Nachfolgend werden die Ergebnisse entlang der drei leitenden Forschungsfragen zusammengefasst. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt dabei jeweils im Anschluss an die Beantwortung der Fragestellungen (8.18.3). Ein abschliessendes Fazit zur Ergebnisdarstellung und zur Diskussion der Befunde wird in Abschnitt 8.4 formuliert. Danach folgen Ausführungen zu den Limitationen und zu Forschungsdesiderata, die im Verlauf der vorliegenden Arbeit deutlich geworden sind (Abschnitt 8.5). Abschliessend werden Schlussfolgerungen für die Praxis und für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen (8.6) formuliert.

8.1 Unterschiedliche Erfassung von Unterrichtsstörungen

  1. 1.

    Was erfassen Lehrpersonen in ihrem Unterricht als Unterrichtsstörung (worin dokumentieren sich Unterrichtsstörungen für Lehrpersonen)?

Die Antwort auf die erste Forschungsfrage ist kaum von der zweiten Forschungsfrage nach den rekonstruierten Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen zu trennen. Zur Vermeidung von Wiederholungen werden die zentralen Erkenntnisse hinsichtlich der Frage, was die Lehrpersonen als Unterrichtsstörungen erfassen, in Tabellenform dargestellt (Tabelle 8.1). Ausgeführt und diskutiert werden die Ergebnisse im nachfolgenden Abschnitt (8.2).

Tabelle 8.1 Auffassung von Unterrichtsstörungen

8.2 Unterschiedliche Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen

  1. 2.

    Welche Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen leiten Lehrpersonen, die in Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte unterrichten? Welche Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen lassen sich rekonstruieren und trennscharf beschreiben?

Es wurden drei Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen identifiziert, die unterschiedliche Handlungsorientierungen aufweisen. Die drei Typen lassen sich anhand mehrerer Vergleichsdimensionen beschreiben. Zudem zeigte sich, dass die befragten Lehrpersonen aus Schulen mit personalisierten Lernkonzepten durchgängig den Typen I und II zuzuordnen waren. Bei den Lehrpersonen aus Schulen ohne personalisierte Lernkonzepte finden sich dagegen alle drei Typen wieder. Dementsprechend ist Typ III ausschliesslich bei Lehrpersonen aus Schulen ohne personalisierte Lernkonzepte anzutreffen (siehe auch Abschnitt 8.3).

Die Fälle des ersten Typus, Typ I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung›, verbindet ihr Umgang mit Unterrichtsstörungen als Ermöglichung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Alle diesem Typ zugeordneten Fälle bemühen sich um eine adaptive und beziehungsorientierte Unterrichts- und Interaktionsgestaltung. Insgesamt konnten dem Typ zwei perLen-Lehrperson und eine SUGUS-Lehrperson zugeordnet werden, wobei Letztere über eine Zusatzausbildung im Umgang mit Heterogenität verfügt.

Handlungsleitend für die Fälle des Typus I ist in Bezug auf die Wahrnehmung der Schüler:innen und die Interaktion mit diesen ein enges, proaktiv aufgebautes Beziehungsverhältnis. Eine Verbindung zu den Schüler:innen zu schaffen, erweist sich als zentral (bspw. über Identifikationsstiftung der Schüler:innen mit ihren Lehrpersonen, über gemeinsame Erlebnisse oder über das Einholen der Unterrichtseinschätzung der Schüler:innen anhand eines Fragebogens). Die enge Beziehung ist für die Fälle dieses Typus handlungsleitend im Hinblick auf das Einwirken auf die Schüler:innen – dies trifft auch auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen zu. Es wurde ein reziprokes, auf Wechselseitigkeit beruhendes Verständnis von Interaktion zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen nachgezeichnet, bei dem die Fälle in ihren unterrichtlichen Handlungen auf die Mitwirkung der Schüler:innen zählen (zum Beispiel, indem die Schüler:innen selbst Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen oder den Unterricht evaluieren). Die Fälle des ersten Typus bemühen sich darum, die Schüler:innen als kompetente Akteur:innen zu adressieren, denen ein Mitspracherecht gewährt und von denen eine Verantwortungsübernahme für ihr Lernen im Unterricht erwartet wird. Hinsichtlich der unterrichtsbezogenen Handlungsorientierungen erweist sich die Suche nach Ursachen von Unterrichtsstörungen als zentral. Dabei werden Ursachen von Störungen von den Fällen dieses Typus grundsätzlich nicht schüler:innenbezogen attribuiert. Unterrichtsstörungen werden bspw. als Hinweis darauf verstanden, dass der Unterricht angepasst werden muss, woraus eine Flexibilität gegenüber unerwarteten Ereignissen im Unterricht resultieren kann. Es zeigt sich, dass Störungen nach Auffassung der Befragten des Typs I auch von der Lehrperson selbst ausgehen können. Die Fälle dieses Typus verbindet, dass sie sich an den schülerseitigen Bedürfnissen ausrichten und ihren Unterricht dahingehend adaptieren. Alle Lehrpersonen dieses Typus orientieren sich an einer Differenzierung in gravierende und weniger zentrale Störungen. Nur den Ersteren wird dabei ein Einfluss auf die (Lern-)Entwicklung der Schüler:innen zugeschrieben. Der handlungsleitende Zielbezug der Lehrpersonen liegt darin, Lern- und Entwicklungsprozesse der Schüler:innen zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Weiterhin wurde eine lernseitige Handlungsorientierung im Umgang mit Unterrichtsstörungen rekonstruiert. Die dem ersten Typ zugeordneten Lehrpersonen deuten Unterrichtsstörungen als eine Unterbrechung des Lern- und Entwicklungsprozesses bei den Schüler:innen. Bei der Erfassung einer Unterrichtsstörung erweist sich für die Fälle dieses Typus somit die Orientierung an den Schüler:innen und deren Lernerfolg als zentral.

Die Fälle dieses Typus legen im Umgang mit Unterrichtsstörungen Wert darauf, anhand einer engen, aktiv aufgebauten Beziehung auf ihre Schüler:innen einwirken zu können. Die Beziehung zu den Schüler:innen ist dabei von zentraler Bedeutung. Zudem besteht der Anspruch, den Unterricht bei Unterrichtsstörungen an die Bedürfnisse der Schüler:innen zu adaptieren und die durchkreuzten Lern- und Entwicklungsprozesse wiederherzustellen. Im Zentrum steht die Absicht, den durch Unterrichtsstörungen unterbrochenen Lernprozess bei den Schüler:innen wiederherzustellen.

Diskussion der Ergebnisse. Die Ergebnisse zeigen, dass die Fälle des ersten Typus von den in früheren Studien zu Unterrichtsstörungen geschilderten Mustern abweichen. Die deutliche Wechselseitigkeit, die sich sowohl in der Interaktion mit den Schüler:innen als auch hinsichtlich der Unterrichtspraxis und damit auch für den Umgang mit Unterrichtsstörungen zeigt, weist in eine andere Richtung als bspw. die von Sullivan et al. (2014) berichteten häufig eingesetzten Formen der Verhaltenskontrolle oder die von Lohmann (2007) identifizierten disziplinierenden Massnahmen im Umgang mit Unterrichtsstörungen. Im Gegenteil zeigen die befragten Lehrpersonen ein einfühlsames Verhalten, nehmen die Störungsursachen in den Blick und benennen Handlungsmöglichkeiten auf der Beziehungs- und der Unterrichtsebene (Lohmann, 2007).

Die bei den Fällen des Typs I festgestellte Bezugnahme auf unterrichtsbedingte Ursachen von Unterrichtsstörungen entspricht den Ergebnissen von Scherzinger, Wettstein und Wyler (2017), die ebenfalls von Ursachen in der Unterrichtsgestaltung und der Unterrichtsvorbereitung berichten. Eine solche Verortung der Ursachen von Unterrichtsstörungen im Unterrichtsprozess selbst führt dabei wahrscheinlich zu einer geringeren persönlichen emotionalen Betroffenheit (Schweer, 1998). Die Fälle des Typs I, die Unterrichtsstörungen grundsätzlich im Lernen der Schüler:innen festmachen, empfinden Unterrichtsstörungen folglich nicht als gegen ihre Person gerichtete Ereignisse (siehe auch Typ III im Vergleich). Gleichzeitig bleiben sie im Umgang mit Unterrichtsstörungen handlungsfähig und sie bemühen sich darum, sich Möglichkeiten zu deren Beeinflussung zu verschaffen (Dann et al., 1987). Diese zeigt sich für Fälle des Typs I darin, den unterbrochenen Lernprozess bei den Schüler:innen erneut in Gang zu setzen. Dieses Verständnis von Unterrichtsstörungen, das vom Lernprozess der Schüler:innen her gedacht ist, so dass die Störungen als koproduzierte Ereignisse behandelt werden, welche den Lehr-Lern-Prozess unterbrechen, entspricht einem interaktionistischen Theorieverständnis (Eckstein et al., 2016; Martens, 2015; Wettstein et al., 2016).

