Schlüsselwort

1 Critical Incidents im sozialwissenschaftlichen Fachunterricht: Eine Definition

Was ist ein critical incident (kritisches Ereignis) im sozialwissenschaftlichen Fachunterricht? Alltagssprachlich sind kritische Ereignisse mit Gefahr assoziiert. Ein kritisches Ereignis im Straßenverkehr kann ein Beinah-Unfall sein, eines in der Energiesicherheit ein Beinah-Atomunfall, eines in sozialen Beziehungen eine Beinah-Trennung vom Lebenspartner. Allen Beispielen ist gemein, dass unerwartete Wendepunkte markiert werden, die negative Konsequenzen mit sich bringen können. Der Schulkontext ist in der Regel nicht mit solchen drastischen Beispielen vergleichbar; gleichwohl gibt es auch in der schulischen Praxis Situationen, die für das Gelingen von Unterrichtsinteraktionen und Lehr-/Lernprozessen in einem hervorstechenden Maße entscheidend sind.

Flanagan (1954) definiert als incident jede „observable human activity that is sufficiently complete in itself to permit inferences and predictions to be made about the person performing the act“. Ein solcher Vorfall werde kritisch, wenn „an incident […] occur[s] in a situation in which the purpose or intent of the act seems fairly clear to the observer and its consequences are sufficiently definite to leave little doubt concerning its effects“ (Flanagan 1954, S. 327). Derartige Fälle sind für Flanagan in der Praxis als Kippsituationen anzutreffen, die, mit Blick auf das jeweils verfolgte Ziel, sowohl das Potenzial für besonderes Gelingen als auch für außerordentliches Scheitern haben. In beiden Fällen, sowohl im Erfolg als auch im Misslingen, werden die spezifischen Herausforderungen der Tätigkeit sichtbar – und dadurch zumindest potenziell auch erlernbar. Mit Blick auf die allgemeine Klassenführung könnten kritische Situationen demnach zum Beispiel den Umgang mit Störungen durch Schüler*innen oder wiederholte Disziplinprobleme betreffen. Diese sind in der Regel beobachtbar und relativ eindeutig interpretierbar. Demgegenüber finden wir in den fachspezifischen Anforderungen der Sozialwissenschaften kritische Situationen, die sich eher kommunikativ vermitteln und mit größeren Interpretationsspielräumen einhergehen: die angemessene Reaktion auf populistische Äußerungen, auf fachlich problematische Präkonzepte oder auf eine geringe Repräsentation relevanter Positionen in freien Diskussionen.

Dieser Beitrag bezieht sich auf unsere Arbeit am Modul C („Herausfordernde Situationen“) des Projekts LArS.nrw – Lernen mit Animationsfilmen realer Szenen sozialwissenschaftlichen Unterrichts. Im Projekt LArS.nrw entstanden Animationsfilme realer Unterrichtssituationen, die mit zusätzlichem Lehr-/Lernmaterial für die lehrkräftebildende Universitätsveranstaltungen frei zugänglich zu Verfügung gestellt wurden. Grundlage der Animationsvideos sind authentische Situationen, die aus transkribiertem Videomaterial der Projekte „Argumentative Lehr-Lern-Prozesse im Politikunterricht“ (Gronostay 2019) und „Politik-Lernen im Unterricht“ (Manzel und Gronostay 2013) ausgewählt wurden (zum Auswahl- und Umwandlungsprozess siehe auch Kap. 2). In der Konzeption der Videovignetten und dazugehörigen Aufgaben mit dem Schwerpunkt „Herausfordernde Situationen“ verwenden wir den Begriff Critical Incidents dabei im folgenden Sinne: Mit Critical Incidents bezeichnen wir

Situationen im sozialwissenschaftlichen Unterricht, in denen innerhalb eines fachdidaktischen Unterrichtssettings erzeugte Spannungen und Herausforderungen sichtbar werden und die damit in besonderer Weise sowohl mit Risiko als auch mit Potenzial für das Gelingen von Lehr-/Lernprozessen verbunden sind.

Eine Bearbeitung solcher Situationen eröffnet in der Lehrer*innenbildung eine reflexive Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden fachdidaktischen Herausforderungen. Wir gehen davon aus, dass solche Situationen zwar in jedem Fall interessant und auffällig sein werden, aber keineswegs untypisch sein müssen. Hier wird stattdessen die These aufgestellt, dass eine diskursive, schüler*innenorientierte und kontroverse Gestaltung von sozialwissenschaftlichem Unterricht herausfordernde Situationen nicht als Ausnahmen aufweist, sondern stattdessen durch diese gekennzeichnet ist. Aus diesem Grund argumentieren wir im Folgenden, dass der Umgang mit Critical Incidents zu den Kernpraktiken des sozialwissenschaftlichen Unterrichtens zählt. Dazu gehen wir zunächst im zweiten Abschnitt auf die für die Lehrkräftebildung relevanten konzeptuellen Grundlagen des Begriffs Critical Incidents ein. Anschließend verorten wir im dritten Abschnitt die herausfordernden Situationen in dem für LArS.nrw leitenden Konzept der professionellen Unterrichtswahrnehmung. Im vierten Abschnitt stellen wir zuletzt die beiden im LArS-Material abgebildeten Kategorien von Critical Incidents – den Umgang mit problematischen Präkonzepten und den Umgang mit Kontroversität – genauer vor und diskutieren deren Charakter als Kernpraktiken des Sozialwissenschaftsunterrichts. Im Rahmen dieser Darstellungen werden wir an mehreren Stellen auch auf den Auswahl- und Gestaltungsprozess der Animationsvignetten und des zugehörigen Materials im LArS.nrw-Modul C, in dem die Auseinandersetzung mit Critical Incidents leitend ist, eingehen.

2 Forschungsperspektiven auf Critical Incidents

Als qualitative Datenerhebungsmethode wurde die Critical Incident Technique in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts von der US-amerikanischen Luftwaffe entwickelt (Flanagan 1954). Durch Beobachtungen und gezielte Interviews sollten dabei besonders entscheidende Situationen für die Tätigkeit von Pilot*innen und anderen Mitarbeitenden identifiziert werden. Ziel war, die entstehenden Typologien kritischer Situationen für unterschiedlichste Zwecke wie die Messung von Kompetenzen und Leistungen, die Analyse und Verbesserung von Arbeitsabläufen, die Beratung von Personal und das Design von Arbeitsumgebungen nutzbar zu machen. Ein weiteres wesentliches Ziel der Sammlung und Vermittlung derartiger Situationen war die Verwendung in der Schulung und Ausbildung angehender Mitarbeitender.

