Auch diese Untersuchung verdankt ihre Entstehung einem Affekt, der Unzufriedenheit mit einer unheilvollen Entwicklung, die ihren Anfang mit der Umsteuerung des bundesdeutschen Schulwesens von der Input- zur Outputsteuerung nach dem PISA-Schock um die Jahrtausendwende nahm. Ergebnis dieser Umsteuerung waren weitgehend inhaltsarme, kompetenzorientierte Kernlehrpläne, die scheinbar davon ausgingen, dass die Auswahl von Inhalten für den Erwerb von Kompetenzen so beliebig ist, dass man sie den Lehrkräften vor Ort überlassen kann. Eng verbunden mit dieser Entwicklung war die scheinbare Gleichsetzung von Bildung und Kompetenz und das nicht hinzunehmende Verschwinden des Kultur- und Erziehungsbegriffs aus allen pädagogischen Debatten.

Bezogen auf das Fach Technik kommt zu dieser Unzufriedenheit ein das Berufsleben begleitende Dauerproblem hinzu. Die Diskrepanz zwischen der von allen Seiten vorgebrachten Notwendigkeit einer Technischen Bildung zur Behebung von Fachkräfte- und Ingenieurmangel und der tatsächlichen Marginalisierung des Faches in den deutschen Schulen und der Ausbildung von Techniklehrkräften an Hochschulen.

Trotz der jahrzehntelangen Sisyphusarbeit als Techniklehrer vor Ort, als Ausbilder für Techniklehrkräfte in Hochschule und Studienseminar, bei der Mitwirkung an den Bildungsstandards Technik (vgl. (VDI (Hrsg.) 2007) und dem Gemeinsamen Referenzrahmen Technik (GeRRT) (vgl. (VDI (Hrsg.) 2021) wird durch diese Untersuchung erneut der Stein des Anstoßes ins Rollen gebracht, um den Problemberg weiter abzutragen, damit der Stein am Ende ruhen kann.

Dazu werden im einleitenden ersten Kapitel zunächst die Anstöße im Sinne eines Problemaufrisses ausführlicher erläutert und das Erkenntnisinteresse der Untersuchung sowie Anlage und Methodologie der Untersuchung dargelegt.

Aus einer Abgrenzung der drei Begriffe „Bildung“, „Erziehung“ und „Kompetenz“ wird der Doppelauftrag von Schule, Persönlichkeitsbildung und Enkulturation abgeleitet. Die Mittel dazu, Bildung und Erziehung, lassen sich nur in ihrer dialektischen Spannung und Wechselwirkung verstehen. Daher wird im zweiten Kapitel auf der Grundlage der Analyse des Gegenstandsbereichs, Natur und Kultur, und der philosophischen, psychologischen und gesellschaftlich-politischen Menschenbilder ein Interaktionsmodell für Bildung und Erziehung entwickelt, das die drei Triaden des Wahren, Schönen und Guten (Gegenstandsbereich), von Kopf, Herz und Hand (Bildungssubjekt) und von Erleben, Verstehen und Handeln (Lernprozess) miteinander und zwischen Bildungssubjekten und -objekten verknüpft. Die Forderung einer Allgemeinen Fachdidaktik ergibt sich im dritten Kapitel aus der Tatsache, dass es (noch) kein schlüssiges Modell zur Verbindung von Allgemeiner Didaktik und Fachwissenschaften gibt, welches das Kanonproblem lösen könnte. Als fehlende Bezugswissenschaft für alle Fächer wird die jeweilige Fachphilosophie gefunden, die es ermöglicht, Aussagen zum „Wesen eines Faches“ zu tätigen und damit das fachliche Spektrum über die reine Fachwissenschaft, das „Wahre“, hinaus in Richtung des „Schönen“ und „Guten“ zu vergrößern.

Durch Anwendung des gefundenen „Filtermodells“ auf die Domäne „Technik“ wird im vierten Kapitel das Spektrum im Hinblick auf das Erleben und Verstehen von Technik und das verantwortliche technische Handeln und Gestalten zum „Ganzen der Technik“ mit Hilfe der Technikphilosophie vergrößert und führt zu einem erweiterten Technikbegriff. Durch Anwendung des Filtermodells der Allgemeinen Fachdidaktik ergeben sich im fünften Kapitel pädagogische Perspektiven für den Technikunterricht. Schließlich wird im sechsten Kapitel das Gegenstandsspektrum zu Kulturreihen „gefiltert“, um zu einem Kern technischer Bildung zu gelangen.

Insgesamt wird damit das Gegenstandsspektrum begründet umrissen und das Ganze der Technik, insbesondere ihre kulturelle Bedeutung, näher bestimmt.

1.1 Anstöße der Untersuchung

„Gegenstandsspektrum technischer Bildung hat also der Horizont des Technischen, das Ganze der Technik zu sein, was nicht besagt, es müsse die ganze Technik sein“ (Schmayl 1989, 328).

(Hervorhebungen im Original).

In diesem einen Satz aus Winfried Schmayls Habilitationsschrift sind alle in der Einleitung erwähnten bildungswissenschaftlichen, philosophischen und fachdidaktischen Anstöße für diese Untersuchung enthalten.

1.1.1 Erster Anstoß: „Gegenstandsspektrum technischer Bildung“

Der Begriff „Gegenstandsspektrum“ im ersten Teil des Zitats lässt Bilder vor dem inneren Auge auftauchen, z. B. das Bild eines Regenbogens (Abb.1.1). Ähnlich wie beim Regenbogen aus weißem Licht ein kontinuierliches Spektrum von Farben entsteht und dieses Kontinuum wieder zu weißem Licht vereinigt werden kann, aber auch aus nur drei Farben (RGB: rot, grün, blau) weißes Licht entstehen kann, kommt es in der Bildung darauf an, aus dem Ganzen einen repräsentativen Ausschnitt in der Schule abzubilden, der sich insgesamt aber wieder zu einer Ganzheit von Bildung bei den Schülerinnen und Schülern zusammensetzt.

Dieses Bilden von repräsentativen Ausschnitten, gilt sowohl für die Auswahl des Fächerkanons als auch für jedes einzelne Schulfach und bezieht sich insbesondere auf die Auswahl der Unterrichtsgegenstände. Wendet man das Bild auf den Ausschnitt „Technische Bildung“ an, dann würde ein nützlichkeitsorientierter oder technizistischer Technikbegriff dafür sorgen, dass nur bestimmte Farben zur Geltung kämen.

Am Ende bestünde das „Ganze der Technik“ aus einer Farbe oder aus einem Einheitsgrau, das der Vielfalt, Schönheit und kulturellen Bedeutung der Technik nicht gerecht würde.

Wenden wir uns wissenschaftlich dem „Gegenstandsspektrum technischer Bildung“ zu, so werden die drei Ebenen Allgemeine Didaktik („Bildung“), die Domäne Technik („technischer“) und die Fachunterrichtswissenschaft Technikdidaktik („Gegenstandsspektrum“) miteinander verknüpft.

