Schlüsselwort

1 Einleitung

Die Kerntätigkeiten von Lehrkräften liegen im Planen, Durchführen und Reflektieren von Lehr-/Lernprozessen im Fachunterricht. Gemäß des Angebots-Nutzungs-Modells von Helmke (2009) bieten Lehrer*innen im Fachunterricht Politik Lerngelegenheiten für Schüler*innen, damit diese die erforderlichen Kompetenzen für ihr späteres Leben ausbilden. Politische Urteilskompetenz gilt als wichtiges Ziel der Politischen Bildung im Schulunterricht. Kinder und Jugendliche sollen als angehende Bürger*innen mit fachlichem Wissen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um mündig an der Gesellschaft teilzuhaben, über politische Streitfragen differenziert urteilen zu können und die Demokratie aktiv mitgestalten zu können. Im LArS-Projekt gehen wir davon aus, dass die professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften (Baumert und Kunter 2006), diese Lehr-/Lerngelegenheiten zur Ausbildung der politischen Urteilsfähigkeit für Schüler*innen anzubieten, durch die professionelle Wahrnehmung von eigenem oder fremdem Unterricht gefördert werden kann.

Politische Urteilsbildung ist ein komplexer Prozess, der neben Fachwissen, Argumentationsfähigkeit (kommunikative Handlungsfähigkeit nach Detjen et al. 2012) auch überfachliche Faktoren (z. B. Sprachlogik) und Lernbedingungen (z. B. Fachinteresse) umfasst. Die professionelle Unterrichtswahrnehmung mit dem wissensbasierten noticing setzt an den Sichtlogiken von Lehr/-Lerngelegenheiten an. Wie in Kap. 1 dargelegt, kann nach dem wissensbasierten Prozess des noticing darauf aufbauend der Prozess des knowledge-based reasoning erfolgen, bei dem durch die vertiefte Analyse des Gesehenen und in einer gemeinsamen Auseinandersetzung bezüglich Handlungsalternativen die professionelle Performanz geschult wird. Im LArS-Projekt liegt ein Fokus der professionellen Unterrichtswahrnehmung auf der politischen Urteilsbildung von Schüler*innen. Der erste Schritt des noticing kann diesbezüglich zum Beispiel das Wahrnehmen der Schüler*innenkognitionen zu einer politischen Streitfrage beinhalten oder das Wahrnehmen der Pro-Kontra-Argumente in einer Diskussionsphase. Im zweiten Schritt des knowledge-based reasoning verknüpfen die angehenden Lehrkräfte ihr theoretisches Professionswissen, insbesondere die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Wissensfacetten, mit dem wahrgenommenen Unterrichtsgeschehen. Somit dient die Analyse von Phasen politischer Urteilsbildung als Anlass, um das pedagogical content reasoning (siehe Manzel et al. 2023 Kap. 1) zu verbessern. Da das Planen und Durchführen von Unterrichtsphasen zum politischen Urteilen und das Anbahnen politischer Urteilskompetenz mit Wissen und Argumentationsfähigkeit als Kernelemente des sozialwissenschaftlichen Unterrichts gelten – normativ begründet als übergeordnetes Ziel zur Ausbildung von Mündigkeit, bildungspolitisch legitimiert durch die KMK-Standards sowie die Kernlehrpläne für alle Schulformen und Jahrgangsstufen und theoretisch modelliert sowie empirisch in Ansätzen überprüft durch das Politikkompetenzmodell – ist gerade diese core practice ein geeigneter Baustein, durch die professionelle Unterrichtswahrnehmung die professionelle Performanz hinsichtlich der Gestaltung von Lehr-/Lerngelegenheiten zum politischen Urteilen zu fördern.