Der Abstand zwischen „kritischen“ Situationen in der Ausbildung von Luftwaffenpilot*innen und Lehrkräften wirkt an dieser Stelle noch groß: Für Pilot*innen können kritische Situationen über Leben und Tod entscheiden – sowohl mit Blick auf die eigene Existenz als auch die anderer Menschen. Allerdings betont schon Flanagan, dass sich „kritisch“ nicht auf die absolute Tragweite möglicher Konsequenzen bezieht. Was als kritischer Vorfall zählt, ist stets relativ zu den Aufgaben, Strukturen und Zielen einer beruflichen Tätigkeit zu setzen. Criticial Incidents müssen daher auch nicht notwendigerweise auf einen einzigen, als besonders intensiv erlebten Zeitpunkt zugespitzt sein. So könnten Flanagan zufolge Critical Incidents beispielsweise in buchhalterischen Tätigkeiten auch darin bestehen, dass wiederholt kleinere Fehler aufträten, die bei einmaligem Auftreten noch unkritisch seien. Critical Incidents ergeben sich in derartigen Berufen also nicht durch einmalige und außergewöhnliche Ereignisse, sondern durch die gefährliche Kumulation von Konsequenzen einer unpräzisen Arbeitsweise.

Obwohl bereits Flanagan Beispiele nennt, wie die Critical Incident Technique auch in der Untersuchung von Lehrkräftehandeln Verwendung finden kann, beziehen sich bildungswissenschaftliche Arbeiten häufig auf die Konzeptualisierung von Critical Incidents durch Tripp (1993). Sein Ansatz stellt dabei die subjektiv-emotionale Wirkung von kritischen Situationen stärker in den Vordergrund: Erst diese können einen reflexiven Prozess auslösen. Die Identifikation von Critical Incidents ist nach Tripps Ansatz daher stärker als bei Flanagan auf das jeweilige erlebende Subjekt bezogen, welches eine kritische Situation zunächst durch eine hinterfragende Auseinandersetzung erzeugen muss. Die Relevanz dieser Situationen entsteht also nicht mehr objektiv durch die Anforderungen der zu erfüllenden Aufgaben, sondern durch die Auseinandersetzung selbst.: Prinzipiell kann dabei jede mögliche Situation zu einem Critical Incident gemacht werden („In principle, we can read any and everything that happens in a critical fashion“; Tripp 1993, S. 8). Der oben beschriebene Charakter von kritischen Situationen als Wendepunkte im Unterrichtsgeschehen ist demnach also keine inhärente Qualität einzelner Geschehnisse; stattdessen wird der „kritische“ Aspekt einer Unterrichtssituation erst durch eine reflexive Auseinandersetzung konstruiert. Vorfälle werden kritisch, wenn die betroffene Person sie als kritisch wahrnimmt (Bruster und Peterson 2013, S. 172). Durch die Betonung von situationsbezogener Reflexion knüpft dieser Ansatz an das insbesondere seit Schön (1987) in der Lehrkräftebildung leitende Bild der Lehrkraft als „reflective practitioner“ an; wobei hier nicht die situationsimmanente „reflection-in-action“, sondern die rückblickende „reflection-on-action“ adressiert wird. Die Reflexion solcher Situationen ist dabei eher mittelbar an die konkreten Berufsanforderungen gebunden. Der mögliche Reflexionsbereich ist weitläufig, tendenziell offenen und kann mit einer Auseinandersetzung mit der eigenen – professionellen und privaten – Biografie verbunden werden (Tripp 1994). Empirische Studien, die sich auf Tripps Konzeption von Critical Incidents beziehen, arbeiten dementsprechend mit einem subjektorientierten Verständnis des Begriffs. Kritische Situationen werden auf konkrete, von den untersuchten Personen selbst erlebte Fälle in der Lehrpraxis eingegrenzt (Bruster und Peterson 2013; Shapira-Lishchinsky 2011), wo sie den Anwendenden zu einer berufspraktischen Reflexion dienen sollen. Shapira-Lishchinsky bezieht sich dabei explizit auf ethische Dilemmasituationen des Lehrkräftehandelns, die sowohl persönliche als auch intersubjektive Relevanz besitzen. Mehrere explorative Fallstudien haben zudem auf Grundlage von Tripps Konzeption den Einsatz von Critical Incidents in Settings untersucht, in denen (angehende) Lehrkräfte ihr eigenes Unterrichtshandeln auf Video aufnahmen und später reflektierten. Dabei zeigten sich positive Effekte auf Mentoring-Prozesse (Lokey-Vega und Brantley-Dias 2006) und gemischte Effekte auf die Tiefe und Qualität von Reflexionsessays (Brantley-Dias et al. 2008; Calandra et al. 2009). Hinsichtlich der fachspezifischen Herausforderungen des sozialwissenschaftlichen Unterrichts wurden Critical Incidents jedoch bislang nicht als Lehr-/Lerngelegenheit, sondern vor allem als diagnostisches Werkzeug diskutiert (Abs und Pyka 2013).

Auch jenseits von Flanagan und Tripp hat der Begriff der „Critical Incidents“ und die damit verbundene Critical Incident Technique eine längere Evolution der Methodik, ihrer Terminologien und Anwendungsmöglichkeiten durchlaufen. Seit Flanagan wurde die Herstellung von intersubjektiver Nachvollziehbarkeit bei der Auswahl von Critical Incidents stärker betont und problematisiert. Die Feststellung von Critical Incidents durch Feldbeobachtungen von Außenstehenden wich zunehmend rückblickenden Berichten Betroffener (Butterfield et al. 2005). Um in diesem Beitrag zu erläutern, wie wir den Begriff verwenden und inwiefern wir Critical Incidents als Kernpraktiken des sozialwissenschaftlichen Unterrichtens verstehen, beschränken wir uns hier jedoch auf die folgende Gegenüberstellung: Auf der einen Seite erkennen wir bei Flanagan ein objektivierendes Verständnis. Kritische Situationen werden diesem Verständnis nach vor allem durch unbeteiligte Expert*innen festgestellt und gesammelt (Butterfield et al. 2005, S. 478). Dem steht bei Tripp eine Konzeptualisierung gegenüber, die die Rolle des erlebenden Subjekts betont. Kritische Vorfälle werden demnach aktiv von Betroffenen konstruiert; ihr Status als „kritisch“ ist vom Erleben und Reflektieren der Beteiligten abhängig.

