgemeinen Fachdidaktik und später beim Finden von Kriterien für didaktische Reduktion wird sich die „Fruchtbarkeit des anthropologischen Zugriffs“ „bei der Kleinarbeitung in Fragestellungen geringerer Komplexität“ (L. Duncker 1994, 59) erweisen.

Es bleibt auch zukünftig zu beachten, dass sich sowohl der Kulturbegriff als auch der Naturbegriff durch die stetigen Veränderungen in der sozialen, geistigen und materiellen Dimension dynamisch weiterentwickeln.

Wer Kultur für sich beansprucht, indem er z. B. nur geistige Produkte als kulturell bezeichnet, der bewirkt mit seiner Definition im Wortsinn eine Abgrenzung oder auch Ausgrenzung. Gleichzeitig wird damit ein Hierarchiegefälle installiert, das die „Kulturlosen“ als minderwertig, „unkultiviert“, abkanzelt. Diese Art von Intoleranz hat im Laufe der Geschichte zu zahlreichen Konflikten geführt oder auch zu unversöhnlichen Gegensätzen verschiedener Bevölkerungsgruppen (Akademiker-Arbeiter; Handwerker-Mundwerker). Bis in die heutige Zeit gilt Banause als Schimpfwort. Die griechische Urbedeutung ist jedoch „Handwerker“. In dem Wort kommt die Geringschätzung der griechischen Philosophen für körperliche Arbeit zum Ausdruck, die bis in die heutige Zeit reicht und sich in der Geringschätzung des Handwerks gegenüber dem „Mundwerk“ (vgl. (Janich 2015)) ausdrückt, die Geringschätzung der geistigen Elite gegenüber denjenigen, die Dinge machen, etwas herstellen, sich die Finger bei der Arbeit schmutzig machen.

Sobald in eine Beschreibung von Kulturunterschieden Wertungen einfließen, werden die eben beschriebenen Überlegenheitsansprüche zementiert.

Selbst im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung herrscht immer noch soziale Ungleichheit vor, die oft auf Macht und vermeintlicher kultureller Überlegenheit beruht. Bildung und Erziehung, die nachhaltig und zukunftsfähig sein will und ein dauerhaftes Überleben der Menschheit auf diesem Planeten ermöglichen will, muss mehr Wert auf Werte legen, auf Herzensbildung, auf Toleranz und Empathie und muss den Wert des mit der Hand Geschaffenen mehr schätzen und achten.

Aber es hat keinen Zweck, gegen den etablierten Kulturbegriff anschreiben zu wollen, zu meinen, dass durch diese Untersuchung plötzlich ein veränderter Kulturbegriff zu etablieren wäre. Es macht aber Sinn für umfassende Bildung von Kopf, Herz und Hand einzutreten, um diese Art von Intoleranz und Unwissenheit gegenüber der Herzens- und Handbildung zu beseitigen. Die Veränderungen beginnen im Bildungssektor, wie es die Reformen in Preußen, die durch W.v.Humboldt angestoßen wurden, beweisen.

„Ideen sprechen sich nicht nur herum, sie werden verbreitet, sie wirken nur dann, wenn man für sie wirkt […]“ (Gehlen 2017, 77)

Das Ganze des Gegenstandsbereichs von Bildung und Erziehung ist zunächst in Natur und Kultur so weit differenziert, dass sich aus dieser Differenzierung alle weiteren fachlichen Zugriffe ableiten lassen. Werfen wir nun einen Blick auf den Menschen bzw. die Menschen als die Sich-bildenden und Zu-erziehenden.

Wie Neuner im Eingangszitat zu Abschnitt 2.2 betont, setzt sich für die pädagogische Theoriebildung das Menschenbild aus philosophischen, psychologischen und gesellschaftlich-politischen Grundvorstellungen zu einem Ganzen zusammen.

Es kann im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, alle drei genannten Gebiete im Hinblick auf ein Menschenbild für Bildung und Erziehung zu befragen. In gut begründeten Ausschnitten geht es darum, mit überkommenen Vorstellungen aufzuräumen, neuere Erkenntnisse zu berücksichtigen und die Sinnhaftigkeit einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung zu untermauern.

2.2.2 Philosophische Menschenbilder im Hinblick auf Bildung und Erziehung

In seiner „Philosophie der Bildung und Erziehung“ entfaltet Reichenbach exemplarisch zehn philosophische »Ismen«, die jeweils Aussagen zu Bildung und Erziehung gemacht haben oder ermöglichen (vgl. Tabelle 2.2). Mit der Formulierung einer jeweils zentralen Metapher verbindet er den didaktischen Sinn, dass

„diese metaphorischen Strukturierungen in der ein oder anderen Form für das Nachdenken über Bildung und Erziehung auch der Gegenwart nicht hintergehbar (bleiben)- u. a. weil die »einheimischen Begriffe« der Pädagogik allesamt eher Metaphern als Begriffe sind“ (Reichenbach 2007, 25).

Neben wichtigen Protagonisten der »Ismen« versucht Reichenbach mit dem Begriff der Sozialutopie „die behandelte Perspektive hinsichtlich ihrer demokratischen, demokratietheoretischen und/oder politischen Dimension zu beleuchten“ (Reichenbach 2007, 27).

Tabelle 2.2 Perspektiven, Metaphern, Protagonisten und Sozialutopien von zehn »Ismen« (nach (Reichenbach 2007, 26 f))

Wenn Reichenbach zur konzentrierten Darstellung dieser zehn »Ismen« mit ihren Vor- und Nachteilen 241 Seiten füllt, dann stellt sich hier die Frage, wie man mit diesen Erkenntnissen weiter verfährt, ohne sich den Vorwurf des Eklektizisten einzuhandeln.

Ein erster Versuch besteht darin, die Wechselbeziehung der zehn Ismen zu betrachten und diejenige philosophische Perspektive, die die meisten Wechselbeziehungen zu anderen Perspektiven hat, als Bezugsperspektive für die weiteren Betrachtungen zu wählen. Hierzu bietet Reichenbach ein Instrument in Form einer Tabelle an (vgl. Tabelle 2.3). Zunächst fällt auf, dass die Aufklärung zu allen anderen Perspektiven Wechselbezüge aufweist. Dies ist insofern nicht verwunderlich, weil das zentrale Ziel von Aufklärung, die Mündigkeit, ein für Erziehung konstitutives Element ist.

Sehr viele Wechselbezüge zu andren »Ismen« weisen auch der Existenzialismus und der Postmodernismus auf.

Beschränken wir uns also zunächst auf diese drei »Ismen« und fragen uns, ob durch diese drei Ansätze die Ziele der Persönlichkeitsbildung und Enkulturation mit den Gegenstandbereichen Natur und Kultur angemessen erfasst sind.

Tabelle 2.3 Zehn philosophische Perspektiven und ihre wechselseitigen Bezüge (abgewandelt nach (Reichenbach 2007, 24))

2.2.2.1 Mündigkeit und die „Dialektik der Aufklärung“

Abbildung 2.5
figure 5

(Quelle: http://www.deutschestextarchiv.de/kant_aufklaerung_1784/17 (Zugriff 26.3.2020: 16:25Uhr)Footnote

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“

Quelle:https://de.wikipedia.org/wiki/Mündigkeit_(Philosophie)(letzter Zugriff: 27.1.2020, 18:05)

)

Kant zur Beantwortung der Frage: „Was ist Aufklärung?“.

Die Antwort Kants auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ dürfte den meisten Pädagogen vertraut sein. Sie wird schwerpunktmäßig mit dem Gebrauch des Verstandes in Verbindung gebracht. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass dazu nach Kant auch Mut und Entschlossenheit notwendig sind und dass Feigheit und Faulheit dazu führen, dass Menschen zeitlebens unmündig bleiben (Abb. 2.5).

Damit kommen neben dem Verstand auch Affekte und Gefühle ins Spiel, die zum Verstand hinzutreten müssen, um als aufgeklärt zu gelten.

Formuliert man als Bildungsziel die Mündigkeit der Schüler, die man aus der Schule entlässt, so müssen diese neben der Verstandesschulung auch lernen, wie man „Feigheit und Faulheit“ überwindet und stattdessen Mut und Entschlossenheit lernt, denn:

„Mut, Herz und offenes Denken sind die Kräfte, die den Gehorsam besiegen“ (Gruen 2014, 89).

Setzt man den Satz von Arno Gruen fort mit, „und den Menschen verantwortlich handeln lassen“, dann wird hier ein Zusammenhang zwischen „Kopf“, „Herz“ und „Hand“ benannt, der vor allem mit neueren Persönlichkeitstheorien geklärt werden kann (siehe auch Abschn. 2.2.3).

Die Erkenntnisse der Psychologie zur Freiheit von Entscheidungen und zur Vielzahl von Entscheidungen, die ohne den Verstand, nur unbewusst getroffen werden, lassen Zweifel am bisherigen Mündigkeitsverständnis aufkommen.

Dennoch wird jede Lehrkraft zunächst der Forderung Janks und Meyers zustimmen:

„Die einzige vernünftige übergeordnete Norm, an der didaktische Modelle und unterrichtspraktisches Handeln von Lehrern und Schülern zu messen sind, ist die Verpflichtung zur Aufklärung und Mündigkeit“ (Jank und Meyer 2014, 122).

Es ist aber zu klären, ob die Zielformulierung „Aufklärung und Mündigkeit“ hinreichend ist.

„Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System“

(Horkheimer und Adorno 2019, 31).

Zweifel an den Segnungen der Aufklärung entstanden insbesondere nach den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts. Die Schrecken der Weltkriege und die Gräueltaten des Nationalsozialismus veranlassten die in die USA emigrierten Horkheimer und Adorno zu „Philosophischen Fragmenten“ zur „Dialektik der Aufklärung“ (1944). Sie gingen in diesen „Fragmenten“ der Frage nach, wie es sein kann, dass Aufklärung in einen mythologischen Zustand zurückfallen kann. Als Ursache für den „Rückfall“ machten sie nicht die „eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien“ verantwortlich, sondern die „in Furcht vor der Wahrheit erstarrte Aufklärung selbst“ (Horkheimer und Adorno 2019, 3 f). Zwei Thesen erhellen den Grund für die Erstarrung:

„(S)chon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (Horkheimer und Adorno 2019, 6).

Die erste These weist darauf hin, dass schon der Mythos ein erster Versuch ist, sich diese Welt zu erklären und diese Welt begreifbar, erklärbar und beherrschbar zu machen, also im weitesten Sinne eine Vorstufe von Wissenschaftlichkeit.

Die zweite These ist für diese Untersuchung von Interesse. Wenn man als einzige Norm von Bildung den aufgeklärten Menschen sieht, Aufklärung aber in Mythologie zurückschlägt und Mythologie zu ungewollten Zuständen in der Welt führt, müsste Bildung über das Ziel hinaus gehen, mündige Bürger zu erziehen oder den Begriff der Mündigkeit anders fassen.

Wegen der Wichtigkeit dieser zweiten These sei hier sehr skizzenhaft die Argumentation Horkheimers und Adornos nachvollzogen.

Als Ausgangspunkt wählen sie das Ziel der Aufklärung:

„Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen“ (Horkheimer und Adorno 2019, 9).

Daraus ergab sich eine neue Art von Wissenschaftlichkeit, die mit einem Sinnverlust verbunden war:

„Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit“ (Horkheimer und Adorno 2019, 11).

Die Überbetonung der instrumentellen Vernunft führte dazu, dass selbst geisteswissenschaftliche Fragen dem Diktat der Empirie unterworfen wurden und alle anderen Fragen, wie z. B. nach Sinn des Lebens, als „verdächtig“ galten:

„Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig“ (Horkheimer und Adorno 2019, 12).

Berechenbarkeit und Nützlichkeit sind zwar wichtige Kategorien der Wissenschaft, die dadurch den Eindruck erweckt, alles durchschaubar und vorhersehbar zu machen. Wenn aber alles nicht Berechenbare und nicht Nützliche als „verdächtig“ gilt, verliert der Mensch etwas Entscheidendes.

„Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben“ (Horkheimer und Adorno 2019, 15).

Der Preis der Aufklärung ist die Entfremdung des Menschen von der Natur, insbesondere der eigenen Natur und die Entfremdung von den selbst geschaffenen Gegenständen, also der Kultur.

„Die mannigfaltigen Affinitäten zwischen Seiendem werden von der einen Beziehung zwischen sinngebendem Subjekt und sinnlosem Gegenstand zwischen rationaler Bedeutung und zufälligem Bedeutungsträger verdrängt“ (Horkheimer und Adorno 2019, 16 f).

„Sinnlose Gegenstände“ und „zufällige Bedeutungsträger“ können nicht das Ziel einer aufklärerischen Bildungsidee sein. Entfremdung und Sinnverlust sind im Sinne einer ganzheitlichen Allgemeinbildung nicht hinnehmbar.

Corine Pelluchon entwickelt in „Das Zeitalter des Lebendigen“ einen positiven Gegenentwurf, eine „neue Philosophie der Aufklärung“, so der Untertitel ihres Buches.

Ihr zentraler Gedanke ist

„eine Konzeption des Subjekts, die dessen Tiefe unterstreicht und beschreibt, was es mit der gemeinsamen, aus der Gesamtheit der Generationen und des Natur- und Kulturerbes bestehenden Welt verbindet“ (Pelluchon 2021, 29).

Das Ziel der Konzeption ist „eine gesunde Nutzung der Vernunft“ […], „die uns zu begreifen erlaubt, was universell oder zumindest universalisierbar ist“ (ebd.). Ein zentraler Begriff der neuen Konzeption des Subjekts ist „considération“Footnote 28 oder „Wertschätzung“.

„Die Wertschätzung (considération), die zugleich eine Subjektivierungsbewegung und eine Erweiterung des Subjekts voraussetzt, das sich seiner Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt bewusst wird, überwindet so den Relativismus und regeneriert den Rationalismus, indem sie das der Aufklärung eigene Werk der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation fortsetzt“ (Pelluchon 2021, 29).

Wertschätzung“ ist verbunden mit dem „Respekt vor der Natur und den anderen Lebewesen“ (ebd.) und damit auch mit der Wertschätzung des eigenen Seelenlebens.

Das Konzept verfolgt den weiter oben schon angesprochenen Gedanken eines objektiv idealistischen Naturbegriffs, der zugleich den Anthropozentrismus (vgl. S. 212) und den Egoismus zugunsten der Wertschätzung von Dingen, anderen Lebewesen und Mitmenschen überwindet. Diesen „Wir-Gedanken“ einer neuen Aufklärung greift auch Tsitsi Dangarembga in ihrer Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2021 auf, wenn sie das bekannte „Ich denke, also bin ich“ Descartes‘ abwandelt in „»Wir denken, also sind wir« oder sogar zu »Wir sind, also denken wir«“ (Dangarembga 2021, 4).

Wenn man diese Gedanken zu einer „neuen Aufklärung“ aufnimmt, dann stellt sich in Bezug auf Bildung und Erziehung die Frage, wie das Totalitäre der Aufklärung verhindert werden kann und wie der Mündigkeitsbegriff nachgeschärft werden muss.

Die Zeit nach den beiden Weltkriegen und die Postmoderne-Diskussion haben dazu wichtige Impulse geliefert.

2.2.2.2 Postmoderne und das Ende der Metaerzählung

Eine erste Definition für „Postmoderne“ ergab sich aus der Literaturdebatte, die Ende der 50er Jahre begann.

„Postmoderne Phänomene liegen dort vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk“ (Welsch 1988, 10).

„Pluralität“ entwickelt sich zum „Herzwort der Postmoderne“ (a.a.O., 13). Pluralität steht im Widerspruch zu den bisherigen großen Erzählungen, z. B. „Emanzipation der Menschheit in der Aufklärung, […], Beglückung aller Menschen durch Reichtum im Kapitalismus“ (Welsch 1988, 12). Und so hält der Philosoph Jean-François Lyotard bei seiner Analyse, „Das postmoderne Wissen“, „die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für „postmodern“ (Lyotard 2019, 24) und meint damit das Wegfallen dieser großen Erzählungen und einer Leitidee. Die Pluralität äußert sich in den Wissenschaften durch unterschiedliche Erzählformen und „Sprachspiele“ (Lyotard 2019, 111), die sich durch zunehmende Differenzierung und Spezialisierung immer weiter von einer allgemein verständlichen Sprache entfernen. Nimmt man als ein Prinzip von Bildung die Wissenschaftlichkeit an, so kann als ein Bildungsziel gefordert werden, die Verbindung zu diesen „Sprachspielen“ herzustellen und diese übersetzbar zu machenFootnote 29. Pluralität begegnet uns in der Schule in Form von Heterogenität der Herkunft und Lernvoraussetzungen der Schüler. Hier gilt es, nicht nur Übersetzungen zwischen Wissenschaftssprachen und Schülersprache herzustellen, sondern auch einen Diskurs herzustellen über die unterschiedlichen „Welten“, aus denen die Schüler kommen, mit dem Ziel ein tolerantes Zusammenleben zu ermöglichen.

Im Gegensatz zu Habermas sieht Lyotard wegen der Unterschiedlichkeit der „Sprachspiele“ nicht die Möglichkeit zu einem breiten Konsens. Er schlägt stattdessen als Maß für Übereinstimmung die Gerechtigkeit zu nehmen.

„Der Konsens ist ein veralterter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muss also zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsenses gebunden ist“ (Lyotard 2019, 153)

Das Wegfallen einer großen Leitidee muss also nicht zwangsläufig auf eine Beliebigkeit von Erziehungs- und Bildungszielen hinauslaufen, wie Brezinka zu bedenken gibt:

„Die Situation des PluralismusFootnote 30 zwingt geradezu zur kritischen Prüfung aller Ansprüche auf die Bestimmung von Erziehungszielen oder von Normen für das erzieherische Verhalten und zur Entscheidung für die einen und gegen die anderen“ (Brezinka 1975, 154).

Für das „Vorgehen bei der Lösung normativer Probleme der Erziehung“ schlägt Brezinka die Orientierung am kritischen Rationalismus vor und leitet daraus vier Konsequenzen ab:

„1. Normative Sätze sollen durch vernünftige Argumente (oder gute Gründe) und nicht durch Berufung auf irgendwelche Autoritäten zu rechtfertigen versucht werden. […]

2. Die Regeln der Logik sollen eingehalten werden. […]

3. Die geforderten Lernziele für die Zu-Erziehenden sowie die Aufgaben und Normen für die Erzieher sollen klar und eindeutig formuliert werden. […]

4. Pädagogische Forderungen sollen auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft werden“ (Brezinka 1975, 158 ff).

Folgt man diesen vier Konsequenzen, dann ist zunächst unabhängig von der Autorität eines Herwig BlankertzFootnote 31 das Argument, dass Erziehung den unbedingten Zweck der Mündigkeit verfolgt, vernünftig. Der Exkurs zur Dialektik der Aufklärung und die Kritik des Postmodernismus haben gezeigt, dass Mündigkeit und Aufklärung nicht die alleinige Metaerzählung für Bildung und Erziehung sein können, weil es dadurch zu einer Überbetonung der wissenschaftlichen Rationaliätsform kommen kann und damit zur Entfremdung von Natur und Kultur.

Ein erweiterter Mündigkeitsbegriff müsste Aussagen zur oben vorgeschlagenen Trias von „Erleben, Verstehen, Gestalten“ machen, denn auf allen drei Ebenen finden Entscheidungen und Bewertungen statt, die einen mündigen Menschen ausmachen.

Begreift man, wie Blankertz, „Erziehung als den Prozess der Emanzipation, d.h. der Befreiung des Menschen zu sich selbst“((Blankertz 1982, 306 f), Hervorh. THM) dann kann man vom Existenzialismus Antworten auf die Frage nach der selbstständigen Bewältigung des Lebens erwarten.

2.2.2.3 Existenzialismus und das reflexiv-evaluative Selbstverhältnis

„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.“ (Søren Kierkegaard)

(Kierkegaard 1923, 203)

„»Existenzialismus« ist seit den 20er Jahren des 20.Jahrhunderts ein Sammelbegriff für eine ganze Gruppe von philosophischen, intellektuellen und künstlerischen Positionen, in deren Zentrum das Faktum und die Bedeutung der menschlichen Existenz stehen“ (Reichenbach 2007, 154).Footnote 32

Fragen der Existenz sind elementar für Persönlichkeitsbildung im Sinne Wurzbachers (siehe auch S. 83).

„Beim existenziellen Entwickeln tritt eine Person in ein epistemisches und reflexiv-evaluatives Selbstverhältnis ein, um derart ihre Persönlichkeit zu bilden und sich ihrer selbst als solche bewusst zu werden. Eine Persönlichkeit wird gebildet, indem sich eine Person ihrer Interessen, Wünsche, Volitionen, (Lebens-) Ziele sowie Überzeugungen bewusst wird, diese in eine kohärente Struktur (Persönlichkeitsstruktur) bringt, die dann durch das Handeln und Sprechen für andere Personen sichtbar wird und um deren Erhalt und Weiterentwicklung sie zeitlebens bemüht ist“ (Goldbeck 2019, 108).