2 Politische Urteilskompetenz

2.1 Theoretische Modellierungen

Die politische Urteilsfähigkeit wird in Publikationen der Fach-Community immer wieder als wichtigstes normatives Ziel der Ausbildung von politischer Mündigkeit in der Tradition der Aufklärung diskutiert (u. a. Massing 1999 mit den Kategorien der Multiperspektivität, Zweck- und Wertrationalität, Juchler 2005; May 2020). Eine begriffsanalytische Bestimmung ist bis dato nicht konsensual: was Urteilsfähigkeit konkret ausmacht, ist nicht eindeutig bestimmt, sodass Breit (1997) unter anderem die fehlende Theorie hinter den vorliegenden Kategorien und Fragen zur Urteilsbildung bemängelt. Aufgrund der empirischen und evidenzfokussierten Ausrichtung des LArS-Projektes liegen dem Beitrag nur kompetenztheoretische Modellierungen der politikdidaktischen Forschung zugrunde. Das Politikkompetenzmodell von Detjen et al. (2012) begründet theoriegeleitet vier Kernkompetenzdimensionen für den Fachunterricht, das Fachwissen, die Politische Urteilsfähigkeit, die Politische Handlungsfähigkeit und die Politische Einstellung & Motivation, die miteinander vernetzt sind und nicht losgelöst voneinander im Unterricht zu fördern sind (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Modell der Politikkompetenz (im Original entnommen aus Detjen et al. 2012, S. 13)

Ausdifferenziert werden politische Urteile in fünf Urteilsarten, zwei Arten von Sachurteilen (Feststellungs- und Erweiterungsurteil) und drei normative Urteilsarten (Werturteil, Entscheidungsurteil, Gestaltungsurteil) (vgl. Tab. 1). In Sachurteilen liegt der Fokus auf Faktengenerierung und der Erweiterung des konzeptuellen Wissens zu einem Sachverhalt. Sachurteile gehen somit den politisch-normativen Urteilen voraus, die eine zustimmenden oder ablehnenden Bewertung auf Basis einer normativen Positionierung erfordern (Detjen et al. 2012, S. 52 f.).

Tab. 1 Urteilsarten nach Detjen et al. (2012)

Die Kompetenzdimension der politischen Handlungsfähigkeit ist über die kommunikativen Kompetenzfacetten des Artikulierens und Argumentierens eng mit der politischen Urteilsfähigkeit verbunden, da ein politisches Urteil auf dem Abwägen von Pro- und Kontra-Argumenten beruht. Das Modell der Politikkompetenz kann nicht nur für die empirische Forschung als Theoriegrundlage genutzt werden, sondern auch praktische Hinweise für Lehrer*innen dazu liefern, wie die Kompetenzdimensionen im Politikunterricht bei der Planung und Gestaltung des Unterrichts, bei der Materialauswahl, Methodenentscheidung und der Formulierung von Lernaufgaben berücksichtigt werden können. Darüber hinaus kann das Modell bei der kriterienbasierten Diagnose des Lernstands von Schüler*innen hinsichtlich der Kompetenzdimension Fachwissen Orientierung bieten (Massing 2012, S. 29).

Das Modell von Manzel und Weißeno (2017, Abb. 2) erweitert den Kompetenzbaustein der Urteilsfähigkeit und bestimmt hypothetische Wirkrichtungen von überfachlichen Faktoren und fachlichen Lernbedingungen auf das politische Urteil und von dort auf individuelle Faktoren wie politische Einstellungen und Meinungen. Das Fachwissen bildet in dem Modell die zentrale Grundlage für eine fachliche Argumentations- und Urteilskompetenz, die sich bei Schüler*innen in einem wertbasierten Abwägen und begründeten Entscheiden bzw. Positionieren zu politischen Streitfragen zeigen kann. Das Artikulieren und Argumentieren sind als fachspezifische Kompetenzfacetten im Modell der Politikkompetenz von Detjen et al. (2012) noch unter Handlungsfähigkeit verortet, hier jedoch zusammen mit der Fachsprache als unabdingbarer Bestandteil des politischen Urteilens modelliert.

Abb. 2
figure 2

Modell der politischen Urteilsfähigkeit und ihrer Einflussfaktoren (im Original entnommen aus Manzel und Weißeno 2017, S. 71)

Anhand politischer Maßstäbe werden Aussagen zur politischen Realität bewertet (Manzel und Weißeno 2017, S. 72).

