Zuerst wird auf die Darstellung der Analysen ausgewählter Fälle eingegangen (Abschnitt 7.1), um anschliessend die sinngenetischen Typen darzulegen (Abschnitt 7.2). Die Korrespondenzanalyse wird in Abschnitt 7.3 vorgestellt. Anschliessend werden Kontextfaktoren zur Erklärung der sinngenetischen Typen vorgestellt (Abschnitt 7.4). Damit folgt das Kapitel 7 einer zunehmenden Abstrahierungslogik – vom Einzelfall hin zu soziogenetischen Erklärungsansätzen der rekonstruierten Typen (Hinzke, 2018).

7.1 Exemplarische Darstellung ausgewählter Fälle

Die Fallanalysen stellen eine Zusammenschau der rekonstruierten Handlungsorientierungen der ausgewählten Fälle dar. Diese stellen je einen Repräsentanten oder eine Repräsentantin der drei sinngenetisch rekonstruierten Typen dar. Anhand der Fallanalysen können, die im Rahmen der sinngenetischen Typenbildung typisierten Handlungsorientierungen besonders deutlich dargestellt werden. Zudem ist es möglich, fallimmanente Querbezüge der Handlungsorientierungen festzuhalten, womit die Nachvollziehbarkeit des methodischen Vorgehens konturiert wird. Dabei wird noch nicht auf die komparative Analyse eingegangen. Diese hat zwar im Auswertungsprozess bereits stattgefunden, wird aber in der Beschreibung der Fallanalysen zur besseren Lesbarkeit noch aussen vorgelassen. Die nachfolgend ausgeführten Fallanalysen bilden das «Fundament für weitere Analysen und Interpretationen» (Binczek, 2014, S. 319) und werden bei der Herleitung der sinngenetischen Typen erneut aufgenommen – da die Dokumentarische Methode darauf abzielt, kollektive – also fallübergreifende – Handlungsorientierungen zu rekonstruieren (siehe Abschnitt 6.4).

Der Aufbau der Fallanalysen erfolgt anhand der thematischen Strukturierung der Vergleichsdimensionen, wie sie auch für die Typenbeschreibung (siehe Abschnitt 7.2) vorgenommen wird. Diese Vergleichsdimensionen resultieren aus der Fallrekonstruktion, die dann der komparativen Analyse zugrunde gelegt wurde.

Folgende Tabelle (Tabelle 7.1) gibt einen Überblick anhand welcher Vergleichsdimensionen die Fälle strukturiert wurden.

Tabelle 7.1 Vergleichsdimensionen der Fallanalysen und der Typenbildung

Zu Beginn der Fallanalysen werden Hinweise zur interviewten Lehrperson und zu den Rahmenbedingungen der Interviewsituation gegeben. Es folgt eine Darstellung der Erkenntnisse zu den ersten zwei Vergleichsdimensionen (1. Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen; 2. Unterrichtspraxis). Es folgt eine Kurzzusammenfassung der ersten zwei Vergleichsdimensionen. Zum Abschluss jeder Fallanalyse erfolgt die, aus den zwei ersten Vergleichsdimensionen abgeleitete und ergänzte Zusammenschau der Erkenntnisse zur Erfassung einer Unterrichtsstörung und zum Umgang mit Unterrichtsstörungen.

7.1.1 Fallanalyse Herr Raps

Herr Raps unterrichtet an einer ländlichen Schule, die personalisierte Lernkonzepte in ihre Unterrichtsarchitektur integriert hat. Dabei handelt es sich um eine sehr stark personalisierte Schule.Footnote 1 Herr Raps verfügt über zehn Jahre Unterrichtserfahrung. Er unterrichtet Schüler:innen von der 5. bis zur 10. Klasse.. Das Interview mit ihm dauerte 75 Minuten und konnte im Pausenraum der Schule durchgeführt werden.