Bei der Entwicklung seines Konzepts des „selbst-er-forschenden“ Philosophierens greift Goldbeck auf die existenziell-performative Hermeneutik Hannah Arendts zurück. Sprechen und Handeln sind für Arendt die existenziellen Erscheinungsformen des Sich-Einschaltens in die Welt der Menschen, „eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen“ (Arendt 2018, 215). Das Maß der Verantwortungsübernahme für das eigene Leben hängt wesentlich von der Dialektik von autonomen Selbstsein und Unterwerfung unter die „Diktatur des Man“ (vgl. (Heidegger 2006, 126 ff)) ab.

„Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. […] Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit“ (Heidegger 2006, 127).

Dieser Entlastungsgedanke korrespondiert mit Kants „Faulheit und Feigheit“, sich seines Verstandes zu bedienen, zugleich verweist er auch auf den zentralen Begriff der Freiheit.

„Die Freiheit ist das zentrale Anliegen des Menschen (und der Existenzphilosophie), sie verweist auf die Bedeutung der Wahl, des Wählenkönnens, welches das Problem aller Moralphilosophie ist“ (Reichenbach 2007, 168).

Freiheit und Selbstbestimmung unterliegen Begrenzungen durch die eigene Biografie, durch die Zufälligkeit oder „Geworfenheit“Footnote 33 (Heidegger 2006, 179) des Daseins und durch das soziale Eingebundensein.

Sowohl der Begriff der Persönlichkeit und deren Entwicklung als auch der Begriff der Freiheit und die Freiheit der Entscheidung werden uns noch im Zusammenhang mit den Menschenbildern der Psychologie begegnen (vgl. Abschn. 2.2.3).

Aus philosophischer Sicht kann hier mit Reichenbach zunächst festgehalten werden:

„Die Freiheit zu kennen, um sie zu praktizieren, ist das zugrundeliegende Motiv der Existenzerhellung. Immer, wenn ich handle, merke ich,1. dass ich wähle, mich entschließe, also frei bin; 2. dass ich ein Risiko eingehe (die Konsequenzen nicht kenne); 3. dass ich an einen Wert/ an Werte gebunden bin bzw. mich an sie binde; 4. dass ich damit Verantwortung übernehme; 5. und mich vielleicht auch »schuldig« mache“ (Reichenbach 2007, 169).

Ziel von Bildung und Erziehung sollte es sein, die eigene Existenz zu erhellen, sich einerseits der eigenen Freiheit und Begrenztheit bewusst zu werden, andererseits aber auch die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten zu kennen und tätig umzusetzen.

Noch hat es den Anschein, dass zu dieser „Existenzerhellung“ und Entwicklung von Subjektivität schwerpunktmäßig das eigene Reflexionsvermögen beiträgt.

„Anders als Heidegger ist Subjektivität (im Sinne von Existenz) für Jaspers jedoch immer auch intersubjektiv gedacht, also im Grunde als soziale Tätigkeit zu verstehen. Allein und auf sich gestellt, kann der Mensch gar keine Subjektivität entwickeln“ (Reichenbach 2007, 169).

Entwicklung von Subjektivität wäre demnach nur im sozialen Zusammenhang zu erwerben. Die Rolle der vom Menschen geschaffenen Dinge bei der Subjektwerdung bliebe dabei außen vor. Hannah Arendt sieht zumindest die Dinge als Bedingung menschlicher Existenz, wenn sie schreibt:

„Die Welt, in der die Vita activa sich bewegt, besteht im wesentlichen aus Dingen, die Gebilde von Menschenhand sind; und diese Dinge, die ohne den Menschen nie entstanden wären, sind wiederum Bedingung menschlicher Existenz“ (Arendt 2018, 18 f).

Es fragt sich nun, welche Rolle die Dinge für die menschliche Existenz und für die Persönlichkeitsbildung spielen. Antworten darauf verspricht die Philosophische Anthropologie zu geben.

2.2.2.4 Plessners “Exzentrische Positionalität“

Der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner (1892–1985) gilt neben Arnold Gehlen und Max Scheler als Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie, die die Stellung des Menschen in der Welt, im Verhältnis zur Natur und in seiner Geschichtlichkeit betrachtet. Da sich Bildung und Erziehung mit dem „Hineinwachsen“ von Menschen in die Welt, in Natur und Kultur und damit auch in die Geschichtlichkeit befassen, sind von der Philosophischen Anthropologie Impulse zu einem philosophisch fundierten Menschenbild zu erwarten.

Während Hannah Arendt im obigen Zitat von den Dingen als „Bedingung menschlicher Existenz“ (Arendt 2018, 19) spricht und zugleich die Existenz der Dinge nicht ohne den Menschen zu denken ist, machte sich Arnold Gehlen (1904–1976) Gedanken über die Ursache für die Notwendigkeit der Dinge. Er sah die Notwendigkeit der Dinge in der mangelhaften Organausstattung des Menschen begründet:

„Der Mensch ist also organisch <Mängelwesen> (Herder), er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und muß sich eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. Er lebt sozusagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdienliche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist“ (Gehlen 2017, 48).

Die in dem Begriff „Mängelwesen“ steckende Defizitorientierung begegnet uns im Schulwesen in der „Rotstiftmentalität“ bei der Korrektur und Bewertung von Schülerarbeiten. Ähnlich wie diese zunehmend durch ressourcenorientierte Ansätze ersetzt wird, kann man auch Gehlens Ansatz von einer anderen Seite betrachten.

„Nur in voraussehender Veränderung der Natur ist ein organisch so beschaffenes Wesen lebensfähig. Man muß daher in den Mittelpunkt aller weiteren Probleme und Fragen die Handlung stellen und den Menschen als ein handelndes Wesen definieren- oder als ein voraussehendes oder kulturschaffendes, was alles dasselbe meint […]“ (Gehlen 2017, 49).

Vorausschauendes Handeln ist das besondere Potenzial des Menschen, der Ausdruck geistiger Antizipation. Dieses Handeln schafft Kultur.

Damit wertet Gehlen das Handeln gegenüber den rein geistigen Tätigkeiten auf, hebt es als ein wesentliches Merkmal des Menschen hervor und seine „Theorie enthält gar keine Ansätze zu einem <Dualismus>“ (Gehlen 2017, 48). Zugleich wird die o.g. Definition von Kultur als Totalität aller menschlichen Hervorbringungen gestützt.

Die Überlegungen Schelers und Plessners zur Besonderheit des Menschen gegenüber den Tieren beruhen auf der Stufenfolge, die Nicolai Hartmann im Jahre 1926 in einer Kategorienlehre entwickelt hat. Er unterschied vier Seinsschichten (anorganisches, organisches, seelisches, geistiges Sein) und vier Stufen von Seinsgebilden (materielles Ding, Lebewesen, Lebewesen mit Bewusstsein, Mensch).

Darauf aufbauend entwickelten Scheler und Plessner ihre ontologischen Stufenmodelle.

Am Ende von Schelers „Stufenfolge des psychophysischen Seins“ (Scheler 2018, 88 ff), bestehend aus Gefühlsdrang, Instinkt, assoziativem Gedächtnis und Intelligenz steht ein „neues Prinzip“, das Scheler nur dem Menschen zuschreibt.

„Das neue Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht, steht außerhalb alles dessen, was wir Leben, von innen-psychisch oder von außen-vital -, im weitesten Sinne nennen können. […] Wir wollen lieber ein umfassenderes Wort für jenes X gebrauchen, ein Wort, das wohl den Begriff Vernunft mitumfaßt, aber neben dem Ideendenken auch eine bestimmte Art der Anschauung, die Anschauung von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse noch zu charakterisierender, emotionaler und volitiver Akte, z. B. Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht usw. mitumfaßt:- das Wort Geist“ (Scheler 2018, 46 f).

Ein so definiertes Prinzip(!) „Geist“, das auch emotionale und volitive Akte einschließt und damit z. T. an die Kompetenzdefinition Weinerts erinnert, stellt eine eigene Kategorie gegenüber dem Leben dar.

Obwohl sich Scheler (1874–1928) vehement gegen Descartes wendetFootnote 34, setzt er dem ursprünglichen „Leib-Seele-Problem“ den neuen Dualismus von „Leben“ und „Geist“ entgegen.

„Der Gegensatz, den wir im Menschen antreffen und der auch subjektiv als solcher erlebt wird, ist von viel höherer und tiefgreifenderer Ordnung- es ist der Gegensatz von Leben und Geist“ (Scheler 2018, 105)

Er betont zwar, dass „beide Prinzipien im Menschen aufeinander angewiesen“ (Scheler 2018, 106) sind, muss sich aber dennoch die Kritik seiner Zeitgenossen, Cassirer und Heidegger gefallen lassen, nicht über den Dualismus Descartes‘ hinausgekommen zu seinFootnote 35. Diesen Dualismus überwindet Plessner durch ein strukturanalytisches ontologisches Stufenmodell.

Aufgrund des gegen ihn erteilten Berufsverbots und seiner Emigration erhielt Plessner in Deutschland zunächst nicht die nötige Aufmerksamkeit. Er verdient diese Aufmerksamkeit auch im Hinblick auf die Bedeutsamkeit seines Ansatzes für Bildung und Erziehung und für die Fundierung des Technikbegriffes.

Die zentrale Begriffsprägung seines Werkes „Die Stufen des Organischen und der Menschen“ ist die „Exzentrische Positionalität“.

Plessner geht bei seiner Betrachtung strukturanalytisch von anorganischen Gegenständen über die organischen Pflanzen und Tiere hin zum Menschen und fragt nach den charakteristischen Unterschieden bzw. den Organisationsformen des Lebendigen.

Die Besonderheit des Menschen sieht er in seiner „exzentrischen Positionalität“ (Plessner 1975, 288 ff).

„Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. […] Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches derart positional dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt“ (Plessner 1975, 292 f).

Das „Auf-Nichts-Gestelltsein“ trifft insbesondere auf Heranwachsende zu. Personwerdung durch Bildung muss die gleiche Frage beantworten, die Plessner an den Anfang des Kapitels zu den anthropologischen Grundgesetzen stellt:

„Welche Grundmerkmale muß seine (Anm. THM, des Menschen) Existenz annehmen, die er als Lebewesen besitzt“ (Plessner 1975, 309)?

Das reflexive „Sich-Bilden“ ist für den Menschen als „exzentrisch organisiertes Wesen“ notwendig, weil „er sich zu dem, was er schon ist, erst machen muss“ (ebd.).

„Der Mensch lebt nur, indem er sein Leben führt. Mensch sein ist die „Abhebung“ des Lebendigseins vom Sein und der Vollzug dieser Abhebung“ (Plessner 1975, 310).

Dazu „braucht er ein Komplement nicht natürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich“ (Plessner 1975, 310) (Gesetz der natürlichen Künstlichkeit).

„Die natürliche, d.h. in seiner Natur wurzelnde und daher notwendige, Künstlichkeit des Menschen, welche sich in der Form der vermittelten Unmittelbarkeit realisiert, ist zugleich der Grund für die Geschichtlichkeit des Menschen“ ((Fischer 2004, 31), Hervorh.,THM).

Die künstlichen Gegenstände, die der Mensch in der Außenwelt wahrnimmt und die die Sphäre der Kultur bilden, zeigen einerseits „Gebundenheit an das menschliche Urhebertum und zugleich […] Unabhängigkeit von ihm“ (Plessner 1975, 321).

Alles Geschaffene und Vorgefundene erscheint dem Menschen zunächst als unmittelbare Wirklichkeit, „von der exzentrischen Position aus wird diese Unmittelbarkeit als „vermittelte Unmittelbarkeit“ reflektiert“ (Fischer 2004, 31). Der Mensch schreibt den wahrgenommenen Dingen einen Sinn, Geltung und Bedeutung zu.

Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit verweist schon mit der Zuschreibung von Sinn auf die Philosophie der symbolischen Form von Ernst Cassirer (vgl. S. 104 f.).

Der Übergang von der unmittelbaren Wirklichkeitswahrnehmung zur vermittelten Wirklichkeit erfordert den Übergang von der zentrischen Position in die exzentrische Position. Sie erst macht den Menschen zum „Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative“ (Plessner 1975, 292).

Dieser Übergang muss bei Bildungsprozessen oft angestoßen oder provoziert werden, denn erst dadurch kommt neben der Außenwelt auch die durch Lebendigkeit gekennzeichnete MitweltFootnote 36 ins Spiel. Die Mitwelt ist als „Sphäre anderer Menschen“ (a.a.O., 302) die Bedingung, die es ermöglicht, den eigenen Status als Mitglied dieser Mitwelt zu erfassen.

„Die Mitwelt trägt die Person, indem sich zugleich von ihr getragen wird. Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes“ (Plessner 1975, 303).

Die Mitweltlichkeit macht den Menschen zugleich auch „zum zoon politicon und bedingt gleichursprünglich seine Künstlichkeit, seinen Schaffensdrang“ (a.a.O., 324).

Der Schaffensdrang ist eine Facette der Expressivität des Menschen. Auch die Expressivität ist zwangsläufiges Resultat der vermittelten Unmittelbarkeit, die den Menschen immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt und ihn dadurch zum Handeln und zum Ausdruck zwingt.

„In der Expressivität liegt der eigentliche Motor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens. Durch seine Taten und Werke, die ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht geben sollen und auch wirklich geben, wird der Mensch zugleich aus ihm wieder herausgeworfen, um es auf’s Neue mit Glück und doch vergeblich zu versuchen. Ihn stößt das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit ewig aus der Ruhelage, in die er wieder zurückkehren will. Aus dieser Grundbewegung ergibt sich die Geschichte“ (Plessner 1975, 339).

Fehlt noch als drittes Charakteristikum des Positionalen die Innenwelt.

„In der Distanz zu sich selber ist sich das Lebewesen als Innenwelt gegeben. Das Innen versteht sich im Gegensatz zum Außen des vom Leib abgehobenen Umfeldes“ (a.a.O., 295).

Zu dem Doppelaspekt von Körper und LeibFootnote 37 tritt ein weiterer hinzu, der von Seele und Erlebnis. „Geht das Lebewesen in seinem Selbstsein auf, naiv oder reflektiert, so erlebt es, „wird“ seiner Erlebnisse „inne“ und vollzieht damit psychische Realität“ (a.a.O., 296, Hervorh. THM).

„Im Akt der Reflexion, des Aufmerkens, Beobachtens, Suchens, Erinnerns bringt das lebendige Subjekt auch seelische Wirklichkeit zustande und diese wirkt selbstverständlich auf die zum Objekt gemachte Wirklichkeit […] ein“ (a.a.O, 297).

Wenn aus dem zentrischen Erleben durch die exzentrische Position bewusstes Erleben wird, kann es zur Konstruktion von Wirklichkeit, zum Verstehen kommen. Indem er sich ausdrückt und seine Welt gestaltet, versucht der Mensch das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Dadurch, dass dieses Gleichgewicht immer wieder gestört wird und dem Menschen sein „Stehen im Nirgendwo“, sein „utopischer Standort“ (a.a.O., 346), bewusst wird, wird ihm auch seine „eigene Nichtigkeit“, seine „Einmaligkeit und Einzigartigkeit“, aber auch die „Zufälligkeit des Daseins“ (a.a.O., 341) deutlich. Dies begründet auch das Bedürfnis nach Transzendenz und führt zur „Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes“ (Plessner 1975, 341). Religiosität schafft ein „Definitivum“, ein „Letztes“, ein „so ist es“ (a.a.O., 342) und gibt dem Menschen Halt und Sicherheit, die durch den utopischen Standort verlorengegangen istFootnote 38.

Zusätzlich zu dem dritten Gesetz des utopischen Standorts entwickelt Plessner in seinem späteren Werk, „Macht und menschliche Natur“, das Gesetz der Unergründlichkeit des Menschen, das er zur Grundlegung einer politischen Anthropologie heranzieht. Da der Mensch sein Leben führen muss und dieses Führen immer den „Charakter der Nichtnotwendigkeit, Zufälligkeit, Korrigierbarkeit und Einseitigkeit hat“ (Plessner 2015, 199), ist die geistige Welt prinzipiell unergründlich.

„Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines historischen und darum politischen Wesens“ (Plessner 2015, 184).

Bildung und Erziehung sollten das Ziel haben, Menschen in ihre exzentrische Position zu versetzen, die es ihnen ermöglichen sich selbst als „Macht“ zu begreifen, ihr Können einzuschätzen und mit Mut die Lebensentscheidungen zu treffen, um ihr Leben selbst zu führen und sich nicht führen zu lassen. Denn nur, wenn sich der Mensch für sein Leben entdeckt, erwächst ihm die Fülle der Möglichkeiten, es zu führen.

„In dieser Relation der Unbestimmtheit zu sich faßt sich der Mensch als Macht und entdeckt sich für sein Leben, theoretisch und praktisch als offene Frage. Was er sich in diesem Verzicht versagt, wächst ihm als Kraft des Könnens wieder zu. Was er an Fülle der Möglichkeiten dadurch gewinnt, gibt ihm zugleich die entscheidende Begrenzung gegen unendlich andere Möglichkeiten des Selbstverständnisses und des Weltbegreifens, die er damit schon nicht mehr hat“ (Plessner 2015, 188).

Der Mensch muss sein Leben selbst in die Hand nehmen und ständig geistig aus sich heraustreten, um sein Denken und Handeln zu reflektieren. Dieses Reflektieren kann man durch Metakognition im Unterricht lernen und üben. Die Hattie-Studie führt nicht ohne Grund die „Self-reported grades“ (vgl. (Hattie 2008, 43 f), bei denen die Schüler ihren eigenen Lernfortschritt einschätzen und benennen müssen, auf Platz 1 und die „meta-cognitive strategies“ auf Platz 13 (vgl. (Hattie 2008, 188 f) der Gesamtrangliste der Metaanalysen. Das weltweit agierende Center for Curriculum Redesign benennt in der Studie, „Die vier Dimensionen der Bildung“, folgerichtig die Metakognition als eines von fünf bedeutsamen QuerschnittsthemenFootnote 39 für das 21.Jahrhundert.

Neben der Selbstreflexion ermöglicht die exzentrische Positionalität dem Menschen auch, sich in die Perspektive eines anderen Menschen zu versetzen und mit ihm mitzufühlen (Empathie). Sich selbst fühlen und beobachten und mitfühlen zu können sind die Voraussetzungen für moralische Handlungen, für die Herausbildung einer Werthaltung und damit ein anzustrebendes Bildungsziel.

Die Philosophische Anthropologie kann insgesamt als theoretisches Fundament für die Bildungstheorie dienen, weil sie allein aus der Strukturanalyse zu wichtigen Erkenntnissen über das Besondere des menschlichen Daseins kommt. Vor allem vermeidet sie das Leib-Seele Problem und sorgt mit der exzentrischen Positionalität für eine ganzheitliche Betrachtung. Die Trennung von Geist, Seele und Körper hat bildungstheoretisch zu Einseitigkeiten geführt, die zukünftige Ansätze vermeiden sollten. Die Philosophische Anthropologie liefert vor allem eine solide Grundlage für den Bereich „Persönlichkeitsbildung“, macht aber auch Aussagen zum Menschen als KulturwesenFootnote 40, als politisches und soziales Wesen. Diese Aussagen sind allerdings bezüglich der Kultur für eine bildungstheoretische Fundierung noch zu wenig differenziert. Es wurde bereits angedeutet, dass Ernst Cassirer die dazu nötigen kulturphilosophischen Betrachtungen in seinem dreibändigen Werk „Philosophie der symbolischen Formen“ und in der späteren Zusammenfassung in „Versuch über den Menschen“ angestellt hat.

2.2.2.5 Cassirers „Versuch über den Menschen“

Im Folgenden gehen wir daher der Frage nach, was das Verbindende der Kultur ausmacht und inwiefern sich diese Verbindende bildungstheoretisch einbeziehen lässt.

Für Cassirer ist im Gegensatz zu Kant nicht die Vernunft und das Erkennen, sondern das ErlebenFootnote 41 der Leitbegriff seiner Kulturphilosophie. Weltverstehen setzt für Cassirer eine tätige Auseinandersetzung mit der Welt, das „Wirken“ voraus:

„Das Eigentümliche des Menschen, das was ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken. Dieses Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten, definiert und bestimmt die Sphäre des »Menschseins«. Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte sind die Bestandteile, die verschiedenen Sektoren dieser Sphäre“ (Cassirer 2007, 110).

Auffällig ist, dass in der Aufzählung der „Sektoren“ die Technik fehlt, während sie in der Rekonstruktion einer frühen Ausgabe von „An Essay on man“ aus dem Jahre 1942 noch enthalten ist. Dass Cassirer die Technik als eigenständige Sphäre wahrgenommen hat, zeigt auch sein Aufsatz „Form und Technik“ aus dem Jahre 1930. Cassirer scheint es in seinen Betrachtungen nur um den einzelnen Menschen zu gehen, denn es fehlt in der Aufzählung der „Sphären des Menschseins“ auch die Politik als „Sphäre“ des sozialen Miteinanders der Menschen, das aus Plessners Ansatz unmittelbar hervorgeht.