Abbildung 1.1
figure 1

Regenbogen im Reintal (Südtirol). (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Auf der Ebene der Allgemeinen Didaktik drücken sich in den letzten Jahren Akzentverschiebungen durch veränderte Wortwahl aus. Aus Erziehungswissenschaften wurden Bildungswissenschaften, an die Stelle von Lernzielen traten Kompetenzen und aus einer inhaltlich klar umrissenen Inputorientierung im Bildungswesen wurde, ausgelöst durch die PISA-Untersuchungen, eine kompetenzorientierte Outputorientierung. Im öffentlichen Diskurs begegnet uns „die Technik“ und die Forderung nach Technikunterricht meist nur als Nützlichkeitsdenken im Zusammenhang mit Feststellungen zum Fachkräftemangel im Handwerk und bei den IngenieurberufenFootnote 1 oder im Zusammenhang mit negativ konnotierten Folgen der Technik, wie z. B. dem Klimawandel oder den negativen Folgen der Digitalisierung. Die kulturelle Bedeutung der Technik wird zwar immer wieder in Vorworten und allgemeinen Bekundungen konstatiert, hingegen scheint sie nur ansatzweise in fachdidaktischen Ansätzen und Lehrplänen auf. Um so erfreulicher ist es, wenn in einem Grundsatzpapier des Nationalen MINT-Forums die Notwendigkeit von technischer Bildung nicht nur „im Kontext eines Fachkräftemangels“ (Filtzinger und Nationales MINT Forum 2014, 11 f) gesehen wird, sondern als ein „Projekt gesellschaftlicher Aufklärung“ (ebd.) begriffen wird, weil

„(w)esentliche Aspekte unserer Gesellschaft und unserer Kultur […] sich ohne eine naturwissenschaftlich-technische Grundbildung weder verstehen noch beurteilen (lassen)“ (Filtzinger und Nationales MINT Forum 2014, 11 f)

Eine Untersuchung zum Technikbegriff im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung muss dieses Spannungsfeld zwischen Nützlichkeit und Allgemeinbildung zum Anlass nehmen, einen zeitgemäßen Bildungsbegriff als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu entwickeln und zudem diejenigen Aspekte der Gesellschaft und Kultur identifizieren, die ohne Technische Allgemeinbildung weder zu verstehen noch zu bewerten sind.

„Die Schule ist das schlagende Herz unseres Landes. Sie ist ein besonders wertvoller Ort der Aufnahme, der die Kinder in den Prozessen des persönlichen und kulturellen Wachstums begleitet“ (Giuseppe Conte, 13.9.2020) (Übersetzung Möllers)Footnote 2

Dieses Zitat aus einer Videoansprache des damaligen italienischen Ministerpräsidenten Conte anlässlich der Wiedereröffnung der italienischen Schulen nach sechsmonatiger Schließung wegen der Coronapandemie vom 13.9.2020 beschreibt in sehr pathetischer Weise den Doppelauftrag der Schule, Personalisation und Enkulturation, persönliches und kulturelles Wachstum.

In „Lernen als Kulturaneignung“ versucht Duncker einen Kulturbegriff zu entfalten, „der die Dialektik von Personalisation und Enkulturation zu erschließen versucht“ (L. Duncker 1994, 13). Ein Technikbegriff, der von Technik als wesentlichem Bestandteil der Kultur ausgeht, muss daher dieses Spannungsfeld von Personalisation und Enkulturation ausloten. Statt des von Duncker gewählten Begriffs der Personalisation, der das persönliche Wachstum eher passiv erscheinen lässt, wird hier der Begriff der „Persönlichkeitsbildung“ gewählt, der die aktive Teilhabe des Bildungssubjekts besser zum Ausdruck bringt, wie es Peter Bieri zu Beginn seiner Festrede „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ zum Ausdruck bringt.

„Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst“ (Bieri 2005, 1)

Während die Persönlichkeitsbildung weitgehend identisch mit dem bisherigen Bildungsbegriff ist, wird in den letzten Jahren das Mittel zur Enkulturation, die Erziehung, meist nicht mehr in pädagogischen Debatten erwähnt oder Erziehung wird im verkürzten Verständnis mit „Disziplinierung“ gleichgesetzt.

Nimmt man den Doppelauftrag der Schule auch für die Technische Allgemeinbildung ernst, so muss diese Untersuchung ein Modell entwickeln, wie Bildung und Erziehung dialektisch miteinander verschränkt werden können.

1.1.2 Zweiter Anstoß: „Das Ganze der Technik“

Was das „Ganze der Technik“ ist, scheint auf den ersten Blick klar zu sein.

Landläufig werden mit dem Technikbegriff zwei Definitionsbereiche assoziiert, ein formaler und ein materialer.

„Mit dem formalen Technikbegriff, also einer Technik, derer man sich bedient, einer Technik, die z.B. ein Pianist oder eine Tennisspielerin «drauf» hat, bezeichnet man eine nach Zweck-Mittel-Relationen geordnete Regelhaftigkeit von Handlungen. Der materiale Technikbegriff stellt hingegen den Inbegriff aller existierenden Artefakte, ihrer Herstellungsweisen und Verwendungsweisen dar“ (Kornwachs 2013, 18 f).

Beide Begriffe erfassen „das Ganze der Technik“ für Bildungszwecke nicht.

In der Fachdidaktik hat sich der Technikbegriff „mittlerer Reichweite“ etabliert, der in der VDI-Richtlinie 3780 definiert ist.

„Technik im Sinne dieser Richtlinie umfaßt:

–die Menge der nutzenorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte oder Sachsysteme)

–die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen und

–die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden.“ (Lenk 1993, 335)

Die Einschränkungen, die mit diesem Technikbegriff verbunden sind, fasst Günter Ropohl, der maßgeblich an der Richtlinie mitgearbeitet hat, wie folgt zusammen:

„Diese Begriffsbestimmung beschränkt sich auf den Umfang des Begriffs. Sie sagt also nur, welche Erscheinungen gemeint sind, wenn man das Wort „Technik“ benutzt. Über das „Wesen der Technik“, das besonders manche Philosophen und Sozialwissenschaftler zu ergründen versuchen, sagt diese Definition nichts aus, […] “ (Ropohl 2006, 46).

Dass es aber notwendig ist, für Bildungszwecke über die Bedeutung des „Wesens der Technik“ nachzudenken, möge ein Beispiel verdeutlichen, das zugleich unterschiedliche Technikbegriffe zum Ausdruck bringt.

Angenommen in der abgebildeten gotischen Kirche (Abb.1.2) aus dem 13.Jahrhundert erklingt im Rahmen eines Orgelkonzertes das „Halleluja“ von Händel und die untergehende Sonne scheint durch das Westfenster. Dann würde sich ein anwesender Bauingenieur die Frage stellen, welche Lasten auf den Säulen ruhen und wie die seitlichen Lasten durch weitere Säulen und Bögen abgefangen werden konnten. Vielleicht würde er sich auch fragen, wie die damaligen Baumeister ohne 3-D-CAD und computergestützte Statikberechnungen dennoch ein stabiles Bauwerk errichten konnten. Sein Technikbegriff ist ingenieurwissenschaftlich geprägt.

Eine Fachkraft zur Restaurierung alter Glasfenster würde sich die Frage stellen, wie man eine zerbrochene historische Scheibe mit heutigen Mitteln möglichst originalgetreu wiederherstellen könnte. Bei ihrem Technikbegriff steht das technische Handeln und die damit verbundenen Algorithmen im Vordergrund. Der Feuilletonist einer Zeitung würde sich der Interpretation von Händels Werk durch den Organisten widmen und dabei kein Wort über die technische Meisterleistung der Orgelbauer verlieren, die die fantastische Klangfülle erst ermöglicht hat. Der Technikbegriff des Feuilletonisten ist durch einen sehr engen Kulturbegriff und durch die Nicht-Wahrnehmung von Technik gekennzeichnet. Eine Schülerin oder ein Schüler wären ergriffen von der Schönheit des Westfensters, von der Erhabenheit und der Höhe des Gebäudes und der klanglichen Wucht der Orgel und würden ausgehend von dieser MotivationFootnote 3 anfangen, über den Sinn und Zweck dieses Gebäudes, über die Intention der Baumeister bei der himmelstrebenden Architektur und über die kulturelle Bedeutung des Gebäudes und der Orgel nachzudenken. Letztgenannte Fragenkomplexe und Motive, die sich zu den Begriffen Kultur, Ästhetik und Sinn verdichten lassen, werden von o.g. Technikbegriff mittlerer Reichweite nicht erfasst, sind aber, wie sich später noch zeigen soll, zentral für Bildung. Diese Begriffsbildung ist eine Aufgabe der Technikdidaktik als Fachunterrichtswissenschaft. Schon an diesem Beispiel wird deutlich, dass die Ingenieurwissenschaften oder eine Allgemeine Technologie als Bezugswissenschaft nicht ausreichend sind. Nimmt man den Kulturbereich in den Blick, so kommt Schlagenhauf in seinem Aufsatz zur Bezugsdisziplin der Technikdidaktik zu dem Schluss:

Abbildung 1.2
figure 2

Das Westfenster und die Klais-Orgel des Altenberger Doms. (Fotos: Aldebaraner, Westerdam CC BY-SA 4.0)

„Es bleibt Aufgabe der technikbezogenen Fachunterrichtswissenschaft, den Kulturbereich der Technik auf der Grundlage bildungsbezogener Intentionen zu erfassen und zu ihrer Unterstützung nicht nur allgemeintechnologische und andere wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch Bestände nichtwissenschaftlichen Wissens und Könnens, alltagsweltliche Erfahrungsfelder und subjektive Deutungsmuster mit heranzuziehen“ (Schlagenhauf 2001, 10).