An das interaktionistische Theorieverständnis von Unterrichtsstörungen schliesst der Befund an, dass die Fälle des ersten Typs darum bemüht sind, Anschluss an die Bedürfnisse der Schüler:innen zu finden. Damit einhergehen dürfte der Aufbau einer hohen Übereinstimmung zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen in der Wahrnehmung von Reaktionen auf Unterrichtsstörungen, was sich wiederum störungspräventiv und positiv auf den Unterricht auswirkt (Makarova et al., 2014, Clausen, 2002). Ebenso kann unter Berufung auf die bisherigen theoretischen und empirischen Kenntnisse gesagt werden, dass die auf den Aufbau einer engen Beziehung zu den Schüler:innen und eine Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse ausgerichtete Handlungsorientierung, wie sie bei Lehrpersonen des Typus I anzutreffen ist, störungspräventiv wirkt und den Unterricht positiv beeinflusst (Lohmann, 2007; Rüedi, 2014; Wettstein & Scherzinger, 2019).

Die für Fälle des Typus I rekonstruierte Handlungsorientierung an einem reziproken Interaktionsverhältnis und einem auf die Bedürfnisse der Schüler:innen ausgerichteten Unterricht fördert vermutlich die Passung zwischen dem durch die Lehrperson bereitgestellten Angebot und den Nutzungsmöglichkeiten für die Schüler:innen. Der auf die Schüler:innen ausgerichtete Unterricht – und der damit einhergehende Umgang mit Unterrichtsstörungen – entspricht dem Ziel, Lerngelegenheiten für die Schüler:innen zu schaffen, in denen sich diese optimal entwickeln können (Rakozcy & Klieme, 2016). Diese Befunde entsprechen den Analysen von Hofstetter (2022), die sich auf einen analogen Datenkorpus bezieht. Hofstetter konnte in Fallanalysen nachzeichnen, dass Lehrpersonen aus stark personalisierenden Schulen das Lernen der Schüler:innen als Referenzpunkt angeben und als Präventionsmassnahmen insbesondere auf lernunterstützende Anpassungen des Unterrichtsprogrammes setzen.

Aufgrund der Orientierung an einem proaktiv aufgebauten, engen Beziehungsverhältnis zu den Schüler:innen kann gefolgert werden, dass bei diesen Lehrpersonen ein unterstützendes Unterrichtsklima herrscht (Lipowsky, 2020; Reusser, 2006). Forschungsbefunde zeigen, dass sich ein unterstützendes Unterrichtsklima und eine positive Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler:innen positiv auf die Lernleistung der Schüler:innen auswirken (Lipowsky, 2020). Die auf die Bedürfnisse der Schüler:innen ausgerichtete, das Lernen fokussierende und die positive Beziehung fördernde Praxis von Lehrpersonen des Typs I entspricht den Befunden der Unterrichtsqualitätsforschung: Ein wertschätzender Umgang, der durch Empathie, Fürsorge und Interesse sowie durch eine fachlich adaptive Lernunterstützung geprägt ist, erweist sich als für das Lernen der Schüler:innen förderlich (Lipowsky, 2020). Zudem wirkt ein adaptiver, an die Voraussetzungen der Schüler:innen angepasster Unterricht, der die diese weder unter- noch überfordert, sich durch Methodenvielfalt auszeichnet und auf Unterstützung und Motivierung ausgerichtet ist, störungspräventiv (Wettstein und Scherzinger, 2019). Theoretisch begründen lässt sich diese Annahme unter Rückgriff auf die Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2020). Gemäss dieser nehmen Schüler:innen in adaptiven Unterrichtssettings ihre eigenen Kompetenzen und ihre Autonomie verstärkt wahr und sind durch die damit einhergehende Möglichkeit des Erlebens sozialer Eingebundenheit (lern-) engagierter. Bray und McClaskey (2015) erheben im Zusammenhang mit der Umsetzung personalisierter Lernkonzepte die Forderung, den Kompetenzaufbau der Schüler:innen ‹lernseits› zu denken und damit die Lerngegenstände in die Verantwortung der Schüler:innen zu legen. Hier einordnen lässt sich der Befund, dass die Fälle des ersten Typus den Schüler:innen Verantwortung übertragen und ihr Umgang mit Unterrichtsstörungen im Sinne einer Unterbrechung von Lernprozessen und der Wiederherstellung ebendieser Prozesse einem lernseitigen Muster folgt. Die Lernunterstützung scheint für die Lehrpersonen des ersten Typus zentral. Dabei zeigen sich für diese Lehrpersonen entgegen den bisherigen Befunden (Gmür-Ackermann, 2021) keine Schwierigkeiten.

Die Fälle des zweiten Typus – Typ II ‹verhaltensbeeinflussende Schüler:innenorientierung› – verbindet ein Umgang mit Unterrichtsstörungen, der auf eine Aufrechterhaltung der Unterrichtsordnung abzielt, wobei der Fokus auf erwartete Verhaltensweisen unter Wahrung der Bedürfnisse der Schüler:innen gelegt wird. Dieser Typ ist in der Stichprobe mit zwei perLen-Lehrpersonen und einer SUGUS-Lehrperson besetzt.

Ähnlich wie bei den Fälle des Typus I kann auch für diejenigen des Typus II eine übergreifende Handlungsorientierung an den Perspektiven der Schüler:innen und damit einhergehend ein reziprokes, auf Wechselseitigkeit beruhendes Interaktionsverhältnis rekonstruiert werden. Die Fälle des Typus II verfolgen das Ziel, ihre Schüler:innen zu Verhaltensweisen zu veranlassen, die es ihnen ermöglichen, eine lernförderliche Unterrichtsordnung aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu Typ I sind die Fälle des Typus II nicht gleichermassen auf eine enge Beziehung zu den Schüler:innen angewiesen. Es zeigt sich jedoch, dass eine (positiv erfasste) Interaktionsbasis zu den Schüler:innen für ihr Handeln relevant ist. Die unterrichtliche Praxis des Typus II zeichnet sich durch eine Orientierung an der Steuerung der Verhaltensweisen der Schüler:innen aus. Die Lehrpersonen bemühen sich darum, eine lärmfreie, ruhige, aber auch lernförderliche Unterrichtsatmosphäre herzustellen. Im Vergleich zu Typ I steht die Lernentwicklung der Schüler:innen bei Typ II weniger im Zentrum. Stattdessen werden Unterrichtsstörungen grundsätzlich als Situationen verstanden, in denen die Schüler:innen durch ihr unkoordiniertes Verhalten nicht den Erwartungen der Lehrperson entsprechen. Vor diesem Hintergrund fassen die Lehrpersonen dieses Typs Unterrichtsstörungen als lärmige Situationen auf. Darüber hinaus war zumindest bei Frau Tulpe eine Interpretation von Unterrichtsstörungen als Lernunterbrechung zu beobachten. Weiterhin wurde rekonstruiert, dass die betreffenden Lehrpersonen sich im Umgang mit Unterrichtsstörungen grundsätzlich an verhaltensbeeinflussende Massnahmen halten. Dabei sollen jedoch die Bedürfnisse der Schüler:innen gewahrt und soll eine lernförderliche Unterrichtsordnung aufrechterhalten werden.