Cassirer findet mit dem „geistigen Produzieren“Footnote 42(Cassirer, 2010a, 9) das Gemeinsame der Idee Vicos, dass der Mensch seine Geschichte und Kultur macht, und der Idee Kants, dass der Verstand die Natur entwirft (nach (Orth 1985, 174)). Im Sinne Bergsons würde sich also das virtuelle Ganze des Weltverstehens nur differenzieren in das Natur- und Kulturverstehen. Der Ansatz Cassirers lässt sich bildungstheoretisch wenden, indem man das Erleben als Grundvoraussetzung, als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung des Individuums mit der umgebenden Kultur ansehen kann.

Das Weltverstehen wiederum, die geistige Auseinandersetzung mit dem Erlebten, ist lerntheoretisch betrachtet ein nicht zu beobachtender innerpsychischer Prozess, der im Sinne Cassirers entweder in der reduzierten Form des „Weltbegreifens“ oder in der ganzheitlichen Form des „Weltverstehens“ vonstatten gehen kann.

„Die Philosophie der symbolischen Formen richtet ihren Blick nicht ausschließlich und in erster Linie auf das rein wissenschaftliche, exakte Weltbegreifen, sondern auf alle Richtungen des Weltverstehens. Sie sucht dieses letztere in seiner Vielgestaltigkeit, in der Gesamtheit und in der inneren Unterschiedenheit seiner Äußerungen zu erfassen. Und immer zeigt sich dabei, daß das »Verstehen« der Welt kein bloßes Aufnehmen, keine Wiederholung eines gegebenen Gefüges der Wirklichkeit ist, sondern daß es eine freie Aktivität des Geistes in sich schließt. Es gibt kein echtes Weltverständnis, das nicht in dieser Weise auf bestimmten Grundrichtungen, nicht sowohl der Betrachtungen als vielmehr der geistigen Formungen, beruht“ (Cassirer 2010b, 14).

Im Sinne einer ganzheitlichen Bildung ist die weitere Form des Weltverstehens als Ziel anzustreben.

Es fehlt noch die evaluative, von außen zu beobachtende Komponente, das „Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten“ (Cassirer 2007, 110). Diese tätige Auseinandersetzung, das Gestalten der Welt, das Handeln ist auch in Schule der Indikator und Gradmesser für erfolgreich verlaufende individuelle und kulturelle Lernprozesse. Der Pädagoge Werner Loch (1928–2010) misst der Enkulturation deshalb grundlegende Bedeutung zu. Er schreibt 1968:

„Insofern ist Enkulturation der fundamentale Gegenstand der Pädagogik und derjenige anthropologische Grundbegriff, von dem alle ihre Erörterungen und Untersuchungen auszugehen haben […]“ (Loch 1977, 404).

Ähnlich wie Cassirer das Wirken als kulturbildend ansieht, spricht Loch die Aktivierung des Handelns an, die Enkulturation zu leisten hat, wenn er schreibt:

„Der Mensch lebt, indem er die Kultur vollzieht, indem er die Sprache spricht, die Werkzeuge benutzt, die sozialen Rollen spielt, das Haus bewohnt, die Kunst ausübt oder erlebt usw. Und er lernt dieses Vollziehen der Kultur nur, wenn er ihre Gebilde aktiv ergreift, sie handelnd zu verwirklichen sucht, sich in ihnen übt, mit ihnen neue Gebilde produziert. […] Daran wird deutlich, daß die Anpassung des Menschen an eine Kultur nur möglich ist durch deren Aktivierung in seinem Handeln“ (Loch 1977, 394).

Dieses Handeln setzt aber eine vorherige „Aktivierung seines Denkens“ voraus, weil „jedem Kulturgebilde, das der Mensch aktiviert und sich dadurch aneignet, eine geistige Tätigkeit entspricht und umgekehrt“ (a.a.O., 395).

Dieses Zusammenspiel von Geist und Körper, von Denken und Handeln bringt Loch auf den Punkt:

„Enkulturation bedeutet also immer auch Erweckung kultureller Produktivität“ (Loch 1977, 398).

2.2.3 Psychologische Menschenbilder im Hinblick auf Bildung und Erziehung

Im Folgenden soll die Psychologie das zugrundeliegende Menschenbild vervollständigen, indem die im vorangehenden Kapitel aufgeworfenen Fragen zur Mündigkeit und Freiheit der Entscheidung beantwortet werden und um zusätzliche Aspekte ergänzt werden.

Aspekte der Entwicklungspsychologie (Piaget, Oerter, Kohlberg, Erikson) werden hier nicht explizit behandelt, sondern fließen in die Überlegungen zur Curriculumkonstruktion mit ein (vgl. Abschn. 5.3.3). Auch die neueren Erkenntnisse der Lernpsychologie werden an anderer Stelle mit einfließen.

2.2.3.1 Grundbedürfnisse des Menschen aus Sicht der Selbstbestimmungstheorie

Nehmen wir zunächst den einzelnen Menschen in den Blick, so wurde weiter oben bereits definiert, dass wir unter Persönlichkeitsbildung die „als Selbstformung und -steuerung der eigenen Triebstrukturen wie als sinngebende, koordinierende und verantwortlich gestaltende Rückwirkung des Individuums auf die Faktoren Gesellschaft und Kultur“ (Wurzbacher 1968, 14) verstehen wollen.

Störend in der obigen Definition erscheint das Wort „Triebstrukturen“. Es lässt Assoziationen aufkommen, die der besonderen Denkfähigkeit des Menschen zu widersprechen scheinen. Genauer wäre es, hier von „Bedürfnisstrukturen“ zu sprechen. Die Maslow’sche Bedürfnispyramide zur Klärung der Bedürfnisstrukturen gilt inzwischen als überholt und es hat sich die umfassendere Self-Determination Theory (kurz: SDT) (dtsch.: Selbstbestimmungstheorie) von Deci und Ryan etabliert.

Neben den physiologischen Grundbedürfnissen, wie z. B. Wasser und Nahrung geht dieser Ansatz von nur drei zentralen psychologischen Bedürfnissen, autonomy, competence und relatedness (dtsch.: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit) aus. Bedürfnisse werden definiert als innermenschliche Bedingungen, die notwendig sind für eine optimale psychologische Entwicklung und WohlergehenFootnote 43. Das Wort „Entwicklung“ weist der SDT auch eine unmittelbare Bedeutung für Bildung und Erziehung zu.

Ausgehend von den Definitionen von Deci und Ryan soll im Folgenden jeweils der Zusammenhang zur Bildung und Erziehung verdeutlicht werden.

„The first of the basic needs specified within SDT is autonomy, or the need to selfregulate one’s experiences and actions. Autonomy is a form of functioning associated with feeling volitional, congruent and integrated. […] When acting with autonomy, behaviours are engaged wholeheartedly, whereas one experiences incongruence and conflict when doing what is contrary to one’s volition“Footnote 44 (Ryan, Deci 2017, S. 10).

Autonomie steht also in engem Zusammenhang mit Selbstregulation, Ausprägung eines eigenen Willens und Handlungen, die mit ganzem Herzen (so die wörtliche Übersetzung von wholeheartedly) und in Einklang mit dem eigenen Willen und eigenen Werten ausgeführt werden. Insofern lässt sich dieses Bedürfnis sowohl dem Bildungsziel der Selbstbestimmung als auch dem der Mündigkeit zuordnen.

Autonomie ist aber nach der SDT nicht gleichzusetzen mit UnabhängigkeitFootnote 45, denn ein von seinen Eltern oder Lehrern abhängiger „Zögling“ kann durchaus autonom handeln. Umgekehrt führt das Gleichsetzen in der Erziehung zu dem o.g. Missverständnis, so dass durch mangelnde Verantwortungsbereitschaft der Erziehenden aus Unabhängigkeit schnell Orientierungslosigkeit wird (vgl. S. 35).

„In SDT, competence refers to our basic need to feel effectance and mastery. People need to feel able to operate effectively within their important life contexts. The need for competence is evident as an inherent striving, manifested in curiosity, manipulation, and a wide range of epistemic motives“ (Ryan, Deci 2017, S. 11).Footnote 46

Der so definierte Kompetenzbegriff unterscheidet sich wesentlich von dem im Bildungsbereich üblichen nach Weinert (vgl. S. 49). Er umfasst Begriffe wie Neugier, Erkenntnisinteresse, intrinsische Motivation, Anstrengungsbereitschaft Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit und verknüpft damit Kopf, Herz und Hand, wie bereits oben gefordert.

„Relatedness concerns feeling socially connected. People feel relatedness most typically when they feel cared for by others. Yet relatedness is also about belonging and feeling significant among others“ (Ryan, Deci 2017, S. 11).Footnote 47

Wie wichtig dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Anerkennung innerhalb einer Gruppe, nach sozialem Kontakt ist, wurde erst unlängst in der Coronapandemie deutlich, als das wichtige Element des sozialen Lernens durch Fernunterricht weitgehend auf der Strecke blieb. Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit unterstreicht die Notwendigkeit, Bildung und Erziehung ebenso als Ganzheit zu betrachten wie Persönlichkeitsbildung und Enkulturation, weil sich der Mensch nur in Wechselwirkung mit anderen Menschen sozial eingebunden fühlen kann.

Das Besondere an der Selbstbestimmungstheorie ist, dass sie als Metatheorie sechs „Minitheorien“Footnote 48 beinhaltet, die sowohl inhaltliche Aussagen über die psychologischen Grundbedürfnisse machen als auch prozessorientierte Aussagen über den Zusammenhang zwischen Motivation, Entwicklung und Gesundheit. Diese prozessbezogenen Aussagen sind von unmittelbarem Interesse für den Bildungsbereich (vgl.:Part IV Motivation and Human Development in Families, Schools, and Societies (Deci und Ryan 2017, 319–423).

Hierbei wird die Wichtigkeit der intrinsischen Motivation (a.a.O., S. 354 ff) ebenso betont wie autonomieunterstützende Verhaltensweisen von Lehrkräften (a.a.O., S. 366 ff), um „flourishing in students“ (a.a.O., S. 354) zu unterstützen.

„By flourishing we mean becoming motivated, vital, resourceful and fully functioning adults. Flourishing individuals feel both empowered and confident in their learning and problem solving and feel a sense of belonging to their schools in their larger human community“ (Deci und Ryan 2017, 354)Footnote 49

Ein gedeihliches Wachstum (als Übersetzung von „flourishing“) findet demnach statt, wenn alle drei psychologischen Grundbedürfnisse bei den Heranwachsenden gefördert und befriedigt werden.

Wer an dieser Stelle als Grundbedürfnis die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens vermisst, sei darauf verwiesen, dass Deci und Ryan die Sinnfrage automatisch als beantwortet ansehen, wenn die psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt sindFootnote 50.

Dennoch wird im Zusammenhang mit Technik später die Sinnfrage gesondert behandelt (siehe Abschn. 4.2.4). Die bedürfnisorientierte SDT-Theorie steht in der westlichen Tradition des Behaviorismus und der kognitiven Psychologie. Dem gegenüber steht die ganzheitliche kulturhistorische Theorie, die sich auf der durch Vygotskij und Leontjew begründeten Tätigkeitstheorie aufbaut.

2.2.3.2 Leontjews Tätigkeitstheorie zur Grundlegung einer kultur-historischen Lernperspektive

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus […] ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv“ (Marx und Engels 1983, 3:5)

In seiner ersten These gegen Feuerbach äußert Marx seine grundlegende Kritik gegen den vorangegangenen Materialismus und dessen „passiv-anschauenden Charakter“ (a.a.O., VI). Mit dem obigen Zitat ist die Grundrelation von Subjekt und Objekt von subjektiv sinnlicher Tätigkeit und objektiver Anschauung angesprochen. Diese Relation hat philosophische, psychologische und gesellschaftliche Bezüge, bei deren genaueren Betrachtung ein historisch vergangener, bis in die Jetztzeit hineinreichende Ost-West-GegensatzFootnote 51 ans Licht bricht. Mit diesem Gegensatz ist die grundsätzliche Ausrichtung der psychologischen Fragestellung gemeint.

Ausgehend von der russischen Reflexologie (Pawlow, Bechterew) entwickelte sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts im Westen der Behaviorismus. Kennzeichnend ist die Beschränkung auf objektiv messbares und beobachtbares Verhalten und der vollständige Verzicht auf die Beschreibung von Bewusstseinsinhalten (vgl. (Dorsch, Häcker, und Becker-Carus 2004, 115). Die Abfolge von Reiz und Reaktion wird für das Lernen von Verhalten als zentral angesehen. „Daher wird der Behaviorismus auch als Reiz-Reaktions-Psychologie (stimulus response) bezeichnet“ (ebd.). An der Einseitigkeit dieses Theorieansatzes änderte auch die kognitive Wende Ende der 50er Jahre wenig. Der kognitiven Psychologie gelang lediglich die „Aufklärung von Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Informationsverarbeitung“ (Giest 2006, 19), es gelangte Licht in die black box der Behavioristen.

„Jedoch wurden psychische Prozesse nun vorrangig auf kognitive Operationen reduziert, hinter denen das tätige Subjekt, die Persönlichkeit, das menschliche Bewusstsein in der Einheit von Kognition, Emotion und Motivation und sein Zusammenhang mit Kultur und Gesellschaft gewissermaßen verschwand“ (Giest 2006, 19).

An dieser Feststellung Giests ändern auch die neusten bildgebenden Verfahren nichts, die angeblich dem Gehirn beim Denken zuschauen können. Es bleibt bei diesen Theorieansätzen das methodologische Problem der fehlenden Ganzheitlichkeit und der Vernachlässigung der menschlichen Tätigkeit.

Lew VygotskijFootnote 52 erkannte diesen Mangel schon im Jahre 1927 in seiner methodologischen Untersuchung, „Die Krise der Psychologie in der historischen Bedeutung“.

Er wandte sich sowohl gegen die Reflexologie Pawlows und dessen Methode, Ergebnisse aus der Tierpsychologie auf den Menschen zu übertragen, als auch gegen die Psychoanalyse Freuds und Adlers, die von den pathologischen Extremen auf den „normalen“ Menschen schlossen.

„Der Stein, den die Bauleute verworfen hatten, der ist zum Eckstein geworden“ (Mt 21,42)(nach (Vygotskij, Lompscher, und Vygotskij 2003a, 57)

Dieses Zitat aus dem Matthäusevangelium stellt Vygotskij seiner Untersuchung voran und spricht damit einerseits die „Bauleute“ der Psychologie als Wissenschaft an und andererseits den Eckstein, der zwei fundamentale Bedeutungen hat.

Einerseits begründet Vygotskij einen neuen philosophisch-methodologischen Theoriezugriff durch eine ganzheitlich dialektische Betrachtung psychischer Erscheinungen vor dem Hintergrund ihrer historischen Bedingtheit. Andererseits stellte er die „Hypothese vom Vermitteltsein der psychischen Prozesse durch spezifische »Werkzeuge«“ (Leontʹev 2003, 29) auf. An die Stelle des zweigliedrigen Reiz-Reaktionsschemas tritt bei ihm als kleinste nicht zerlegbare Einheit ein dreigliedriges Schema, „wo zwischen Stimulus und Reaktion ein drittes Glied steht, ein Zwischen-, ein Vermittlungsglied, der Mittlerstimulus beziehungsweise das psychische Werkzeug“ (Leontʹev 2003, 38). Mit Mittlerstimuli bzw. psychischen Werkzeugen meint Vygotskij „die Sprache, verschiedene Formen der Bezifferung und Zahlensysteme, mnemotechnische Mittel, die algebraische Symbolik, Kunstwerke, Schrift, Schemata, Diagramme, Karten, Zeichnungen und alle möglichen sonstigen Symbole“ (Leontʹev 2003, 35). Cassirer kommt durch rein philosophische Überlegungen zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Bedeutung der Symbole für den Menschen („animal symbolicum“, vgl. S. 78). Durch den frühen Tod Vygotskijs 1934 im Alter von nur 38 Jahren bleiben viele seiner visionären Denkansätze unvollendet. Sein Mitarbeiter Alexej LeontjewFootnote 53 (1903–1979) greift in seinem Buch, „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“ das Tätigkeitskonzept auf und entwickelt eine TätigkeitstheorieFootnote 54, die die Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung mit der menschlichen Tätigkeit in Beziehung setzt.

Die theoretische Fundierung mit der Marx‘schen Philosophie hat wohl dazu geführt, dass sein Werk im Westen wenig Beachtung fandFootnote 55. Umgekehrt trug sein Werk im Osten zu einer Fundierung des polytechnischen Ansatzes bei.

Leontjew wendet sich zunächst gegen das „direkte In-Beziehung-Setzen von psychologischen und physiologischen Prozessen“ (Leontʹev 1987, 13), was entweder zur „Hypothese des (Anm. THM, psychophysischen) Parallelismus“ oder zur „Position des naiven physiologischen Determinismus“ (ebd.) führt.

Der psychophysische Parallelismus, der von einer Parallelität von psychischen und physischen Prozessen ausgeht, lebt heute durch die bildgebenden Verfahren und die Neurophysiologie wieder auf und treibt seine pädagogischen Blüten in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen Spitzers.

Während die physiologisch orientierten Theorien „zum Konstrukt einer Persönlichkeitspsychologie (führt)(THM), die im weitesten Sinne vom Primat der Bedürfnisse ausgeht“ (Leontʹev 1987, 20), führt die Theorie Leontjews „zum Konstrukt einer Psychologie, die vom Primat der Tätigkeit ausgeht, in der der Mensch seine menschliche Persönlichkeit bestätigt“ (Leontʹev 1987, 20).

Das Primat der Tätigkeit ergibt sich aus der Marx’schen EinsichtFootnote 56, „daß die Erkenntnis nicht außerhalb des Lebensprozesses existiert, der seiner Natur nach ein materieller, ein praktischer ist“ (Leontʹev 1987, 26).

Unter Tätigkeit versteht Leontjew „eine durch psychische Widerspiegelung vermittelte Lebenseinheit, deren reale Funktion darin besteht, das Subjekt in der gegenständlichen Welt zu orientieren“((Leontʹev 1987, 83), Hervorh.THM). In dem Begriffspaar der psychischen Widerspiegelung steckt die Tatsache, dass schon „die Wahrnehmung ein aktiver Vorgang ist, daß das subjektive Abbild der Außenwelt ein Tätigkeitsprodukt des Subjektes in dieser Welt ist“ (Leontʹev 1987, 67). Wesentliche Merkmale von Tätigkeit sind die Bewusstheit und damit die „gedankliche Zugänglichkeit“ und „geistige Vorwegnahme (Antizipation)“ (Giest 2006, 34), die KontextuiertheitFootnote 57, sowie ihre phylogenetische und ontogenetische Entwicklung, auf deren pädagogische Bedeutung wir später noch zu sprechen kommen (vgl. S. 116 ff.). Der Begriff der Tätigkeit wurde im Laufe der weiteren Werke Marx‘ immer mehr auf den Begriff der Arbeit verengt. Da der Begriff der Tätigkeit sowohl innere, geistige als auch äußere Tätigkeiten beinhaltet und damit umfassender als der ArbeitsbegriffFootnote 58 ist, wird er im Weiteren herangezogen.

Die zentrale Bedeutung der Tätigkeit bei der Entwicklung des Menschen als Mittler zwischen Außen- und Innenwelt beschriebt Leontjew wie folgt:

„Allein schon die physische Beschaffenheit der Individuen erfordert ein aktives Verhältnis zur Außenwelt. Um zu existieren, müssen sie wirken, müssen sie die notwendigen Mittel zum Leben erzeugen. Indem sie auf die Außenwelt einwirken, verändern sie diese; damit verändern sie auch sich selbst. Was sie selbst sind, wird daher durch die Tätigkeit bestimmt, die durch das bereits erreichte Entwicklungsniveau ihrer Organisationsmittel und -formen bedingt ist. Erst im Laufe der Entwicklung dieser Beziehungen entwickelt sich auch die psychische Widerspiegelung der Realität durch die Menschen“ (Leontʹev 1987, 27).

In dieser Beschreibung finden wir Gehlens „Mängelwesen“ („physische Beschaffenheit“) und Arendts „Dinge als Bedingung menschlicher Existenz“ („Mittel zum Leben“) wieder, vor allem aber Elemente von Plessners Exzentrischen Positionalität. Die Gesetze der vermittelten Unmittelbarkeit und der natürlichen Künstlichkeit sagen genau das aus:

Der Übergang von der unmittelbaren Wirklichkeitswahrnehmung zur vermittelten Wirklichkeit erfordert den Übergang von der zentrischen Position in die exzentrische Position. Sie erst macht den Menschen zum „Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative“ (Plessner 1975, 292) (vgl. Abschn. 2.2.2.4)

Das Prinzip der vermittelten Wirklichkeit nach Plessner korreliert mit der Tatsache, dass auch die psychische Widerspiegelung nach Leontjew als ein aktiver Prozess angesehen wirdFootnote 59. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nicht zu vergleichen mit der Umwandlung physikalischer Größen mit Hilfe von Sensoren und deren Verarbeitung in einer Zentraleinheit, sondern Sinneseindrücke (aller Sinne) werden durch Perzeptionen in subjektive Wahrnehmungen umgewandelt. Bei der Perzeption vermischen sich kognitive Verarbeitung der Sinneseindrücke mit emotionalen Einfärbungen und Erinnerungen zu einem Gesamtbild der Wahrnehmung.