7.1.1.1 Vergleichsdimension ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›

Die Eingangspassage des Gesprächs mit Herrn Raps wird durch die Frage der Interviewerin nach der Einschätzung der Zusammenarbeit mit den Schüler:innen eröffnet. Herr Raps nimmt die Frage auf und weitet seine Antwort zur Zusammenarbeit auf die ganze Schule («wo wir hier an der Schule», Zeile 3) aus. Im Vergleich zu anderen Jahrgängen empfindet Herr Raps die momentane Zusammenarbeit mit den Schüler:innen als sehr zufriedenstellend. Im Modus der Argumentation begründet Herr Raps seine Zufriedenheit damit, dass er eher eine «managende» Funktion (Zeile 8) einnehmen kann. Im positiven Horizont steht für ihn im Vergleich zu früheren Jahrgängen, dass die Schüler:innen selbst Verantwortung für ihr Handeln und für ihre «Arbeit» (Zeile 7) übernehmen:

  • Herr Raps: «Mhm, die Zusammenarbeit ähm mit den Schülerinnen und Schüler wo wir hier an der Schule haben, und insbesondere ähm ich sag jetzt mal in der Bezugsgruppe; weil ich bin ja Bezugscoach? in (Schule), die erlebe ich im Moment als ähh::m sehr sehr @sehr sehr@ ähh (.) ich sage befri- zufriedenstellend? Das ist nicht in jedem Jahr gleich, aber in diesem Jahr ist das jetzt schon fast etwas ausserordentlich, ähm weil ich sehr viele Jugendliche habe, wo viel Verantwortung übernehmen; ähm für ihre Arbeit, äh und dort ich wirklich irgendwie so eine managende Funktion habe, was mir sehr gefällt, was mir sehr li:egt und die Jugendliche dort ähh::h glaub ja? in eine Richtung arbeiten wo ich denke, das wird ihnen in der Zukunft dienen.» Zeile 3–9.

Indem die Schüler:innen Verantwortung übernehmen und selbstständig «in eine Richtung arbeiten», die «ihnen in der Zukunft» (Zeile 9) dient, dokumentiert sich bei Herrn Raps die Möglichkeiten bei diesen «ausserordentlichen» (Zeile 6) Schüler:innen jene managende Position einzunehmen. Indem er die Zusammenarbeit darauf bezieht, dass die Schüler:innen Verantwortung übernehmen, und dabei den Anschluss daran macht, dass diese Form des Arbeitens «in der Zukunft dienen» (Zeile 9) wird, dokumentiert sich seine Orientierung an Schule, die über die Schulkarriere hinaus Einfluss auf das Leben der Jugendlichen nimmt. Herr Raps orientiert sich daran, dass er die Schüler:innen auf diese Zukunft ausserhalb der Schule vorbereitet und sich darin als selbstwirksam erlebt.

Herrn Raps Orientierung an seiner managenden Funktion und der Einflussnahme auf das Leben der Schüler:innen über deren Schulkarriere hinaus wird ebenso an anderen Stellen im Interview erkennbar. In folgendem Auszug schliesst die Interviewerin an die Ausführungen zum «Verantwortung übernehmen» (Zeile 7) an und stellt Herrn Raps folgende immanente Nachfrage:

  • Y: «Nur zum Rückfragen, für mich, für das Verständnis, nehmen sie sehr viel Verantwortung für sich selber wahr; oder tun sie au::ch a::ndere Schüler- (.) also über- übernehmen sie auch Verantwortung für die Gruppe. Oder was ist jetzt das wo Du-. Herr Raps: «Ä:hh- also i-i-i- ich würde sagen generell, also für ihre eigene Arbeit, für die Gruppe, ähm ein kleines Beispiel; ich fragte zuvor schnell; weil zwei Jugendliche; die eine hat mit ihnen heute ein Interview; //ja// der andere Jugendliche geht früher nach Hause, weil er noch einen externen Termin hat und dann habe ich zwei Jugendliche gebraucht, welche ähm (.) das /Ämtlein/ in der Küche machen heute Mittag in der Küche, dann habe ich schnell gefragt gehabt und dann ging es eine Minute, dann hatte ich zwei Jungs //mhm// welche sich freiwillig gemeldet haben, und solche Dinge //ja// sind einfach nicht selbstverständlich //mhm// und das ist für mich sehr sehr wichtig und das ist natürlich schön, wenn ich nicht darum bitten muss;, sondern wenn ich eine Fragen kann; ‚Hey ich wäre froh?‘- ähm und dann melden sich zwei. Das ist glaube ich, nicht ähm °selbstverständlich in der heutige Zeit.» Zeile 23–34.

Seine Antwort zeigt, dass er beide vorgegebenen Antwortformate validiert (Verantwortung für sich selbst und für die anderen Schüler:innen bzw. für die Gruppe übernehmen). Die Antwort deutet zudem darauf hin, dass er die von der Interviewerin vorgeschlagenen Dimensionen (für sich selbst oder für die Gruppe Verantwortung übernehmen) anschlussfähig findet, indem er keine weiteren Ergänzungen anbringt. Beispielhaft führt Herr Raps anschliessend aus, wie zwei Jugendliche Verantwortung für die «Ämtlein» (Zeile 29) übernehmen und sich auch ausserhalb des Unterrichts engagieren. Darin zeigt sich, dass das Lernen zentral für Herrn Raps ist und dass dies über den fachlichen Stoff hinausgeht. Im Gegensatz zur Verantwortungsübernahme im vorherigen Abschnitt bezieht sich dieses Beispiel der Verantwortungsübernahme auf eine soziale Ebene im Klassengefüge (Verantwortung füreinander übernehmen). Dem Beispiel immanent ist seine Vorstellung von Verhaltenserwartungen an die Schüler:innen: Einerseits wird deutlich, dass Herr Raps das Beispiel als Exempel für gegenseitiges, schülerunterstützendes Verhalten sieht, andererseits wird darin auch deutlich, dass sich Herr Raps an konformem Verhalten der Schüler:innen orientiert («und das ist natürlich schön, wenn ich nicht darum bitten muss;, sondern wenn ich eine Fragen kann; ‚Hey ich wäre froh?‘- ähm und dann melden sich zwei», Zeilen 32–33). Deutlich wird, dass er dabei nicht ins Handeln involviert ist, sondern eine managende Funktion einnehmen kann, gegebenenfalls Verhaltens-Aufforderungen aussprechen muss. Handlungsleitend erweist sich seine Orientierung an selbstständig arbeitenden, Verantwortung übernehmenden Schüler:innen, bei denen er eine managende Funktion einnehmen kann.

Das zentrale Thema der Verantwortungsübernahme führt Herr Raps in einer anderen Passage des Interviews erneut aus und bringt neben der Verantwortungsübernahme der Schüler:innen für sich selbst und für die Gruppe zusätzlich seine eigenen Verantwortungszuschreibungen gegenüber den Schüler:innen an; nämlich deren «Erfolg» (Zeile 434) zu erzielen. Deutlich wird in seinen Ausführungen, dass er und die Schüler:innen in einem reziproken Verhältnis stehen («dass wir uns das gegenseitig ermöglichen», Zeile 439), um «Erfolg» und «Leistung» zu erzielen. Darin zeigt sich – identisch zu den oberen Abschnitten – seine Erwartungshaltung gegenüber den Schüler:innen, dass er nur soweit eine managende Funktion einnehmen kann, wie es die Schüler:innen mit ihrem Verantwortung übernehmenden Verhalten ermöglichen und er sich darin als selbstwirksam erfährt. Deutlich wird sein Rollenverständnis eines organisierenden, strukturierenden Coaches.