Diskussion der Ergebnisse. Die Befunde zu Typ II decken sich mit dem Umstand, dass in Studien zu Unterrichtsstörungen häufig von bagatellhaften Störungen wie Lärm oder Hineinreden berichtet wird (Eckstein, 2018a; Makarova et al., 2014; Scherzinger et al., 2017). Die Handlungsorientierung, anhand verhaltensbeeinflussender Massnahmen einen geordneten, lerndienlichen Unterricht aufrechtzuerhalten, entspricht zudem den Ergebnissen der Studie von Sullivan et al. (2014). Die Studie zeigt auf, dass Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen häufig kontrollierende Mechanismen einsetzen, um die Schüler:innen auf dem von der Lehrperson gewünschten Verhaltenspfad zu halten (Sullivan et al., 2014). Dabei haben die Massnahmen, welche Lehrpersonen des Typs II ergreifen, keinen grundsätzlich punitiven Charakter, sondern orientieren sich an einem wechselseitigen Interaktionsverhältnis. Auch Hofstetter (2022) beschreibt in ihren vertiefenden Fallanalysen, dass sich eine der untersuchten Lehrpersonen bei störungspräventiven Massnahmen auf eine vorbeugende Planung und eine Optimierung der Lernzeitnutzung durch das Einüben von Abläufen und Regeln fokussiert, zugleich aber auch Ermahnungen oder Verwarnungen nutzt.

Die Handlungsorientierung der Aufrechterhaltung einer geordneten Unterrichtsstruktur lässt sich in Verbindung mit den Befunden der Klassenführung als Basisdimension guten Unterrichts diskutieren (Lipowsky, 2020). Die Orientierung an teils behavioristischen Formen der Verhaltenssteuerung des Typus II werden auch in anderen Untersuchungen als besonders wirksam deklariert (Brophy, 2006; Ophardt & Thiel, 2013). Dabei gelten die Etablierung von Normen, Regeln und Routinen sowie der Aufbau von Verhalten zur individuellen Verhaltensmodifikation besonders in Bezug auf die Prävention von Unterrichtsstörungen als wirksame Strategie (u. a. Kounin, 2006; Ophardt & Thiel, 2017). In Anschluss an die Forschungsbefunde, welche die Relevanz der Klassenführung als Basis guten Unterrichts im Hinblick auf die Maximierung der Lernzeitnutzung hervorheben (Lipowsky, 2020), kann diskutiert werden, dass die Fälle des Typus II angesichts der Orientierung an der Aufrechterhaltung eines lerndienlichen Unterrichts eine förderliche Lernumgebung schaffen. Diese Annahme bedürfte jedoch weiterer Überprüfungen.

Die Fälle des dritten Typus – Typ III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› − verbindet ein Umgang mit Störungen, der als Durchsetzen eigener Handlungspläne und Erwartung von Anpassungsleistungen seitens der Schüler:innen zusammengefasst werden kann. Dem dritten Typ konnten zwei SUGUS-Lehrpersonen aus dem Sample zugeordnet werden.

Hinsichtlich der Dimension der Wahrnehmung der Schüler:innen und der Interaktion mit diesen legen Lehrpersonen des dritten Typus ihren Fokus darauf, die eigenen Routinen um- und durchsetzen zu können. Beide Befragten stossen in der Umsetzung ihrer Routinen auf Schwierigkeiten, mit der Folge, dass die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen als negativ wahrgenommen wird. Diesem Spannungsfeld begegnen die Fälle des Typs III mit Formen der inneren Distanznahme zu den Schüler:innen. Als handlungsleitend erweist sich die Regulation der eigenen Affekte in der Interaktion mit den Schüler:innen. Im Unterschied? / Gegensatz zu Typ I und II suchen die Fälle des Typs III nicht in vergleichbarem Ausmass eine Verbindung zu den Schüler:innen. Rekonstruiert wurden Normalisierungsprozesse in Bezug auf störende Verhaltensweisen einzelner Schüler:innen. Als handlungsleitend erweist sich dabei die Akzeptanz dieser störenden Verhaltensweisen und die Erwartung, dass die störenden Schüler:innen von sich aus den Unterricht verlassen. Dies steht im Gegensatz zu den Typen I und II, die bei störenden Verhaltensweisen nach Ursachen suchen oder mit verhaltenssteuernden Massnahmen reagieren. Für Typ III wurden lehrseitige Handlungsorientierungen rekonstruiert. Als handlungsleitend hinsichtlich der Unterrichtspraxis der Fälle des Typus III erweist sich eine Orientierung an den eigenen unterrichtlichen Handlungsplänen. Beiden Befragten gemeinsam ist die Erfassung einer Störung als Bruch mit ebendiesen Plänen. Zudem tragen beide Interviewten des Typs III Anpassungserwartungen an die Schüler:innen heran, gemäss denen sich Letztere dem Handlungsprogramm der Lehrpersonen fügen sollen. Es zeigt sich, dass die Fälle des Typus III Störungen als ihre eigenen Probleme deuten und wahrnehmen, nicht jedoch als (durch die Lehrperson zu bearbeitende) Schwierigkeiten der Schüler:innen (Typus I und II). Die entsprechende Handlungsorientierung lässt sich an Abhängigkeiten von externen Faktoren (wie bspw. der nicht beeinflussbaren Zusammensetzung der Schüler:innen) festmachen, die für die Fälle des Typs III zu belastenden Spannungsfeldern führen.

Was die Auffassung von Unterrichtsstörungen betrifft, erweist sich für die Lehrpersonen dieses Typs die Orientierung an Unterbrüchen im eigenen Handeln bzw. im eigenen Handlungsplan als zentral. So sind Lehrpersonen des Typs III im Umgang mit Unterrichtsstörungen darum bestrebt, ihre Affekte zu regulieren und ihre Handlungsfähigkeit mit Hilfe innerer Distanzierungsmechanismen in der Interaktion mit den Schüler:innen zu erhalten. Dazu lässt sich anmerken, dass die Lehrpersonen dieses Typs Störungen auf Persönlichkeitsmerkmale der störenden Schüler:innen zurückführen und deren Verhalten zu normalisieren versuchen (so wird bspw. angenommen, dass Schüler:innen mit einer ADHS-Diagnose sich gar nicht anders verhalten könnten).

Diskussion der Ergebnisse. Die Anwendung von Normalisierungspraktiken zur Beseitigung störender Verhaltensweisen dürfte sich zumindest bei den betroffenen Schüler:innen ungünstig auf den Lernprozess auswirken. Lohmann (2007) zeigte, dass durch Normalisierungsprozesse die pädagogische Beeinflussungsüberzeugung von Lehrpersonen abnimmt, so dass sie die betreffenden Verhaltensweisen als nicht beeinflussbare Grössen akzeptieren – in der Folge sinken die Investitionen zur Förderung der als problematisch identifizierten Schüler:innen. Daher scheint es plausibel, dass einseitige Ursachenzuschreibungen und eine damit einhergehende Pathologisierung der Schüler:innen eine dysfunktionale Strategie im Umgang mit Unterrichtsstörungen darstellen (Wettstein & Scherzinger, 2019).

Die handlungsleitende Orientierung der Affektregulation und der inneren Distanz zu den Schüler:innen, die für die Lehrpersonen des Typs III rekonstruiert wurden, bedürfen einer kritischen Betrachtung. Dies hinsichtlich der Bedeutung möglicher emotionaler Belastungsfolgen von Unterrichtsstörungen. Lehrpersonen, die sich gegenüber Unterrichtsstörungen handlungsunfähig oder ohnmächtig erleben (Nolting, 2012), sind von emotionalen Belastungsfolgen und physiologischen Stressreaktionen besonders betroffen (Lauth-Lebens et al., 2018; Lehr et al., 2008; Wettstein & Scherzinger, 2019). Die Befunde bezüglich der Abhängigkeitsorientierung an externen, nicht beeinflussbaren Faktoren bei den Befragten des Typs III deuten auf ein solches Ohnmachtsgefüge hin. Für die Unterrichtsqualität negativ erweist sich zudem eine innere Distanzierung vom Unterricht, die sich als Versuch zum Aufbau einer Schonhaltung darstellt. Dahingehend würde die Befundlage zu Typ III darauf hindeuten, dass die rekonstruierten Handlungsorientierungen der Affektregulation und der Distanzierungsmechanismen zwar akut hilfreich, aber auf Dauer für den Umgang mit Unterrichtsstörungen nicht empfehlenswert sind. Zwar kann sich diese Schonhaltung und die emotionale Distanzierung positiv auf die Gesundheit der Lehrpersonen auswirken, doch wird dabei die Qualität des Unterrichts und die Beziehung zu den Schüler:innen in Mitleidenschaft gezogen (Grimm, 1993; Wettstein & Scherzinger, 2019). Die emotionale Betroffenheit, welche der Affektkontrolle der Lehrpersonen des Typus III vorausgeht, dürfte diesen (negativen) Kreislauf zusätzlich belasten und zu weiteren – auf die Persönlichkeit bezogenen – Ursachenzuschreibungen führen. So zeigte Schweer (1991), dass die emotionale Betroffenheit von Lehrpersonen zu aversiven emotionalen Reaktionen führen kann. Die persönliche Betroffenheit der Lehrpersonen führt wiederum dazu, dass diese die Ursachen für Störungen eher in Persönlichkeitseigenschaften der Schüler:innen verorten (Schweer, 1998). In Anlehnung an die Ergebnisse der Potsdamer Lehrerstudie (u. a. Schaarschmidt & Kieschke, 2007) liesse sich Typ III als Risikotyp bezeichnen, für den die Reflexion der Handlungsorientierungen von zentraler Bedeutung ist. Beide Lehrpersonen des dritten Typus beurteilen die Situation mit der aktuellen Klasse im Vergleich zu anderen Jahrgängen als besonders negativ. Dementsprechend bliebe zu diskutieren, inwiefern die ermittelten Handlungsorientierungen an die aktuelle Klasse gebunden sind und inwiefern sie sich auch in einer längsschnittlichen Untersuchung als stabil erweisen würden.