In seinem Aufsatz, „Die Ästhetik in der Perspektive Technischer Bildung“ kommt Wiesmüller zu dem Schluss: „Technikästhetisches Verhalten und Handeln als Bildungsziel wäre im Ganzen gesehen das Zusammenbringen oder Harmonisieren eigener und überindividueller ästhetischer Ansprüche – in der explizierten Weite des Begriffes – mit der umgebenden und eingesetzten Technik“ (Wiesmüller 2008, 10). Daraus leitet er für die Technikdidaktik eine lohnende Aufgabenstellung ab, die mit dieser Untersuchung auch eingelöst werden soll.

„In dem Ganzen zeichnet sich eine bildungstheoretische, eine bildungspraktische und, damit einhergehend, eine didaktische Aufgabenstellung ab. Seit den Jahren ihrer Gründung vor etwa 40 Jahren könnte hierin eine Chance für die Technikdidaktik liegen, aus der zweiten Reihe des schulischen Bildungskanons herauszutreten und den Bildungssinn des Faches neu zu justieren.“(ebd.)

Alle drei Entwicklungslinien, Kultur, Ästhetik und Sinn, fasst Schmayl zusammen.

„Aber eine Verabsolutierung des positivistischen Zugangs verträgt sich nicht mit dem Anspruch einer bildenden Erschließung. Denn sie versperrt den Blick auf die Tiefendimension der Technik. Wenn die technische Bildung wirklich Menschenbildung sein will, muß sie den kulturanthropologischen, geistphilosophischen, metaphysischen Horizont, wie er für die Technikphilosophie wieder in den Blick gekommen ist, in ihre Rechtfertigung und ihre Gestaltung aufnehmen“ (Schmayl 2010, 77 f).

Diese Arbeit soll einen Technikbegriff im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung als Ausdruck oder Kondensat der vermittelnden Überlegungen zwischen Bezugsdisziplinen und Bildungswissenschaften liefern. Dazu ist vor allem zu klären, welches die Bezugsdisziplinen sind (vgl. Schlagenhauf 2001).

Eine weitere Fehlstelle im bisher verwendeten Technikbegriff mittlerer Reichweite ist die ethische Komponente der Technik.

Wenn definiert wird, dass Technik

„–die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen und

–die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden“ (Lenk 1993, 335)

umfasst, dann kann man zwar im weitesten Sinne auch die Verantwortung für diese menschlichen Handlungen als zur Technik gehörend auffassen, man kann aber ebenso diese ethische Komponente in andere gesellschaftliche Teilsysteme, z. B. die Politik oder die Ökonomie verschieben, schulisch gesehen also in andere Fächer.

Doch schon einfache Schlagzeilen aus dem täglichen Leben zeigen, dass dies unzulässig ist, weil Bewertungen nur vor dem Hintergrund einer Technischen Allgemeinbildung vorgenommen werden können.

„Künstliche Produktalterung. Geplante Obsoleszenz: Das steckt dahinter“

(Materla 2018)

„Staatsanwaltschaft verhängt Bußgeld

Dieselaffäre: VW soll eine Milliarde Euro zahlen

Elf Millionen Autos mit Schummelsoftware“

(br.de 2018)

Kohlekraft und Klimawandel: Kohle stoppen, Klima schützen, Ernten sichern!

(Oxfam (Hrsg.) 2022)

Hinter den Schlagzeilen stehen Werte im Zusammenhang mit technischem Handeln, wie z. B. Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Ressourcenschonung und Gesundheit. Die Frage, „darf man so handeln?“, verweist auf die ethische Dimension der Technik. Auch die folgenden Schlagzeilen betreffen den Bereich der Erziehung. Sie deuten zum Teil auf erzieherische Probleme hin, die mit Eigenschaften wie Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz, Verantwortungsbereitschaft, Pflichtgefühl, Sorgfalt, Genauigkeit zu tun haben (vgl. (Möllers 2019a, 45 f)).

Jeder vierte Lehrling wirft hin

(Öchsner 2018)

Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Lose Radmuttern: Unfall nach Reifenwechsel

(Roll 2012)

Zugunglück von Bad Aibling

Fahrdienstleiter soll durch Handyspiel abgelenkt gewesen sein

Zwei Monate nach dem Zugunglück von Bad Aibling mit elf Toten sitzt der Fahrdienstleiter in Untersuchungshaft. Er soll kurz vor der Kollision ein Online-Spiel gespielt haben.

(Spiegel Online 2016)

Ein Technikbegriff im Hinblick auf Technische Allgemeinbildung muss die Verantwortung des Menschen beim technischen Handeln explizit einschließen und damit die Wertdimension der Technik erschließen, denn:

„Technisches Handeln ist oft Handeln nach Regeln, die sich bewährt haben, also nach bestimmten Kriterien effektiv sind. Die Kriterien für die Wahl der Mittel zur Erfüllung von Zwecken und die Bewertung der Effektivität kommen nicht aus der Technik selbst, sondern werden von Menschen gefunden, ausgehandelt und gesetzt“ (Möllers 2019b, 22).

1.1.3 Dritter Anstoß: Von der „ganzen Technik“ zum „Ganzen der Technik“

Auf der untersten Ebene fachdidaktischen Handelns steht ein Techniklehrer bei der Unterrichtsplanung vor einem Dilemma. Als reflektierter Praktiker im Sinne der Bremer Erklärung der Kultusministerkonferenz müsste er zur Auswahl bildungswirksamer Inhalte auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen können.

„Lehrer sind Fachleute für das Lernen, ihre Kernaufgabe ist die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation“ (KMK (Hrsg.) 2000, 2)

Aus seinem wissenschaftlichen Studium kennt er zahlreiche Einzelwissenschaften, die Allgemeine Didaktik, die Fachdidaktiken, die Fachwissenschaften, die Lern-, Entwicklungs-, und Motivationspsychologie, die Soziologie u.v. a.m.

Für die Planung einer konkreten Unterrichtsstunde stehen diese verschiedenen Wissenschaften oft unverknüpft nebeneinander und die Lehrperson steht vor der schwierigen Aufgabe, aus den verschiedenen Fäden oder Bändern der Einzelwissenschaften vor dem Hintergrund der konkreten unterrichtlichen Voraussetzungen das Gewebe einer Unterrichtsreihe oder-stunde zu weben.

Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass er als Bediensteter eines Bundeslandes die Vorgaben von Kernlehrplänen und Richtlinien beachten muss, die sich auf Fächer und Fächerverbünde beziehen. Die Bezeichnungen der Fächer und Fächerverbünde, die in den Bundesländern Elemente einer Technischen Allgemeinbildung beinhalten, variieren sehr stark.

„Wenn hier von technischer Bildung gesprochen wird, heißt das auch, dass sie im Arbeitslehreunterricht, im Unterricht von Fächern wie Wirtschaft-Arbeit-Technik, Wirtschaft/Technik, Arbeit/Wirtschaft/Technik, Wirtschaft-Technik-Haushaltslehre/Soziales oder auch das in einigen Ländern kürzlich eingeführte Fach Natur und Technik ebenso vermittelt wird“ (VDI (Hrsg.) 2007, 6).

Zu diesen Fachbezeichnungen oder Fächerverbünden gibt es oft keine korrespondierende Fachdidaktik bzw. Fächerverbunddidaktik. Techniklehrer greifen dann entweder auf subjektive Theorien oder auf die vorhandenen technikdidaktischen Ansätze zurück. Letzteres annehmend ist die Frage zu stellen, ob die Lehrer in diesen Ansätzen Kriterien für die Auswahl von Inhalten finden, um „die ganze Technik“ didaktisch auf „das Ganze der Technik“ zu reduzieren.