Für die Erstellung von möglichst breit einsetzbarem Lehr-/Lernmaterial, welches kritische Situationen zur gemeinsamen Auseinandersetzung bereitstellen soll, ist eine Orientierung an Flanagans Ansatz unvermeidbar: Critical Incidents sollten hier vor dem Hintergrund fachdidaktischer und bildungstheoretischer Expertise als solche identifiziert werden können. Zugleich ist es jedoch notwendig, einen persönlichen Bezug zu ermöglichen und anzuregen, sodass die auswählten Situationen auch im subjektbezogenen Sinn als kritisch verstanden werden können.

Für die Auswahl und didaktische Aufbereitung der Situationen, die für das LArS-Modul zu Critical Incidents (die konkrete Vorstellung des Moduls C erfolgt in Kap. 9) animiert wurden, verwendeten wir den in der Einleitung formulierten Arbeitsbegriff, da er Aspekte beider Konzeptualisierungen vereint. Zunächst mussten wir als Außenstehende entscheiden, welche Situationen in unserem Material wir als „kritisch“ verstehen wollen. Ein guter Indikator dafür waren Situationen, die in unserem Team zwar einhellig als entscheidend für den Erfolg des jener Situation zugrunde liegenden Lehr-/Lernprozesses betrachtet wurden, die aber gleichzeitig Diskussionen und teilweise Uneinigkeiten über fachdidaktische Deutungsmöglichkeiten hervorriefen. So gab es in unserer Gruppe bei einer ausgewählten Unterrichtsvignette zum Thema Umweltschutz (Vignette 22 aus LArS.nrw-Modulteil C4) beispielsweise abweichende Einschätzungen zur Frage, ob und inwiefern die darin gezeigte Unterrichtsgestaltung die Grenze zu (einer subtilen Form von) Indoktrination überschritten haben könnte. Die Situation wird kritisch, da der berechtigte Anspruch der Lehrkraft, Schüler*innen für Umweltverschmutzung zu sensibilisieren, der Gefahr einer Moralisierung und Vereinseitigung der Thematik gegenübersteht.

In den Vignetten von LArS.nrw nutzen wir Praxisbeispiele aus fremdem – und stark verfremdetem – Unterricht als Anlass für professionsbezogenen Kompetenzerwerb. Die Verwendung fremder Praxis hat den Vorteil, emotionale Distanznahme zu erleichtern und Selbstschutz-Effekten vorzubeugen; sie birgt aber auch die Gefahr, durch eine im Vergleich zur Betrachtung eigener Praxis geringere Immersion und Motivation die Reflexion zu erschweren (Seidel et al. 2011). Gerade bei weniger gelungenen Unterrichtsumsetzungen besteht zudem die Gefahr, die gezeigten Lehrkräftehandlungen in diesen Situationen als Verfehlungen der jeweiligen Lehrkraft erscheinen zu lassen. Unser Anspruch war jedoch, dies zu vermeiden und weniger geeignetes Handeln nicht als individuelles Scheitern, sondern als Konsequenz von potenziell typischen – und dennoch zu problematisierenden – Vorgehensweisen im Repertoire einer professionellen Lehrkraft darzustellen. Aus diesem Grund versuchten wir Situationen so auszuwählen und in enger Zusammenarbeit mit dem Animationsteam entsprechend umsetzen zu lassen, dass eine Identifikation mit der Lehrkraft zugelassen wird. Eine solche Identifikation könnte gerade bei Dilemmata um Kontroversität im Unterricht tiefergehende Lernerfahrungen anregen (Shuttleworth et al. 2018). Damit verbunden wollten wir die mit den Situationen verbundene subjektiv-emotionale Spannung im Sinne Tripps (1993) auch in den Videos spürbar machen: Auch diesem Anspruch nach sollte nicht bloß eine rein kognitive Auseinandersetzung mit den dargestellten Akteur*innen, sondern auch eine emotionale, subjektgebundene Bezugnahme auf gezeigte Lehrkräfte sowie auf Schüler*innen ermöglicht werden.

Die dadurch zustande gekommene Auswahl umfasst zum einen herausfordernde Situationen, die durch einen überraschenden und nicht antizipierbaren Unterrichtsverlauf selbst ein herausforderndes Potenzial bergen. Darüber hinaus wählten wir Situationen aus, die aufgrund einer weniger gelungenen Unterrichtsgestaltung zu einem kritischen Lehr-/Lernmoment (critical practice) werden können (vgl. Abschn. 1.3).

3 Critical Incidents und professionelle Unterrichtswahrnehmung

In den Lehr-/Lernaufgaben orientieren sich die LArS-Aufgaben mit dem Schema Beobachtung, Analyse, Reflexion an Konzepten zur Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Lehrkräften (siehe dazu auch den Beitrag von Manzel, Gronostay und Hahn-Laudenberg in Kap. 1). Diese wird als Fähigkeit von Lehrkräften verstanden, relevante Aspekte von Unterrichtssituationen zu bemerken und zu interpretieren (van Es und Sherin 2002). Wenn in derartigen Ansätzen von noticing die Rede ist, wird davon ausgegangen, dass solche Situationen und Ereignisse identifiziert werden können, bei denen vor dem Hintergrund empirischer Evidenz ein besonderer Einfluss auf die Lernprozesse der Schüler*innen vermutet werden kann (Seidel et al. 2010). Noticing kann in diesem Kontext auch als Fähigkeit zu einer professionalisierten selektiven Wahrnehmung von Unterrichtselementen verstanden werden (Seidel et al. 2011). Dem schließt eine wissensbasierte Verarbeitung an, die auf eine Analyse und Reflexion im Sinne einer Folgenprognose dieser Situationen hinausläuft.