Abschliessend kann gesagt werden, dass sich bei den drei identifizierten Typen unterschiedliche Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen zeigen. Inwiefern es sich dabei auch um tatsächlich ‹erfolgreiches› Klassenführungsverhalten (Mayr, 2006) und damit einen erfolgreichen Umgang mit Unterrichtsstörungen handelt, lässt sich nur ansatzweise klären. Weiterhin lässt sich festhalten, dass die drei Typen inhaltliche Anknüpfungspunkte zu den von Mayr (2006) identifizierten Mustern erfolgreichen Klassenführungsverhaltens aufweisen, wobei die Bezeichnung dieser Muster nicht auf die in dieser Arbeit identifizierten Typen zutrifft. Typ I weist zumindest teilweise Überschneidungen mit dem kommunikativ-beziehungsorientierten Muster von Mayr (2006) auf. So scheint auch für den Typ I der Fokus auf der Beziehung sowie der Unterrichtsgestaltung zu liegen. Entgegen den Befunden von Mayr (2006) scheint dabei aber auch das lerndienliche Verhalten der Schüler:innen eine Bedeutung zu haben. Typ II liesse sich am ehesten mit dem fachorientierten Muster in Verbindung bringen, das durch hohe Ausprägungen bei der Kontrolle der Verhaltensweisen sowie der Dimension der Unterrichtsgestaltung gekennzeichnet ist. Zwar scheint eine inhaltliche Anschlussfähigkeit gegeben zu sein, allerdings widerspricht die Orientierung an der Beeinflussung der Schüler:innenverhaltensweisen der von Mayr (2006) identifizierten Fachorientierung. Gleiches gilt für Typ III, der sich inhaltlich mit dem disziplinierenden Muster von Mayr (2006) zusammenstellen lässt. Die niedrigen Ausprägungen hinsichtlich der Beziehungs- und der Unterrichtsgestaltung passen zu den Handlungsorientierungen von Typ III. Hingegen lassen sich die hohen Werte hinsichtlich der Verhaltenskontrolle von Mayr (2006) weniger gut mit Typ III in Verbindung bringen. Vielmehr müssten die Affektregulation und die Distanzierungsmechanismen Eingang in die Typologie finden, um die Anschlussfähigkeit von Mayrs Befunden für Typ III zu erhöhen.

8.3 Erklärungsansätze zur Entstehung der unterschiedlichen Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen

  1. 3.

    Mit welchen Kontextfaktoren lassen sich die rekonstruierten Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen erklären?

Ausgehend von zwei vertiefenden, methodischen Analyseverfahren wurden zwei relevante Kontextfaktoren für mögliche Entstehungszusammenhänge und damit einer zusätzlichen Abstrahierung dieser drei rekonstruierten Typen eruiert. Die Korrespondenzanalyse sowie die Diskussion möglicher relationaler Verbindungen der Vergleichsdimensionen je Typ deuten darauf hin, dass die schulischen Rahmenbedingungen und die Schülerorientierung der Lehrpersonen für die eruierten Typen ausschlaggebend sein könnten. Die Befunde sind aufgrund der methodischen Einschränkungen jedoch mit Vorsicht zu behandeln.

Zwischen den Fällen des Typus IFootnote 1 und denjenigen des Typus IIIFootnote 2 haben sich deskriptive Mittelwertunterschiede hinsichtlich der zwei Konstrukte ‹Rahmenbedingungen› und ‹Schüler:innenorientierung› gezeigt. Dabei sind für die Lehrpersonen des Typus I höhere deskriptive Werte für beide Skalen festzustellen. Hieraus kann abgeleitet werden, dass die von den Lehrpersonen des Typus I als günstig berichteten schulischen Rahmenbedingungen (bspw. günstige Personalressourcen oder gute Zusammenarbeit im Kollegium) der Lehrpersonen auch auf deren Möglichkeiten zur Schüler:innenzentrierung (bspw. persönliche Fragen auch während dem Fachunterricht zu besprechen, selbst wenn dadurch der Unterricht etwas zurücktritt) einwirken bzw. sich ihre lernseitigen Handlungsorientierungen dadurch erst entfalten können. Umgekehrt zeigte sich bei den Lehrpersonen des Typus III, dass sie über eine weniger ausgeprägte Schüler:innenorientierung, hingegen über lehrseitig zu verortende Handlungsorientierungen verfügen. Hinsichtlich der schulischen Rahmenbedingungen konnten für die Interviewten des Typus III keine vergleichbaren Bezüge aufgezeigt werden. Aus den Befunden der Korrespondenzanalyse, anhand derer leicht tiefere Mittelwerte hinsichtlich der als günstig wahrgenommenen schulischen Rahmenbedingungen aufgezeigt wurden, wird abgeleitet, dass die lehrseitigen Handlungsorientierungen von den Lehrpersonen des Typus III im Vergleich zu denjenigen des Typs I in eher ungünstigen schulischen Rahmenbedingungen verortet werden können, wobei zu beachten ist, dass die angenommene Wirkrichtung zwar theoretisch angenommen, aber empirisch nicht überprüft werden kann.

Diskussion der Ergebnisse. Anhand der Befunde kann gefolgert werden, dass die Systemebene der Einzelschule mit den Handlungsorientierungen der Lehrpersonen in einem Zusammenhang steht. Die Relevanz von Kontextfaktoren auf der Einzelschulebene wird bereits in den Angebots-Nutzungs-Modellen (Reusser & Pauli, 2010; Helmke, 2021) dargestellt. Ebenso wird im Rahmenmodell zum Wirkungsgeflecht der Klassenführung nach Helmke und Helmke (2015) ein angenommener Einfluss des Kontextes und der Klassenführung der Lehrpersonen behauptet. Die Befunde der vorliegenden Arbeit weisen jedoch darauf hin, dass die Darstellung um weitere Verbindungen ergänzt werden müsste. Zum einen scheint der Kontext einen Zusammenhang mit den Orientierungen der Lehrpersonen zu haben und zum anderen sollten die angenommenen Wirkrichtungen zwischen dem Kontext und der Klassenführung im Modell um Doppelpfeile ergänzt werden (siehe helle Pfeile in Abbildung 8.1).