Durch die Kompetenzorientierung und durch zentrale Prüfungen hat sich das Problem der Inhaltsauswahl einerseits verschärft, andererseits entschärft.

Kompetenzorientierte Lehrpläne kommen in ihren Formulierungen z. T. gänzlich ohne Inhalte aus. Wenn als Kompetenz formuliert wird, „die Schülerinnen und Schüler erörtern Chancen und Risiken technischer Innovationen“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung (Hrsg.) 2013, 24), dann entbehrt diese Formulierung jeder inhaltlichen Festlegung für den Unterricht.

Das Dilemma der Inhaltslosigkeit von Kompetenzformulierungen wird spätestens dann deutlich, wenn es um zentrale Prüfungen geht. Diese erfordern zwangsläufig auch eine Festlegung von Inhalten. Wenn für ein Zentralabitur als inhaltliche Schwerpunkte „Logik-Bausteine, Speicher und Zähler (Monoflops, RS-, D-, JK-Flipflops – Asynchrone Zähler -7-Segment-Anzeige)“ (Schulministerium NRW 2020, 3) genannt werden, dann steht diese inhaltliche Festschreibung konträr zu Kompetenzformulierungen.

Dieses Dilemma lässt sich von einer Lehrkraft auf der untersten Ebene didaktischer Theorie und Praxis nur schwer allein bewältigen. Es fehlen fachdidaktischen Hilfen und Festlegungen bezüglich der Inhalte. Dahinter steckt als grundlegendes wissenschaftstheoretisches Problem auch die Transdisziplinarität einer Fachdidaktik bei gleichzeitiger Konzentration auf eine fachliche Domäne.

Dem Pädagogen „vor Ort“ bleibt bei der Bewältigung des „Theorie-Praxis-Vorgaben-Problems“ fast nur noch die eklektizistische Methode. Reich stellt dazu fest:

„Am Ende sind wir mehr EklektizistenFootnote 4 als uns wirklich lieb ist, aber durch die Nennung berühmter Autoren, auf die wirklich Verlass scheint, können wir dies immer wieder geschickt verschleiern“ ((Reich 2010, 9), Hervorheb. THM).

Eklektizismus als Grundproblem des Lehrerhandelns aufgrund fehlender konsistenter Theoriegebäude kann dauerhaft zu einem eingeschränkten Inhalts- und Methodenkanon (vgl. (Bleher 2001)) führen. Um dem vorzubeugen, gilt es, in dieser Untersuchung Kriterien zu finden, mit denen man aus der unüberschaubaren Welt der Technik diejenigen Gegenstände auswählen kann, die für Bildungszwecke das Ganze der Technik abbilden, ohne die ganze Technik zu sein. Damit ist die zentrale Aufgabe einer jeden Fachunterrichtswissenschaft, also jeder Fachdidaktik angesprochen, das Kanonproblem. Wiesmüller stellt bezüglich der Technikdidaktik fest:

„Die Frage der Gegenstandsbestimmung selbst mündet letztlich in das Kanonproblem, also die Auswahl und Zusammenstellung von Gegenständen, die bildungshaltig sind. Bei dem Problem wird aus unserem Blickwinkel ersichtlich, dass die Technikdidaktik durchaus Konzeptionen entwickeln konnte, die sicherlich theoretisch noch besser begründet und verfeinert werden müssen, die sich aber in der Praxis z.T. bewährt haben“ (Wiesmüller 2006, 116).

Dieses Desiderat aufnehmend soll es in dieser Arbeit auch darum gehen, die vorliegenden Konzeptionen theoretisch besser zu begründen und zu verfeinern.

Die damit verbundene wissenschaftliche Auseinandersetzung soll als „scientia ad praxim“ (Schmayl 2010, 117) auch zu einer bewussteren BildungspraxisFootnote 5 im Sinne Schleiermachers führen.

Die Dignität der Praxis ist unabhängig von der Theorie; die Praxis wird nur mit der Theorie eine bewußtere“ (Schleiermacher 1983, 11)

Hinzu kommt das Problem, dass weder das Fach Technik noch Inhalte, die der Domäne Technik zuzurechnen wären, in nennenswertem Stundenumfang in den Stundentafeln aller Schulformen in allen Bundesländern vorhanden sind.

Das „Ganze der Technik“ muss daher insgesamt sehr klein sein, weil es nicht zu einer Ausweitung von Stundentafeln oder zu einer flächendeckenden Einführung des Faches Technik kommen wird. Dies wird schon durch die immer weiter reduzierten Ausbildungsmöglichkeiten für Techniklehrkräfte unmöglich sein.

Demnach müsste ein Kern von Technik so formuliert werden, dass er einerseits allgemeinbildend ist, andererseits aber die „ganze Technik“ abbildet. Dieser Kern Technischer Allgemeinbildung könnte sich dann auch in anderen Fächern oder Fächerverbünden wiederfinden und würde die zum Teil divergierenden technikdidaktischen Ansätze zusammenführen, denn:

„Solange es der Technikdidaktik als Ganzes nicht gelingt, den Schulterschluss zu üben, die Frage nach gemeinsamen und v.a. nicht verhandelbaren Zielperspektiven und Prinzipien allgemeiner Technischer Bildung zu dokumentieren, wird ihre Position in fächerverbindenden Unternehmungen chronisch schwach bleiben“ (Rajh 2017, 486)

Ein fachdidaktischer Ansatz, der diesen Schulterschluss ermöglicht, müsste konkrete Kriterien für die Konstituierung eines Gegenstandsspektrum liefern.

1.2 Erkenntnisinteresse der Untersuchung

Die vorliegende Untersuchung soll entsprechend der drei Anstöße drei Ebenen didaktischer Theorie und Praxis durchdringen.

Auf der Ebene der Allgemeinen Didaktik soll ein Modell für die Verzahnung von Bildung und Erziehung so entwickelt werden, dass dieses als Ausgangspunkt für eine fachdidaktische Zuspitzung dienen kann. Die fachdidaktische Zuspitzung fokussiert auf den Ausschnitt „Technik“ aus der Gesamtwirklichkeit und setzt voraus, dass ein Konstruktionsmodell angibt, wie und mit welchen Kriterien ein solcher Ausschnitt zu bilden ist. Sind diese Kriterien gefunden, so lassen sich die Bezugswissenschaften zur Präzisierung des Technikbegriffs für eine Technische Allgemeinbildung heranziehen. Abschließend soll der so präzisierte Technikbegriff unter Anwendung von Kriterien der didaktischen Reduktion und Transformation zu inhaltlichen Aussagen über einen Kern Technischer Allgemeinbildung führen.

Insgesamt soll dadurch die Trias „Technik-Kultur-Bildung“ zu einem stimmigen fachdidaktischen Modell zusammengesetzt werden.

1.2.1 Modell für Bildung und Erziehung

Die Begriffe Bildung und Erziehung unterliegen einem stetigen Wandel, der bereits angedeutet wurde (vgl. erster Anstoß, S. 3 f.). Dieser unmerkliche Wandel hat zeitliche, räumliche und inhaltliche Komponenten, ist also abhängig vom jeweiligen Land oder Bundesland und vollzieht sich vor allem durch Veränderung der politischen Zielsetzungen, durch gesellschaftliche Transformationsprozesse und durch neue Erkenntnisse der Wissenschaften.

Die Tatsache, dass ein Bildungsbegriff vorherrscht, der Bildung reflexiv versteht und als individuellen Prozess ansieht, steht im Widerspruch zur sozialen Natur des Menschen und der Notwendigkeit der Enkulturation, die der Erziehung bedarf.

Nur durch das Zusammendenken von Bildung und Erziehung können sowohl Persönlichkeitsbildung als auch Enkulturation verbunden werden.