Die Psychologie westlicher Prägung verfährt nach einem „zweigliedrigen Analyseschema“:

„Einwirkung auf die rezipierenden Systeme des Subjekts--> entstehende Antworterscheinungen, objektive und subjektive, die durch die jeweilige Einwirkung hervorgerufen werden“ (Leontʹev 1987, 77).

Die Alternative dazu ist es,

„von einem dreigliedrigen Schema auszugehen, das als Mittelglied (als „Zentralbegriff“) die Tätigkeit des Subjekts und entsprechend deren Bedingungen, Ziele und Mittel umfaßt, ein Glied, das die Zusammenhänge zwischen ihnen vermittelt“ (Leontʹev 1987, 82 f).

Dabei könnte leicht das Missverständnis entstehen, dass die Tätigkeit als ein Prozess fungiert, „in dem die wechselseitigen Übergänge zwischen den Polen „Subjekt-Objekt“ verwirklicht werden“ (a.a.O., 83).

Ein so verstandener Tätigkeitsbegriff würde auch der Gesellschaft lediglich einen neutralen Objektcharakter zubilligen, ein „äußeres Milieu, dem er (der Mensch, Anm. THM) sich anzupassen habe“ (a.a.O., 85).

Dem widerspricht Leontjew deutlich:

„Dabei wird die Hauptsache außer acht gelassen, daß nämlich der Mensch in der Gesellschaft nicht einfach äußere Bedingungen findet, denen er seine Tätigkeit anpassen muß, sondern daß diese gesellschaftlichen Bedingungen selbst die Motive und Zwecke seiner Tätigkeit, deren Mittel und Verfahren in sich tragen; mit einem Wort, daß die Gesellschaft die Tätigkeit der sie bildenden Individuen produziert“ (Leontʹev 1987, 85).

Hierin verbirgt sich das Paradox, dass einerseits die Gesellschaft die Tätigkeit schafft, andererseits aber die Tätigkeit die Gesellschaft schafft. Dieses lässt sich nur dadurch lösen, „indem ihr Wesen und Ursprung in der gemeinsamen (sozialen) Tätigkeit […] gesucht wird. Durch (gemeinsame) Tätigkeit erfolgt die (kulturelle) Menschwerdung und über die individuelle Aneignung erfolgt die Persönlichkeitsentwicklung jedes Menschen in der Ontogenese“ (Giest 2006, 27).

Diese doppelte Bedingtheit von Persönlichkeitsentwicklung und kultureller Entwicklung hat schon Humboldt in seiner „Theorie der Bildung des Menschen“ gesehen, wenn er schreibt:

„Beschränken sich indes auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Inneres zurückstrahle“ (Humboldt 2017, 8).

Die doppelte Bedingtheit ist uns auch bei Klafkis Definition der kategorialen Bildung (vgl. S. 44) begegnet. Sie begegnet uns auch in Neuners „Theorie der sozialistischen Allgemeinbildung“:

Wir wollen hier vor allem daran erinnern, daß die marxistisch-leninistischeFootnote 60 Persönlichkeitstheorie die Entwicklung der Persönlichkeit als dialektische Einheit von Verinnerlichung und Entäußerung, von Interiorisation und Exteriorisation versteht, als einen Prozeß der aktiven, tätigen Auseinandersetzung des Menschen mit der gegebenen Umwelt, mit der menschlichen Kultur“ (Neuner 1973b, 87).

Damit verlässt die Tätigkeitstheorie den engen Rahmen einer psychologischen Theorie und wird Ausgangspunkt einer kulturhistorischen Theorie des Menschen, die das Potenzial hat, einen theoretischen Orientierungsrahmen für die doppelseitige Bedingtheit von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation zu bilden und zugleich Konsequenzen bereitzustellen für die dazu nötige Lernkultur in Schulen (vgl. (Giest 2006)).

Die zwei Grundthesen der kultur-historischen Theorie gehen auf die Tätigkeitstheorie zurück.

„Es ist erstens die Auffassung, dass menschliche Entwicklung (in Onto- und Phylogenese) nicht mit dem Modell der Evolution (Anpassung an die Umwelt), sondern durch die Tätigkeit, d.h. die Veränderung, Anpassung der Umwelt an menschliche Bedürfnisse gekennzeichnet ist. Es betrifft zweitens die These, dass diese Veränderung der Umwelt und des Menschen selbst im Rahmen der Tätigkeit dem Wesen nach nicht individuell erzeugt, eine Leistung des Individuums, sondern dem Wesen und Ursprung nach an gemeinsame Tätigkeit, Kooperation und Kommunikation gebunden ist“ (Giest 2006, 67).

Diese beiden Thesen haben weitreichende Folgerungen für die Auffassungen von Lernen und Lehren und die Auswahl von Lerngegenständen (vgl. Kap. 6).

Besondere Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und das Lernen hat das Modell der Entwicklungszonen nach Vygotskij (Vygotskij, Lompscher, und Vygotskij 2003b, 78 ff) (siehe Abb. 2.6).

Abbildung 2.6
figure 6

Entwicklungszonen nach Vygotskij. (Zeichnung: Ute Dahm CC BY-SA 4.0)

Demnach ist

„jedes Niveau der psychischen Entwicklung durch zwei Entwicklungszonen gekennzeichnet: Die Zone der aktuellen Leistung umfasst jene Leistungen, die aufgrund der bisherigen Entwicklung selbstständig vollbracht werden können. Die Zone der nächsten Entwicklung beinhaltet solche Leistungen, die noch nicht selbstständig, wohl aber unter Anleitung, nach Vorbild, mit Unterstützung bewältigt werden, die also Potenzen darstellen, die in einer jeweiligen Zone der aktuellen Leistung „versteckt“ sind und über diese hinausweisen“ ((Giest 2006, 25), Hervorh.THM)

Das Modell geht davon aus, dass Lernen nicht als rein konstruktivistischer Prozess abläuft, denn dann würde das doppelte pädagogische Paradox auftreten, dass erstens Konstruktion von Wissen schon eine Struktur voraussetzen müsste, die aber durch die Konstruktion erst aufgebaut werden soll und dass zweitens Lehren unsinnig und unmöglich wäre, weil eine außenstehende Person zur Konstruktion von Wissen nichts beitragen kann.

Vygotskijs Ansatz sieht Lernen und Entwicklung als einen Prozess der Ko-Konstruktion, bei dem in einem sozialen Prozess eine kompetentere Person das Kind unterstützt (Scaffolding). Die Unterstützung orientiert sich jeweils an der nächsthöheren Stufe der Entwicklung. Je höher die erreichte Entwicklungsstufe ist, desto selbstständiger erfolgt das Lernen und desto geringer muss die Unterstützung sein. Die pädagogische Herausforderung besteht einerseits in der Identifikation der jeweiligen Entwicklungsstufen und in der Auswahl der dazu passenden Unterstützungsmaßnahmen. Im Hinblick auf den Untersuchungsschwerpunkt „Kanonproblem“ gilt es, die spiralförmigen Entwicklungsstufen auch in spiralförmigen Curricula abzubilden. Einzubinden sind dabei auch die die verschiedenen Ebenen, auf denen sich die Wechselbeziehung von Persönlichkeitsentwicklung vollziehen:

„Die marxistisch-leninistischeFootnote 61 Psychologie verweist darauf, daß sich die dialektische Determination der menschlichen Persönlichkeit im Wechselspiel äußerer und innerer Bedingungen und Ursachen auf folgenden Ebenen vollzieht:

-auf der Ebene der Organismus-Umwelt-Relation, der Beziehungen zwischen Mensch und Natur

-auf der Ebene der Subjekt-Objekt-Relation, der Beziehungen zwischen dem Menschen und den vergegenständlichten Objekten der praktischen und theoretischen Tätigkeit des Menschen,

-auf der Ebene der Persönlichkeit-Gesellschaft-Relation, der Beziehungen zwischen dem Menschen und der Gesellschaft, vermittelt durch die verschiedenen sozialen Gruppen“((Neuner 1973b, 122 f), Hervorh. THM).

Zur Herstellung des Ost-West-Gleichgewichts sei an dieser Stelle ein weiterer namhafter Vertreter genannt, der amerikanischen Kognitionspsychologie Jerome S. Bruner. Er ist erst in letzter Zeit in der Mathematik-Didaktik wiederentdeckt worden durch das sogenannte „EIS-Prinzip“.

„Aus fachdidaktischer Sicht von besonders großer Bedeutung für einen ganzheitlichen Mathematikunterricht ist die Berücksichtigung der drei verschiedenen Repräsentationsformen für die Darstellung und Erschließung von Wissen: enaktiv (durch Handlungen), ikonisch (durch Bilder) und symbolisch (durch Zeichen und Sprache)“ (Heske 2020, 186).

Die Mathematikdidaktik hat diese drei Darstellungsebenen zu einem didaktischen Prinzip erhoben, das sich auf einzelne mathematische Sachverhalte bezieht und „auf die Entwicklung des Denkens und Verstehens“ (Sturm 2021, 158) abzielt. Bruners Überlegungen waren jedoch umfassender und bezogen sich auf die „Natur der kognitiven Entwicklung“ (Bruner u. a. 1971, 21). Er beschäftigt sich mit den Mitteln, „mit denen der im Wachstum begriffene Mensch sich seine Erfahrungen der Umwelt vergegenwärtigt“ (ebd.) und beschreibt die „Akzentverschiebung (…) im Verlaufe der Entwicklung der Darstellungsform (representation)“ (ebd.) wie folgt:

„Zuerst kennt das Kind seine Umwelt hauptsächlich durch die gewohnheitsmäßigen Handlungen, die es braucht, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Mit der Zeit kommt dazu eine Methode der Darstellung in Bildern, die relativ unabhängig vom Handeln ist. Allmählich kommt dann eine neue und wirksame Methode hinzu, die sowohl Handlung wie Bild in Sprache übersetzt, woraus sich ein drittes Darstellungssystem ergibt. Jeder dieser drei Darstellungsmethoden, die handlungsmäßige, die bildhafte und die symbolische, hat ihre eigene Art, Vorgänge zu repräsentieren. Jede prägt das geistige Leben des Menschen in verschiedenen Altersstufen, und die Wechselwirkung ihrer Anwendungen bleibt ein Hauptmerkmal des intellektuellen Lebens des Erwachsenen“ (Bruner u. a. 1971, 21).

Es verwundert nicht, dass Bruner in seinen „Studien zur kognitiven Entwicklung“ häufig Bezug auf Vygotskij (s.o.) nimmt, denn dessen Untersuchungen zum Spracherwerb aus dem Jahre 1934 kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Ironie der Geschichte: Erst über den Umweg Amerika kommen die Erkenntnisse Vygotskijs wieder in die Bundesrepublik zurück, wo sie im Ostteil schon lange verankert waren. Es wäre im Sinne des doppelten Ansatzes von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation wünschenswert, dass auch die kulturelle Bedingtheit der sogenannten empirischen Wissenschaften im Unterricht über diese Wissenschaften thematisiert würde.

Auch Bruner kommt am Ende seiner Untersuchungen zu bildungs- und kulturtheoretisch relevanten Schlüssen:

„Wir sehen den Menschen im Prozeß der Internalisierung des Tuns, des Vorstellens und des Symbolisierens heranwachsen. Diese Darstellungsformen „existieren“ in seiner Kultur. Sie sind Verstärker seiner Kräfte“ (Bruner u. a. 1971, 379).

Damit ist die „kulturhistorische Determiniertheit der Ontogenese“ angesprochen, die sich darin äußert,

„dass Inhalt und Abfolge von Entwicklungsstufen der Kindheit und Jugend (und des Erwachsenenalters) nichts Ewiges und Unabänderliches darstellen, sondern historischen Charakter haben, wechselseitig mit der Entwicklung der Gesellschaft, dem sozialen Verkehr zusammen hängen“ (Giest 2006, 25).

Mit dieser kulturhistorischen Determiniertheit und dem Zusammenhang zwischen Ontogenese der Individuen und Phylogenese der Menschheit werden wird uns noch beschäftigen (vgl. Kap. 6).

2.2.3.3 Selbstbestimmung in der Dialektik von Ich und Selbst

„«Ich» sagst du und bist stolz auf dieses Wort.

Aber das Größere ist-

Woran du nicht glauben willst.

Dein Leib und seine große Vernunft:

Die sagt nicht Ich, aber tut Ich (…)

Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge.“

(Nietzsche 2019, 30 f).

Was hier in einem Ausschnitt aus „Also sprach Zarathustra“ von Nietzsche angesprochen wird, ist die Tatsache, dass viele menschliche Handlungen nicht durch das Bewusstsein, das Ich, gesteuert werden, sondern unbewusst durch das Selbst.

Viele Handlungen und Entscheidungen, z. B. das Betätigen eines Lichtschalters, das Kuppeln und Schalten beim Autofahren oder auch die Kaufentscheidung im Supermarkt, finden unbewusst statt und entlasten dadurch auch das Großhirn, das für anspruchsvollere Aufgaben benötigt wird.

Es stellt sich die Frage, ob durch diese unbewussten Handlungen die Selbstbestimmung und damit unsere Mündigkeit in Frage gestellt oder gefährdet wird, weil durch eingeschränkte Willensfreiheit die Frage nach der Verantwortung nicht mehr eindeutig beantwortet werden kann.

Geht man von dem Kant’schen Begriff der Mündigkeit aus, so impliziert dieser, dass alle Entscheidungen, die ein Mensch trifft, idealerweise auf Vernunft begründet sind und aus einem freien Willen entspringen.

Ergebnisse der Gehirnforschung, der Neurobiologie und der differentiellen Psychologie relativieren die Rolle des Verstandes bei der sogenannten rationalen Entscheidungsfindung und lassen Zweifel an der Willensfreiheit aufkommen.

„Ich“ und „Selbst“ sind Modellkategorien aus den Persönlichkeitstheorien, keine real existierenden Entitäten. Die mit diesen Modellkategorien verknüpften Eigenschaften sind in einer Person nicht schon bei der Geburt vorhanden und voll entwickelt, sondern sind „plastisch“. Die Eigenschaften entwickeln sich durch Lernprozesse, sind also für diese Untersuchung von zentraler Bedeutung. Außerdem ist das Zusammenspiel von Ich und Selbst für das Verständnis von Denk-, Bewertungs- und Entscheidungsprozessen und den aus diesen Entscheidungsprozessen resultierenden Handlungen wichtig. Wissenschaftliche Disziplinen, die zu „Ich“ und „Selbst“ Aussagen machen sind vor allem die Persönlichkeitstheorien, die sich wiederum aus neurobiologischen und psychologischen Untersuchungen speisen.

Bisher dominiert in Situationen, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen, der traditionelle „höhere Vernunftbegriff“.

„Nach dem höheren Vernunftbegriff, der der allgemeinen Auffassung entspricht, handeln wir, wenn wir unsere besten Entscheidungen treffen, zur Freude und zum Wohlgefallen von Platon, Descartes und Kant. Die formale Logik allein wird uns zur bestmöglichen Lösung eines Problems führen. Dabei ist ein wichtiger Aspekt der rationalistischen Vorstellung, daß wir die Gefühle ausklammern müssen, um möglichst vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen. Rationale Prozesse dürfen nicht von Leidenschaft behindert werden“ (Damasio 1997, 234 f).

Dieser „höhere Vernunftbegriff“ setzt eine Trennung von Geist und Körper voraus.

Der berühmte Satz Descartes‘, „Cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich),besagt nämlich, daß Denken und das Bewußtsein vom Denken das eigentliche Substrat des Seins sind. Und da Descartes das Denken bekanntlich für eine Tätigkeit hielt, die sich völlig losgelöst vom Körper vollzieht, behauptet er in dieser Äußerung die radikale Trennung von Geist, der »denkenden Substanz« (res cogitans) , und dem nicht denkenden Körper, der Ausdehnung besitzt und über mechanische Teile verfügt (res extensa)“ (Damasio 1997, 329).

Antonio Damasio beschreibt in seinem gleichnamigen Buch „Descartes‘ Irrtum“ folgendermaßen. Der Irrtum liegt

„in der abgrundtiefen Trennung von Körper und Geist, von greifbarem, ausgedehntem, mechanisch arbeitendem, unendlich teilbarem Körperstoff auf der einen Seite und dem ungreifbarem, ausdehnungslosen, nicht zu stoßenden und zu ziehenden, unteilbaren Geiststoff auf der anderen; in der Behauptung, daß Denken, moralisches Urteil, das Leiden, das aus körperlichem Schmerz oder seelischer Pein entsteht, unabhängig vom Körper existiert. Vor allem: in der Trennung der höchsten geistigen Tätigkeiten vom Aufbau und der Arbeitsweise des biologischen Organismus“ (Damasio 1997, 330).

Tatsächlich findet bei der Motivation zu einer Handlung, bei der Entscheidung über die Ausführung der Handlung und bei der Handlung selbst eine komplexe Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung, Informationsverarbeitung im Gehirn (Kopf), emotionaler Bewertung (Herz) und motorischer Ausführung (Hand) statt.

Eine besondere Rolle bei Entscheidungsprozessen spielen Körperempfindungen, die Damasio mit dem Begriff der „somatischen Marker“ beschreibt.

„Da die Empfindung den Körper betrifft, habe ich dem Phänomen den Terminus somatischer Zustand gegeben (soma ist das griechische Wort für Körper); und da sie ein Vorstellungsbild kennzeichnet oder »markiert«, bezeichne ich sie als Marker. Dazu ist abermals festzustellen, daß ich somatisch im allgemeinsten Sinne verwende (das heißt, damit alles bezeichne, was zum Körper gehört) und sowohl viszerale wie nicht viszerale Wahrnehmungen gemeint sind, wenn von somatischen Markern die Rede ist“ (a.a.O., S. 237).

Bei anstehenden Entscheidungen entstehen innere Bilder eines zukünftigen Zustandes. Diese werden aufgrund zahlreicher vorheriger Erfahrungen sehr schnell parallel verarbeitet und es werden automatisch positive oder negative Bewertungen von Vorhersagen vorgenommen (vgl. (Damasio 1997, 239)). Die durch die Bewertungen ausgelösten positiven somatischen Marker ermöglichen es dem Menschen, Entscheidungen zu treffen, die zwar kurzfristig mit negativen Folgen versehen sind, aber langfristig Erfolg versprechen. Das Durchhaltevermögen bei langfristig angelegten Projekten, wie z. B. einer Dissertation, die auch mit vorübergehend negativen Konsequenzen verbunden sind, bezeichnet man üblicherweise mit Willenskraft.

„Willenskraft ist nur ein anderer Name für die Tendenz, sich an langfristigen Folgen und nicht an kurzfristigen zu orientieren“ (Damasio 1997, 240).

Für eine Untersuchung zur Bildung ist von Bedeutung, wie die somatischen Marker entstehen.

„Die neuronale Basis für das interne Präferenzsystem besteht größtenteils aus angeborenen regulatorischen Dispositionen, die dem Überleben des Organismus dienen“ (Damasio 1997, 245).

Dazu gehören primäre Gefühle, wie z. B. Angst, die bei existentiellen Bedrohungen blitzschnelle Entscheidungen über Flucht, Angriff oder Totstellen ermöglicht und dazu auch die nötigen Energien bereitstellt.

„Trotzdem sind wahrscheinlich die meisten somatischen Marker, die wir zum Zwecke der Entscheidungsfindung verwenden, im Laufe unserer Erziehung und Sozialisation im Gehirn entstanden, indem wir Klassen von Reizen mit bestimmten Klassen von somatischen Zuständen verknüpft haben. Mit anderen Worten, sie beruhen auf dem Prozeß der sekundären Gefühle“ (Damasio 1997, 243).

Wie wirkmächtig diese erworbenen sekundären Gefühle sein können, zeigt sich einerseits an harmlosen Phänomenen wie Spinnenangst, sie zeigte sich aber in viel größerem Ausmaß in „kranken Kulturen“.

„In Deutschland und der Sowjetunion während der dreißiger und der vierziger Jahre, in China während der Kulturrevolution und in Kambodscha des Pol-Pot-Regimes, um nur die offenkundigsten Fälle zu nennen, hat sich die kranke Kultur gegenüber vermutlich normalen Denk- und Entscheidungsmechanismen durchgesetzt- mit entsetzlichen Folgen, wie wir wissen“ (Damasio 1997, 245).

Welche Rolle dabei das systematische Erzeugen von Angst spielt, erläutert der Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld, wenn er die Fragen nach „Angst und Macht“ und „Warum schweigen die Lämmer?“ beantwortet. Er kommt dabei zu Aussagen wie,

„Angst führt zu einer massiven Verengung des Aufmerksamkeitsfeldes und des Denkens; eine kollektive Angsterzeugung lässt sich daher nutzen, um je nach Bedarf der Machtausübenden Vorgänge für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen“ (Mausfeld 2019, 21),

oder „besonders wirksam sind Arten der Manipulation, die direkt auf den Kern unserer mentalen Kapazitäten zielen und dazu beitragen, in den Köpfen Chaos anzurichten, aus dem sich politischer Nutzen ziehen lässt“, wobei er als besonders erfolgversprechend „die systematische Erzeugung von Angst und Hass“ (Mausfeld 2018, 72) bezeichnet.