Abbildung 8.1
figure 1

Wirkungsgeflecht der Klassenführung (Eigene, erweiterte Darstellung nach Helmke und Helkme, 2015)

Bei einer Betrachtung der drei identifizierten Typen hinsichtlich ihrer Schulzugehörigkeit zeigt sich, dass Typ I zwei perLen-Lehrpersonen und eine SUGUS-Lehrperson mit Zusatzausbildung im Bereich Umgang mit Heterogenität zuzuordnen sind. Typ II sind dagegen zwei perLen-Lehrpersonen und eine SUGUS-Lehrperson zuzurechnen. Schliesslich entfallen auf Typ III zwei SUGUS-Lehrpersonen. Dieser Aufteilung zufolge scheint die veränderte Lehr-Lern-Kultur an Schulen, die ihren Unterricht nach personalisierten Lernkonzepten weiterentwickelt haben, mit den als lernseitig rekonstruierten Handlungsorientierungen der Lehrpersonen aus Typ I in einem Zusammenhang zu stehen. Die Lehrpersonen scheinen sich in ihren Handlungsorientierungen hinsichtlich der unterschiedlichen schulischen und didaktischen Kontexte zu unterscheiden. Hierbei zeigen sich deutliche Übereinstimmungen mit Hofstetters Analysen aus der bezüglich Projektrahmen und Datengrundlage zur vorliegenden Arbeit parallelen Dissertation (2022). In ihren vertiefenden Fallanalysen konnte Hofstetter (2022) einen Unterschied zwischen Lehrpersonen aus stark und solchen aus weniger stark personalisierenden Schulen bezüglich der pädagogischen Rahmenbedingungen zur Prävention von Unterrichtsstörungen feststellen. Lehrpersonen aus stark personalisierenden Schulen berichten über gemeinsame pädagogische Leitlinien und über einen gemeinsamen Rückhalt, der ihnen einen besseren Umgang mit Schwierigkeiten erlaubt (Hofstetter, 2022). Hieraus lässt sich folgern, dass Schulen und Lehrpersonen zur Gewährleistung eines produktiven Umgangs mit Unterrichtsstörungen entsprechende Rahmenbedingungen schaffen sollten, die sich für einen solchen Umgang als förderlich erweisen. Dabei scheint insbesondere die gemeinsame Haltung gegenüber Unterrichtsstörungen sowie Möglichkeiten der unterstützenden Entlastung im Kollegium relevant zu sein (siehe auch Abschnitt 8.6.2).

8.4 Abschliessendes Fazit

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stand das Ziel, Handlungsorientierungen von Lehrpersonen, die in unterschiedlichen didaktischen Kontexten – in Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte – tätig sind, im Umgang mit Unterrichtsstörungen zu erfassen, zu typisieren sowie aufzuzeigen wie die Kontextbedingungen des Unterrichts diesen Umgang beeinflussen. Bei bei den befragten Lehrpersonen konnten drei Typen von Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen nachgezeichnet werden. Die Fälle des Typus I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung›, dem zwei perLen-Lehrpersonen und eine SUGUS-Lehrperson zugeordnet wurden, sind in ihrer lernseitigen Handlungsorientierung darum bestrebt, unterbrochene Lernprozesse bei den Schüler:innen wiederherzustellen. Die Fälle des Typus II ‹verhaltensbeeinflussende Schüler:innenorientierung›, dem zwei perLen- und eine SUGUS-Lehrperson zugeordnet wurden, greifen im Umgang mit Unterrichtsstörungen dagegen auf verhaltensbeeinflussende Massnahmen zurück, die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Unterrichtsflusses dienen. Schliesslich orientieren sich die Fälle des Typus III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung›, dem zwei SUGUS-Lehrpersonen zugeordnet wurden, in ihren lehrseitigen Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen an der Frage, inwiefern sie sich in ihrer Lehrer:innentätigkeit unterbrochen bzw. gestört fühlen. Zudem führen die Lehrpersonen dieses Typs Unterrichtsstörungen auf personenbezogene Eigenschaften der störenden Schüler:innen zurück.

Im Vergleich mit dem aktuellen Forschungsstand gilt den Handlungsorientierungen von Typ I und Typ III besondere Aufmerksamkeit. Aus einer lehr-lern-psychologischen Sicht sollen die lernseitigen Handlungsorientierungen, wie sie für die Fälle des Typs I nachgezeichnet wurden, im Umgang mit Unterrichtsstörungen gefördert werden (siehe auch Abschnitt 8.2). Hingegen deuten die Befunde zu den lehrseitigen Handlungsorientierungen von Typ III auf Reflexionsbedarf hin. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil die Lehrpersonen des Typs III ein besonderes Gesundheitsrisiko aufweisen (siehe auch Abschnitt 8.2). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Befunde zu Typ I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› sich von den Forschungsergebnissen früherer Studien zu Unterrichtsstörungen unterscheiden. Die Befunde zu Typ II ‹verhaltensbeeinflussende Schüler:innenorientierung› und zu Typ III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› weisen dagegen grössere Überschneidungen mit dem bisherigen Forschungsstand auf.

Darüber hinaus wurde in der vorliegenden Arbeit gezeigt, dass sich die schulischen Rahmenbedingungen und die daraus entstehenden Möglichkeiten der Schüler:innenorientierung auch in spezifischen Handlungsorientierungen von Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen widerspiegeln. Die korrespondenzanalytischen Auswertungen lassen die Interpretation zu, dass bei Typ I, dem zwei perLen- und eine SUGUS-Lehrperson mit Zusatzausbildung im Bereich Umgang mit Heterogenität zugeordnet wurden, die als günstig wahrgenommenen schulischen Rahmenbedingungen in einer deutlicheren Schüler:innenorientierung resultieren, d. h. in einer lernseitigen Handlungsorientierung im Umgang mit Unterrichtsstörungen. Hingegen zeigte sich bei Typ III, dem zwei SUGUS-Lehrpersonen zugeordnet wurden, dass deren lehrseitige Handlungsorientierung mit den als ungünstiger wahrgenommenen schulischen Rahmenbedingungen korrespondiert. Diese Befunde stehen in Einklang mit der bezüglich Projektrahmen und Datengrundlage zur vorliegenden Arbeit parallelen Dissertation Ergebnissen von Hofstetter (2022). Die schulischen Rahmenbedingungen in perLen-Schulen zeigen sich in einer veränderten ‹Grammar of Schooling› (Tyack & Tobin, 1994). In diesen Schulen wird der Selbst- und Mitbestimmung der Schüler:innen sowie veränderten Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Lehrpersonen einen zentralen Stellenwert zugeschrieben (Stebler et al., 2021b). Diese veränderten schulischen Rahmenbedingungen zeigen sich den Ergebnissen dieser Arbeit folgend in spezifischen, lernseitigen Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen.

Unterrichtsstörungen sind nicht vollständig vermeidbar, wobei sich der Umgang mit solchen Störungen von Lehrperson zu Lehrperson unterscheidet. Eine Auseinandersetzung mit den häufig vorwiegend unbewussten Umgangsweisen und deren Reflexion ist für Lehrpersonen von Bedeutung, weil ein unproduktiver Umgang mit Unterrichtsstörungen facettenreiche negative Folgen haben kann (Wettstein & Scherzinger, 2019). Angesichts der hohen Komplexität von Unterricht (Doyle, 2006) und des Zeit- und Handlungsdrucks, unter dem dieser erfolgt, kann es nicht anders sein, als dass ein Grossteil der Handlungen von Lehrer:innen zur Aufrechterhaltung des Unterrichtsflusses ohne ressourcenintensive Reflexionskontrolle – quasi automatisiert – erfolgt (Dann & Haag, 2017). Dabei greifen Lehrpersonen zur Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit auf implizite Handlungsorientierungen zurück (Wettstein & Scherzinger, 2019). Diese sind den Handelnden nicht oder wenig bewusst; jedoch strukturieren sie deren Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse (Kramer & Pallesen, 2018, Schweer et al., 2017). Diese impliziten Wissensdimensionen stellen eine wichtige Determinante professionellen Lehrer:innenhandelns dar (Baumert & Kunter, 2006). Der aktuelle Forschungsstand gestattet keine zuverlässige Beantwortung der Frage, welche impliziten Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen bei Lehrpersonen vorliegen (Hofstetter, 2022; Eckstein, 2018a; Lauth-Lebens, Lauth & Rietz, 2018; Makarova, Herzog & Schönbächler, 2014; Scherzinger, Wettstein & Wyler, 2017; Sullivan et al., 2014).

Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit weisen auf relevante Kriterien und Inhalte zur Reflexion des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen hin (siehe auch Abschnitt 8.6). Zu empfehlen ist die Förderung lernseitiger Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen. Lehrseitige Handlungsorientierungen hingegen sind zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren.

8.5 Limitationen der Studie und Forschungsdesiderata

Nachfolgend wird auf methodische (Abschnitt 8.5.1) und inhaltliche (Abschnitt 8.5.2) Limitationen eingegangen, die bei der vorliegenden Studie zu berücksichtigen sind, und es werden Forschungsdesiderate benannt (Abschnitt 8.5.3), denen weiterführenden Studien nachgehen sollten.

8.5.1 Methodische Limitationen

Mit der Dokumentarischen Methode als qualitativ-rekonstruktivem Analyseverfahren wurden zwar die von Pauli und Reusser (2014, S. 649) formulierten Schwierigkeiten bei der Erfassung impliziter Überzeugungen, die den Subjekten nur schwach bewusst (oder unbewusst) sind, überwunden; dennoch ergeben sich methodische Limitationen für diese Arbeit, die nachfolgend ausgeführt werden.