In einem ersten Schritt ist demnach der Gegenstandsbereich von Bildung und Erziehung im Hinblick auf diese Veränderungen in den Blick zu nehmen. Anschließend ist zu klären, welche Menschenbilder gegenwärtig Bildung und Erziehung zugrunde gelegt werden können. Dazu sind die unterschiedlichen wissenschaftlichen Sichtweisen auf Bildung und Erziehung zu berücksichtigen. Als Bezugswissenschaften lassen sich insbesondere die Philosophie, die Psychologie und die Sozialwissenschaften identifizieren. Die Begriffe Bildung und Erziehung sind so zu entwickeln, dass sie einerseits den Ansprüchen der Bildungswissenschaften gerecht werden, andererseits auch gesellschaftlichen Anforderungen und Veränderungen, also auch den o.g. Nützlichkeitsansprüchen. Dieses Entwickeln ist normatives Setzen und lässt sich nur gut begründen, nicht ableiten. Die gefundenen Begriffe müssen anschlussfähig sein an die Veränderungen von der Lernzielorientierung hin zur Kompetenzorientierung und von der Input- zur Outsteuerung im Schulwesen. Anschließend ist daraus ein Modell zu entwickeln, das die bisher vernachlässigte Erziehung mit Bildung dialektisch verschränkt.

Daraus ergibt sich ein erster Fragenkomplex:

Wie sind die für diese Untersuchung zentralen Begriffe von Bildung, Erziehung und Kompetenz voneinander abzugrenzen?

Welche Menschenbilder ergeben sich aus den drei zentralen Bezugswissenschaften Philosophie, Psychologie und Sozialwissenschaften?

Wie lässt sich die Dialektik von Persönlichkeitsbildung und Enkulturation, von Bildung und Erziehung modellhaft verschränken?

1.2.2 Modell einer Allgemeinen Fachdidaktik

Der zweite Anstoß besteht in der Frage nach der oder den Bezugswissenschaften für ein Schulfach, sie ist eine wissenschaftstheoretische Fragestellung.

Bevor die fachliche Fokussierung auf den Ausschnitt „Technik“ aus der Gesamtwirklichkeit erfolgen kann, ist zunächst auf einer zweiten Ebene zu klären, wie Aussagen über Bildung und Erziehung zu fachbezogenen Aussagen einer Fachdidaktik transformiert werden können. Eine Allgemeine Fachdidaktik, die im technischen Sinne einer Konstruktionsvorschrift die Verflechtung von Bildungswissenschaften und Fachwissenschaften zu einer Fachdidaktik herstellen könnte, ist erst im Entstehen begriffen (vgl.(Bayrhuber u. a. 2017) und (Rothgangel u. a. 2020).

Die Gesellschaft für Fachdidaktik (GfD) hat mit dem ersten Band, „Auf dem Weg zu einer Allgemeine Fachdidaktik“, die Stellung der Fachdidaktiken im Spannungsfeld zwischen Bildungswissenschaften und Fachwissenschaften verortet (vgl. Abb.1.3).

In einem zweiten Band „Lernen im Fach und über das Fach hinaus“ kommt es zu ersten Schlüssen bezüglich der Bezugswissenschaften. Diese ersten Schlüsse gilt es zu hinterfragen, um durch die Konstruktion eines heuristischen Modells zur Lösung des Kanonproblems zu gelangen.

Zweiter Fragenkomplex:

Wie lassen sich Setzungen auf allgemeindidaktischer Ebene mit einer fachlichen Domäne so verknüpfen, dass daraus fachdidaktische Aussagen generiert werden können?

Welche Fragenkomplexe ergeben sich an eine fachliche Domäne, um daraus einen domänenspezifischen Fachbegriff der Fachdidaktik formulieren zu können?

Welche Bezugswissenschaften sind zur Bildung des fachlichen Ausschnitts heranzuziehen?

Abbildung 1.3
figure 3

Traditionelle Verortung der Fachdidaktiken nach (Bayrhuber u. a. 2017, 18)

1.2.3 Bezugswissenschaftliche Ansätze zur Erweiterung des fachlichen Spektrums

Mit Hilfe des Modells sollte es möglich sein, Analysefragen an die Bezugswissenschaften zu stellen, die einen erweiterten Technikbegriff im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung liefern, indem die Bezugswissenschaften daraufhin befragt werden, welche Beiträge die Domäne Technik jeweils zu Bildung und Erziehung leisten kann. Insbesondere ist zu fragen, inwiefern die Bezugswissenschaften Aussagen zu den drei Entwicklungslinien, Kultur, Ästhetik und Sinn (vgl. S. 9) im Hinblick auf einen erweiterten Technikbegriff liefern können.

Dritter Fragenkomplex:

Welche Aussagen ermöglichen die in Kapitel 3 gefundenen Bezugswissenschaften zu dem wechselseitigen Verhältnis von Mensch, Gesellschaft, Kultur und Technik und zur Verantwortung des Menschen beim technischen Handeln?

Lässt sich das fachliche Spektrum im Hinblick auf Bildung und Erziehung erweitern?

1.2.4 Pädagogische Perspektiven und ein Kern Technischer Allgemeinbildung

Abschließend soll der so präzisierte und erweitere Technikbegriff pädagogisch perspektiviert werden und unter Anwendung allgemeindidaktischer Kriterien der didaktischen Transformation zu inhaltlichen Aussagen über einen Kern Technischer Allgemeinbildung führen. Insgesamt soll dadurch die Trias „Technik-Kultur-Bildung“ zu einem stimmigen fachdidaktischen Modell zusammengesetzt werden.

Vierter Fragenkomplex:

Können aus dem neu gefundenen Technikbegriff unter Anwendung des Modells von Bildung und Erziehung pädagogische Perspektiven für den Technikunterricht abgeleitet werden, die eine Inhaltsauswahl erleichtern?

Welche didaktischen Prinzipien ermöglichen eine didaktische Reduktion und Transformation auf einen Kern von Inhalten?

Lassen sich die gefundenen pädagogische Perspektiven zu einem stimmigen fachdidaktischen Modell zusammensetzen?

1.3 Anlage und Methodologie der Untersuchung

„Die Kinderfrage des 21.Jahrhunderts lautet nicht mehr »Warum?«- sie lautet »Wozu?«. Warum und Wozu sind Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die »Warum«- Frage forscht in die Vergangenheit. Sie erkundigt sich nach Ursachen, nach Hinter- und Beweggründen, möchte Zusammenhänge erwägen. Sie ist nachdenklich, vielleicht ein wenig introvertiert; sie appelliert an das Gedächtnis, interessiert sich für Motive, vielleicht sogar für eine moralische Gestimmtheit. Ihre Schwester »Wozu« ist frecher. Schneller. Fordernder. Irgendwie zeitgemäßer. Ihr Blick richtet sich in die Zukunft. Wozu gehen wir arbeiten, treffen Freunde, lesen Bücher, treiben Sport? Mit welchem Nutzen? Was ist der Zweck? Gibt es Maßstäbe, die zu erfüllen, Prognosen, die zu verifizieren, Effizienzkalkulationen, die zu berücksichtigen wären? »Warum« ist kontemplativer, »Wozu« im weitesten Sinne ökonomischer Natur. […] Ich schlage folgenden Ansatzpunkt vor: Es kann nicht sein, dass die wichtigste Frage des 21.Jahrhunderts lautet, wozu wir uns eigentlich noch für das »Warum« interessieren. Vielleicht sollten wir überlegen, warum wir ständig nach dem »Wozu« fragen“ (Zeh 2016, 104 f).

Ich stelle dieses ausführliche Zitat aus einer Rede Juli Zehs bei der Verleihung des Carl-Amery-Literaturpreises 2009 deshalb diesem Kapitel voran, weil für den wissenschaftlichen Fortschritt und damit für diese Untersuchung die »Warum«-Frage zentral ist, mit der Beantwortung der »Warum«-Frage aber gleichzeitig viele »Wozu«-Fragen beantwortet werden. Die »Wozu«-Frage aber nicht so sehr im Sinne ökonomischer Natur, sondern als utopische Frage in Bezug auf das wozu und wohin von Bildung und Erziehung der nachwachsenden Generation.

1.3.1 Anlage der Untersuchung

„Nur wenn man eine Theorie des Sachverhaltes hat, der einem problematisch ist, kann man seine Erforschung in Angriff nehmen, weil man dann erst weiß, was man im einzelnen zu untersuchen hat“ (Loch 1977, 385).