Ein um eine fachsprachliche Dimension erweitertes Modell hat Forkarth (2022, Abb. 3) vorgelegt. Über den Einbezug des Wissens über fachtypische Textsorten und den ihnen inhärenten sprachlich-kognitiven Handlungsanforderungen erfolgt eine Ausdifferenzierung des vorliegenden Modells. Die Komplexität politischer Urteile von Schüler*innen fordert Lehrkräfte heraus, ihnen fachliche Wissensbestände für den Urteilsbildungsprozess zur Verfügung zu stellen, „[…] „ohne Fachwissen kann kein fundiertes politisches Urteil erfolgen und Schüler*innen verbleiben häufig auf der Ebene eines Spontanurteils, dem ‚Äußern‘ einer Meinung“ (Forkarth 2022, S. 34, Hervorh. im Original).

Abb. 3
figure 3

Erweitertes Modell politischer Urteilsfähigkeit (im Original entnommen aus Forkarth 2022, S. 38)

2.2 Empirische Befunde

Empirische Studien zum Fachwissen von Schüler*innen liegen zahlreich vor (siehe hierzu ausführlich Weißeno 2021). Hinsichtlich der standardisierten empirischen Erforschung zur Urteilsbildung liegen in der Politikdidaktik erst vereinzelt Operationalisierungen und Studien vor (Weißeno 2022; Weißeno und Weißeno 2021). Im internationalen Forschungskontext fällt das Urteilen als decision-making unter die SSI-Forschung (socio-scientific issues). Studien zum decision-making in gering strukturierten Domänen, wie z. B. dem sozialwissenschaftlichen Unterricht, belegen, dass Schüler*innen deutliche Schwierigkeiten beim Fällen von Urteilen haben (u. a. Acar et al. 2009; Sadler und Donelly 2006; Jiménez-Aleixandre und Pereiro-Muñoz 2002; Kortland 1996). Auch die Argumentationsfähigkeit als Bestandteil der sprachlichen Realisierung des Urteils gilt als förderbedürftig (u. a. Felton und Kuhn 2001; Kuhn und Udell 2007; Kuhn 1993; Osborne et al. 2004) und als förderfähig (Venville und Dawson 2010; Zohar und Nemet 2002). Einzelne Untersuchungen in der deutschsprachigen Fachdidaktik zur mündlichen Argumentation (Gronostay 2014, 2016, 2019) oder zur schriftlichen Urteilsbildung (Manzel 2007; Weißeno und Weißeno 2021; Forkarth 2022) zeigen, dass diese Kompetenzdimension bei Schüler*innen noch deutlich ausbaufähig ist. Auch die LArS-Animationsvideoausschnitte zeigen die Herausforderungen, auf die Lehrkräfte bei Schüler*innen hinsichtlich der politischen Urteilsbildung treffen. Zur professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften hinsichtlich der Anbahnung und Förderung der politischen Urteilsfähigkeit liegen bis dato keine empirischen Studien vor. Die Auswertung der videobasierten Interventionsstudie zur Wahrnehmung politischer Urteile von Lehrkräften (Achour und Jordan 2017; Jordan und Achour 2019; Barth et al. 2020) ist noch nicht abgeschlossen, sodass die Seite der Lehrkräfte bislang eine black box in der fachdidaktischen empirischen Forschung darstellt. Hier setzt das LArS-Projekt mit dem Baustein der politischen Urteilsbildung an.

3 Professionelle Unterrichtswahrnehmung und die Bedeutung fachdidaktischen Wissens

Wie einleitend dargelegt, kann die gezielte Betrachtung von Unterrichtssituationen und -ereignissen, die relevant für die Lernprozesse der Schüler*innen und die Ausbildung ihrer Kompetenzen wie z. B. der Urteilsfähigkeit sind, als ein Indikator dafür herangezogen werden, wie Lehrkräfte ihr fachliches und fachdidaktisches Wissen über lernwirksame Unterrichtsbausteine in realen Unterrichtssituationen anwenden. Zum fachlichen und fachdidaktischen Handlungswissen von Lehrkräften gehört folglich die Planung, Durchführung und Reflexion von Urteilsbildungsprozessen im sozialwissenschaftlichen Unterricht. Dabei kann besonders die Wahrnehmung (noticing) und die wissensbasierte Analyse (knowledge-based reasoning) von Lehr-/Lernprozessen rund um das politische Urteil dazu beitragen, Schwierigkeiten hinsichtlich des Fällens politischer Urteile zu erkennen und auf dieser Diagnose aufbauend entsprechende Lehr-/Lernangebote zu gestalten. Dabei ist die Gestaltung politisch-kontroverser Diskussionsphasen zur politischen Urteilsbildung aufgrund der Kontroversität und Mehrdeutigkeit politischer Sachverhalte, Gegenstände und Prozesse und der damit verbundenen Bedeutung der Erzeugung von Kontroversität im Unterricht im LArS-Projekt zentral.