Problemzentriertes Interview. Zwar betrachtet Nohl (2017) das problemzentrierte Interview als mögliche Basis für Auswertungen mit der Dokumentarischen Methode. Zustimmung findet die Autorin darin, dass das problemzentrierte Interview die Möglichkeit bietet, in ressourcenschonender Zeit mit Lehrpersonen über eine fokussierte Thematik (im vorliegenden Fall über Unterrichtsstörungen) zu sprechen. Es zeigte sich für die vorliegende Arbeit jedoch, dass aufgrund der Interviewfragen häufig argumentative Textstellen und kurze Antwortpassagen vorkamen. Diese mit der Dokumentarischen Methode auszuwerten, stellt eine Herausforderung dar, weil grundsätzlich nur beschreibende und erzählende Textpassagen die Rekonstruktion atheoretischen Wissens zulassen, indem sie im Zugzwang des Erzählens Zugang zum Erlebniszusammenhang und zur Alltagspraxis gewähren (Nohl, 2017).

Auswahl der Passagen. Pro Fall wurden für die vorliegende Arbeit je drei Passagen ausgewertet, was den methodischen Anforderungen entspricht (Nohl, 2017). Zu überprüfen wäre, ob eine Erweiterung der Anzahl an Passagen sinnvoll wäre. Diesem Argument zu entgegnen ist jedoch der Grad der Standardisierung bei der Auswahl der Passagen für die vorliegende Arbeit. So konnten für jedes Interview mindestens zwei gleiche Passagen ausgewählt werden, was mit einer Erhöhung der Auswahl an Passagen nicht mehr gleichermassen gewährleistet würde.

Empirische Fremdkontrolle. Die Arbeit in Forschungswerkstätten ist für den Auswertungsprozess mit der Dokumentarischen Methode von grundlegender Bedeutung. Im Idealfall erfolgt die empirische Auswertungsarbeit im Team, sodass die eigene Standortgebundenheit im Auswertungsprozess kontrolliert wird (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Für die vorliegende Arbeit wurden so oft wie möglich Auswertungen in Forschungswerkstätten eingebracht und diskutiert (Zeitraum zwischen 2018–2022) sowie auf eine Auswertung anhand empirischer Vergleichshorizonte geachtet (Nohl, 2017). Bei Forschungswerkstätten nehmen in der Regel Personen teil, die selbst eigenes Auswertungsmaterial einbringen, was dazu führt, dass die Möglichkeiten, Material zu diskutieren, beschränkt sind.

Generalisierbarkeit der Ergebnisse. In Anbetracht der methodischen Prämisse, dass sinngenetische Typen aufgrund des Fehlens gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge nur bedingt generalisierbare Erkenntnisse aufzeigen, stellt demnach die Generalisierbarkeit der vorliegenden Ergebnisse eine weitere Limitation dar (Hoffmann & Keitel, 2018). Sowohl die soziogenetische Typenbildung mit vorausgehender Korrespondenzanalyse als auch die relationale Typenbildung konnten nur in Ansätzen durchgeführt werden. Zudem kann kritisiert werden, dass die Analyse in der vorliegenden Arbeit hauptsächlich auf der Auswertung von Einzelinterviews basieren – damit können zwar Handlungsorientierungen vor den Prämissen der Dokumentarischen Methode rekonstruiert werden (u. a. Nohl, 2017), dennoch werden damit auch Einschränkungen manifest, die bspw. durch die Rekonstruktion von Handlungsorientierungen anhand von Unterrichtsvideos behoben werden könnten (Asbrand & Martens, 2018).

8.5.2 Inhaltliche Limitationen

Trotz der vorliegenden Ergebnisse, die aufzeigen woran sich Lehrpersonen aus Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte im Umgang mit Unterrichtsstörungen orientieren, lassen sich einige inhaltliche Limitationen festhalten, die es in weiterführenden Forschungsarbeiten zu berücksichtigen gilt (siehe Abschnitt 8.5.3).

Fokus auf die Lehrperson. Die einseitige Beschränkung auf die Rekonstruktion der Handlungsorientierungen der Lehrpersonen stellt eine Limitation dieser Arbeit dar. Das interaktionistische Verständnis von Unterrichtsstörungen bedürfte die zusätzliche Berücksichtigung der Perspektiven der Schüler:innen (Hofstetter, 2022; Clausen, 2002).

Personalisierungsgrad. In der vorliegenden Arbeit wurden die Handlungsorientierungen von Lehrpersonen, die an stark personalisierten Schulen und eher traditionellen Schulen unterrichten, zueinander in Bezug gesetzt. Zwar eröffnet dieses heterogene Sample Möglichkeiten, darin wird aber auch eine Limitation gesehen. Die Ergebnisse der perLen-Studie (Stebler et al., 2021b) zeigen, dass innerhalb der Abstufung von sehr stark personalisierten Schulen bis moderat personalisierenden Schulen Unterschiede vorhanden sind. Diese Spannbreite von Schulen, die ihren Unterricht nach personalisierten Lernkonzepten weiterentwickelt haben, wurde in der vorliegenden Arbeit nicht weiter berücksichtigt.

8.5.3 Forschungsdesiderata

Ergänzungen zu den vorliegenden Auswertungen sind hinsichtlich mehrerer Aspekte denkbar, die sich unter anderem aus den Limitationen dieser Arbeit ergeben. In Anlehnung an das interaktionistische Theoriemodell der Unterrichtsstörungen (Eckstein et al., 2016) wäre ein Abgleich der Handlungsorientierungen und der Perspektiven zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen angebracht. Eine Untersuchung der unterschiedlichen Perspektiven und deren Passung wäre in einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise (Zumwald, 2022) von Interesse. Damit könnten potenzielle Spannungsfelder aufgedeckt werden, die sich aus divergenten Handlungsorientierungen zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen ergeben. Ergänzend wäre eine rekonstruktive Analyse von Unterrichtsvideos (Asbrand & Martens, 2018) von Relevanz, um den Umgang mit Unterrichtsstörungen auf einer noch praxisnäheren Ebene zu beleuchten.

Ausgehend von dem Befund, dass die schulischen Rahmenbedingungen mit den typisierten Handlungsorientierungen der Lehrpersonen in einem Zusammenhang stehen, wäre eine vertiefende Untersuchung zu ebendiesem Zusammenhang und den damit verbundenen Wirkrichtungen von Interesse. Hieraus liessen sich Erkenntnisse zur Weiterentwicklung von Schulen ableiten, so dass diese es ermöglichen, dass sich bei Lehrpersonen lernseitige Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen etablieren.

Ein weiterer möglicher Ansatzpunkt für Folgeuntersuchungen bestünde darin, die Generalisierbarkeit der Ergebnisse fortzuführen, denn die Forschung nimmt mit der Typenbildung kein Ende, sondern vielmehr einen neuen Anfang (Nentwig-Gesemann, 2013, S. 299). Dabei wäre es in Anlehnung an die Korrespondenzanalyse zudem interessant, anhand von Mixed-Methods-Designs (Plano Clark & Ivankova, 2016) erstens weitere Anhaltspunkte zu Ursachen für die Entstehung der einzelnen Typen zu finden und zweitens Zusammenhänge zwischen der Lernwirksamkeit und den unterschiedlichen Handlungsorientierungen der Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen zu untersuchen.

Ein Ziel der vorliegenden Arbeit bestand darin, Wissen zum Umgang mit Unterrichtsstörungen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen zu generieren. Inwiefern die Erkenntnisse dieser Arbeit jedoch tatsächlich zur Reflexion eines produktiven Umgangs mit Unterrichtsstörungen dienlich sind und ob Handlungsorientierungen durch diese Reflexion in geeigneter Weise verändert werden können, wäre anhand einer längsschnittlichen Interventionsstudie im Rahmen der Professionalisierungsforschung zu prüfen.

8.6 Schlussfolgerungen für die Praxis

Die Vermittlung von Reflexionsfähigkeiten und -erfahrungen, einschliesslich der Verfügbarkeit relevanter Kriterien und Inhalte der Reflexion sind für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen von zentraler Bedeutung (Reusser & Pauli, 2014; Schweer et al., 2017), ebenso die Frage, wie sich (als suboptimal erkannte) Handlungsorientierungen bearbeiten und verändern lassen. Aus den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit lassen sich einige Schlussfolgerungen für die Reflexion der Unterrichtspraxis im Umgang mit Unterrichtsstörungen, mit Bezug auf konkrete Reflexionsthemen (Abschnitt 8.6.1) sowie für die Arbeit in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen (Abschnitt 8.6.2.) ableiten.