Die Untersuchung geht o.g. grundsätzlichen allgemein- und fachdidaktischen Fragestellungen nach und ist schwerpunktmäßig im Bereich der Theoriebildung anzusiedeln. Das „Neue“ einer Theorie besteht darin, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten, Vorhandenes neu zu ordnen und zu bewerten und damit möglichst zu vereinfachen und zu klären.

Der Philosoph Byung-Chul Han drückt dies so aus:

„Die Theorie stellt eine wesentliche Entscheidung dar, die die Welt ganz anders, in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. […] Als hochselektive Narration schlägt sie eine Schneise der Unterscheidung durch das noch »Unbegangene«. […] Sie hindert die Dinge daran, sich zu vermischen und zu wuchern. So reduziert sie die Entropie. Die Theorie klärt die Welt, bevor sie sie erklärt“ (P. Han 2012, 62 f).

Der Wissenschaftsbetrieb führt zwangsläufig zu einem Anwachsen von Wissen und damit zu der von Han angesprochenen Gefahr, dass sich Dinge vermischen und wuchern. Mit dieser Vermischung hat sich der französische Philosoph Henri Bergson intensiv auseinandergesetzt. Er sieht ein Grundübel darin, dass eine Vielzahl von Problemen nur Scheinprobleme sind und formuliert daher,

„daß es sich in der Philosophie und selbst anderswo weit mehr darum handelt, das Problem zu finden und es infolgedessen richtig zu stellen, als es zu lösen“ (Bergson 2015, 66).

Als systematische Methode zur Beseitigung der falschen Probleme und zum Stellen der wahren Probleme entwickelt Bergson die „Intuition“. Da dieser Begriff zu zahlreichen Missverständnissen geführt hat, fasst Deleuze in seiner Re-Lektüre Bergsons vier Merkmale der Methode „Intuition“ zusammen:

„Das erste Merkmal der Intuition besteht darin, daß in ihr und durch sie etwas sich zeigt, sich selbst zu erkennen gibt, statt aus etwas anderem hergeleitet und gefolgert zu werden“ (Deleuze 2003, 29).

Nach diesem ersten Merkmal ist Intuition weder deduktiv noch induktiv, sondern heuristisch.

„Aber die Intuition hat noch ein zweites Merkmal: so verstanden stellt sie sich selbst als eine Wiederkehr dar. Die philosophische Beziehung nämlich, die uns in die Dinge hineinversetzt, statt uns außerhalb ihrer zu lassen, wird von der Philosophie eher wiederhergestellt als eingeführt, eher wiedergefunden als erfunden“(Deleuze 2003, 29 f).

Im Verlauf dieser Arbeit wird sich zeigen, dass dieses Wiederfinden von Wesentlichem, von Grundtendenzen einen vereinfachenden Effekt hat und Erkenntnisse aus der Vergangenheit vor dem Hintergrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in einem neuen Licht erscheinen können. Das Wiederfinden erklärt auch, dass die Literatur nicht ausschließlich nach dem Neuigkeits- und Aktualitätsprinzip ausgewählt wird, sondern nach inhaltlichen Kriterien, zu denen auch das dritte Merkmal der Intuition gehört.

„Die Intuition als Methode ist eine Methode, die die Differenz sucht. Sie zeigt sich als das, was die Wesensunterschiede sucht und findet, die »Gliederung des Wirklichen«. Das Sein ist gegliedert, und ein falsches Problem ist dasjenige, das diese Unterschiede nicht berücksichtigt“ (Deleuze 2003, 34).

Der in diesem Merkmal auftauchende Begriff der Differenz bezeichnet nicht die mathematische Differenz, sondern ist ein zentraler Begriff in Bergsons Philosophie. Mit dem Begriff der Differenz möchte er den Widerspruch, die Andersheit und die Negation, die in der Dialektik steckt, hinter sich lassen und zum Wesentlichen vordringen.

„An den Widerspruch, die Negation glaubt man also aus Unkenntnis des Virtuellen. Der Gegensatz zweier Terme ist lediglich die Verwirklichung der Virtualität, die beide enthielt: d.h. daß die Differenz tiefer ist als die Negation, tiefer als der Widerspruch“ (Deleuze 2003, 61).

Diese Untersuchung sucht nach der Differenz von Bildung und Erziehung, um diese zur „Virtualität, die beide enthielt“ (ebd.) zusammenzuführen, zu einer Ganzheit.

Schließlich soll das Finden der Ganzheit auch zum vierten Merkmal der Intuition, der Einfachheit führen.

„Sie (die Intuition, Anm. THM) begnügt sich nicht damit, den natürlichen Gliederungen zu folgen, um die Dinge zu zerlegen, sie folgt auch den »Tatsachenlinien«, den Differenzierungslinien, um das Einfache als Konvergenz von Wahrscheinlichkeiten wiederzufinden; sie zerlegt nicht nur, sondern verbindet auch wieder“ ((Deleuze 2003, 37), Hervorh.THM)

Die so verstandene Intuition soll bei dieser Untersuchung zur Rückführung der weit verzweigten »Tatsachenlinien« auf wenige zentrale Grundbegriffe, zu einem Kern von Bildung und Erziehung und auf fachlicher Ebene zu einem Kern Technischer Bildung führen. Darin verbirgt sich die epistemologische Idee, die bestehenden Theorien integrativ zusammenzufassen, indem aus bestehenden Theorien die Anteile zu einem Ganzen integriert werden, die als unumstritten gelten. Ken Wilber spricht bei diesen Zusammenfassungen von „Orientierungs-Verallgemeinerungen“ und meint damit:

„Sie sind von breiter Übereinstimmung getragen und zeigen uns, wo die wichtigen Wälder stehen, auch wenn wir uns vielleicht noch streiten, wie viele Bäume sie enthalten“ (Wilber 2001, 11 f).

Die Idee schließt ein, dass auch empirisch gewonnene Ergebnisse in die Theoriebildung einfließen und zwar in den von Gigerenzer und Brighton in „Homo Heuristicus: Why biased minds make better inferences“ als wirksam herausgestellten heuristischen Entscheidungsstrategien des „less is more“Footnote 6 und „take the best“Footnote 7(Gigerenzer und Brighton 2009, 110, 113).

Theoriebildung bewegt sich immer am Rand einer wissenschaftlichen „Semiospäre“Footnote 8 (Lotman 2010, 165) und hat heuristischen Charakter, der darin besteht, Dinge neu zu ordnen, Dinge, die bisher unverbunden nebeneinanderstanden, miteinander zu verbinden und Dinge neu zu finden oder zu erfinden. Wird der Rand der „Semiosphäre“ überschritten, so kann es zu einem neuen Paradigma, zu einer wissenschaftlichen Revolution kommen (vgl. (Kuhn 1973)). Unabhängig vom Fortschrittscharakter einer neuen Theorie sind bei dem neu Ordnen und neu Finden nach Kuhn fünf Eigenschaften „geläufige Kriterien für die Beurteilung von Theorien“ (Kuhn 1977, 423), „Tatsachenkonformität, Widerspruchfreiheit, Reichweite, Einfachheit und Fruchtbarkeit“ (a.a.O.).

Die beiden ersten Erkenntnisinteressen dieser Untersuchung, Modellbildung für Bildung und Erziehung und Modellbildung einer Allgemeinen Fachdidaktik, sind von überfachlicher Bedeutung. „Große Reichweite“ bedeutet hier, dass sich die gewonnenen Erkenntnisse auf alle Fächer übertragen lassen sollten. Dies ist nur durch einen hohen Grad an Allgemeinheit und Einfachheit zu erreichen, was aber nicht zur Beliebigkeit führen darf. Die Fruchtbarkeit, der in den ersten beiden Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse, muss sich bei der Konkretisierung auf der fachdidaktischen Ebene der Technik zeigen. Der Begriff der „Ebene“ bezieht sich auf eine von Schmayl entworfene Abbildung (vgl. Abb.1.4). Da diese Untersuchung schwerpunktmäßig auf der Theorieebene der Fachdidaktik angelegt ist (4. und 5.Stufe der Abb.1.4) und die Fachdidaktik als sciencia ad praxim sowohl nach oben mit der Allgemeinen Didaktik als auch nach unten mit der Unterrichtspraxis verknüpft sein muss, lässt sich diese Untersuchung als vertikal vernetzte Untersuchung charakterisieren.