Da wir professionelle Unterrichtswahrnehmung als einen domänenspezifischen wissensbasierten Prozess begreifen (siehe Manzel et al. 2023, Kap. 1), kommt der Arbeit mit den LArS-Animationsvideos eine Doppelfunktion zu: einerseits müssen angehende Lehrkräfte Unterricht professionell wahrnehmen und das Wahrgenommene wissensbasiert analysieren und erklären können, andererseits vertiefen und festigen sie in der Auseinandersetzung mit den Videos sowie den zugehörigen Lernaufgaben selbst ihr Professionswissen. Die Szenen stellen authentische Unterrichtspraxis dar und die für das Modul ausgewählten Vignetten zeigen Unterrichtssituationen, die sich als regular practices des sozialwissenschaftlichen Fachunterrichts klassifizieren lassen (zur Klassifizierung siehe Manzel et al. 2023, Kap. 1). Durch die Fokussierung auf für den sozialwissenschaftlichen Fachunterricht kennzeichnende Kernpraktiken, ist es besonders das fachdidaktische Wissen als eine Dimension des Professionswissens, welches für die professionelle Unterrichtswahrnehmung von zentraler Bedeutung ist. Auf Basis des Modells von Park und Oliver (2008) differenzieren wir das fachdidaktische Wissen in das Wissen über Schüler*innenvorstellungenFootnote 1, das Curriculum, Instruktions- und Vermittlungsstrategien, fachbezogene Diagnostik und Lehr-/Lernforschung im Fachunterricht weiter aus. In Bezug auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung der politischen Urteilsbildung von Schüler*innen ist anzunehmen, dass besonders die Wissensbereiche Wissen über Schüler*innenvorstellungen, Wissen über Instruktions- und Vermittlungsstrategien und Wissen über fachbezogene Diagnostik relevant sind, da Elemente dieser Wissensbereiche unmittelbar in den Unterrichtsaufnahmen wahrgenommen werden können. Das Curriculum selbst ist nur indirekt in den Animationen beobachtbar, die Lehr-/Lernforschung ist gar nicht beobachtbar, sodass nur die ersten drei genannten im Folgenden erläutert werden.

Wissen über Schüler*innenvorstellungen, fachbezogene Diagnostik und Instruktions- und Vermittlungsstrategien

Bei der professionellen Unterrichtswahrnehmung politischer Urteilsbildung sind gemäß der theoretischen Annahmen die Vorstellungen der Schüler*innen ein Element, das in den Blick genommen werden muss. Dies kann zum Beispiel unter folgenden Fragestellungen erfolgen: Welche Präkonzepte lassen sich in dem gezeigten Ausschnitt erkennen? Wie geht die Lehrkraft mit diesen um? Sind Fehlkonzepte erkennbar? Wie werden diese von der Lehrkraft thematisiert? Welches Fachwissen wird in der Sequenz angeboten und z. B. für die Argumentation und Urteilsbildung genutzt? Aber der Reihe nach: Lehrkräfte müssen fachdidaktisches Wissen über Schülervorstellungen besitzen, denn das Fachwissen von Schüler*innen stellt wie bereits erläutert die Grundlage für ihre Argumentations- und Urteilsfähigkeit dar (Manzel und Weißeno 2017). Die Formulierung eines politisch-rationalen Urteils, in dem Zweck- und Wertrationalität unterschiedlich gewichtet zum Ausdruck kommen und das am Ende eines Bewertungsprozesses steht (Detjen et al. 2012, S. 48 f.), ist nur möglich, wenn Schüler*innen über das notwendige Fachwissen zu einem Urteilsgegenstand verfügen. Dieses Fachwissen lässt sich aus einer kognitionspsychologischen Perspektive in deskriptives Faktenwissen und konzeptuelles Wissen unterscheiden. Deskriptives Faktenwissen beschreibt leicht abrufbares, aber auf einen spezifischen Sachverhalt bezogenes Wissen (z. B. wer der aktuelle Bundespräsident ist oder wie hoch der aktuelle Mindestlohn ist). Konzeptuelles Wissen bezeichnet miteinander vernetzte Wissenseinheiten, die ermöglichen, auch vom bekannten Einzelfall abweichende Sachverhalte zu verstehen und übergeordnete Prinzipien und Regeln auf Neues zu übertragen. Erst die Ausbildung von konzeptuellem Wissen ermöglicht Schüler*innen im Sinne des Kompetenzbegriffs Weinerts (2001) kompetent zu werden. Weißeno et al. (2010) haben in Anlehnung an die Fachdidaktiken der Naturwissenschaften für die Politikdidaktik das Fachwissen in die drei Basiskonzepte Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl ausdifferenziert, denen jeweils spezifische untereinander vernetzte Fachkonzepte zugeordnet sind (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Basis- und Fachkonzepte der Politik (im Original entnommen aus Weißeno et al. 2010, S. 12)