8.6.1 Schlussfolgerungen für die Unterrichtspraxis

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Wissen zu Handlungsorientierungen von Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen hervorzubringen und dieses für die Praxis nutzbar zu machen. Schwer zugängliche, implizite Handlungsorientierungen lassen sich über Reflexionserfahrungen aufdecken und verändern (Reh, 2004; Reusser & Pauli, 2014; Schweer et al., 2017). Das Potenzial der Reflexion der eigenen Handlungspraxis besteht in der Erweiterung der eigenen Professionalität und der Erweiterung von möglichen Handlungsalternativen (Wahl, 2008; Kolbe, 2004). Bei Nutzung dieses Potenzials ist zu erwarten, dass damit auch ein Beitrag zur Erweiterung des Spektrums an Handlungsmöglichkeiten geleistet werden kann, und damit zur Verbesserung der Unterrichtsqualität (Baumert & Kunter, 2006). Aus der vorliegenden Arbeit können nun relevante Kriterien und Inhalte zur Reflexion formuliert werden, die zu einer Verbesserung des Umgangs mit Unterrichtsstörungen führen können.

Aus den Befunden kann abgeleitet werden, dass es für den Umgang mit Unterrichtsstörungen wichtig ist, dass Lehrpersonen erkennen, auf Grundlage welcher lehr- oder lernseitiger Handlungsorientierungen sie agieren. Um welche Orientierungen es sich handelt, wurde in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet. Für Lehrpersonen dürfte es durchaus hilfreich und wichtig sein zu wissen, dass es sowohl lernseitige als auch lehrseitige Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen gibt. Auch dass es erstrebenswert ist, dass Lehrpersonen Unterrichtsstörungen eher lernprozessorientiert, d. h. als lernseitigen Unterbruch, und nicht vor allem als gegen sich selbst gerichtete Verhaltensweisen der Schüler:innen behandeln sollten. Sodann auch, dass es hilfreich sein kann, die emotionalen Kosten der eigenen Orientierungen zu kennen, z. B. dass sich Lehrpersonen, die sich bei Unterrichtsstörungen an lehrseitigen Unterbrüchen orientieren, mit der daraus resultierenden Affektregulation auseinandersetzen müssen und somit Gefahr laufen, von emotionalen Belastungsfolgen getroffen zu werden (u. a. Schweer, 1998). Ausserdem ist anzunehmen, dass sich lernseitige Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen positiv auf die Lernentwicklung der Schüler:innen auswirken.

Ebenfalls von Bedeutung dürfte weiter sein, über die als Lehrperson im Unterricht praktizierten Ursachenzuschreibung für Unterrichtsstörungen zu reflektieren. Handlungsleitend für den Reflexionsprozess wären Fragen wie:

  1. a)

    Suche ich als Lehrperson nach differenzierten Ursachen für Unterrichtsstörungen? Und warum? Was erlebe ich an meiner eigenen Praxis als unbefriedigend? Verbesserungsfähig?

  2. b)

    Und wenn ja: Liegen diese Ursachen in veränderbaren Dimensionen, die meinen Unterricht betreffen, oder sehe ich Ursachen für Störungen in personenbezogenen Eigenschaften?

Die Reflexion von Ursachen für Unterrichtsstörungen, welche massgeblich durch implizite Handlungsorientierungen geprägt sind, ist für einen produktiven Umgang mit Unterrichtsstörungen zentral, was sich einerseits in den Befunden zu Typ I und andererseits in den bisherigen Forschungsergebnissen widerspiegelt (u. a. Grosse Siestrup, 2010; Belt & Belt, 2017).

Ausgehend von den diskutierten Befunden zu Typ I und Typ II wäre für die Praxis relevant zu reflektieren, inwiefern die Lehrpersonen sich im Sinne eines responsiven Verhältnisses zu den Schüler:innen in diese hineinversetzen und deren Bedürfnissen Rechnung tragen, womit eine positive Beziehung gefördert wird (Rüedi, 2014). Damit einher geht auch eine Reflexion darüber, inwieweit den Schüler:innen Verantwortung für ihr Lernen und für ihr Verhalten übertragen und inwiefern ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt, vor allem aber auch zugetraut wird (Typ I). Aus theoretischer und empirischer Perspektive wäre deshalb auch für den Umgang mit Unterrichtsstörungen zu empfehlen, dass Lehrpersonen im Sinne von ‹Choice and Voice› (Mötteli et al., 2021; Ryan & Deci, 2020) den Schüler:innen Verantwortung für ihre (Lern-) Entwicklung und ihr Verhalten übertragen.

Wie aus den Befunden dieser Arbeit hervorgeht, stehen die Handlungsorientierungen der Lehrpersonen auch mit den schulischen Rahmenbedingungen in Zusammenhang. Die lernseitig orientierten Handlungsmuster im Umgang mit Unterrichtsstörungen von Typ I werden zumindest für zwei Interviewte dieses Typus auf Äusserungen zurückgeführt, welche auf die positiv beurteilten Möglichkeiten durch schulische Rahmenbedingungen Bezug nehmen. Wird der Umstand berücksichtigt, dass es sich dabei um Lehrpersonen aus Schulen handelt, die ihren Unterricht nach personalisierten Unterrichtskonzepten weiterentwickelt haben und damit in ihrer ‹Grammar of Schooling› (Tyack & Tobin, 1994) von traditionellen Schulen abweichen (Stebler et al., 2021a), könnte die Reflexion der Rahmenbedingungen, unter denen die Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen umgehen, von schul- und unterrichtsentwicklungsleitender Bedeutung sein (siehe auch Hofstetter, 2022). Zentral scheint dabei die Frage nach Möglichkeiten gemeinsamer Unterstützungsgefässe – wie bspw. gemeinsame Leitlinien für den Umgang mit schwierigen Situationen im Unterricht (Hofstetter, 2022).

8.6.2 Schlussfolgerungen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen

In der Lehrpersonenbildung (Grundausbildung sowie Fort- und Weiterbildung) zum Thema Umgang mit Unterrichtsstörungen sollten ausbildungsdidaktischen Settings gesucht werden die es erlauben, die eigenen (mitgebrachten, habituell verfestigten) Orientierungen wahrzunehmen, was eine Voraussetzung für jede Veränderung dieser Handlungsorientierungen darstellt. Wie Explikation und Reflektion der Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen auf effektive Weise geschehen kann, kann die vorliegende Arbeit nicht beantworten, jedoch werden einige Hinweise darauf gegeben, a) welches wichtige, implizit bei Lehrpersonen vorhandene Wissensbestände und damit verbundene, habituell gewordene Verhaltensautomatismen sind, mit denen sich insbesondere Lehrpersonen auseinandersetzen sollten, wenn sie zu einem produktiveren Umgang mit Unterrichtsstörungen kommen wollen (nachfolgend Thesen I-V) und b) mit welchen Instrumenten und Methoden in der Lehrer:innenbildung an der Veränderung gearbeitet werden könnte (These VI). Nachfolgend werden ausgehend von den Erkenntnissen dieser Arbeit schlussfolgernde Thesen formuliert, die es in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen zu berücksichtigen gilt.

These I.:

Im Umgang mit Unterrichtsstörungen sind lernseitige Handlungsorientierungen bei den Lehrpersonen dienlich, um das Lernen der Schüler:innen zu fördern.

Lernseitige Handlungsorientierungen äussern sich darin, dass die betreffenden Lehrpersonen Unterrichtsstörungen als Unterbrechungen von Lernprozessen erfassen und im Umgang mit diesen darum bestrebt sind, den unterbrochenen Lernprozess wiederherzustellen.

Für den Umgang mit Unterrichtsstörungen sind Handlungsorientierungen lernförderlich, wie sie für die Lehrpersonen des Typus I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› rekonstruiert wurden. Vor dem Hintergrund eines qualitätsvollen Unterrichts fokussieren sie das Lernen der Schüler:innen. Die Interviewten des Typus I fassen Unterrichtsstörungen als eine Unterbrechung des Lernprozesses auf, was der Annahme des interaktionistischen Theorieverständnisses (Eckstein et al., 2016; Martens, 2015; Wettstein et al., 2016) von Unterrichtsstörungen entspricht. Aus empirischen und theoretischen Erkenntnissen folgt, dass ein lernunterstützendes Klima und eine enge Beziehung zu den Schüler:innen – wie sie bei den Lehrpersonen des Typus I nachgezeichnet wurde – sowohl lernförderlich als auch störungspräventiv wirken (Lohmann, 2007; Rüedi, 2014; Wettstein & Scherzinger, 2019).