„Weitere Methoden, die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Zentren der Macht abzulenken, sind Zerstreuung durch mediale Überflutung mit Nichtigkeiten, Konsumismus, Ausbildung von »Falsch-Identitäten« oder Infantilisierung“ (a.a.O., 73).

Die hier angesprochenen Mechanismen der Manipulation werden nicht nur bei der politischen Meinungsbildung angewendet, sondern schon seit den frühen 1920er JahrenFootnote 62 in der Werbung zur unbewussten Beeinflussung des Kaufverhaltens. Die Werbepsychologie hat diese manipulativen Maßnahmen verfeinert (vgl. (Felser 2015)) und durch die Algorithmen der Suchmaschinen und Internetportale ist inzwischen eine für jeden „Kunden“ individuell zugeschnittene Werbung möglich.

Heißt das nun, dass wir keinen freien Willen mehr haben, wir von unseren Gefühlen regiert werden und Bildungs- und Erziehungsbemühungen vergebens sind?

Kann man Heranwachsende durch Bildung und Erziehung gegen derartige Manipulationen immunisieren?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist ein Blick in die Neurowissenschaften und die Psychologie notwendig.

Julius Kuhl, der Ergebnisse der Motivations-, Entwicklungs-, Kognitions- und Neuropsychologie zu einer „Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie“, kurz PSI-Theorie, integriert hat, definiert freie Willensbildung folgendermaßen:

Freie Willensbildung bedeutet, dass eine Entscheidung nicht durch inneren oder äußeren Zwang (z. B. durch eine Drohung oder eine feste, willentlich schwer oder gar nicht steuerbare Gewohnheit), nicht durch einen unkontrollierbaren Affekt (z. B. die unbezwingbare Lust auf eine Zigarette), nicht einmal einseitig durch ein bewusstes Ziel zustande kommt (das ja durchaus fremdbestimmt sein kann), sondern durch die Berücksichtigung einer Vielzahl relevanter Bedürfnisse und Werte (eigener und fremder), persönlicher Kompetenzen (was kann ich in dieser Situation mir bzw. anderen zutrauen?) und Handlungsfolgen (welche Folgen haben die verschiedene Handlungsmöglichkeiten für mich und für andere?)“ ((Kuhl 2008, 100), Hervorh. THM).

Überraschend an dieser Definition dürfte für einen Kantianer der Satzteil, „nicht einmal einseitig durch ein bewusstes Ziel zustande kommt“, sein. Er sagt aus, dass das Bewusstsein allein noch nicht Garant für ein Verhalten mit freier Willensbildung ist. Erst durch das integrierte Selbst werden relevante Werte und Bedürfnisse, persönliche Kompetenzen und Handlungsfolgen in die Willensbildung mit einbezogen.

Das integrierte Selbst „integriert blitzschnell und weitgehend unbewusst eine Vielzahl von Randbedingungen (multiple constraint satisfaction): Es findet aufgrund seiner parallel-holistischen Verarbeitungscharakteristik, die man heute im Prinzip […] mit konnektionistischen neuronalen Netzwerken modellieren kann, immer wieder Verhaltensweisen, die den verschiedenen, z. T. schwer vereinbaren eigenen Bedürfnissen simultan gerecht werden […] und dabei gleichzeitig auch die soziokulturellen Randbedingungen berücksichtigen können (d.h. die Bedürfnisse und Werte anderer, soziale Normen und den kulturellen Kontext)“ (Kuhl 2008, 101 f).

Durch diese Instanz des integrierten Selbst gewinnt der Begriff der Verantwortung eine neue Bedeutung.

„Verhalten, für das wir Verantwortung zuschreiben bzw. übernehmen, ist aus dem System veranlasst, das in hohem Maße in der Lage ist, in einer Vielzahl von Situationen die unterschiedlichsten Gesichtspunkte (eigene und fremde) gleichzeitig zu berücksichtigen und auch bei schwierigen und widersprüchlichen Randbedingungen eine jeweils angemessene »Antwort« zu finden“ (Kuhl 2015, 102).

Diese erweiterte Auffassung von Verantwortungszuschreibung geht von einem „multikausalen und nichtlinearen Begriff von Kausalität“ statt von einem „klassischen (monokausalen und unidirektionalen) Verursachungsbegriff“ (a.a.O., S. 103) aus. Dies ist der Vorteil,

„wenn wir Willensfreiheit im Sinne von Selbstbestimmung verstehen, d.h. als Determination des Verhaltens durch das Selbstsystem statt durch andere verhaltensbahnende Systeme, die weniger Freiheitsgrade aufweisen“ (a.a.O., 103).

Die Bedeutung des Selbst bei der Entscheidungsfindung und der Verhaltenssteuerung führt zu einem erweiterten Mündigkeitsbegriff.

Neben der rationalen Abwägung und vernunftmäßigen Entscheidung schließt Mündigkeit auch ein, dass die eigenen Gefühle und somatische Marker derart bewusst wahrgenommen und reflektieren werden können, dass man den „Einflüsterungen“ der „Angstmache“ auf die Spur kommt und immun gegen Indoktrination und Manipulation wird! Nur so lässt sich Kritikfähigkeit wiedergewinnen, die

„eine Sache des rechten Abstands (ist). Sie ist in einer Welt zu Hause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war. Die Dinge sind indessen viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt“ (Benjamin 1969, 95).

Wenn uns, wie es Benjamin sagt, die Dinge brennend auf den Leib rücken, dann muss genau dieses „Brennen“ Ausgangspunkt der Kritik sein, die nicht durch einen außenliegenden Standpunkt gekennzeichnet ist, sondern durch die Betroffenheit.

Von dieser Kritik schreibt Sloterdijk:

„Sie ist keine Sache richtiger Distanz, sondern richtiger Nähe. Der Erfolg des Wortes »Betroffenheit« wächst auf diesem Boden, es ist die Saat der Kritischen Theorie, die heute in neuen Formen aufgeht, auch unter Leuten, die kaum von ihr gehört haben“ (Sloterdijk 1983, 1:19).

Aus dem Verhalten, das nur durch emotionale Betroffenheit gekennzeichnet ist, wird aber erst dann eine Praxis, „wenn die Intentionalität des Akteurs ins Spiel kommt“ (Nida-Rümelin 2017, 21). Von einer sinnvollen Praxis kann man sprechen,

„sofern es uns gelingt, diese zu verstehen, das heißt, sie als von stimmigen Gründen geleitet zu interpretieren“ (ebd., Hervorh.THM).

Da „Überzeugungen, Handlungen und Gefühle […] gleichermaßen von Gründen affizierbar und Gegenstand von Bildung und Selbstbildung (sind)“ (Nida-Rümelin 2017, 22), schließt die erweiterte Mündigkeit nicht nur die rationalen Urteile (Kopf) ein, sondern auch die Herzensbildung und das verantwortungsvolle, soziale Handeln.

Die so verstandene Persönlichkeitsbildung von Kopf, Herz und Hand führt zu „Fähigkeiten wie Selbstreflexion, Verantwortungsübernahme, Selbstberuhigung, Selbstmotivierung, Integrations- und Urteilsstärke“ (Kuhl 2015, 13), die Kuhl als Selbstkompetenzen formuliert. Zugleich wundert sich Kuhl über die zu geringe Bedeutung der Persönlichkeitsbildung in Familie, Schule und Beruf:

„Ein hoch entwickeltes Selbst ermöglicht (in Kommunikation mit den drei anderen Systemen) in erheblich stärkerem Maße das, was man mit Begriffen wie »Persönlichkeit« oder »Charakter« bezeichnen kann, und was heute in postmoderner Verfremdung mit dem Begriff der »Schlüsselqualifikationen« angedeutet wird. Diese Qualifikationen werden in einer Zeit, in der erlerntes Fachwissen immer schneller veraltet, immer mehr verlangt. Heute kommt es mehr denn je darauf an, dass es Menschen gibt, die die vielen Widersprüche des modernen Lebens integrieren und die komplexen Entscheidungen umsichtig treffen können, die Beruf, Familie und Gesellschaft fordern. Angesichts dieses enormen Bedarfs an integrativer Kompetenz, die aus den erläuterten Gründen durch die personale Ebene der individuellen Entwicklung am umfassendsten vermittelt wird, ist es frappant, wie wenig gerade heute die persönliche Entwicklung in Familie, Schule und Beruf gefördert wird […]“ (Kuhl 2015, 147).

Mit diesem Zitat wird die unmittelbare Verbindung von Persönlichkeitsentwicklung und Bildung und Erziehung hergestellt. Bildung als Persönlichkeitsbildung hat sich an den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen des Menschen ebenso zu orientieren wie an den Erkenntnissen zum „Selbst als Quelle der Willensfreiheit, Authentizität und Moral“ (Kuhl 2008, 111).

Selbstwachstum hängt im Wesentlichen von der Fähigkeit ab, dass ganzheitlich-intuitive Erfahrungen, die auf der Parallelverarbeitung zahlreicher Einzelerfahrungen beruhen, immer wieder von der analytischen Intelligenz auf den Punkt gebracht oder auch in Frage gestellt werden und mit neuen analytischen Einsichten versorgt werden“ ((Kuhl 2015, 153), Hervorh.THM).

Mit diesem ganzheitlichen Ansatz wendet sich Kuhl gegen einen „epistemische(n) Chauvinismus“ (ebd.,153), der „nur gelten lässt, was sichtbar, messbar oder zumindest analytisch erklärbar ist“ (ebd., 153) und in einer einseitigen Betonung von Wissenschaftlichkeit und Verstand das Ziel von Persönlichkeitsentwicklung sieht.

Das Selbstwachstum ist einerseits ein individuelles Wachsen, aber es findet in sozialer Interaktion in einem sozio-kulturellen Umfeld statt. Deshalb gehen wir im nächsten Kapitel den gesellschaftlich-politischen Menschenbildern nach.

Das Zusammenspiel von Kopf, Herz und Hand bei der Willensbildung möge abschließend durch drei Zitate zusammengefasst werden:

„Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Immanuel Kant)

„Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“

(de Saint-Exupéry 2009, 91)

Die Freiheit des Willens liegt darin, daß er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen“

(Bieri 2003, 80)

2.2.4 Gesellschaftlich-politische Menschenbilder im Hinblick auf Bildung und Erziehung

In diesem Kapitel soll keine vollständige politische oder soziologische Theorie entwickelt werden, sondern es kommt erneut darauf an, den Blick auf den heranwachsenden Menschen zu richten und dies aus der Perspektive der Gesellschaft.

2.2.4.1 Der Mensch als gesellschaftliches Wesen

„Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines historischen und darum politischen Wesens“ (Plessner 2015, 184).

Dieses einleitende Zitat Plessners ist uns weiter oben bereits begegnet. Es weist darauf hin, dass die „Unergründlichkeit der geistigen Welt auf dem methodischen Prinzip der ins Verständnis zielenden Frage“ (Plessner 2015, 181) beruht. Hierin liegt der bildende Charakter, denn erst durch die auf Verständnis zielenden Fragen erhellt sich das eigene Geworden Sein und das Geworden Sein der Welt.

„Historisch begreifen heißt infolgedessen am Ende sich selbst und seine Welt als aus der Macht vergangener Generationen geworden erkennen und damit die eigene Gegenwart in der Breite ihrer sämtlichen Dimensionen auf das sie aufschließende menschliche Verhalten zurückführen“ (Plessner 2015, 182).

Zu dem Geworden Sein gehören auch die Artefakte, die den Weg der Menschheit durch die Geschichte gleichsam als Meilensteine begleiten.

Es ist aber nicht nur ein Mensch, der sich diese Verständnisfragen stellt und sich dadurch seiner Geschichtlichkeit bewusst wird, sondern es sind viele Menschen, die zugleich handelnd die Welt gestalten.

Mit jeder Handlung ist Wahlfreiheit verbunden, die aber in der Pluralität der Menschen auf die Grenzen der Freiheit der anderen stößt. Hier steckt der Keim für die Notwendigkeit gesellschaftlicher Regeln, von Rechtssystemen und von politischem Handeln. Die damit verbundene Vergesellschaftung kann unterschiedlich verlaufen. Bergson unterscheidet zwei Formen der Vergesellschaftung, die „geschlossene Gesellschaft“ und die „offene Gesellschaft“. Geschlossene Gesellschaften

„integrieren sich durch Exklusion […] durch territoriale Begrenzung; durch Denkbegrenzungen. Und es gibt eine andere Form der Gesellschaft, die den kreativen Aspekt der menschlichen Natur ausnutzt, die Fähigkeit, immer wieder neue Gedanken und Gefühle zu erfinden: die „offene Gesellschaft“, deren Integrationsmechanismus die Faszination ist, welche die neuen Ideen Einzelner auslöst“ (Delitz 2010, 107).

Diese sehr einfache Polarisierung, die man noch nicht als Gesellschaftstheorie bezeichnen kann, verdeutlicht aber zwei mögliche Pole von Enkulturation in diesen Gesellschaften. Während eine geschlossene Gesellschaft in ihren Schulen auf die Vermittlung der eigenen Kultur, eigener Werte und Normen achten wird, ist eine offene Gesellschaft eher auf Interkulturalität, Toleranz, Freiheit und Kreativität des Denkens ausgerichtet. Die Schulrealität wird sich in diesem Spannungsfeld wiederfinden lassen, sie hängt aber wesentlich von den Werthaltungen der Lehrkräfte ab (vgl. Abschn. 3.1.3). Gibt es eine differenziertere Gesellschaftstheorie, die die doppelte Bedingtheit von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation in ihrer Beschreibung einschließt?

Die Tätigkeitstheorie Leontjews, die vom Primat der Tätigkeit und von der psychischen Widerspiegelung der Wirklichkeit ausgeht und damit an den Marx’schen Materialismus anschließt, könnte zu einer Idee von Geschichte führen, die sich wiederholt und damit nichts wirklich Neues hervorbringen kann (vgl. (Delitz 2010, 113)).

Dagegen denkt Castoriadis die „Gesellschaft als imaginäre Institution“, so sein gleichnamiges Buch, deren Charakteristikum „Selbstveränderung und sonst nichts“ (Castoriadis 1990, 363) ist. Castoriadis meint mit „imaginär“ nicht „Bild von etwas“, sondern:

„Das Imaginäre, von dem ich spreche, ist kein Bild von. Es ist unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von >etwas< zugrundeliegen. Was wir >Realität< und >Rationalität< nennen, verdankt sich überhaupt erst ihnen“ (Castoriadis 1990, 12).

Damit wendet sich Castoriadis gegen die „aristotelische Trennung von theoria, praxis und poiesis“, die er als „abgeleitet und sekundär“ (a.a.O., 13) bezeichnet. Für ihn gilt:

„Die Geschichte ist wesentlich poiesis, und nicht nur nachahmende Poesie, sondern ontologische Schöpfung und Genese im und durch das Tun und das Vorstellen/Sagen der Menschen“ (Castoriadis 1990, 13).

Eine wesentliche Voraussetzung für dieses Denken ist ein veränderter Zeitbegriff:

„Zuerst und zutiefst ist die Zeit Andersheit/ Anderswerden von Figuren, nichts sonst“ (Castoriadis 1990, 328).

Nur so lässt sich erklären, warum ein und derselbe Gegenstand (z. B. Kotabstreifer neben einer Haustür, siehe Abb. 4.6) in der Zeit seiner Entstehung (z. B. Jahrhundertwende 19./20.Jh. mit Kutschenverkehr) eine andere Bedeutung hat als in der Gegenwart (z. B. Stolperfalle auf dem Bürgersteig).

Wenn sich nun aber die Individuen ständig ändern und sich damit die Gesellschaft ständig ändert, muss die Gesellschaft diese Selbstveränderung verleugnen, um sich als Institution imaginär zu fixieren. Diese imaginäre Fixierung geschieht wissenschaftlich durch systematische Analysen (vgl. z. B. (Luhmann 2018), „Die Gesellschaft der Gesellschaft“), sie geschieht auch pädagogisch durch das Fixieren von Bildungs- und Erziehungszielen. Die dadurch geschaffene Identität muss zwangsläufig temporär sein, wie eine Momentaufnahme.

„Jede Gesellschaft muss sich sowohl über die Kommunikation unter Anwesenden hinweg als auch über die Lebenszeit der Individuen hinaus und ständig erneut eine Identität schaffen“ (Delitz 2010, 114).

Das „zentral Imaginäre“, das, was eine Gesellschaft zusammenhält, wird demnach in einem Prozess der ständigen Ko-Konstruktion der Gesellschaftsmitglieder geschaffen. Ko-Konstruktion wird hergestellt über die Kommunikation über Bedeutungen und Sinn und über die erschaffene Dingwelt.

„Danach wären die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen als >kohärente Deformation< des Systems der Subjekte, Objekte und ihrer Beziehungen zu verstehen, als die jedem gesellschaftlichen Raum eigentümliche Krümmung, als der unsichtbare Zement, der den ungeheuren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen zusammenhält, aus dem sich jede Gesellschaft zusammensetzt […].Die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen- sofern es wirklich die letzten sind- denotieren nichts, konnotieren aber fast alles“ (Castoriadis 1990, 246).

Auf diesen zentralen Unterschied von Denotation und Konnotation beim Verstehen von Bedeutungen werden wir später noch ausführlicher zu sprechen kommen. Eine bedeutende Institution für die Ko-Konstruktion von Bedeutungen ist die Schule, die die Heranwachsenden durch Enkulturation einerseits in die Gesellschaft hineinholt, andererseits durch die individuelle Persönlichkeitsbildung dafür sorgt, dass die Selbstveränderung der Gesellschaft voranschreitet, dass Neues entsteht. Voraussetzung für die Ko-Konstruktion von Bedeutungen ist der bereits oben geforderte Aufbau von strukturierten Wissensbeständen über den natürlichen und kulturellen Ist-Zustand. Offenheit von Denken und die daraus resultierende Kreativität für Neuerungen und Fortschritt ist nur auf der Basis dieser strukturierten Wissensbestände möglich. Bildlich gesprochen ist Vernetzung von Wissen nur da möglich, wo bereits zahlreiche Knoten in dem Wissensnetz vorhanden sind. An Löchern kann man schlecht anknüpfen.

Daher erscheint der dynamische gesellschaftstheoretische Ansatz nach Castoriadis auch geeigneter zu sein als die Gesellschaftstheorie Luhmanns. Luhmanns systemtheoretischer Ansatz ist als Analyseinstrument geeignet, eine Gesellschaftstheorie als „Theorie des umfassenden sozialen Systems, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt“ (Luhmann 2018, 78) zu entwickeln. Wenn Luhmann in „Soziale Systeme“ von einer „radikalen De- Ontologisierung der Perspektive auf Gegenstände“ (Luhmann 1991, 243) spricht und davon, dass „sozialen Systemen […] nicht »das Subjekt«, sondern die Umwelt zu Grunde (liegt)“ (Luhmann 1991, 244), dann ist dieser Ansatz für Bildung und Erziehung weniger geeignet, weil er den Blick auf die Rolle der Menschen in den sozialen Systemen verstellt.

Auch die Feststellung, dass es soziale Systeme als „reale Sachverhalte“Footnote 63 (a.a.O., 599) gibt und nicht als Modell ist eine fragwürdige ontologische Grundannahme.

Die Gesellschaftstheorie Castoriadis‘ ersetzt den Dualismus von Individuum und Gesellschaft durch eine wechselseitige Bedingtheit, die auch Kennzeichen von Bildung ist.

„Individuum und Gesellschaft sind in ihrem jeweiligen ständigen Werden, ihrer permanenten und gegenseitig verschränkten Individuation zu denken“ (Delitz 2010, 120)Footnote 64.

Nach Klärung der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft stellt sich jetzt die Frage, nach dem „zentral Imaginären“ als Momentaufnahme der heutigen Zeit, die Frage nach Werten und Normen, die Schule vermitteln sollte. Mit Castoriadis gesprochen nach dem „unsichtbare(n) Zement, der den ungeheuren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen zusammenhält“ (Castoriadis 1990, 246). Da Bildung und Erziehung immer in die Zukunft gerichtete Tätigkeiten sind und mit Zielvorstellungen verbunden sein sollten, kommt an dieser Stelle erneut die „eigentümliche erzieherische Phantasie“, die aus einem „Zentralpunkt“ entspringt (Litt, 1931,124 f, 132 vgl. S. 47) ins Spiel. Die Phantasie, die Vergangenheit und Gegenwart mit der gewollten Zukunft verbindet.

2.2.4.2 „Das Wahre, Gute, Schöne“- eine wiederzubelebende Wertetrias

Das „Wahre, Gute, Schöne“ ist uns bereits als Wertetrias in den Erziehungszielen der Bayerischen Verfassung begegnet. Es fragt sich nun, ob diese Trias ein wiederzubelebender Ausgangspunkt für eine Werteorientierung im 21.Jahrhundert sein kann. Die Trias geht zurück auf die Antike und taucht in abgewandelter Form bei Platon auf.