Schüler*innen bringen zu vielen Fragestellungen des sozialwissenschaftlichen Unterrichts bereits individuelle Vorstellungen, sogenannte Präkonzepte mit, an die Lehrpersonen anknüpfen sollten und die sich mithilfe fachbezogener Diagnostik wie dem Concept-Mapping (Sowinski 2017, 2019) identifizieren lassen. Weichen diese Präkonzepte von den jeweils relevanten Fachkonzepten ab, lassen sie sich möglicherweise sogar als falsch identifizieren (Fehlkonzept), und werden nicht im Rahmen des Unterrichts aufgegriffen und in ein Fachkonzept überführt (conceptual change), haben diese aufgrund des Zusammenhangs von Fachwissen und Argumentations- sowie Urteilsfähigkeit einen direkten Einfluss auf die Qualität des politischen Urteils und erschweren den Lernprozess. Schüler*innen, die ein auf einem Fehlkonzept basierendes politisches Urteil formulieren, können gegebenenfalls zwar Zweck- und Wertrationalität gegeneinander abwägen und ihr Urteil auch sprachlich mithilfe grammatikalisch-logischer Elemente (Detjen et al. 2012, S. 50 f.) realisieren, dieses wird aber nicht dem Anspruch der politischen Rationalität gerecht.

Lehrkräfte, welche die politische Urteilsfähigkeit von Schüler*innen fördern wollen, müssen entsprechend ihrerseits über Wissen verfügen, welche Fachkonzepte zur Bearbeitung des Urteilsgegenstands relevant sind (fachliches und fachdidaktisches Professionswissen, Weschenfelder 2014), welche typischen Präkonzepte bei Schüler*innen existieren (Wissen über Schüler*innenvorstellungen), wie sich diese diagnostizieren lassen (Wissen über fachbezogene Diagnostik) und wie sie bei der Planung, Durchführung und Reflexion von Urteilsbildungsprozessen im Schulunterricht genutzt werden können (Wissen über Instruktions- und Vermittlungsstrategien). In Bezug auf die professionelle Wahrnehmung von Urteilsbildungsprozessen ist daher anzunehmen, dass Lehrpersonen dieses Wissen benötigen, um in der Unterrichtssituation beobachten sowie analysieren zu können, wie und auf welcher Wissensbasis Schüler*innen argumentieren und urteilen, um auf dieser Wahrnehmung aufbauend professionell handeln zu können. Dabei sind verschiedene Facetten politischer Urteile auf der Seite der Schüler*innen direkt beobachtbar (z. B. die eingenommenen Positionen von Schüler*innen zu einer Urteilsfrage, das Diskussionsverhalten von Schüler*innen, das Abwägen von Argumenten und Einnehmen verschiedener Perspektiven während der Urteilsformulierung, die sprachliche Realisierung von mündlichen oder schriftlichen Urteilen usw.), während sich Zusammenhänge zwischen Schüler*innenvorstellungen, den einbezogenen Argumenten und ihren getroffenen Urteilen erst durch eine tiefergehende Analyse des Beobachteten unter Rückgriff auf das fachdidaktische Professionswissen offenlegen und erklären lassen.