Die Orientierung des Konzepts an besonders hervorzuhebenden Situationen, in denen sich ein Einfluss auf Lernprozesse von Schüler*innen zuspitzt, lässt hier eine Nähe zu Critical Incidents, insbesondere nach Flanagans Verständnis, erkennen. Zugleich wird durch den Verweis auf empirische Evidenz, die diese Situationen oder Ereignisse als besonders bedeutend für Lernprozesse und somit als „erfolgreiche“ Unterrichtskomponenten markieren (Seidel et al. 2010, S. 297), eine Voraussetzung geschaffen, die verschiedene Herausforderungen für eine Förderung von professioneller Lehrkräftewahrnehmung bereithält.

Zunächst ist bei der Auswahl und didaktischen Einbettung solcher Situationen fachunabhängig zu beachten, dass im Unterricht keine unmittelbare Kopplung eines bestimmten wiederhol- und erlernbaren Lehrkräftehandelns an individuelle Lernaktivitäten und insbesondere -erträge von Schüler*innen herstellbar ist (Seidel 2014) und dementsprechend bei angehenden Lehrkräften auch keine vereinfachende Vorstellung eines direkten Wirkmechanismus erzeugt werden sollte. Das Herstellen von Beziehungen zwischen Lehrkräftehandlungen und Lernprozessen wird gerade in der Sozialwissenschaftsdidaktik auch durch einen Mangel an empirischer Forschung zu möglichen Lehrkräftehandlungen und deren Konsequenzen im Bereich des politischen Lernens erschwert. Mit Blick auf die Besonderheiten der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik ist zudem ein erweitertes Verständnis von Lernprozessen, -aktivitäten und -erträgen notwendig: Als Unterrichtsfach, das in Deutschland den Hauptbezugspunkt für politische Bildung im Schulcurriculum darstellt, rekurrieren die Ziele des sozialwissenschaftlichen Unterrichts stark auf komplexe und fachübergreifende Ansprüche wie die Förderung verschiedener Facetten von Mündigkeit (z. B. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW 2014). Die Ziele des Fachs gehen damit über den reinen Erwerb konzeptuellen Wissens und die Aneignung von Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Inhaltsfeldern hinaus. Dieses erweiterte Verständnis findet sich auch in Outcome-orientierten fachdidaktischen Ansätzen, die Mündigkeit in kognitionspsychologischen Kompetenzen beschreib- und letztlich operationalisierbar zu machen versuchen. Es betrifft dort insbesondere Aspekte der Kompetenzdimension politischer Einstellungen und Motivationen sowie der Kompetenzdimension politischer Handlungsfähigkeit (Detjen et al. 2012).

Ausgehend von diesen Herausforderungen, mitsamt der Vielfalt und Uneinheitlichkeit fachdidaktischer Möglichkeiten zum Umgang damit, sehen wir kritische Situationen nicht nur als auf besondere Weise erfolgsentscheidende Abschnitte des Unterrichtsgeschehens. Kritische Situationen ergeben sich nach unserem Verständnis auch dort, wo sich etwa ein Widerspruch von möglichen fachdidaktisch und/oder evidenzbasiert legitimierbaren Perspektiven nur reflexiv bearbeiten lässt. Dies eröffnet einen Blick auf die von Helsper konzeptualisierten Antinomien des Lehrkräftehandelns (Helsper 2004) und, in Fragen der politischen Bildung, auf pädagogische Spannungsfelder (Behrens 2014), in denen sich Lehrkräfte in ihrem professionellen Handeln bewegen. So besteht beispielsweise beim Umgang mit Schüler*innen, die mit extremistischen Äußerungen im Unterricht auffallen, ein Spannungsverhältnis zwischen einerseits dem berechtigten Anspruch, Vertrauen aufzubauen, und eine pädagogische Beziehung aufrechtzuerhalten und andererseits der Gefahr, die Inhalte solcher Äußerungen im schulischen Raum zu verharmlosen und extremistische Jugendkulturen entpolitisiert darzustellen (Behrens 2014). In Anlehnung an Tripp sehen wir Critical Incidents daher nicht als Anlässe für die Übernahme „passender“ oder gar „korrekter“ Handlungsweisen in herausfordernden Situationen, sondern als Möglichkeiten zur Förderung einer reflexiven Professionalität, die auf eine multiperspektivische Abwägung der Chancen und Grenzen verschiedener Handlungsmöglichkeiten in komplexen Situationen zielt. Für das multidisziplinär ausgelegte Unterrichtsfach Sozialwissenschaften, das durch seinen Anspruch an Kontroversität inhärent spannungsgeladen zu verstehen ist, stellt die Fähigkeit zu einer solchen mehrperspektivischen Abwägung eine wesentliche Anforderung an angehende Lehrkräfte dar. Dabei sollte die Ablehnung von pauschal „korrekten“ Handlungsweisen keinesfalls als Einladung zur Beliebigkeit verstanden werden. Stattdessen sollten sie zu Lösungen anregen, die theoretisch fundierte mehrperspektivische Abwägungen auf konkrete Situationen beziehen und die (fach-)didaktische Begründbarkeit unterschiedlicher Handlungsalternativen an den jeweils gegebenen situativen Voraussetzungen prüfen (Kindlinger 2021). Daher ist für uns die Annahme zentral, dass ein professioneller Umgang mit Critical Incidents im sozialwissenschaftlichen Unterricht gerade nicht durch schematische Handlungsempfehlungen eingeübt werden kann, sondern einer situationsspezifischen reflexiven Handlungsentscheidung bedarf.

Vor diesem Hintergrund fassen wir Critical Incidents als eine mögliche Grundlage von Kernpraktiken des sozialwissenschaftlichen Unterrichts auf (Kap. 1). Wie Fraefel und Scheidig (2018) betonen, sollen Core Practices nicht schlicht übernommen werden, sondern „von den angehenden Lehrpersonen auf der Grundlage von Praxiserfahrungen und verfügbarem wissenschaftlichem Wissen elaboriert und weiterentwickelt“ werden (S. 349). Es geht nicht darum, die eine korrekte Handlungsmöglichkeit in herausfordernden Situationen zu finden, sondern um das Entwickeln von Mustern, die im realen Handeln auf die jeweilige Situation angepasst, gegebenenfalls aber auch ergänzt oder ersetzt werden müssen. Praktische Herausforderungen, wie wir sie in den Animationen zum Critical-Incidents-Modul präsentieren, können eine diskursiv-reflexive Herstellung von „Orientierungspunkte[n] auf dem Weg zur professionellen Lehrperson“ (S. 356) ermöglichen.