„Platon bezieht die Schönheit (kallos) bzw. das Schöne (to kalon), das Gute (to agathon) und die Wahrheit (aletheia) eng aufeinander“ (Kurz 2015, 19).

Schon in der Antike war damit eine Einheit angestrebt, die sich durch die Aussage ergab, dass das Gute das Wahre und das Wahre das Schöne ist. Im 18.Jahrhundert erhielt die Trias neuen Auftrieb durch die Öffnung der Philosophie für ästhetische Betrachtungen. Indirekt bildet sich die Trias auch bei Kant ab:

„Diese Dreiteilung bildet noch die Grundlage für Kants drei Kritiken, die vereinfacht dem Wahren, Kritik der reinen Vernunft, dem Guten, Kritik der praktischen Vernunft, und dem Schönen, Kritik der Urteilskraft, zugeordnet werden können“ (Kurz 2015, 27).

Mit veränderten Bezeichnungen begegnet uns die Trias auch in Sir Karl Poppers drei Welten. »Welt 1« als die „physische Welt- das Universum physischer Gegenstände“ (Popper und Eccles 1989, 63), »Welt 2« als „die Welt psychischer Zustände, einschließlich der Bewusstseinszustände, der psychischen Disposition und unbewußter Zustände“ (ebd.) und »Welt 3« „die Welt der Inhalte des Denkens und der Erzeugnisse des menschlichen Geistes“ (ebd.).

Wilber bezeichnet die drei Welten Poppers zusammen als “die Großen Drei“ und einzeln als „die objektive (Es), die subjektive (Ich) und die kulturelle (Wir)“ Welt (Wilber 2002, 52).

Der Neurophysiologe Sir John Eccles betrachtet im Gespräch mit Popper

„diese gesamte Entwicklung von Ideen, die sich auf Welt 3 beziehen, als eines der großen aufklärenden und synthetisierenden Konzepte, die wir besitzen, weil es eine solche Vielfalt menschlicher Leistung, die so viel Gemeinsames hat, miteinander verknüpft“ (Popper und Eccles 1989, 543).

Welt 3 besitzt insbesondere die „Geschichte der kulturellen Evolution (…) mit seiner Entwicklung der Gedankenprozesse zu Kreativität in einem weiten Bereich kultureller Leistung: künstlerischer, literarischer, kritischer, wissenschaftlicher, technologischer usw.“ (ebd.).

Schließlich kann man auch „Habermas‘ drei Geltungsansprüche: Objektive Wahrheit, subjektive Aufrichtigkeit und intersubjektive Gerechtigkeit“ (Wilber, 2002, 52) als Trias anführen, die uns den Weg zu einer pädagogisch-didaktischen Fundierung weist, die wir jetzt in den Blick nehmen wollen.

Der Neuhumanist Friedrich Immanuel Niethammer greift die Trias in der abgewandelten Form des Wahren, Guten und Schönen in seiner Schrift „Der Streit des Philanthropismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit“ erstmals für ein Bildungsprogramm auf (vgl. (Kurz 2015, 58).

Der durch Niethammer geprägte Sprachgebrauch vom „humanistischen“ Gymnasium führte auch zum Niedergang der Trias im Bildungsbereich, denn spätestens mit dem Sputnikschock und der westdeutschen Bildungsreform, die 1972 zur reformierten gymnasialen Oberstufe führte, gewann zwar die reine Wissenschaftlichkeit, die man dem Wahren zuordnen kann, an Bedeutung, die Fragen nach dem Guten und Schönen wurden aber in den Hintergrund gedrängt.

Werner S. Nicklis hat zur gleichen Zeit eine „Strukturtheorie der Gegenstände“ entwickelt, von der er zu einem späteren Zeitpunkt sagt:

„Unabhängig und ohne Kenntnis des Popperschen Ansatzes habe ich zu akademischen Lehrzwecken eine „Strukturtheorie der Gegenstände“ entwickelt, die sich mit der Drei-Welten-Theorie gut in Übereinstimmung bringen läßt und die im Unterschied zu Popper ausgesprochen pädagogischen Zwecken dient“ (Nicklis und Kaiser 1980, 124).

Die von ihm entwickelte Gegenstandsstruktur besteht aus den drei Säulen „Zuhandenes (»Manum«), Gemachtes (»Faktum«) und Vorhandenes (»Definiendum«) (vgl. Abb. 2.7), die jeweils durch Grundrelationen gekennzeichnet sind.

Das „Wahre“, Zuhandene, ist durch die eindeutige Ursache-Wirkungs-Relation, durch Kausalität gekennzeichnet. Das „Schöne“, Gemachte, ist durch die mehrdeutige Zweck-Mittel-Relation, durch Teleologie ausgezeichnet. Schließlich ist das „Gute“, Vorhandene, durch die vieldeutige Motiv-Sinn (Wert)-Relation, durch Sinnkausalität (Axiologie), bestimmt (nach (Nicklis und Kaiser 1980, 126).

Diesen Ansatz greift Wiesmüller auf und erweitert die drei Welten Poppers um eine vierte Welt, die

„Welt des Metaphysischen, in der unentschieden ist, was Materie, Energie Information oder ein weiterer Zustand ist, eine Welt, deren Existenz wie Nichtexistenz nicht beweisbar ist, die positiv oder negativ die Frage nach dem Sinn abgibt“ (Wiesmüller 2006, 261).

Die Sinnfrage ist gerade für Heranwachsende in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt zentral, doch sie findet sich m.E. bereits in Poppers »Welt 3«, im „Guten“ und im „Herz“ der Pestalozzi’schen Trias wieder. Psychologisch wird die Sinnfrage durch die Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan mit den Grundbedürfnissen des Menschen beantwortet, soziologisch durch das Imaginäre der Gesellschaft (Castoriadis) und philosophisch durch die Charakterisierung des Menschen als animal symbolicum (Cassirer) bzw. den Präsentativen Symbolismus (Langer).

Abbildung 2.7
figure 7

Gegenstandsstruktur. (aus Nicklis, 1980,126)

Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist aber der Aussage des bayerischen Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung zuzustimmen:

„In einer pluralistischen Gesellschaft, wie der unsrigen, geht es nicht darum, zu definieren, was das Wahre, Gute, Schöne ist, sondern darum zu zeigen, nach welchen Werten wir handeln beziehungsweise handeln sollten. Denn um ein friedliches und kulturell fruchtbares Miteinander zu garantieren, bedarf es in einer zunehmend kulturell vielfältigen Gesellschaft eines gemeinsamen Wertekanons“ (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hrsg.) 2016, 31).

Die Betonung liegt hier auf Wertekanon, der nur in einem vielstimmigen, gemeinsamen Diskurs gefunden werden kann. Zu diesem Diskurs haben insbesondere Schulen beizutragen. Dennoch bietet sich die Trias als Orientierungsraster an, wobei das Wahre für die Wissenschaftlichkeit, die Erkenntnistheorie und Kants Frage „was kann ich wissen?“ ((Kant 2015, 660) KrV, AA523) stehen kann, das Gute für die moralische Selbstvergewisserung und Kants Frage „was soll ich tun?“ (ebd.) und das Schöne für die ganzheitlich wahrgenommenen Konnotationen gemäß dem Ausspruch von Paul Klee: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (Klee 1920, 28). Nicht nur Kunst „macht sichtbar“, sondern alle menschlichen Hervorbringungen (= Kultur), die außer einer Denotation noch mit einer symbolischen Konnotation versehen sind und von anderen Menschen decodiert werden müssen.

Wenn wir von einer Wiederbelebung der Bildung von Kopf, Herz und Hand (nach Pestalozzi) gesprochen haben, dann könnte man die Zuordnung Kopf, „das Wahre verstehen“, Herz, „das Schöne erleben“ und Hand, „das Gute gestalten“ vornehmen, wobei zu beachten ist, dass eine Ganzheit mehr als die Summe der Teile ist und dass erst durch die Wechselwirkungen und Überschneidungen dieses Mehr der Ganzheit zustande kommt.

2.2.4.3 Der Mensch als verantwortlicher Gestalter der Gesellschaft

„Was soll ich tun?“ ((Kant 2015, 660), KrV, AA523)

Vor dieser Frage Kants stehen wir, wenn wir täglich eine von ca. 20000 Entscheidungen treffen müssen. Die meisten dieser Entscheidungen trifft das integrierte Selbst (vgl. Abschn. 2.2.3.3), das Erfahrungsgedächtnis. Wir schalten das Licht ein, gehen in eine bestimmte Richtung durchs Grüne und essen ein belegtes Brot. Bei jeder dieser Entscheidungen denken wir nicht darüber nach, ob wir verantworten können, wie der Strom, der die Lampe zum Leuchten bringt, erzeugt wird, ob auf dem eingeschlagenen Weg eine Pflanze plattgetreten wird oder wie die Tiere gehalten wurden, die zu dem Wurstbelag des Brotes verarbeitet wurden. Dennoch fließen in diese Entscheidungen Bewertungen mit ein, denn das Erfahrungsgedächtnis speist sich aus einer Vielzahl von bewussten und unbewussten Erlebnissen, die alle mit Bewertungen versehen abgespeichert werden. Diese Bewertungen werden durch positive oder negative Affekte und somatische Marker (vgl. S. 122) ausgelöst. Bewertungen nutzen Werte, die sich im Laufe des Lebens oft durch Lernen am Modell (Bandura) herausbilden.

Die Bewertung zahlreicher Entscheidungen hängt also wesentlich von den unbewussten Erfahrungen und unseren Vorbildern ab, der Erziehung im Elternhaus, in der Schule und in anderen Erziehungszusammenhängen. Bei der Werteerziehung geht es einerseits darum, diese unbewussten Entscheidungen bewusst zu machen, es geht aber im Wesentlichen darum, bewusste Entscheidungen verantwortungsvoll zu treffen, mit einem moralischen Wertekompass. Wie kann ein solcher Wertekompass in der heutigen Zeit aussehen, in der früher selbstverständliche Werteorientierungen, z. B. an der Religion, wegbrechen?

Ohne detailliert die historische Entwicklung der Ethik nachzuvollziehen, greifen wir hier erneut die „Ethik der Wertschätzung“ von Corinne Pelluchon als eine „Tugendethik für die moderne Gesellschaft“, so der Text auf dem Einband des Buches, auf. Die Ethik der Wertschätzung geht davon aus, dass sich eine tugendhafte Person „durch eine Seinsweise auszeichnet, die durch Respekt vor der Natur, vor den anderen Menschen und Bürgersinn gekennzeichnet ist“ (Pelluchon 2019, 30). Der besondere Wert dieses Ansatzes besteht in Bezug auf Bildung und Erziehung darin, dass Pelluchon die Ethik „nicht als normative Disziplin, sondern als einen Prozess der Selbsttransformation versteht“ (ebd.). Damit kommt Bildung und Erziehung die Aufgabe zu, diese „Selbsttransformation“ anzuregen und zu unterstützen. Ausgangspunkt aller Überlegungen zu einer Werteerziehung muss nach Pelluchon die Erkenntnis sein, „dass es ohne Demut und ohne Kenntnisnahme unserer Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt keine Wertschätzung gibt“ (a.a.O., 290). Mit Welt ist hier nicht nur die Natur, sondern auch die vom Menschen geschaffene Welt, die Kultur, gemeint. Pelluchon setzt als höchste Tugend die „Liebe zur Welt“ (a.a.O., 287). Demut und die „Liebe zur Wahrheit“ führen dazu, dass sich das Subjekt „für die anderen und für die Welt“ (a.a.O., 287) öffnet. „Die Liebe zur Wahrheit erzeugt Liebe zur Gerechtigkeit“ (ebd.) aus „Sorge um sich und Sorge um die Welt“ (ebd.). Der Mensch lebt dann „in Frieden mit sich selbst und den anderen und handelt konstruktiv, mutig und klug“ (a.a.O., 288). Und schließlich bringt „(d)ie Liebe zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, die Klugheit, die Großmut und der Mut (…) die Bürgertugenden hervor, die es erlauben, zu kooperieren, unter Rücksichtnahme auf den anderen zu beratschlagen und fähig zu sein, die eigenen Meinungen in Frage zu stellen und zu argumentieren“ (a.a.O., 289).

Die „Ethik der Wertschätzung“ nutzt Pelluchon in „Das Zeitalter des Lebendigen“ dazu, „eine neue Philosophie der Aufklärung“, so der Untertitel des Buches, zu begründen. Darin analysiert sie den Rationalismus der Aufklärung,

„der ursprünglich die Befreiung des Menschen von Mythologien anstrebte, aber dann in eine instrumentelle Rationalität umschlug, die die moralische Urteilskraft beeinträchtigte, eine Autonomisierung der Technik antrieb und zur Konstitution neuer Mythologien beitrug“ (Pelluchon 2021, 288).

Damit knüpft sie an die „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer an (vgl. Abschn. 2.2.2.1), bleibt aber nicht bei der Analyse stehen, sondern entwirft eine neue Philosophie der Aufklärung im „Zeitalter des Lebendigen“ (a.a.O., 291).

„Da die Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen sich auf eine Phänomenologie unseres Lebens auf der Erde stützt, die unsere Körperlichkeit und unsere Abhängigkeit von den Ökosystemen und den anderen, menschlichen wie nichtmenschlichen, Lebewesen ins Licht rückt, überwindet sie den Gegensatz von Natur und Kultur und fördert ein nichthegemoniales Universelles, das die beiden Stolpersteine des Dogmatismus und des Relativismus umgeht“ (Pelluchon 2021, 291).

Die „neue Aufklärung“ ersetzt das „Herrschaftsschema“, das nach Pelluchon gekennzeichnet ist durch „ein räuberisches Verhältnis zur Natur, die Verdinglichung des Selbst und der Lebewesen sowie soziale Ausbeutung“Footnote 65 (a.a.O., 100), durch ein „Wertschätzungsschema“. Das heißt, dass die Welt so organisiert ist, dass

„alle Tätigkeiten und Sektoren sowie sämtliche Untersysteme den realen Bedürfnissen der Menschen entsprechen und es ihnen ermöglichen, ihre Autonomie zu behaupten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und dabei die gemeinsame Welt zu bewahren“ (a.a.O., 101).

„Schema“ wird von Pelluchon gesondert definiert:

„Als Schema bezeichnen wir die Gesamtheit der Repräsentationen sowie die gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, politischen und technologischen Entscheidungen, die die Matrix einer Gesellschaft bilden, die Produktionsverhältnisse organisieren, bestimmten Tätigkeiten und Objekten einen Wert beimessen und den Geist beeinflussen, indem sie das Verhalten konditionieren und die Vorstellungwelt kolonisieren.“ (Pelluchon 2021, 99).

Da auch die Technik ein Teil dieser Welt ist, wird durch die neue Aufklärung nicht nur der Gegensatz von Natur und Kultur aufgehoben, sondern es gilt eine „Kultur der Technik zu entwickeln, die diese auf zivilisatorische Ziele ausrichtet“ (a.a.O., 300), zu denen der „Schutz der Biosphäre, die Sorge um zukünftige Generationen, Gerechtigkeit gegenüber Tieren, Respekt gegenüber dem Natur- und Kulturerbe“ (ebd.) gehören. Wegen der absoluten „Unvereinbarkeit zwischen dem Herrschaftsschema und dem Wertschätzungsschema“ (a.a.O., 293) kann ein Schemawechsel nur ein „radikaler Prozess“ sein, der „über einen tiefgreifenden Wandel unserer Repräsentationen und Lebensweisen“ abläuft und „zur Beseitigung der Herrschaft führt“ (ebd.). Erste Anzeichen für den Schemawechsel haben sich in den Corona-Lockdowns mit einer verstärkten Hinwendung zur Natur abgezeichnet. Durch den Ukrainekrieg scheint aber das Herrschaftsschema wieder Überhand zu gewinnen.

Die Rolle der Schule bei einem möglichen Schemawechsel besteht in einer sehr reflektierten, gemäß dem Beutelsbacher Konsens (vgl. S. 187) nicht überwältigenden Werteerziehung, die einen Mittelweg anstrebt im Spannungsfeld von Rigidität und Gewährenlassen.

„Die Position der moralischen Rigidität und die des Gewährenlassens repräsentieren zwei extreme Zugänge zur moralischen Erziehung. Beide sind zurückzuweisen; der Standpunkt der Rigidität, weil er de facto auf eine Form der Indoktrination hinausläuft, und der Standpunkt des Gewährenlassens, weil er zu einem moralischen Relativismus und Individualismus führt“ (Hall 1979, 13).

Dieser Mittelweg lässt in der Schule mit verschiedenen Unterrichtsstrategien beschreiten. Zunächst gilt es, mit Bewusstmachungsstrategien das Unbewusste ins Bewusstsein zu heben. Es gilt dann, Begriffe für das bisher Unbewusste zu bilden, um darüber diskursiv ins Gespräch zu kommen. Die Anwendung der Begriffe in Debatten, Diskussionen, Simulationen oder Planspielen soll es ermöglichen, sich in andere Positionen und Personen hineinzuversetzen und Entscheidungskonflikte aushandeln zu können.

Entscheidungs- und Handlungskonflikte tauchen im Zusammenhang mit Wertekonflikten immer dann auf, wenn unterschiedliche Ziele mit unterschiedlichen Mitteln erreicht werden sollen.

Letztlich ist alles Handeln, vor allem aber das Handeln mehrerer Individuen im gesellschaftlichen Kontext ein Handeln im Zielkonflikt.

Erst das Abwägen und gewichtende Urteilen macht daraus verantwortliches Handeln. Erzieherisches Handeln verlangt aber nicht nur die Urteils-, sondern auch die Entscheidungs- und am Ende die Handlungsfähigkeit zu fördern.

Denn ohne Handeln gibt es keine Veränderung der Zustände.

„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile- von denen der eine über ihr erhaben ist- sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden“ (Marx und Engels 1983, 3:5 f)

Wenn Marx hier in der 3.These gegen Feuerbach von „revolutionärer Praxis“ spricht, dann klingt das zunächst extrem. Geht man von dem lateinischen Ursprung „revolutio“, Zurückdrehen, Zurückwälzen aus, dann bekommt „revolutionär“ fast schon eine konservative Konnotation. Die Kernaussage bleibt aber, dass „die Umstände von den Menschen verändert“ werden. Ebenfalls gegen Feuerbach gerichtet formuliert Marx in „Die deutsche Ideologie“: „Er (Feuerbach, Anm.THM) kommt also nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen“ (Marx und Engels 1983, 3:45).

Erneut begegnet uns hier die äußere Seite der Welt als Grundlage für die Tätigkeitstheorie Leontjews und den kulturtheoretischen Ansatz. Für Bildung und Erziehung ist jedoch die Wechselbeziehung zwischen der Äußeren Seite (Welt) und der inneren Seite (Mensch) belangreich.

„Die Aneignung (und Weiterentwicklung, Gestaltung) menschlicher Kultur (Wissen und Können, Anschauungen und Werte, Beziehungen und Normen) erfolgt nicht als passive, mechanische Übernahme, sondern als Ergebnis der von den Subjekten ausgehenden (aktiven) gemeinsamen Tätigkeit. Im Prozess gemeinsamer Tätigkeit erfolgt die Transformation ursprünglich äußerer, ihrem Wesen und ihrem Ursprung nach sozialer, auf Kooperation und Kommunikation bezogener Handlungen und Zeichen in innere Handlungen und Zeichen […] Tätigkeit vollzieht sich in der Einheit von Interiorisation (Internalisierung, Anm.THM)) und Exteriorisation (Externalisierung, Anm. THM) “ (Giest 2006, 23).

Nur durch „Tätigkeit“, durch Handeln, ändert sich die äußere Welt, zugleich aber auch die innere geistige Welt. Da Handeln immer im Zielkonflikt geschieht, lassen sich negative Folgen nicht ausschließen. Seien sie nun beabsichtigt oder nicht vorausgesehen und unabsichtlich. Am Ende macht sich der Mensch bei seinem Handeln immer auch schuldig.

Dazu schreibt Hannah Arendt:

„Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit- dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat- liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit- und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen- liegt im Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten“ (Arendt 2018, 301).

Verzeihen und Versprechen sind keine individuellen Handlungen, sondern sind typisch für die gesellschaftliche Verfasstheit des Menschen.

„Beide Fähigkeiten können sich somit überhaupt nur unter der Bedingung der Pluralität betätigen, der Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln“ (Arendt 2018, 302)

Beide Fähigkeiten ermöglichen dem Menschen, die Freiheit des Handelns zu erhalten und Neues zu schaffen.

2.3 Der Dreischritt des Lernens: „Erleben, Verstehen und Gestalten“

Es gilt nun, den im vorangehenden Kapitel umrissenen Gegenstandsbereich „Natur und Kultur“ und die unterschiedlichen Menschenbilder zu einer Zielvorstellung und einem Modell von Bildung und Erziehung zu verknüpfen.

Strukturbildend ist dabei der Dreischritt des Lernens „Erleben, Verstehen und Gestalten“.