In den Animationsvideos zur Urteilsbildung sind auch Instruktions- und Vermittlungsstrategien von Lehrkräften beobachtbar. Folgende Fragen sind bei der Beobachtung des Lehrkräftehandelns in Unterrichtsphasen der politischen Urteilsbildung denkbar: Wie bahnt eine Lehrkraft Phasen politischer Urteilsbildung an? Fordert sie Elemente eines politischen Urteils ein, und wenn ja, welche? Werden Schüler*innen zur Begründung ihres Urteils motiviert? Wie geht die Lehrperson mit Widersprüchen oder möglichen Fehlkonzepten in den Argumentationen und Urteilen von Schüler*innen um? Greift sie in Diskussionsphasen ein und lenkt diese, und wenn ja, wie stark?

Die Ausbildung und Förderung aller drei fachdidaktischen Wissensbereiche (Wissen über Schüler*innenvorstellungen, Diagnostik und Instruktions- und Vermittlungsstrategien) ist notwendig, um politische Urteilsfähigkeit von Schüler*innen als komplexes Zusammenspiel von Schüler*innenvorstellungen und durch Lehrkräfte initiierte und instruierte Urteilsbildungsphasen im Unterricht professionell wahrzunehmen. Erst auf dieser Wissensbasis kann vom im Animationsfilm dargestellten Einzelfall auf allgemeine Herausforderungen der Förderung politischer Urteilsfähigkeit von Schüler*innen abstrahiert werden. Die Förderung wissensbasierter professioneller Unterrichtswahrnehmung von angehenden Lehrkräften im Fach Sozialwissenschaften bedeutet in Bezug auf die politische Urteilsfähigkeit von Schüler*innen daher gleichermaßen auch die Förderung dieser drei Facetten des fachdidaktischen Wissens.

4 Förderung wissensbasierter professioneller Unterrichtswahrnehmung im Kontext politischer Urteilsbildung mittels Animationsvideos

Die im Modulteil B entwickelten Animationsvideos zeigen authentische, alltägliche und wiederkehrende Unterrichtssituationen sozialwissenschaftlichen Fachunterrichts. Die hierfür verwendeten Vignetten wurden auf Basis des Videomaterials der Projekte Argumentative Lehr-Lern-Prozesse im Politikunterricht (Gronostay 2019) sowie Politik-Lernen im Unterricht (Manzel und Gronostay 2013) und zugehöriger Transkripte ausgewählt (zum Auswahl- und Umwandlungsprozess siehe Gronostay et al. Kap. 2). Politische Urteile werden häufig am Ende einer Unterrichtsreihe – oft mündlich, eher selten schriftlich – formuliert. Dazu eingesetzte handlungsorientierte Unterrichtsmethoden wie Talkshows oder Fishbowl-Diskussionen, in denen Schüler*innen Positionen beziehen und Argumente vortragen, sind von einer hohen Dynamik (z. B. plötzlichen Fokusverschiebungen hinsichtlich des Themas) und Komplexität (z. B. wenn die Diskussion verschiedene Perspektivebenen wie Betroffene, politische Akteure oder Systemebene beinhaltet und gleichzeitig bei der Argumentation zwischen sachlichen Informationen und wertenden normativen Urteilen gewechselt wird) geprägt. Somit besteht eine große Herausforderung darin, passende Vignetten auszuwählen, die einerseits prägnante Einblicke in die Urteilsbildungsphase ermöglichen und gleichzeitig genug Informationen bereitstellen, dass Rezipient*innen aus der gezeigten Szene heraus nachvollziehen können, was der Urteilsgegenstand ist, zu welcher Frage die Schüler*innen Stellung beziehen sollen und in welcher Unterrichtsphase die gezeigte Szene verortet ist. Zur Unterstützung wurden daher Dokumente mit Kontextinformationen erstellt, die grob darüber informieren, was vor und was nach der gezeigten Szene passiert, was das Thema der Unterrichtsstunde ist, und welche Frage diskutiert wird. Die ausgewählten Szenen bieten Potenzial, auch aus einer allgemeindidaktischen Perspektive etwa hinsichtlich der Klassenführungsstrategien von Lehrkräften analysiert zu werden. Für die zugehörigen Lehr-/Lernaufgaben wurde der Schwerpunkt allerdings auf für die Fachdidaktik relevante Merkmale der Urteilsbildung wie die von Schüler*innen zur Beurteilung herangezogenen Maßstäbe oder in Argumentationen eingenommene Sichtweisen gelegt (vgl. Heyen & Manzel Kap. 8). Dabei wurde trotz der zuvor skizzierten Herausforderungen bei der Szenenauswahl darauf geachtet, möglichst verschiedene Realisierungsformen von Urteilsbildungsphasen im sozialwissenschaftlichen Fachunterricht abzubilden. Das LArS-Material des Modul B umfasst daher u. a. Vignetten, in denen Schüler*innen ihre Urteile in Form einer Posterpräsentation darbieten sollen, Urteile im laufenden Unterrichtsgespräch eingeholt werden oder Schüler*innen in einer Fishbowl-Diskussion Argumente vortragen und Positionen beziehen. Auf der Ebene der Sichtstruktur des Unterrichts lassen sich so in verschiedenen Realisierungen von Urteilsbildungsphasen Schüler*innenkognitionen sowie kommunikative Handlungskompetenz wie die Argumentationsfähigkeit von Schüler*innen erkennen und analysieren.