4 Kategorien von Critical Incidents im sozialwissenschaftlichen Unterrichten

Da das Critical-Incident-Konzept bislang nicht in der Sozialwissenschaftsdidaktik angewandt wurde, sind noch keine fachbezogenen Kategorien von Critical Incidents definiert. Im Auswahlprozess von Vignetten folgten wir einem induktiv-deduktiven Vorgehen: Wir sichteten das vorliegende transkribierte Videomaterial aus nordrhein-westfälischen Fachunterrichtsstunden und entschieden vor dem Hintergrund fachdidaktischer Theorie, welche Situationen besonderes Potenzial für eine gemeinsame Reflexion im Seminarkontext aufweisen würden. Die letztlich entstandenen Vignetten repräsentieren dabei zwei im Auswahlprozess gesetzte Schwerpunkte: Sie beziehen sich auf Herausforderungen zum einen der Kontroversität und zum anderen der Diskursivität. Letzteres zielt dabei insbesondere auf die Einbindung von fachlich problematischen Präkonzepten von Schüler*innen in den Unterrichtsprozess. Dabei werden auch Aspekte von Anerkennung von Schüler*innen auf Ebene der schulischen Interaktion sowie des fachlichen Lernens relevant (May und Heinrich 2020). Zur Vertiefung dieser Diskussion verweisen wir auf Kap. 10.

Die Originalsituationen sind zumeist vielschichtig und repräsentieren unterschiedliche Herausforderungen für die Wahrnehmung und das Handeln von Lehrkräften, die sich sowohl auf fach- als auch auf allgemeindidaktischer Ebene verorten lassen. So fanden wir zahlreiche Situationen, die sich vor allem für eine Analyse und Reflexion vor dem Hintergrund von praktischen und theoretischen Ansätzen zur Unterrichtsführung angeboten hätten. Diese waren jedoch nur teilweise auch in fachdidaktischer Hinsicht relevant; nur dort, wo allgemeindidaktische Probleme (zum Beispiel im Umgang mit störenden oder unmotivierten Schüler*innen) auch auf – vor dem Hintergrund explizit fachdidaktischer Prinzipien und Ansprüche – möglicherweise anzupassende Planungsentscheidungen der Lehrkräfte verwiesen. Allgemeindidaktische und fachdidaktische Ansprüche an Unterrichtsgestaltung sind nicht notwendigerweise voneinander abhängig: Ein in fachdidaktischer Hinsicht problematischer Unterricht kann strukturiert, motivierend und lernwirksam aufgebaut sein; umgekehrt kann ein schwach strukturierter und mit Blick auf Klassenführungsaspekte fragwürdiger Unterricht fachdidaktisch anspruchsvoll und teilweise durchdacht sein. In unserem Material fanden wir häufig ein Zusammenspiel beider Aspekte. Bei der Umwandlung der Situationen in Animationsfilme wurde daher stets so vorgegangen, dass fachdidaktisch relevante Aspekte einer solchen Situation im Vordergrund stehen sollten.

In ihrer eingangs erwähnten Untersuchung nutzt Shapira-Lishchinsky (2011) von Lehrkräften berichtete und diskutierte Critical Incidents, um dadurch häufige ethische Dilemmata aufzudecken, denen Lehrkräfte im Berufsalltag gegenüberstehen. Diese können Unsicherheiten und somit auch einen Verlust an Professionalität bewirken. Sowohl bei der Einordnung und Reaktion auf Präkonzepte als auch bei der Diskussion kontroverser Themen, die unterschiedliche Schüler*innengruppen auf verschiedene Weisen betreffen können, sind Entscheidungen über die Auswahl und die didaktisch-methodische Umsetzung von Themen sowie über den Umgang mit Herausforderungen für Lehrkräfte nicht ausschließlich mit Blick auf die Erreichung von Lernzielen, sondern oft auch ethisch bedeutsam (Hess und McAvoy 2015; Levinson und Fey 2019). Dieser Aspekt des praktischen Lehrkräftehandelns erweitert ein lerntheoretisch gedachtes Konzept professioneller Unterrichtswahrnehmung. Unterrichtsentscheidungen haben Konsequenzen, die sich nicht notwendigerweise in leistungsbezogenen Beiträgen der Schüler*innen ausdrücken lassen: Dies betrifft den Umgang mit Kontroversität, mit Ausgrenzungshandlungen und -erfahrungen unter Schüler*innen, mit problematischen politischen (Wert-)Vorstellungen, sowie weitere potenzielle Arten von Critical Incidents, die über die im Material von LArS.nrw bearbeiteten Fälle hinausgehen. Selbstverständlich ist, dass auch in den ausgewählten Critical Incidents Querschnittsaufgaben der schulischen Bildung berührt werden, die sich nicht auf das fachliche Lernen im sozialwissenschaftlichen Unterricht beziehen (Kap. 10).

Die nachfolgende Skizzierung der beiden im Projekt ausgewählten inhaltlichen Schwerpunkte fokussiert auf die fachdidaktische Perspektive der ausgewählten Critical Incidents.

Herausforderungen der Diskursivität: Umgang mit Präkonzepten

Obgleich wie beschrieben weder das Konzept der Kernpraktiken noch der Critical Incidents bisher in der Sozialwissenschaftsdidaktik verbreitet ist, verweisen erste Erfahrungen auf das mögliche Potenzial für den fachdidaktische Diskurs: In der Entwicklungsphase von LArS.nrw fand an der Universität Wuppertal ein Expert*innenworkshop zu Kernpraktiken im sozialwissenschaftlichen Unterricht statt. Sowohl von Lehrkräften als auch von Fachleiter*innen wurden dabei das Erkennen und die Diagnose von Präkonzepten als wesentliche Kernpraktiken des Unterrichtsfachs betrachtet. In LArS-Modul C greifen wir diese Herausforderung auf. „Präkonzepte“ verstehen wir in dabei als „vorunterrichtliche Vorstellungen“ (Weißeno et al. 2010, S. 50), die unterschiedliche Grade von fachlicher Korrektheit und Elaboration aufweisen können. Im Gegensatz zu anderen Begriffen fokussieren „Präkonzepte“ dabei auf (potenzielle) Lernprozesse (Hahn-Laudenberg 2017).