Mit der vertikalen Vernetzung einher geht die Verknüpfung verschiedener Theorie- und Wissensebenen und damit die Gefahr des Eklektizismus. Diese Gefahr sieht auch Reich, wenn er die Frage stellt, „wo und wie gewinnen wir ein sicheres Wissen?“ (Reich 2010, 8) und zur Beantwortung fünf Perspektiven anbietet. Die Wahl einer Theorieschule, Wahl einer eklektizistischen Methode, Wahl einer praktischen Sicht, Bevorzugung der Theoriefeindlichkeit oder die Wahl einer Mischform (nach (Reich 2010, 8 f)).

Abbildung 1.4
figure 4

Vertikale Differenzierung der Unterrichtstheorie. (nach (Schmayl 2010, 108), graphisch verändert)

Reich kommt bezüglich der Gewinnung sicheren Wissens zu dem Schluss:

„Es gibt kein sicheres, universelles und ewiges Wissen, und es gibt dennoch „wahres“ Wissen, das wir studieren können“ (Reich 2010, 9).

Abbildung 1.5
figure 5

Detail eines Bandwebstuhls. (Foto: Thomas Möllers CC BY-SA 4.0)

Um in der Metapher des Vorsatzbildes zu bleiben, kommt es in dieser Untersuchung darauf an, ein Theoriegewebe mit dem roten Faden der Bildung und Erziehung aus den verschiedenen Bändern der Bildungswissenschaften und Fachwissenschaften zu einem Modell von Technikdidaktik im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung zu weben. Die einzelnen Bänder als Einzelwissenschaften sind schon großenteils gewebt, es fehlen aber vor allem die Verbindungen der Einzelbänder zu einem zusammenhängenden Stoff, der Fachunterrichtswissenschaft „Fachdidaktik Technik“.

Ähnlich wie bei einem Bandwebstuhl (siehe Abb.1.5) die 24 gleichzeitig gewebten Gurtbänder nebeneinander liegen und nicht miteinander verbunden sind, sind die Einzelwissenschaften, die ein Lehramtsstudierender zu studieren hat, bis auf die Praxisebene oft auch unverbunden. In der Praxis kommt es dann darauf an, aus den verschiedenen Bändern einen zusammenhängenden Stoff zu weben. Ziel dieser Arbeit ist es, diese fehlende Verbindung und Vernetzung schon auf der höheren Theorieebene der Fachdidaktik herzustellen.

1.3.2 Methodologie der Untersuchung

In Sinne der Merkmale der Intuition nach Bergson kommt es beim ersten Fragekomplex darauf an, die Begriffe „Bildung“ und „Erziehung“ wieder zusammenzuführen und auf gemeinsame Wurzeln zurückzuführen. Es geht dabei auch um Ergänzungen durch empirische Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Persönlichkeitsforschung sowie durch Ergebnisse der philosophischen Anthropologie und Psychologie. Das Zusammenführen von Bildung und Erziehung setzt hermeneutisches Neuverstehen und in Beziehung setzen voraus, um zu normativen Setzungen der Begriffe, zu Zielen von Bildung und Erziehung und zu einem Modell für Bildung und Erziehung zu gelangen. Dazu wird es notwendig sein, den historischen Bedeutungswandel der Begrifflichkeiten transparent zu machen, um zu aktuellen begrifflichen Setzungen zu kommen.

„Sie (die Hermeneutik, Anm.THM) wird sich dessen bewusst sein müssen, dass ihr eigenes Verstehen und Auslegen keine Konstruktion aus Prinzipien ist, sondern die Fortbildung eines von weit her kommenden Geschehens. Begriffe, die sie gebraucht, wird sie daher nicht ungefragt in Anspruch nehmen dürfen sondern zu übernehmen haben, was ihr aus dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt ihrer Begriffe überkommen ist“ (Gadamer 2010, 4).

Im Sinne Danners geht es daher in Abschnitt 2.1 zunächst um ein Verstehen, nicht um ein Erklären.

„Es ist der Inhalt der Hermeneutik, den Verstehensvorgang zu untersuchen und ihn zu strukturieren“ (Danner 2006, 34).

Der hermeneutischen Verstehensbegriff, „das Erkennen von etwas als etwas (Menschlichen) und gleichzeitig das Erfassen seiner Bedeutung“ (Danner 2006, 39), ist abzugrenzen vom Begriff des Erklärens als das „Herleiten von Tatsachen aus Ursachen, das Ableiten einer Gegebenheit von einem Prinzip“ (Danner 2006, 40).

Das Verstehen bewegt sich zwischen den beiden Extremen der Subjektivität und der Allgemeingültigkeit, die zwar als Wissenschaftsideal anzustreben ist, aber für die Hermeneutik ausscheidet. Als hermeneutische Verbindlichkeit ist Objektivität, „die Wahrheit im Sinne der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand“ (Bollnow 1966, 59) anzustreben.

Zwei Grundprobleme des Verstehens eines „objektiven Geistes“ bleiben bestehen. Der „objektive Geist“ ist ebenso kulturell und geschichtlich bedingt wie das Verstehen (vgl. Danner, 2006, 69). Zu der historischen Situiertheit und kulturellen Verortung von Wissen äußert sich auch Donna Haraway. Sie stellt

„den Objektivismus der Moderne und vor allem den Objektivitätsmythos der Natur- und Technikwissenschaften infrage, der auf einem angeblichen view from nowhere, einem good trick, der hegemoniale Wissensansprüche zu legitimieren versucht, beruht“ (J. Weber 2020, 210) (vgl. auch (Haraway 1995, 73–97).

Es stellt sich deshalb bei jedem Verstehensvorgang die Frage: „Was legen wir aufgrund unserer heutigen Situation in das zu Verstehende hinein?“ ((Danner 2006, 69), Hervorh. im Orig.). Dieser zeitversetzte Verstehensvorgang, der sich insbesondere auf ältere Texte bezieht, hat den Nachteil, dass er dem Kriterium der Objektivität weniger gerecht werden kann, er hat aber den Vorteil, dass ein anderes Verstehen, ein höheres Verstehen möglich ist und damit etwas Neues entstehen kann.

Wenn es also in dieser Untersuchung darum geht, das „Ganze der Technik“ aus dem Blickwinkel von „Bildung und Erziehung“ zu verstehen, dann macht es Sinn, nicht nur aktuelle Veröffentlichungen, sondern auch ältere Schriften zu lesen und diese aus dem veränderten Blickwinkel anders zu verstehen, nicht besser zu verstehen (vgl. Danner, S. 71). Dabei wird sich das Verfahren der „radikal-deflationären Re-Lektüre“ (Ludwig 2020, 11) als notwendig erweisen, ein von Ludwig auf Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ angewendetes Verfahren, das mit präzisierten Erwartungen die Re-Lektüre angeht. Die präzisierten Erwartungen gilt es jeweils offen zu legen.

Fasst man die Jetztzeit der Technik als Zeit von Umbrüchen auf (Digitalisierung, Industrie 4.0, Klimawandel, Coronakrise usw.), so macht es Sinn, insbesondere Schriften zu befragen, die in oder unmittelbar nach Zeiten des besonderen technischen Wandels und der Krise entstanden sind. Daher finden sich in dieser Untersuchung auch ältere Schriften vom Anfang des 20.Jh., der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und Schriften, die unter dem Eindruck des anbrechenden Atomzeitalters und der atomaren Bedrohung nach dem 2.Weltkrieg entstanden sind.