Bei der Konzeption der Animationsfilme und zugehörigen Lehr-/Lernaufgaben wurde der zuvor skizzierten Bedeutung der drei Facetten des fachdidaktischen Wissens für die Ausbildung wissensbasierter professioneller Unterrichtswahrnehmung im Kontext politischer Urteilsbildung besonders Rechnung getragen. Die Vignetten zeigen regular practices, in denen besonders das Zusammenspiel von Schüler*innenvorstellungen und den Instruktions- und Vermittlungsstrategien der Lehrperson während der Urteilsbildungsphase beobachtet und analysiert werden kann (vgl. Heyen & Manzel Kap. 8). In vier verschiedenen Moduleinheiten werden einzelne Facetten dieses Zusammenspiels besonders fokussiert, indem sich die Vignette und Lehr-/Lernaufgaben zum Beispiel stärker auf das Diskussionsverhalten von Schüler*innen oder die Schüler*innenvorstellungen und aus diesen resultierende Lernschwierigkeiten beziehen. Aufgrund der Relevanz des Fachwissens von Schüler*innen für das Formulieren politischer Urteile ist eine wiederkehrende Aufgabe u. a. die Identifikation von Fach- und Fehlkonzepten der Schüler*innen sowie eine Analyse, wie sich diese auf das getroffene Urteil oder den Verlauf von Diskussionsphasen auswirken. Die Struktur der Lehr-/Lernaufgaben (siehe hierzu ausführlich Hahn-Laudenberg et al. Kap. 6) aus Noticing–Analysing–Reflection/Construction soll sicherstellen, dass Studierende schrittweise durch die authentische aber dadurch auch komplexe Unterrichtssituation geführt werden und die Unterrichtssituation aus einer fachdidaktischen Perspektive professionell wahrnehmen können. Das Videoformat bietet hierbei den Vorteil, dass Studierende zusätzlich selbst eine Komplexitätsreduktion vornehmen können, indem Sie einzelne Stellen mehrfach ansehen und das Video jederzeit pausieren können. Studierende werden bei der Bearbeitung u. a. selbst diagnostisch tätig, indem sie Argumente oder Urteile von Schüler*innen hinsichtlich zugrunde liegenden Fach- und Fehlkonzepten analysieren. Im Anschluss an ihre Analyse formulieren sie mögliche Handlungsstrategien für Lehrkräfte oder reflektieren Möglichkeiten der fachbezogenen Diagnostik und abstrahieren vom Einzelfall. Diese selbstregulierte Bearbeitung setzt voraus, dass die Studierenden bereits über ein ausgeprägtes fachdidaktisches Wissen verfügen. Zur Reaktivierung dieses Wissens wurden kurze vorbereitende Aufgaben mit Literaturhinweisen formuliert, die in Form von Single- und Multiple-Choice-, Zuordnungs- oder Freitextaufgaben das fachdidaktische Wissen abfragen, welches für die Bearbeitung der Lehr-/Lernaufgaben mindestens vorausgesetzt wird. Die bereitgestellten Aufgaben sind allerdings als kuratiertes Angebot zu verstehen. Besonders die bereitgestellten Analyseaufgaben nehmen häufig Fokussierungen auf einzelne Beiträge von Schüler*innen vor und verengen so den Blick der Studierenden, um eine für das Seminargespräch und die gemeinsame Reflexion notwendige Wissensbasis sicherzustellen. Die Vignetten bieten aufgrund der Komplexität von realem Unterricht eine Vielzahl an Analyse- und Diskussionsmöglichkeiten, die Anlässe gemeinsamer Reflexion sein können.