Während das Erkennen von Schüler*innenkonzepten auch jenseits der Sozialwissenschaftsdidaktik zu den zentralen und wiederkehrenden Praktiken des Unterrichtens zählt, gehen wir davon aus, dass diese Anforderung in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern durch die fachliche Verankerung dieser Konzepte auch eine eigenständige, fachspezifische Kernpraxis darstellt. Eine analoge Einschätzung findet sich etwa in Versuchen, in der Geschichtsdidaktik Kernpraktiken zu differenzieren. So gelangt Fogo (2014) durch eine Delphi-Expert*innenbefragung unter anderem zu der eigenständigen geschichtsdidaktischen Kernpraxis „Assess Student Thinking About History“ (S. 176). Diese kann, jenseits von summativen Leistungserhebungen, auch als Erfassen von Vorstellungen und Konzepten über Geschichte verstanden werden. Für die Sozialwissenschaftsdidaktik ergibt sich der fachspezifische Gehalt der Diagnose von Präkonzepten unter anderem mit Blick auf die Bedeutung diskursiv gestalteter Lehr-/Lernprozesse, in denen etwa die Entwicklung von Perspektivübernahme eng mit (politischer) Urteils- und Handlungsfähigkeit verknüpft ist.

Mit Blick auf das für uns leitende Konzept der professionellen Unterrichtswahrnehmung werden im Umgang mit Präkonzepten allerdings auch potenzielle Nachteile eines Verständnisses von noticing als selektive Wahrnehmung (Seidel et al. 2011) deutlich: Unter der Annahme, dass problematische Präkonzepte von Schüler*innen Lernprozesse erschweren oder blockieren – indem sie beispielsweise zum Aufbau nicht verknüpfter Wissenstrukturen beitragen –, ist es wichtig, dass diese Präkonzepte erkannt, fachwissenschaftlich reflektiert und zum Teil des Unterrichts gemacht werden. Dadurch können sie konstruktiv, etwa durch die Erzeugung kognitiver Konflikte, in unterrichtliche Lehr-/Lernprozesse einbezogen werden (Hahn-Laudenberg 2017, S. 259–266; Vosniadou et al. 2008). Dies setzt jedoch eine prinzipiell offene und für die individuellen Voraussetzungen einzelner Schüler*innen empfängliche diagnostische Aufmerksamkeit der jeweiligen Lehrkraft voraus. Wird noticing als Fähigkeit zu einer professionalisierten selektiven Wahrnehmung von Unterrichtselementen verstanden, ist entscheidend, dass die dabei entstehende Aufmerksamkeit auch nicht antizipierbare, eventuell sogar überraschende und unbekannte Aspekte einschließen kann. Bezugnehmend auf das pädagogische Rahmenmodell von Fraivillig et al. (1999) sprechen Sherin und van Es in ihrer Konzeptualisierung von selektiver Wahrnehmung von einem „careful listening to the range of ideas students offer“ (Sherin und van Es 2009, S. 22), die erst daraufhin, nachdem sie als solche gehört und wahrgenommen wurden, mit Blick auf die Unterrichtsziele selektiert werden.

Bei der Erfassung von Präkonzepten, und insbesondere bei der Anbahnung und Förderung der dazu nötigen Lehrkräftekompetenz, kann eine bewusste Analyse der verschiedenen Äußerungen von Schüler*innen essentiell sein, sodass bereits im Rahmen dieser Selektion ein Übergang von noticing in eine wissensbasierte analytische Auseinandersetzung (knowledge-based reasoning, Kap. 1) stattfindet. In der Sozialwissenschaftsdidaktik ist bei der analytischen Auseinandersetzung mit Präkonzepten die fachdidaktische Debatte zu Basis- und Fachkonzepten des politischen Unterrichts zu beachten (Autorengruppe Fachdidaktik 2011; Weißeno et al. 2010), auf die auch im LArS-Material zu Modul C hingewiesen wird. In den verschiedenen Perspektiven dieser Debatte sehen wir eine für die Studierenden gewinnbringende Differenzierung: Wir unterteilen Präkonzepte in einerseits fachwissenschaftlicher Hinsicht problematische Konzepte, die politische Lernprozesse beispielsweise im Sinne der Fehlvorstellungen nach Reinhardt (2018) zu hemmen oder gar verhindern drohen, und andererseits lediglich unterkomplexe Vorstellungen, die als Zustandsbeschreibungen oder Momentaufnahmen von nicht abgeschlossenen Lernprozessen zu verstehen sind (Vosniadou et al. 2008). Ziel der Auseinandersetzung mit realen Schüler*innenäußerungen ist dabei, mögliche Präkonzepte zu erkennen, zu bewerten und Handlungsstrategien zu entwickeln. Dabei ist auch die Phasierung des Unterrichts relevant: Während die Diagnose von Präkonzepten im Reiheneinstieg grundlegend für die weitere Planung des Unterrichts ist, dient sie zum Ende einer Unterrichtsreihe eher der Feststellung des Lernfortschritts. Im Zentrum steht jedoch in beiden Fällen die Frage, welche unmittelbaren Reaktionsmöglichkeiten sich vor welchen Hintergründen anbieten, um auf problematische Präkonzepte einzugehen. So stellt sich für Lehrkräfte nach der Feststellung von problematischen Präkonzepten die Frage, ob und in welcher Weise geäußerte Vorstellungen von Schüler*innen hinterfragt, irritiert und/oder als fehlerhaft markiert werden sollten: Je nach Situation und nach Ausprägung des Präkonzepts kann es sinnvoll sein, unmittelbar zu reagieren, damit sich problematische Vorstellungen nicht in der Lerngruppe verbreiten. In anderen Fällen kann es angemessener sein, erst im späteren Verlauf des Unterrichts oder sogar erst in späteren Unterrichtseinheiten auf Äußerungen einzugehen.