2.3.1 Mit Bewusstheit erleben und wahrnehmen

„Offenbar erschöpft sich die Bedeutung der Sinne für den Menschen aber nicht in ihrer Information. […] Unser Sehen und Tasten, Hören und Riechen kommen uns zum »Bewusstsein«, werden »erlebt«“ (Plessner 2003, 326 f).

Beobachtet man Kleinkinder beim Erkunden ihrer Umwelt und beim Spracherwerb, so stellt man eine unstillbare Neugier fest. Kleine Kinder stellen von sich aus viele Fragen und saugen das Neue wie ein Schwamm auf. Das spielerische, ganzheitliche Erkunden mit allen Sinnen steht im Vordergrund. Der Anfang der Lernbiografie ist mehr als nur ein „waches Anschauen bzw. Versenken“ (Wiesmüller 2006, 273), das Wiesmüller als einen vierten Zugang zur Technik fordert. Es ist eine „Erleben“ im Sinne Cassirers (vgl. S. 81), das dem Verstehen vorausgeht. Durch den tätigen Umgang mit der Welt spiegelt sich diese in der Psyche des Kindes wider und führt zum Aufbau von Wissensstrukturen (vgl. Leontjew, Vygotski, Abschn. 2.2.3.2). Kinder wollen ihre Welt im wahrsten Wortsinn begreifen. Was kleinen Kindern noch zugestanden wird, scheint mit zunehmendem Alter einer Verkopfung von Bildung in der Schule Platz zu machen. Auf didaktische Gegenbewegungen, z. B. das EIS-Prinzip in der Mathematikdidaktik, wurde bereits hingewiesen (vgl. S. 118 f.). Was zeichnet nun „Bildungserlebnisse“ aus?

Nach Gruschka ist ein Bildungserlebnis für den Menschen „folgenreich für die Entfaltung seiner Subjektivität und seiner Individualität“ (Gruschka 2020, 38).

„Die Vorstellung vom Erlebnis drückt eine besondere Qualität des Prozesses des Erlebens aus. Das „Er“ im Er-leben hebt etwas aus dem Fluss des Lebens heraus und markiert einen er-regten Akteur“ (Gruschka 2020, 41).

Die emotionalen Zustände des Akteurs können als „Staunen, Verwirrung, Andacht, Erregung, Freude oder Furcht“ (a.a.O, 43) beschreiben werden. „Im aktiven Fall, durch den der Mensch handelnd in das Ereignis involviert wird, wird er somatisch erreicht, sein Körper Teil der Sensation“ (Gruschka 2020, 43).

Die Wahrnehmung ist keine rein sensorische, sondern eine Perzeption, bei der das Wahrgenommene bewertet wird und mit Konnotationen versehen wird. Sind die affektiven Bewertungen einer Wahrnehmung sehr schwach, d.h. die Wahrnehmung wird als zu wenig bedeutend und normal eingestuft, als dass damit das Großhirn „belastet“ werden müsste, dann kann es sein, dass die Wahrnehmung unbewusst bleibt. Die Wahrnehmung führt zu keiner inneren Bewegtheit (=Motivation). Auf die Gefahr der unbewussten Wahrnehmungen, die gezielt zur Manipulation genutzt werden, wurde bereits hingewiesen (vgl. S. 123). Wenn das Erleben bildend werden und zu mündigen Bürgern führen soll, muss ein Mindestmaß an Motivation vorhanden sein, um aus dem Erfahrungsgedächtnis ins intentionale Gedächtnis zu gelangen und damit Bewusstheit zu erlangen. Dazu muss die Neugier geweckt werden, ein kognitiver Konflikt erzeugt werden, eine positive oder negative „Belohnung“ winken oder die Achtsamkeit für die innere Bewegtheit, die u. a. durch Manipulationen (Angstmache, Werbung…) ausgelöst wird, muss gezielt gefördert werden. Achtsamkeit gegenüber Menschen, Dingen und gegenüber der Natur setzt Beziehungsfähigkeit voraus und mündet dauerhaft in Wertschätzung von Menschen, Dingen und der Natur unter der Voraussetzung, dass deren Werte auch durch Lernprozesse vermittelt werden.

Ziel von intendierten Bildungs- und Erziehungsprozessen sollte demnach ein möglichst starkes Erleben sein, das über die Motivation zu einer bewussten Wahrnehmung führt. Dazu müsste eigentlich „nur“ die kindliche Neugier aufrecht erhalten werden durch das Kultivieren der kindlichen Fragehaltung und durch die authentische Begegnung mit dem Bildungsobjekt, das möglichst wenig didaktisch „zugerichtet“ (Gruschka 2011, 100) sein sollte.

Dazu gehört, dass in der Phase der Begegnung mit dem „Neuen“, der Motivation, auch Äußerungen zu den Affekten zugelassen werden und sich die Perzeptionen (vgl. S. 114) entfalten können, die sich oft auf die Dimension des Schönen beziehen.

„Wie Kant nämlich darlegt, sind wir im Vollzug ästhetischer Wahrnehmung auf eine besondere Art frei- frei von Zwängen begrifflichen Erkennens, frei von den Kalkülen instrumentellen Handelns, frei auch vom Widerstreit zwischen Pflichten und Neigungen. Im ästhetischen Zustand sind wir frei von der Nötigung zur Bestimmung unserer selbst und der Welt. Diese negative Freiheit aber hat nach Kant eine positive Kehrseite. Denn im Spiel der ästhetischen Wahrnehmung sind wir frei für die Erfahrung der Bestimmbarkeit unserer selbst und der Welt“ (Seel 2003, 20)(Hervorh., THM).

Diese Freiheit ist das wesentliche Bestimmungsmerkmal einer Persönlichkeitsbildung, deren höchstes Ziel die Selbstbestimmung ist.

Zugleich steckt in diesem Zitat aber auch der Keim für die Zerstörung dieser Freiheit.

Wird im unterrichtlichen Vollzug das ästhetische Wahrnehmen durch den Zwang zum begrifflichen Erkennen oder durch den Zwang zur Einhaltung von methodischen Reihenfolgen unterdrückt, dann wird damit zugleich auch der Impuls zur Erfahrung der individuellen Bestimmbarkeit unterdrückt. Daraus ergibt sich die Forderung, bei Stundeneinstiegen die ästhetischen Impulse, die durch Bilder, Karikaturen, Filme, Anschauungsobjekte usw. zunächst individuell wirken zu lassen, die Perzeptionen zu sammeln und erst dann zu einer wissenschaftsorientierten Betrachtungsweise (Beschreiben, Deuten, Hypothesenbildung…) überzugehen.

Gerade durch metakognitive Phasen zu den Perzeptionen, z. B. mit der Frage „was hat in Dir die Begeisterung für das Smartphone ausgelöst?“ kann man zu Fragestellungen gelangen wie „mit welchen Mitteln hat der Designer diesen Effekt wohl erzielt?“ Mit einem solchen Vorgehen kommt man auch gezielten Manipulationen durch Werbung, durch Fake-News, durch angstmachende Nachrichten usw. auf die Spur und gelangt letztlich zu einer erweiterten Mündigkeit (vgl. S. 125).

Die Förderung der bewussten Wahrnehmung und der interindividuelle Abgleich der unterschiedlichen Wahrnehmungen gewinnt im digitalen Zeitalter dadurch zusätzliche Bedeutung, dass die direkte, authentische Wahrnehmung von Objekten zunehmend durch mediale Wahrnehmung ersetzt wird. Dazu schreibt der Philosoph Han:

„Die digitale Ordnung entdinglicht die Welt, indem sie sie informatisiert. […] Die Welt wird zunehmend unfassbarer, wolkiger und gespenstischer. Nichts ist hand- und dingfest“ (B.-C. Han 2021, 7).Footnote 66

Entdinglichung heißt, dass uns sowohl die Gegenstände als auch die Beziehung zu diesen Gegenständen verloren gehen. Aber nicht nur Beziehungen zu Gegenständen gehen verloren, sondern auch die direkte Beziehung zwischen Menschen wird zunehmend durch mediale Beziehungen (What’s App Nachrichten, Videokonferenzen usw.) ersetzt. Die Folge davon ist:

„Ohne jedes gegenüber, ohne jedes Du kreisen wir nur noch ums uns selbst“ (B.-C. Han 2021, 62).

Mit dem fehlenden „Du“ spricht Han auf Martin Bubers Veröffentlichung „Ich und Du“ an, in der Buber zwei Grundworte definierte, die die Verfasstheit des Menschen ausmachen. Das „Ich-Du“ und das „Ich-Es“ Grundwort für die Beziehung zwischen dem Menschen und einem „Du“ einerseits und dem Menschen und einer Sache/ einem Ding andererseits. Wenn Buber schreibt, „im Anfang ist die Beziehung“ (Buber 2017, 24) und „Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsre Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf.“ (a.a.O., 21), dann ergibt sich daraus eine Grundformel für Bildung:

„Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Buber 2017, 34).

Auf die Förderung der Beziehungsfähigkeit und Achtsamkeit als Voraussetzung für die Wertschätzung von Menschen, Dingen und der Natur wurde bereits hingewiesen.

Wie folgenschwer das Fehlen des direkten „Du“ für die psychische Entwicklung Heranwachsender ist, hat unlängst die Corona Pandemie gezeigt.

„Mit Bewusstheit erleben und wahrnehmen“, wie es die Kapitelüberschrift fordert, setzt ein gemeinsames Erleben, ein „wir“, „Ich-Du“-Beziehungen zwischen Menschen und „Ich-Es“-Beziehungen zwischen Menschen und Gegenständen voraus.

Die „Ich-Es“-Beziehungen sind für das Ordnen der Welt wichtig:

„Dies gehört zur Grundwahrheit der menschlichen Welt: Nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unserem Du zu einem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem.“ (Buber 2017, 36).

Daher kommt Han auch zu der Forderung:

„Allein eine Wiederbelebung des Anderen könnte uns aus der Weltarmut befreien“ (B.-C. Han 2021, 63).

Die Digitalisierung darf und wird nicht zu einer Abschaffung von Lehrern führen. Stattdessen wird die direkte Begegnung mit Menschen und mit realen Gegenständen wichtiger denn je.

2.3.2 Verstehen und Verständigung

„Didaktik, die Verstehen ohne diese Krise des Nichtverstehens organisieren will, produziert allein den Schein des Verstehens: ein Bescheid-Wissen, das man besser nicht näher befragt“ (Gruschka 2019, 193).

Bewusstes Erleben und Wahrnehmen führt in der Schule im Idealfall zur „Krise des Nichtverstehens“ und dem intrinsischen Wunsch, diese Krise möglichst selbstständig zu überwinden. Wenn das Verstehen an das Erleben anschließt, ist bereits eine Bedingung für das Verstehen gegeben, nämlich die Motivation, sich einem Sachverhalt näher zuzuwenden. Oft ist auch schon die „Krise des Nicht-Verstehens“ gegeben, zumindest aber ein kognitiver Konflikt, eine Überraschung, ein Rätsel, das einer Auflösung bedarf.

Hinter dem Wunsch nach Verstehen stecken die psychologischen Bedürfnisse nach Kompetenz, sozialer Eingebundenheit oder Autonomie (vgl. Abschn. 2.2.3.1).

Die Psychologie lehrt uns, dass Kompetenz ein zentrales Bedürfnis ist, und zwar im umfassenden Sinne. Kompetent sein heißt, sich in einem Gebiet auszukennen, etwas zu durchschauen und zu verstehen. Verstehen vollzieht sich einerseits kognitiv, andererseits lehrt uns der kulturtheoretische Ansatz die Wechselwirkung von Tätigkeit und Weltverstehen. Im Sinne der Existenzphilosophie geht es auch um das Ergründen des Sinns der eigenen Existenz und der Beziehungen zu Mitmenschen. Das Verstehen anderer Menschen setzt Verständigung durch Sprache, Symbole Gesten usw. voraus und zugleich auch das Überschreiten der eigenen Person durch empathisches Hineinversetzen in andere Personen. Mit diesem Verstehen der Mitmenschen wird das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit befriedigt (vgl. S. 109).

Die kognitive Seite des Verstehens („Kopf“) bezieht sich auf das Wahre, das durch Wissenschaft, Forschen, genaues Beobachten, Erkunden erfahrbar wird.

Das Verstehen der gesellschaftlichen Konnotationen, die z. B. in Festen, Ritualen, aber auch in Gegenständen symbolisch verkörpert sind, wird affektiv erlebt („Herz“) und nur zum Teil bewusst verarbeitet.

Es geht darum, Werte und Normen zu verstehen und danach zu handeln (vgl. nächstes Kapitel). Ein Verstehen im Sinne des „Begreifens“ („Hand“) bezieht alle neun SinneFootnote 67 des Menschen ein. Dabei findet eine ständige Wechselwirkung zwischen Wahrnehmen, Erleben und Verstehen statt. Dieses Verstehen bezieht sich auch auf den eigenen Körper, die eigene Psyche, es ist ein „Sich-selbst-Verstehen“. Metakognition und Selbstreflexion im Sinne der exzentrischen Positionalität Plessners ermöglicht dem Menschen, aus sich herauszutreten („utopischer Standort“), sich wie von außen zu beobachten und festzustellen, dass er sich gerade bildet und mit ihm etwas Entscheidendes passiert.

Verstehen vollzieht sich demnach auf unterschiedlichen Ebenen. Gruschka stellt in „Erziehen heißt Verstehen lehren“ fest, dass wir es mit „einer Vielzahl von Erscheinungen des Verstehens, seiner Formen und wohl auch seiner Intensitätsgrade“ (Gruschka 2019, 205) zu tun haben. Die Überschrift zu dem zusammenfassenden Kapitel, „Stufengang des Verstehens“, ist insofern missverständlich als damit eine schrittweise Steigerung, ein Voranschreiten bildlich nahegelegt wird. Die zwölf „Stufen“ beschreiben stattdessen die in der schulischen Wirklichkeit anzutreffenden Erscheinungen, Formen und Intensitätsgrade des Verstehens. Da diese 12 „Stufen“ jeweils auch evaluative Aussagen darüber machen, woran man die „Stufe“ des Verstehens erkennen kann und dies für das folgende Kapitel und die Schulpraxis bedeutsam ist, werden die Stufen in Tabelle 2.4 stichwortartig zusammengefasst.

Die zwölf „Stufen“ ermöglichen es,

„das Unterrichten als pädagogische Tätigkeit in seiner Sinnstrukturiertheit aufzuschließen: sowohl als Aufgabe der Bildung, der Didaktik, als auch der Erziehung der Schüler. So wird aus dem »Verstehen Lehren« ein vollständiger pädagogischer Vorgang“ (Gruschka 2019, 206).

Von zentraler Bedeutung für das Verstehen und die Verständigung über das Verstandene ist die Sprache. In „Denken und Sprechen“ findet Vygotskij die „Einheit, die die Einheit von Denken und Sprechen in der einfachsten Form widerspiegelt, in der Bedeutung des Wortes“ (Vygotskij 1981, 293).

Ohne Wortbedeutung ist das Wort nur ein „leerer Klang“ (ebd.) mit dem sich nicht denken lässt. Diese einfache und einsichtige Tatsache hat weitreichende Konsequenzen für das Verstehen und die Verständigung in der Schule. Je differenzierter der Wortschatz eines Schülers ist, desto differenzierter kann sein Denken sein, ein rudimentärer Grundwortschatz wird immer nur einfache Zusammenhänge ausdrücken können.

Tabelle 2.4 Stufen des Verstehens nach Gruschka (2019, S. 192–205)

Damit ist auch schon angedeutet, warum es wegen fehlender Sprachförderung zu einer hohen Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Höhe des Bildungsabschlusses in Deutschland kommt.

Ein anderer Aspekt der sprachlichen Verständigung bezieht sich auf den Unterschied zwischen Fach- und Alltagssprache. Nicht ohne Grund schreibt Wagenschein:

„Die Muttersprache ist die Sprache des Verstehens, die Fachsprache besiegelt es, als Sprache des Verstandenen“ (Wagenschein 1970, Bd.2:162).

Erst nachdem Zusammenhänge verstanden sind und muttersprachlich, alltagssprachlich beschrieben werden können, kann die Fachsprache das Verstandene ordnen und strukturieren und zu einem tieferen Verstehen beitragen.

Führt man hingegen die Fachsprache vor dem Verstehen ein, so kommt es bei Erklärungen nur zu einer Aneinanderreihung leerer Klanghülsen, die ein Pseudoverstehen vorgaukeln.

„Von hier aus bedeutet Unterrichten Erziehen als Lehren des Verstehens“ ((Gruschka 2019, 206), Hervorh., THM) und Sprachsensibilität liefert den Schlüssel zur Verständigung.

Heimann findet in „Didaktik als Unterrichtswissenschaft“ eine Differenzierungsmöglichkeit für das Verstehen, indem er als Stufen des Denkens und der Daseinserhellung zunächst die Kenntnisse, darauf aufbauend die Erkenntnisse, die sich aus den Erkenntnissen ergebenden Überzeugungen und schließlich an der Spitze einer Pyramide (siehe Abb. 3.5, S. 179) das Werk, die Lebensgestaltung und die Tat sieht (vgl. (Heimann 1976, 125 ff)).

Beim dritten Lernschritt geht es um diese Spitze der Pyramide, das verantwortliche Handeln, die Lebensgestaltung.

2.3.3 Verantwortliches Handeln und Gestalten

„Die menschliche Handlungsfähigkeit ist für uns der notwendige und zugleich der beherrschende Bezugspunkt, da in ihr das Zusammenwirken aller menschlichen Kräfte und Fähigkeiten zum Ausdruck und zur Erfüllung kommt. Beim handelnden Menschen treten die unterschiedlichen Systeme von Kräften und Fähigkeiten nicht getrennt in Erscheinung, sondern in ihrer Kooperation“ (Roth 1976, 2:381).

In diesem Zitat Roths kulminieren alle bisherigen Überlegungen zur Ganzheitlichkeit der Bildung von Kopf, Herz und Hand und der Wertdimensionen des Wahren, Guten und Schönen, denn mit dem „Bezugspunkt“ ist hier eine Vorstellung von Bildung und Erziehung gemeint, die auf die höchste Stufe, die moralische Handlungsfähigkeit, zielt und damit meint, dass „jenes Niveau menschlicher Handlungsfähigkeit erreicht wird, das wir begründet als reif, mündig, produktiv, kritisch, selbstbestimmt und verantwortlich beurteilen dürfen“ (Roth 1976, 2:381).

Die Entwicklung hin zu dieser höchsten Stufe verläuft nach Roth über verschiedene Entwicklungsstufen, die er in seiner „Pädagogischen Anthropologie“ ausführlich beschreibt:

  1. A)

    „Das Erlernen der frei geführten Bewegung als erste Stufe menschlicher Handlungsfähigkeit“ (a.a.O., 448 ff).

  2. B)

    „Das Erlernen sacheinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Sachkompetenz und intellektueller Mündigkeit)“ (a.a.O., 456 ff).

  3. C)

    „Das Erlernen sozialeinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Sozialkompetenz und sozialer Mündigkeit)“ (a.a.O., 477 ff).

  4. D)

    „Das Erlernen werteinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Selbstkompetenz und moralischer Mündigkeit)“ (a.a.O., 539 ff).

Die Steigerung der Handlungsfähigkeit liegt demnach in der entwicklungsbedingten und erlernten, anerzogenen Steigerung der Einsichtsfähigkeit (Sach- ⇒Sozial- ⇒ Selbstkompetenz) und der daraus resultierenden Stufung der Mündigkeit (intellektuelle ⇒ soziale⇒ moralische Mündigkeit).

Die Handlungsstufen nach Roth korrespondieren insofern mit den „Zonen der nächsten Entwicklung“ nach Vygotskij, als diese Stufen nicht exakt an bestimmte Altersstufen gebunden sind, sondern, dass eine Entwicklungsstufe auf der vorangehenden aufsetzt und diese voraussetzt. Die Wichtigkeit der Tätigkeit auf allen Stufen wird durch die kulturhistorische Theorie betont, denn erst in der tätigen Wechselwirkung des Bildungssubjekts mit seiner Umwelt, seinen Mitmenschen und Gegenständen schließt sich die Ringstruktur der Tätigkeit, „Ausgangsafferenz⇒effektorische Prozesse, die die Kontakte mit der gegenständlichen Umwelt realisieren⇒Korrektur und Bereicherung des ursprünglichen Afferenzabbildes durch Rückkopplung“ (Leontʹev 1987, 87). Nicht die Ringstruktur der Tätigkeit an sich ist das Zentrale an Lernprozessen, sondern, dass die psychische Widerspiegelung der Realität erst durch die aktive praktische Wechselwirkung von Bildungssubjekt und -objekt und das daraus resultierende subjektive Produkt zustande kommt. Der von Vygotskij und Leontjew verwendete Tätigkeitsbegriff und erst recht der von Marx verwendete Arbeitsbegriff sind jedoch negativ konnotiert, weil die „Arbeitstätigkeit als die für den Menschen wichtigste Form der Tätigkeit erscheint“ (Dorsch, Häcker, und Becker-Carus 2004, 936) und zu ablehnenden Haltungen gegenüber didaktischen Ansätzen führten, die diese Begriffe benutzten. Daher werden im Folgenden die Begriffe „Handeln“ und „Gestalten“ bevorzugt.