These II.:

Die Reflexion lehrseitiger Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen ist von zentraler Bedeutung, um Verbesserungen der Unterrichtsqualität zu erzielen und präventiv zur Wahrung der Lehrer:innengesundheit beizutragen.

Die für die Lehrpersonen des Typus III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› rekonstruierte Orientierung an der Aufrechterhaltung der eigenen Handlungspläne sowie der Distanzwahrung zu den Schüler:innen weist im Vergleich zu den Lehrpersonen des Typus I eine weniger deutliche Schüler:innenorientierung auf. Die Wahrung von Distanz zu den Schüler:innen als Aufbau einer Schonhaltung wird als dysfunktionale Form des Umgangs mit Unterrichtsstörungen betrachtet, weil damit einerseits die lernförderliche Unterrichtsqualität und andererseits die Beziehung zu den Schüler:innen geschwächt wird (Wettstein & Scherzinger, 2019). Entsprechend wird die Veränderbarkeit der lehrseitigen Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen durch Reflexion als zentral erachtet.

These III.:

Im Umgang mit Unterrichtsstörungen nach Ursachen für ebendiese zu suchen und die Ursachen nicht in personenbezogenen Eigenschaften zu sehen ist von grundlegender Bedeutung. Werden Ursachen für Unterrichtsstörungen im Lernprozess verortet statt in personenbezogenen Eigenschaften, können die Störungen als Anlass genutzt werden, um Anpassungen des Unterrichts vorzunehmen.

Die emotionale Betroffenheit bei Unterrichtsstörungen kann dazu führen, dass Ursachen für diese in individuellen personenbezogenen Eigenschaften der Schüler:innen verortet werden, was den Handlungsorientierungen des Typs III entspricht. Die Relevanz des Grundsatzes, Ursachen für Störungen gerade nicht in Eigenschaften der Schüler:innen zu sehen, wurde bereits in anderen Studien aufgezeigt (Belt & Belt, 2017; Sullivan et al., 2014; Grosse Siestrup, 2010). Die Befunde der vorliegenden Arbeit unterstreichen diese Relevanz. Von diesen Befunden ausgehend erschliesst sich, dass Unterrichtsstörungen, die auf den Lernprozess bezogen werden, den Lehrpersonen zum Anlass dienen können, um lernförderliche didaktische Änderungen vorzunehmen.

These IV.:

Neben der Reflexion individueller Handlungsorientierungen ist es für einen konstruktiven, auf das Gelingen von Lernprozessen ausgerichteten Umgang mit Unterrichtsstörungen ebenfalls zentral, eine kollektive Reflexion der schulischen Rahmenbedingungen vorzunehmen.

Die schulischen Rahmenbedingungen stehen den Befunden dieser Arbeit zufolge im Zusammenhang mit den Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen. Um die Möglichkeiten des lernseitigen Umgangs mit Unterrichtsstörungen zu fördern, sind nebst der Reflexion individueller Handlungsorientierungen auch kollektive Schul- und Unterrichtsentwicklungsbestrebungen zentral (siehe auch Hofstetter, 2022). Insofern wäre eine Weiterentwicklung der Schule im Sinne gezielter Professionalisierung mit einem Fokus auf der Lernförderung der Schüler:innen anzustreben (Maag Merki, 2021). An einigen Schulen werden solche Professionalisierungsmassnahmen, die über individuelle Massnahmen hinausgehen, bereits ergriffen: «Ich glaube, fast alle haben noch einen Master gemacht, nach 10, 15 Jahren Arbeiten. Das ist einfach Haus aus bei uns, du bildest dich weiter. Machst etwas.» (Herr Mohn, Zeile 972–974) Reflektiert werden könnte eine Weiterentwicklung der (Unterstützungs-)Möglichkeiten zur Kooperation im Umgang mit Störungen sowie zur Förderung der Schüler:innen dahingehend, beim Lernen Verantwortung zu übernehmen (Stebler et al., 2021b).

These V.:

Die Schüler:innen zu befähigen, Verantwortung für ihre Lernentwicklung sowie ihr Verhalten zu übernehmen, und dabei eine positive Beziehung zu ihnen zu wahren, ist für den Umgang mit Unterrichtsstörungen von zentraler Bedeutung.

Hierbei ist es relevant zu reflektieren, inwiefern die Lehrpersonen sich im Sinne eines wechselseitigen Verhältnisses zu den Schüler:innen in diese hineinversetzen und deren Bedürfnisse berücksichtigen, wodurch die Entstehung einer positiven Beziehung zwischen Schüler:innen und Lehrpersonen gefördert wird (Rüedi, 2014). Des Weiteren gilt es zu reflektieren, inwieweit die Lehrpersonen den Schüler:innen Verantwortung für ihr Lernen und für ihr Verhalten übertragen und inwiefern sie ihnen ein Mitspracherecht im Unterricht einräumen, vor allem aber zutrauen (Typ I). Aus theoretischer und empirischer Sicht ist für den Umgang mit Unterrichtsstörungen zu empfehlen, dass Lehrpersonen ihren Schüler:innen im Sinne von ‹Choice and Voice› (Mötteli et al., 2021; Ryan & Deci, 2020) Verantwortung für ihre (Lern-)Entwicklung und ihr Verhalten übertragen.

These VI.:

Zur gezielten Reflexion von Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen empfiehlt sich die fallbasierte Arbeit mit Unterrichtsvideos als vielversprechender Zugang.

In Anbetracht des Umstandes, dass Reflexion inzwischen «als Konsensformel der Lehrer:innenbildung» bezeichnet wird (Leonhard, 2020, S. 14), stellt sich die Frage, in welchen Formen Reflexion zur Professionalisierung von Lehrpersonen sinnvollerweise eingesetzt werden kann. Diesbezüglich wurde in empirischen Arbeiten gezeigt, dass hierzu die Arbeit mit Videos, in denen Lehrpersonen Unterrichtsstörungen wahrnehmen und in unterschiedlicher Art und Weise darauf reagieren, gewinnbringend zur Förderung der eigenen Handlungsorientierungen ist (Krammer et al., 2012). UnterrichtsvideosFootnote 3 können deshalb als besonders geeignetes Instrument zur Professionalisierung von Lehrpersonen betrachtet werden (Krammer et al., 2012; Hirstein, Denn, Jurkowski, Lipowsky, 2017; Steinwachs & Gresch, 2019). Konkret reflektieren Lehrpersonen in der Arbeit mit Videos den eigenen Umgang mit Unterrichtsstörungen anhand der Analyse von Umgangsformen anderer Lehrpersonen in den videographierten Unterrichtssequenzen und modellieren diese je nach eigener Bewertung in einer idealen Weise. Vorteilhaft daran ist, dass die Reflexion nicht in der Situation selbst, sondern ohne Handlungsdruck, aber dennoch anhand einer realen Unterrichtssituation erfolgt (Krammer et al., 2012). Unterrichtssituationen werden vor dem subjektiven Vorwissen und Erfahrungen einer Person beobachtet (Krammer & Reusser, 2004). Es hat sich gezeigt, dass die Reflexion anhand von Unterrichtsvideos – als Formen wahrheitsgetreuer Simulationen – zu einer Veränderung von Handlungsalternativen führen kann (Krammer & Reusser, 2004). Anhand gezielter Impulse kann anhand von Beobachtungsübungen dieses Handlungswissen erweitert werden (Krammer & Reusser, 2004). Wichtig ist, dass diese neuen Handlungsalternativen im praktischen Unterricht erprobt und gefestigt werden (Lipowsky, 2019; Wahl, 2008). Implizite Handlungsorientierungen und die Kontextbedingungen des Unterrichts beeinflussen den Umgang von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen. Störungen im Unterricht lösen bei Lehrpersonen Affekte aus und erfordern ein Handeln unter Zeitdruck. Durch Reflexion bspw. anhand von Unterrichtsvideo können Lehrpersonen die Wahrnehmung von und den Umgang mit Unterrichtsstörungen gezielt angehen, was wiederum eine Veränderung der impliziten Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen ermöglicht.