Bei kritischen Situationen, in denen Schüler*innenvorstellungen verbalisiert werden, muss es sich nicht um außerordentliche oder dramatische Unterrichtsentwicklungen handeln. „Kritisch“, im Sinne von „entscheidend“ oder „bedeutend“, sind hier vielmehr typische Situationen, in denen Lehrkräfte wiederholt Schüler*innenvorstellungen angemessen erfassen und deuten müssen, um den Verlauf von Unterricht gewinnbringend zu gestalten.

Umgang mit Kontroversität

Vier der sieben Vignetten des C-Moduls zeigen in unterschiedlichen Konstellationen Schwierigkeiten im Umgang mit Kontroversität im sozialwissenschaftlichen Unterricht. Dies betrifft insbesondere die Frage, wie Lehrkräfte relevante Themen in angemessener Form kontrovers aufbereiten können. In der von Fogo (2014) für das Fach Geschichte erarbeiteten Konzeptualisierung von Kernpraktiken wird die Darstellung verschiedener Perspektiven („Present multiple perspectives“, S. 177) auf geschichtliche Fragen nicht als Kernpraxis, sondern als Element mehrerer Praktiken betrachtet. Demgegenüber verstehen wir den Umgang mit Kontroversität im sozialwissenschaftlichen Unterrichten als eigenständige sozialwissenschaftsdidaktische Kernpraxis. Dies ist gerade im deutschsprachigen Kontext durch den Beutelsbacher Konsens begründet, der als „Professionsstandard“ für Lehrkräfte in sozialwissenschaftlichen Fächern betrachtet werden kann (Grammes 2016). Die ersten beiden Prinzipien des Konsenses, das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot, machen die Frage, welche Inhalte auf welche Weise kontrovers dargestellt werden sollten, zu einer zentralen Herausforderung der Professionalisierung.

Seit Anfang des Jahrtausends wird international vor allem auf bildungstheoretischer Ebene problematisiert, welche Kriterien Lehrkräfte an Themen anlegen sollten, die „nicht direktiv“ – ohne Lenkung der Lehrkraft zu einer bestimmten Zielposition – im Unterricht diskutiert werden sollen (Drerup 2021; Hand 2008; Yacek 2018). Mit Blick auf den Beutelsbacher Konsens wird dabei zum einen das im Kontroversitätsgebot formulierte Kriterium, (nur) das als kontrovers dazustellen, „was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist“ (Wehling 1977, S. 179) durch die Unterscheidung in ein politisches und ein epistemisches Kriterium begrifflich neu spezifiziert. Zum anderen wird mit der Unterscheidung nach der „Direktivität“ des Lehrkräftehandelns auch die Frage neu aufgeworfen, wann und in welchen Formen Lehrkräfte Kontroversität im Unterricht einschränken oder Position ergreifen sollten – und wann dieses Handeln in eine Form von Überwältigung umschlagen kann.

Die Herausforderungen im Umgang mit Kontroversität spitzen sich in der Frage zu, wie im Unterricht mit demokratiefeindlichen oder extremistischen Positionen umgegangen werden sollte. Unter Lehrkräften scheinen dabei starke Unsicherheiten und auch problematische Verständnisse der eigenen Rolle vorzuliegen: So stimmte in einer Untersuchung von Oberle et al. (2018) ein Viertel der befragten angehenden und praktizierenden Lehrkräfte der Aussage zu, dass auch extremistische Positionen im Unterricht gleichberechtigt mit anderen Positionen behandelt werden sollten. Auch darüber hinaus lassen sich Zeichen für verbreitete Missverständnisse im Umgang mit Kontroversität im Unterricht erkennen: beispielsweise im Zuge der Reaktion auf die AfD-Meldeplattformen veröffentlichen Stellungnahmen von Fachgesellschaften (GPJE et al. 2018), die klarstellen, dass mit dem Kontroversitätsgebot keine Neutralität gegenüber antidemokratischen oder menschenfeindlichen Positionen gemeint ist; sowie auch in der expliziten Erläuterung der normativen Verortung des Beutelsbacher Konsenses in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Rahmen der KMK-Empfehlung von 2018.

Hinter Annahmen einer vermeintlichen Neutralitätspflicht von Lehrkräften muss sich nicht notwendigerweise eine übersteigerte Vorstellung von Meinungsfreiheit verbergen. Im Rahmen der Erstellung des LArS-Materials führten wir zum Zweck der Material- und Aufgabenentwicklung Interviews mit einigen Wuppertaler Studierenden (Kindlinger und Hahn-Laudenberg 2023). Dabei waren die Studierenden gefordert, sich mit einer den LArS-Vignetten entnommenen Schüler*innendiskussion über die NPD-Verbotsverfahren auseinanderzusetzen. In dieser Diskussion machen sich zwei Schüler die inhaltlichen Positionen der NPD zu eigen. Sie vertreten unter anderem die Position, Grundrechte bezögen sich nur auf deutsche Staatsbürger, und äußern Vorstellungen einer vermeintlichen Überfremdung und eines Identitätsverlusts Deutschlands. Die interviewten Studierenden kamen in der Reflexion dieser Situation von sich aus schnell auf Unsicherheiten zu sprechen, die gerade durch die Repräsentation der AfD in deutschen Parlamenten bedingt waren. So erklärte ein interviewter Student:

Ich muss jetzt daran denken, an eine kurze Sequenz, wo ich das Praktikum hatte, wo ich auch mit einer Politiklehrerin gesprochen hab, die mir so ein bisschen erzählt hatte, dass das eine sehr kritische Sache ist, gerade wenn das um solche Themen [Anm.: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Unterricht] geht. Da ging’s aber mehr um die AfD, weil sie sagte, boah, das sind echt Schüler*innen dabei, die hauen manchmal Dinge raus, da muss man immer sehr vorsichtig sein, weil du darfst natürlich auch nicht … bei der NPD mag’s vielleicht nochmal ein bisschen was anderes sein, aber jetzt bei der AfD muss man schon sehr vorsichtig sein, weil es immerhin, ne, eine Partei ist, die im Bundestag sitzt und so weiter, da kann man nicht einfach seine eigene Meinung mit dazu raushauen.