Mit Handeln sind alle absichtsvollen, bewussten, zielgerichteten Aktivitäten eines Menschen gemeint. Handeln setzt Motive voraus und realisiert mit Handlungsmitteln gewünschte Zwecke. Es sollte zumindest darauf hingewiesen werden, dass sich die Wortbedeutung von Handeln von der Hand als ausführendes Organ ableitet und demnach die Idee der Ganzheit der Bildung von Kopf, Herz und Hand hier mit einfließt.

Zusätzlich wird ergänzend der Begriff des „Gestaltens“ benutzt., der auf den Begriff der Gestalt zurückgeht. Gestalt ist „ein Ganzes, das zu seinen Teilen in bestimmten Relationen steht“ (Dorsch, Häcker, und Becker-Carus 2004, 363). Der so verstandene Gestaltbegriff aus der Psychologie geht auf die Untersuchungen von Ehrenfels‘ (1890) zurück und lässt sich auf die bekannte Formel bringen: „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“ (Übersummativität). Durch das Gestalten entsteht aus einer Menge von Einzelelementen ein Ganzes, dass ein Mehr, ein Neues darstellt. Das Neue muss nicht unbedingt eine Innovation im Sinne eines noch nie Dagewesenen sein, sondern es reicht, wenn in dem neu Entstandenen subjektive Bedeutungsgehalte stecken, die für die gestaltende Person bedeutsam sind. Der Begriff der Gestaltung schließt demnach einerseits das Handeln ein, hat aber zusätzlich eine kreative Komponente, die nicht gegenständlich sein muss, denn man kann auch von der Gestaltung des Lebens oder von der Gestaltung von Bewegungen beim Tanz sprechen.

Bezieht man nun die Tätigkeitstheorie Leontjews mit ein, dann wird sofort deutlich, wie wichtig die Tätigkeit des Gestaltens für die Persönlichkeitsentwicklung und damit für die Bildung ist.

Der enge Zusammenhang zwischen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit und Enkulturation geht aus den Überlegungen des Pädagogen Werner Loch (1928–2010) hervor. Er forderte, Enkulturation als fundamentalen Gegenstand der Pädagogik zu betrachten (vgl. S. 106). Zugleich stellt er fest, „daß die Anpassung des Menschen an eine Kultur nur möglich ist durch deren Aktivierung in seinem Handeln“ (Loch 1977, 394) und „Enkulturation […] also immer auch Erweckung kultureller Produktivität (bedeutet)“ (Loch 1977, 398).

Auch mit den philosophischen Menschenbildern ist die Forderung nach moralischer Handlungsfähigkeit vereinbar!

Von Plessner wissen wir bereits, dass in der „Expressivität der eigentliche Motor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens (liegt)“ und dass „durch seine Taten und Werke“ „ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht“ (Plessner 1975, 339) gegeben wird. In der „Anthropologie der Sinne“ befasst sich Plessner mit der Ästhesiologie des propriozeptiven Systems, also der Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum und mit all seinen Empfindungen. Weil wir uns einerseits als Leib subjektiv selbst empfinden und als Körper objektiv sind, ergibt sich aus dieser Spannung nach Plessner der Zwang zum Handeln:

„Mein eigenes Körper-Sein stellt sich mir, dem Subjekt, als ein Konflikt dar, dessen Unlösbarkeit mit der Subjekt-Objekt-Spaltung gegeben ist. Die Spaltung zwingt den Menschen zu handeln“ (Plessner 2003, 369).

Auch nach Cassirer lässt sich das Sein nur durch das Tun erfassen.

„Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: Das »Sein« ist hier nirgends anders als im »Tun« erfaßbar.“ (Cassirer 2010a, 9).

Durch Hannah Arendts Differenzierung der Tätigkeitsformen in der „Vita activa“ kommt die soziologisch-politische Sichtweise hinzu.

Hannah Arendt differenziert das menschliche Tun in die drei Grundtätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie versteht unter Arbeit den „biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen“ (Arendt 2018, 16). Davon unterscheidet sie das Herstellen: „Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen […]. In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, das von Natur in der Natur heimatlos ist […]“ (Arendt 2018, 16)(vgl. Plessners „utopischer Standort“ und „natürliche Künstlichkeit“). Schließlich ist „das Handeln die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität“ (Arendt 2018, 17), „die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist“ (a.a.O., 214)(Hervorh., THM).

Diese Einzigartigkeit des Menschen stellt sich im Sprechen und Handeln dar. „Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart“ (a.a.O., 214). Soll sich also das Menschsein der Heranwachsenden in Schule offenbaren, so müssen Sprechen und Handeln gleichermaßen Ausdrucksmöglichkeiten sein.

Hannah Arendt sieht in der Natalität, dem Geborenwerden, die grundsätzliche Möglichkeit des Neu-Anfangens und „für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorie-bildendes Faktum“ ((Arendt 2018, 18), Hervorh.,THM). Sieht man die Natalität als Triebfeder allen Handelns und Schaffens, so könnte man nach Welzer die Mortalität als Triebfeder des Aufhörens, Seinlassens und Loslassens bezeichnen.

Harald Welzer plädiert daher dafür, dem Konzept des ständigen Neuanfangens angesichts des Klimawandels, der Rohstoffknappheit und der zunehmenden Müllberge ein Konzept des Aufhörens hinzuzufügen.

„Wir bräuchten in diesem Sinne ein Kulturmodell, in dem die Schönheit des Aufhörens den Stellenwert bekommt, der für die Fortsetzung des zivilisatorischen Projekts notwendig ist“ (Welzer 2021, 144).

Ansonsten sieht er die menschliche Freiheit gefährdet:

„Die Fortschreibung eines falschen Naturverhältnisses führt in den Verlust der Freiheit“ (Welzer 2021, 144).

An dieser Stelle zeigt sich erneut die Verflechtung von Natur- und Kulturbegriff und die Notwendigkeit, einen veränderten teleologischen Naturbegriff zu etablieren (vgl. Abschn. 2.2.1).

Bleibt noch die Frage zu beantworten, an welchen Werten sich das verantwortliche Handeln orientieren sollte.

Gehen wir diese Frage global an, dann lässt sich das Projekt Weltethos des jüngst verstorbenen Hans Küng heranziehenFootnote 68. Ihm war es 1993 gelungen, mit verschiedenen Religionsvertretern und Wissenschaftlern, Gemeinsamkeiten der verschiedenen Religionen und Philosophien zu einem „Weltethos“ zusammenzufassen.

In Kurzform besteht dieser aus den zwei Prinzipien Menschlichkeit und Goldene Regel und aus den fünf WeisungenFootnote 69 Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Gleichberechtigung und Partnerschaft und Ökologische Verantwortung (vgl.(Stiftung Weltethos (Hrsg.) 2018)). Belässt man es bei dieser globalen Ebene, dann ist damit für die schulische Umsetzung wenig gewonnen, weil schon einfache Beispiele zeigen, dass diese Werte zum Teil miteinander konfligieren. So könnte bei einem Schüler bei der Benutzung eines Smartphones der Wertekonflikt entstehen zwischen dem Abbau seltener Rohstoffe für das Smartphone durch Minderjährige (Goldene Regel) und der ökologischen Vertretbarkeit der Kommunikation mit dem Smartphone gegenüber der direkten Kommunikation mit dem Gesprächspartner, die aber eine längere Reise voraussetzen würde. Die Wertekonflikte sind es, die bei der Werteerziehung in der Schule fruchtbar werden, denn, so Hartmut von Hentig:

„Die Werteerfahrung und Werteerziehung folgen einer ganz eigenen Dialektik, in der das Scheitern nicht Unwirksamkeit bedeutet“ ((Hentig 2001, 80),Hervorh., THM).

Für die Umsetzung einer gelingenden Werteerziehung reicht die Trias von „Vorstellen, Besinnen, Verpflichten“ nicht aus, sondern es muss eine aktive Komponente, die Selbsttätigkeit hinzukommen:

„Die Reden und Aufrufe zur Werteerziehung bauen auf drei Mittel zur Herbeiführung des Bewußtseinswandels, der das Ethos in Geltung setzt: sich etwas vorstellen, sich auf etwas besinnen, sich zu etwas verpflichten. Das sind die in der Pädagogik tatsächlich geläufigen- und wohl auch nicht entbehrlichen- Verben. Aber für sich, ohne die Fülle der anderen: erleben, erfahren, erproben, erfinden, mitmachen, selbermachen, zweifeln, fragen, erörtern, abwägen, entscheiden, urteilen und so fort, sind sie pädagogisch ohnmächtig“ (Hentig 2001, 81).

Nach Hentig kann Ethos als Anliegen ein weiterer Anstoß dazu sein, „die Schule zu einem Erfahrungsraum zu machen, zu der embryonic society, wie bei John Dewey, zur Polis im Kleinen, wie sie bei mir heißt, zur just community, die sie Lawrence Kohlberg zufolge sein sollte“ (Hentig 2001, 81). Damit wird zugleich die gesellschaftspolitische Dimension der Erziehungsziele angesprochen, die sich in den jeweiligen Landesverfassungen wiederfinden lassen (vgl. S. 37 f.).

Abschließend sei noch emotionale Seite, die „Herz-Seite“, des Handelns beleuchtet.

Handeln setzt immer ein Handlungsmotiv, eine Absicht voraus.

Ein starkes, in die Zukunft gerichtetes Handlungsmotiv ist das Hoffen:

„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören“ (Bloch 2019, 1).

Dem gegenüber steht das eher konservative Motiv des Bewahrens, Erhaltens und Schützens:

„Glücklich, wer das, was er liebt, auch wagt, mit Mut zu beschützen“ (Ovid)

Beiden Zitaten gemeinsam sind die Emotionen als Antreiber für das Handeln. Bei Ovid die Liebe zu dem Schützenswerten und andererseits der Mut, dieses auch aktiv zu beschützen und als Ergebnis das Gefühl des Glücks des vollendeten Handelns.

Bei Bloch ist es das ins Gelingen verliebte Hoffen, das den Menschen weit macht und von ihm verlangt, sich aktiv in das Zukünftige hineinzubegeben.

Gewendet auf Bildung und Erziehung reichen bewusstes Erleben und Wahrnehmen sowie Verstehen und Verständigung nicht aus. Erst die evaluative Komponente des hoffenden, zukunftsgerichteten oder des bewahrenden, schützenden Handelns als menschliche Ausdrucksmöglichkeiten vollendet die Ganzheit des Lernens und die Ganzheit der Persönlichkeitsentwicklung in einem kulturellen Umfeld.

2.4 Das „Interaktions-Modell“ als Strukturmodell für Bildung und Erziehung

Abschließend gilt es nun, die grundlegenden, differenzierenden Vorüberlegungen wieder zu einem ganzheitlichen Modell von Bildung und Erziehung zu bündeln.

Dazu fasse ich die bisherigen Überlegungen bezüglich der Persönlichkeitsbildung eines Individuums zunächst zu einem „Drei-Triaden-Modell“ zusammen (Abb. 2.8).

Abbildung 2.8
figure 8

Das Drei-Triaden-Modell

Dieses Modell hat metatheoretischen Charakter, weil es die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und Theorien, die in die Entwicklung des Menschenbildes eingeflossen sind, zusammenfasst.

Die Betrachtungen zum Gegenstandsbereich, Natur und Kultur, und den damit zusammenhängenden Wertedimensionen führten zu der äußeren Trias des Wahren, Guten und Schönen.

Aus den philosophischen und psychologischen Betrachtungen ergab sich die innere Trias, die Ganzheit der personalen Bildung von Kopf, Herz und Hand. Schließlich führten die Prozessüberlegungen zum Dreischritt des Lernens, Erleben, Verstehen und Gestalten, der sich vermittelnd zwischen die erste und zweite Trias einfügt.

Die farblich und räumlich codierte Zuordnung ist nur als eine Schwerpunktsetzung zu verstehen. So verbindet zwar in der Darstellung das Verstehen als Prozess das Wahre als Objektbereich mit dem Kopf des Subjekts, zugleich findet aber auch

Verstehen des Schönen und Guten statt und dieses Verstehen erfolgt auch ganzheitlich über das Herz und das Handeln. Ähnlich verhält es sich mit den Prozessen des Erlebens und des Handelns.

Über den drei Triaden muss man sich im Sinne der Exzentrischen Positionalität Plessners die Metakognition und die damit einhergehenden Bewertungen vorstellen, die als Zieldimension in den erweiterten Mündigkeitsbegriff einfließen. Mündigkeit umfasst demnach nicht nur rein rationale Urteile, die sich auf „das Wahre“ beziehen, sondern umfasst auch Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in Bezug zum Schönen und Guten.

Wie bereits oben festgestellt, ist Lernen immer auch Enkulturation und beruht auf Verständigung und Ko-Konstruktion von Wirklichkeit. Daher ist das Drei-Triaden-Modell zu einem Interaktionsmodell zu erweitern(Abb. 2.9). Das Interaktionsmodell greift den fachdidaktischen Ansatz Hüttners (vgl. Hüttner, 2002, 44 ff) auf, verortet die Interaktion aber nicht nur auf der Ebene des unterrichtlichen Handelns, sondern auf einer allgemeinen Ebene menschlichen Handelns, um es so auch für andere Fächer wirksam werden zu lassen.

Bestandteile des Interaktionsmodells sind Personen, jeweils als Trias von Kopf, Herz und Hand dargestellt, als Subjekte von Bildung und Erziehung und die Gegenstandsbereiche Natur und Kultur, differenziert in die Wertedimensionen des Schönen, Wahren und Guten. Personen sind unterschiedlich groß dargestellt, um das Hierarchiegefälle, das kennzeichnend für Erziehung ist, zu symbolisieren. Dargestellt sind ferner die Interaktionen zwischen den Personen, die Kooperation (Hand), die Wertschätzung (Herz) und die Verständigung (Kopf). Alle drei Interaktionsmomente zusammengenommen ergeben die Ko-Konstruktion. Interaktionen finden nicht nur mit Mitmenschen statt, sondern auch mit der Natur (Pflanzen, Tiere, Rohstoffe) und mit der Kultur (Dingwelt, künstliche Welt). Die Interaktionen können auch als Beziehungen oder Kopplungen (vgl. (Maturana 2009, 196 ff) bezeichnet werden.

Gehen wir zunächst vom Kern des Drei-Triaden-Modells aus, dann ist dies die ganzheitliche personale Bildung im Sinne von „Sich-bilden“ und Persönlichkeitsbildung. Diese lässt sich in der Formel des „erneuerten Humanismus“ zusammenfassen, für den sich Nida-Rümelin ausspricht:

„Der Kern des erneuerten Humanismus ist die menschliche Fähigkeit, sich von Gründen affizieren, sich von Gründen leiten zu lassen. Darauf beruhen drei spezifische Fähigkeiten des Menschen: Die Fähigkeit, vernünftige, wohlbegründete Überzeugungen auszubilden (Rationalität), die Fähigkeit zu einer autonomen und freien Lebensgestaltung (Freiheit) und die Fähigkeit, Verantwortung wahrzunehmen und zu übernehmen. Diese drei Fähigkeiten bilden zugleich die zentralen Bildungsziele des erneuerten Humanismus“(Nida-Rümelin 2017, 20).

Abbildung 2.9
figure 9

Interaktionsmodell

Wenn er dabei ausdrücklich „instrumentelle oder konsequenzialistische“ Rationalität als „mit menschlicher Lebensform unvereinbar“ (a.a.O., S. 20) ausschließt, dann ist damit auch der o.g. erweiterte Mündigkeitsbegriff eingeschlossen, der

„den Systemrationalitäten die verantwortliche Persönlichkeit gegenüber(stellt), die sich durch durchhaltende Gründe auszeichnet, erkennbar ist in den Gründen, die sie vorbringt, und die den Kern humaner Praxis, den respektvollen Umgang, keiner Form von Instrumentalisierung opfert“ (ebd.).

Damit liefert er zugleich ein evaluatives Element, die „durchhaltenden Gründe“, an denen man eine gebildete Person erkennen kann.

Auch der Verantwortungsbegriff wird über den Kantischen hinaus erweitert. Ein verantwortlicher Akteur handelt demnach nicht nur „aus Achtung vor den Sittengesetzen“, sondern ist an der „Praxis als Ganze“ (a.a.O., S. 21) zu erkennen.

„Eine Praxis erscheint uns sinnvoll, sofern es uns gelingt, diese zu verstehen, das heißt, sie als von stimmigen Gründen geleitet zu interpretieren“ (a.a.O., S. 21).

Bei diesen „stimmigen Gründen“ spielen ausdrücklich auch Emotionen eine Rolle.

Deshalb kommt Nida-Rümelin bezüglich der Emotionalität auch zu dem Schluss:

„Die Trennung von Rationalität und Emotionalität ist in dem hier vorgestellten Verständnis von Verantwortung aufgehoben. Überzeugungen, Handlungen und Gefühle sind gleichermaßen von Gründen affizierbar und Gegenstand von Bildung und Selbstbildung“ (Nida-Rümelin 2017, 22).

Diese Aufhebung der Trennung von Rationalität und Emotionalität, von Kopf und Herz, und der Verantwortungsbegriff korrespondieren mit den Aussagen der Persönlichkeitstheorien, PSI-Theorie und Vier-Ebene-Modell der Persönlichkeit.

An welchen Eigenschaften würde man eine derart gebildete Person erkennen? Diese Frage stellte sich auch das Center für Curriculum Redesign (CCR),

„ein internationales Gremium und Forschungscenter, das danach strebt, die Möglichkeiten der Menschheit zu vergrößern und den gemeinsamen Wohlstand zu verbessern, indem es die Standards für die schulische Bildung (K-12) für das 21.Jahrhundert neugestaltet“ (Fadel, Bialik, und Trilling 2017, 191).

Deutlich konkreter als das Projekt „Weltethos“ und auf schulische Bildung bezogen hat das CCR aus weltweiten Befragungen und durch die Zusammenfassung zahlreicher „Frameworks“ versucht, ein global gültiges „Charakter-Framework“ zu entwickeln.

Tabelle 2.5, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, kann im weiteren Verlauf als Orientierung dazu dienen, welchen Anteil zu dieser Charakterbildung das Fach Technik leisten kann.

Zusätzlich zur Charakterbildung definiert das CCR die Dimensionen „Wissen“, „Skills“ und als übergeordnete Dimension das „Meta-Lernen“.

Insbesondere die sogenannten 4 K Skills, Kreativität, kritisches Denken und Kooperation/ Kollaboration sind wegen ihrer fehlenden Trennschärfe ebenso abzulehnen wie die Dimension des Wissens, in der zwar versucht wird, traditionelle-, moderne- und Querschnittsthemen miteinander zu verbinden, die aber stark vom Nützlichkeitsdenken geprägt ist.

Tabelle 2.5 Wesentliche Charaktereigenschaften (nach (Fadel, Bialik, und Trilling 2017, 150))

Die Dimension Meta-Lernen oder Metakognition ist eine sinnvolle, über der Trias der Lernschritte „Erleben, Verstehen, Handeln“ liegende Dimension, die die Ziele der Selbstreflexions- und Selbststeuerungsfähigkeit und des bewussten Einsatzes von Lernstrategien verfolgt. Damit trägt diese Dimension dazu bei, ein realistisches, dynamisches Selbstbild (engl. mindset) von sich zu entwickeln, das an sich verändernde Bedingungen angepasst werden kann. Das Meta-Lernen trägt vor allem dazu bei, Lernen als einen lebenslangen Prozess zu verstehen.

Ergänzt werden müssen diese Dimensionen durch die Enkulturation, das „Gebildet-werden“ durch die Gesellschaft, durch Mitmenschen und durch die kulturell geprägte Umwelt. Diese Interaktionen kommen im Modell durch die Verbindungen zwischen den Individuen durch Kooperation, Kommunikation, Verständigung und Wertschätzung zum Ausdruck und durch die Verbindungen zwischen Individuen und den drei Wertedimensionen.

Hier lässt sich aus den Spannungsfeldern „Freiheit und Verantwortung“ und „kulturelles Bewahren und Erneuern“ das zentrale Erziehungsziel der verantwortlichen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit formulieren, wobei sich die Verantwortlichkeit sowohl auf sich selbst, auf die Mitmenschen, auf die Natur und die kulturellen Güter beziehen sollte.

Die kulturelle Teilhabe schließt auch Demokratiefähigkeit und politische Handlungsfähigkeit mit ein.

Damit wird insgesamt eine dreifache Mündigkeit erreicht:

„Mündigkeit, wie sie von uns verstanden wird, ist als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinn: a) als Selbstkompetenz (self competence), d.h. als Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich handeln zu können, b) als Sachkompetenz, d.h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und c) als Sozialkompetenz, d.h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- und Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können“ (Roth 1976, 2:180).

Zusammengefasst lautet die Zielnorm:

Bildung und Erziehung haben das Ziel, mündige, selbstbestimmte und verantwortlich handelnde Menschen zu erziehen, die ihre natürliche und kulturelle Welt bewusst erleben, verstehen und mitgestalten.