Auch für die Pädagogik gibt es zeitbedingte Umbrüche, z. B. der durch den PISA-Schock ausgelöste Umschwung von der Input- zur Outputsteuerung. Es gibt aber auch zeitlich invariante Aussagen, die z. T. schon sehr alt sind, wie z. B. Pestalozzis Lernen mit Kopf, Herz und Hand. In dem zunehmend komplexer werdenden Theoriegebäude lohnt es sich oft, diese grundlegenden Einsichten zeitversetzt noch einmal in den Blick zu nehmen und neu zu beleben vor dem Hintergrund neuer Forschungsergebnisse.

Die Objektivität und Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse sind auch dort in Anschlag zu bringen, wo andere politische Konstellationen dazu geführt haben, dass aus einer vermeintlich moralisch überlegenen Position heraus moralisch anachronistisch argumentiert wird. Moralisch anachronistisch heißt, dass mit heutigen moralischen Maßstäben Auffassungen beurteilt werden, die in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort in anderen historischen Kontexten verfasst wurden.

Konkret bezieht sich dies auf fundierte wissenschaftliche Untersuchungen von DDR-Didaktikern, wie Lothar Klingberg, Gerhart Neuner oder Dietrich Hering, die nur aufgrund von systemimmanentem „sozialistischen Beiwerk“ im Westen nach der Wende kaum zur Kenntnis genommen wurdenFootnote 9.

Die Modellbildung zur Bildung und Erziehung (erster Fragenkomplex) und zur Allgemeinen Fachdidaktik (zweiter Fragenkomplex) ist Bestandteil der Theoriebildung.

Theoriebildung kann nie rein induktiv sein, sondern findet in einem Wechselspiel von induktivem und deduktivem Vorgehen statt und schließt immer auch heuristische MomenteFootnote 10 ein. Bei der Konstruktion eines vereinfachten Modells einer Allgemeinen Fachdidaktik werden einerseits deduktive Schlüsse aus den Ergebnissen des GFD-Projekts der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) zur Allgemeinen Fachdidaktik gezogen, die mit Hilfe der Methode der Grounded Theory gewonnen wurden. Andererseits werden die verschiedenen Bezugswissenschaften heuristisch zu einem Modell zusammengeführt.

„Als Heuristik(en) bezeichnet man „Anweisungen“ (d. h. Grundsätze, Prinzipien und Verfahren), mit deren Hilfe Neues gefunden werden kann, methodische Regeln, um aus vorhandenem Wissen neue Erkenntnisse „herleiten“ zu können“ (Banse u. a. 2006, 239).

Die heuristische Konstruktion eines vereinfachten Modells einer Allgemeinen Fachdidaktik dient vor allem dazu, über eine Reduktion von Komplexität zu neuen Einsichten hinsichtlich der Konstruktion eines inhaltlichen Kanons einer Fachdidaktik zu gelangen. Die Konstruktion des Modells orientiert sich dabei an folgenden Einsichten Banses zur Heuristik:

  • „Heuristiken ermöglichen, ex ante Strategien zum Entwurf von Lösungswegen bzw. von Lösungswegen selbst zu entwickeln bzw. Bewertungen von alternativen denkbaren Lösungswegen mittels nicht-quantitativer Präferenzregeln vorzunehmen.

  • Darin eingeschlossen sind Formen von Analogieschlüssen und die Bildung von Korrelationen, die nicht quantitativ-statistisch, sondern rein qualitativ abgestützt werden.

  • Mittels heuristischer Verfahren ist es möglich, einen komplexen Zusammenhang von Alternativen durch deren Gewichtung zu reduzieren, d. h. bestimmte Aussagen, Vorschriften oder Möglichkeiten wird relativ zu alternativen Behauptungen eine höhere oder niedrigere Glaubwürdigkeit (Plausibilität) verliehen“ (Banse u. a. 2006, 239)

Mit Hilfe des so gefundenen Modells einer Allgemeinen Fachdidaktik sollte es möglich sein, im dritten Fragekomplex Analysefragen an die Bezugswissenschaften zu stellen. Dieser analytische Teil der Untersuchung soll zu einer Erweiterung des Technikbegriffs aus der Perspektive von Bildung und Erziehung führen. Auch hier ist das Verfahren der „radikal-deflationären Re-Lektüre“ (Ludwig 2020, 11) (s. o.) angemessen.

Im vierten Fragenkomplex geht es um das schon weiter oben erwähnte Problem, die Kluft zwischen der Theorie der Fachdidaktik und der Praxis der Konstruktion von Curricula zu überwinden. Es gilt, zwei unterschiedliche Wissensarten zu verbinden, das epistemische Wissen und das phronetischen Wissen. Diese Unterscheidung geht auf die von Platon und Aristoteles gebrauchten Begriffe von episteme und phronesis zurück. Zur Bewältigung von Unterrichtsplanung und Unterricht ist nicht nur „wissenschaftliches Verständnis (episteme)“, sondern auch „praktische Weisheit (phronesis)“ (Korthagen und Meyer 2002, 32) erforderlich. Letztere baut sich insbesondere durch BerufserfahrungFootnote 11 auf. Im fünften und sechsten Kapitel werden die bis dahin gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den langjährigen Praxiserfahrungen der Machbarkeit und schulischen Umsetzbarkeit verbunden, um zu einem Kern Technischer Allgemeinbildung vorzustoßen. Damit werden zugleich die Modelle auf Praxistauglichkeit überprüft.

1.3.3 Hinweise zur gendergerechten Sprache und zum Stil der Untersuchung

  1. a)

    Gendergerechte Sprache

    Der Autor ist sich aufgrund seiner Erfahrung als Moderator für „Reflexive Koedukation“ und seiner langjährigen Unterrichts- und Seminarerfahrung durchaus der Bedeutung der geschlechtergerechten Verwendung von Sprache bewusst. Daher wird in der Untersuchung auch der Versuch unternommen, so weit wie möglich neutrale Formulierungen zu verwenden. Wo dies nicht möglich ist, wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Sprachtradition die männliche Form einer vom amtlichen Regelwerk nicht abgedeckten Schreibweise (Genderstern, Binnen-I, Gender-Gap, Schrägstrich) vorgezogen. Damit wird vor allem versucht, den Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung zu folgen, der als „allgemeine Kriterien geschlechtergerechter Schreibung definiert: Geschlechtergerechte Texte sollen

    • sachlich korrekt sein,

    • verständlich und lesbar sein,

    • vorlesbar sein […]

    • Rechtssicherheit und Eindeutigkeit gewährleisten,

    • übertragbar sein im Hinblick auf deutschsprachige Länder mit mehreren Amts- und Minderheitensprachen,

    • für die Lesenden bzw. Hörenden die Möglichkeit zur Konzentration auf die wesentlichen Sachverhalte und Kerninformationen sicherstellen“ ((Rat für deutsche Rechtschreibung 2021, 2), Hervorh. THM).

  2. b)

    Wissenschaftlichkeit, Ganzheitlichkeit, Bildhaftigkeit und Stil der Untersuchung

    „Die Form ist schön, wenn sie angemessen ist; die Form eines wissenschaftlichen Buches also, wenn es klar, knapp und leicht verständlich ist“ (Reiners 1961, 46)

    Diese Untersuchung ist im Sinne der Sciencia ad praxim nicht nur für eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft, sondern auch für an Technik, Kultur und Bildung Interessierte gedacht. Dem Ziel der Verständlichkeit verpflichtet, ist daher der Stil zum Teil didaktisierend und exemplarisch, d. h. es werden zum ganzheitlichen Verständnis Beispiele oder Bilder benutzt. Auch die einleitenden Zitate zu den einzelnen Kapiteln verfolgen den Zweck der gedanklichen Einstimmung und Anregung.

Das von Reiners formulierte Merkmal der Knappheit lässt sich zwar an Seitenzahlen operationalisieren, diese lassen aber keine Aussagen über inhaltlichen Reichtum zu. Deshalb sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass manche Zitate aus älteren Quellen deshalb so umfangreich ausfallen, weil die dort formulierten Gedankengänge oft hoch präzise und sprachlich brillant formuliert sind und der Autor der Leserschaft diese Schätze nicht vorenthalten möchte, zumal viele dieser Quellen nicht mehr mühelos verfügbar sind. Die Leserschaft möge am Ende der Lektüre entscheiden, ob die Form insgesamt angemessen ist.