Die als institutionell legitimiert wahrgenommene Repräsentation rechtspopulistischer Positionen durch die AfD wird hier als Grund gesehen, eine Reaktion zurückzuhalten und die von den Schülern in der Vignette geäußerten Meinungen als Teil eines berechtigten kontroversen Diskurses zu sehen. Im weiteren Kontext der Aussage wird auch deutlich, dass der angehende Lehrer hier nicht nur strikt fachdidaktische Bedenken anmeldet, sondern auch Unsicherheiten mit Blick auf zum einen den Umgang mit Ansprüchen von Eltern und zum anderen vermuteten, ihm aber unbekannten Vorschriften zeigt.

Im LArS-Material zu Critical Incidents vertiefen wir diese Auseinandersetzung im Modulteil „Problematische Schüler*innenäußerungen“. Hier zeigt sich in besonderem Maße unser Verständnis von Critical Incidents als spannungsgeladene Situationen, die einer reflexiven Bearbeitung bedürfen. Gerade für angehende Lehrkräfte in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern ist der Umgang mit Rechtspopulismus und -extremismus im Unterricht eine dauerhaft relevante Anforderung (Behrens 2014; May und Heinrich 2020), die in einem engen Zusammenhang zu den Grenzen von Kontroversität im Unterricht steht. Eine Problematisierung dieser Grenzziehungen ergibt sich in der Frage, wie mit Positionen umgegangen werden sollte, die von der Lehrkraft selbst nicht in den Unterricht eingebracht worden wären, aber von Schüler*innen angesprochen und eventuell auch vertreten werden (May 2016). Die Bearbeitung solcher Äußerungen ist eine pädagogische Herausforderung, die für angehende Lehrkräfte auch ein ethisches Dilemma darstellen kann. Das betrifft insbesondere die Aufrechterhaltung des Unterrichts als demokratischen Raum sowie den Schutz von anderen Schüler*innengruppen, die vom Inhalt diskriminierender und/oder menschenfeindlicher Aussagen möglicherweise indirekt oder direkt getroffen werden.

Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, wie mit solchen Positionen im Unterricht umgegangen werden sollte, ist es notwendig, zwischen rechtsextremen, rechtspopulistischen oder legitimierbaren, im Unterricht offen und kontrovers zu diskutierenden konservativen Positionen zu unterscheiden. Klar erkennbare rechtsextreme Positionen lassen sich recht eindeutig als pädagogische Probleme identifizieren, denen durch ein – situationsbezogen angemessenes – Lehrkräftehandeln begegnet werden muss. Wie sich an der Aussage des interviewten Studenten zeigt, ergibt sich eine komplexere, aber möglicherweise häufiger auftretende Herausforderung gerade bei Aussagen, die sich in den Grenzgebieten freiheitlich-demokratischer Diskurse verorten lassen. Die Schwierigkeit, hier zu identifizieren, ob überhaupt ein zu bearbeitendes Problem in Aussagen von Schüler*innen vorliegt, löst sich nicht allein durch den Verweis darauf, was in institutionalisierten politischen Diskursen sagbar ist. Zugleich ist diese Schwierigkeit nicht auf die Differenzierung zwischen rechten und rechtsextremen Positionen begrenzt: Sie zeigt sich in allen Abgrenzungsfragen mit Blick auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, auf politischen und religiösen Extremismus sowie in der Unterscheidung (berechtigter oder auch überzogener) Institutionenkritik und Verschwörungsgläubigkeit.

5 Critical Incidents als Reflexionsanlässe für professionelles Entscheiden und Handeln

In diesem Beitrag wurde versucht, das Konzept der Critical Incidents für die Sozialwissenschaftsdidaktik nutzbar zu machen und zu zeigen, dass kritische Ereignisse Kernpraktiken des Fachs darstellen. Dabei wurde auf Critical Incidents im Umgang mit Präkonzepten und im Umgang mit Kontroversität fokussiert. Eine besondere Herausforderung des Einsatzes von Critical Incidents in der Sozialwissenschaftsdidaktik liegt für uns im multiperspektivischen Anspruch des Fachs, der gegen eine eingeschränkte Orientierung an „vorbildlichem“ Lehrkräftehandeln im Sinne von Best-Practice-Beispielen spricht. Die diskutierten Critical Incidents verweisen auf die Notwendigkeit einer reflexiven Auseinandersetzung mit Spannungsfeldern, in denen sich professionelle Lehrkräfte im Umgang mit herausfordernden Situationen bewegen und kontext- und situationsbasiert entscheiden. Wir haben beschrieben, wie wir diese Form der Auseinandersetzung in der Vignettenauswahl und Materialgestaltung zum LArS.nrw-Modul C („Herausfordernde Situationen“) anzuregen und zu fördern versucht haben.

An verschiedenen Stellen verweisen wir auf die über die Sozialwissenschaftsdidaktik hinausgehende Relevanz der ausgewählten Critical Incidents. Zugleich haben wir erläutert, dass diese Herausforderungen im sozialwissenschaftlichen Unterricht als Ankerfach der politischen Bildung durch die Notwendigkeit ihrer reflexiven Bearbeitung in einer besonderen fachspezifischen Weise bedeutend sind. Gerade hier stellen sie Lehrkräfte vor tiefgreifende Anforderungen der Verknüpfung ihrer pädagogischen Rolle mit den Inhalten ihres Unterrichtsfachs. Wichtig ist dabei zunächst, dass angehende Lehrkräfte sowohl die Vielschichtigkeiten von Unterrichtssituationen als auch die diversen und teils gegensätzlichen an Unterricht gestellten (fach-)didaktischen Ansprüche überhaupt als solche erkennen können. Welches Handeln dabei in einer gegebenen Situation angebracht ist, lässt sich nicht im Vorhinein bestimmen – dies schließt jedoch nicht aus, im Studium typisierte Muster für solche Situationen zu erwerben, die eine Reflexionsvorlage für die spätere Praxis liefern können (Cramer et al. 2019). In der Auseinandersetzung mit den von uns ausgewählten und aufbereiteten herausfordernden Fällen möchten wir Lehrkräften dazu verhelfen, ein Repertoire an Strategien anzulegen, die es ihnen ermöglichen, professionell und persönlich relevante Entscheidungen in der sozialwissenschaftlichen Unterrichtsplanung und Unterrichtsinteraktion als solche zu erkennen und entsprechend auf sie zu reagieren.