5 Fazit

Als Ergebnis des Beitrags zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von Urteilsbildung- und Diskussionsphasen lässt sich resümieren, dass die Förderung politischer Urteilsfähigkeit ein klares und doch inhärent komplexes und anforderungsreiches Ziel sozialwissenschaftlichen Fachunterrichts darstellt. Empirische Arbeiten zeigen, dass Schüler*innen Schwierigkeiten beim Fällen von politischen Urteilen und dem Argumentieren haben. Um Schüler*innen allerdings zu einem politischen Urteil zu befähigen, das tatsächlich mehr als eine oberflächliche Meinungsbekundung darstellt, müssen Lehrkräfte Unterricht konzipieren, der an dem Fachwissen der Schüler*innen ansetzt, der multiperspektivisch und kontrovers angelegt ist und die Einnahme verschiedenster diskursrelevanter Positionen politischer Akteure ermöglicht und somit die kommunikativen Handlungskompetenzfacetten Artikulieren und Argumentieren bei der politischen Urteilsbildung fördert. Die hinter einem Schüler*innenurteil steckenden kognitiven Prozesse bleiben Lehrkräften in der Handlungssituation allerdings verborgen und lassen sich erst nachträglich mittels diagnostischer Verfahren und fachdidaktischem Wissen zur politischen Urteilsbildung ansatzweise offenlegen. Als Ergebnis dieses häufig unsichtbaren Prozesses steht dann das für Lehrkräfte sicht- und kategorisierbare Argument oder Schüler*innenurteil. Es wurde daher die Relevanz des fachdidaktischen Wissens von Lehrkräften aufgezeigt und herausgestellt, warum insbesondere drei Facetten fachdidaktischen Wissens – das Wissen über Schüler*innenvorstellungen, fachbezogene Diagnostik und Instruktions- und Vermittlungsstrategien – für die Modellierung professioneller Wahrnehmung von Urteilsbildungs- und Diskussionsphasen und einen analytischen Zugang zu Schüler*innenurteilen relevant erscheinen. Die LArS-Vignetten können allerdings nur einen kurzen Ausschnitt des komplexen Urteilsbildungsprozesses von Schüler*innen widerspiegeln und bieten über den gezeigten Ausschnitt hinaus keinen Einblick darin, ob die Lehrkraft z. B. im Vorfeld Präkonzepte von Schüler*innen diagnostiziert hat oder welche Positionen und Argumente die Schüler*innen erarbeitet haben. Um der Gefahr vorzubeugen, dass Zuschreibungen vorgenommen und Erklärungen hergeleitet werden, die auf Mutmaßungen und fehlenden Informationen basieren, bedarf es einer Fokussierung auf die für die Lerneinheit relevanten Aspekte. Die Arbeit mit den aufbereiteten Vignetten setzt aufgrund der Komplexität von Urteilsbildungsprozessen ein hohes Abstraktionsvermögen voraus und soll vor allem als Grundlage für die reflexive Auseinandersetzung mit dem eigenen fachdidaktischen Wissen und möglichen Handlungsstrategien von Lehrkräften dienen und so eine stärkere Theorie-Praxis-Verknüpfung (Stürmer 2011) anregen. Die Videovignetten bieten gerade durch diesen Zuschnitt eine Lern- und Reflexionschance, sich intensiv mit einzelnen Urteilen von Schüler*innen zu beschäftigen oder den argumentativen Austausch zwischen zwei oder mehr Schüler*innen dezidiert zu analysieren und darauf aufbauend situationsspezifische Handlungsstrategien zu entwickeln – eine Gelegenheit, die sich Lehrkräften in der schnelllebigen Unterrichtspraxis besonders während Makromethoden wie der Talkshow oder der Fishbowl-Diskussion selten bieten dürfte.