  • Herr Raps: «(…)ähm das heisst das wichtigste, ist die Betroffenheit, weil es geht ja schlussendlich oder = oder = oder äh = ä::h ohne jetzt wollen heiliger zu sein als der Papst aber es geht mir ja schlussendlich um ihren Erfolg, und da? da müssen sie auch wissen? das ist mir ein so ein grossen Anliegen, dass ich auch zwar der Herr Raps bin wo sie unterstützt; wo ihnen- ähm wo wo lustig ist; wo = wo es mit ihnen lustig haben kann aber es kann mich auch richtig anscheissen; //mhm// und ich ich kann das auch zeigen; wenn es darum geht dass ich etwas will, nämlich ihren Erfolg? und das bedeutet dass wir beide etwas müssen machen; nämlich Leistung erbringen, und unser Verhalten muss dementsprechend sein dass wir uns das gegenseitig ermöglichen? und wenn jetzt das eine oder das andere Verhalten das kann ja auch ich, sein wo dem im Moment nicht entspricht //mhm// da:nn müssen wir das zum Thema machen und dann müssen wir das irgendwie klären (…).» Zeile 432–442.

Herr Raps eröffnet ein produktives Spannungsfeld zwischen einer «lustigen» Lehrperson und einer «strengen» Lehrperson, die auch mal «richtig anscheissen» (Zeile 435 f.) kann. Deutlich wird, dass Herr Raps den Schüler:innen gegenüber sowohl negative als auch positive Empfindungen zeigt. Doppelseitige Empfindungen zu zeigen sieht er positiv – für ihn erweist sich diese Handlungsstrategie in Kombination mit der gemeinsamen Klärung von Verhaltensnormen – mit dem Zielbezug Erfolg zu ermöglichen – produktiv im Umgang mit den Schüler:innen. Deutlich wird, dass er den Erfolg der Schüler:innen dann ermöglicht sieht, wenn sich diese in Bezug auf seine Vorstellungen konform verhalten. In Anschluss an die bisher rekonstruierten Verhaltenserwartungen an die Schüler:innen spiegelt Verhaltenskonformität das «Verantwortung» übernehmen und das selbstständige Arbeiten wider. Im Zentrum steht dabei aber nicht sein Empfinden, inwiefern er durch nicht konformes Verhalten gestört wird, sondern der «Erfolg» der Schüler:innen («und unser Verhalten muss dementsprechend sein, dass wir uns das gegenseitig ermöglichen», Zeile 438).

Die enge Verbundenheit zwischen der Übernahme von Verantwortung, dem konformen Verhalten der Schüler:innen und seinem Verantwortungsbewusstsein, die Jugendlichen auf ihre Zukunft, «auf das Leben» (Zeile 453) vorzubereiten, wird erneut in der nachfolgenden Sequenz deutlich.

  • Herr Raps: «ähm, das kann sein dann gibt es auch die Situation dass dass ä:h; das das äh stattfindet dass das eine alltägliche Ebene hat wo ich hingehe und sage ‚Hey Jungs? wisst ihr was, der mit dem zusammen /schnurrä/ den haben wir jetzt gesehen? ist gut ich habe es verstanden, bitte bemüht euch darum ich will mir keine Gedanken müssen machen //mhm// wie das ich euch im Leben in Zukunft will platzieren, dass liegt bitte in eurer Verantwortungen‘(…)» Zeile 449–453.

Der Bedeutungszusammenhang des obigen Beispiels für Verhalten der Schüler, die den Vorstellungen von Herrn Raps widersprechen, weitet Herr Raps auf einen grösseren Lebens- und Bildungsbezug der Jugendlichen aus. Hierbei zeigt sich, dass er zwischen dem nichtkonformen Verhalten der «Jungs» im Unterricht einen Zusammenhang mit deren zukünftigen Platz in ihrem Leben herstellt. Darin dokumentiert sich seine Orientierung an der Verantwortung der Schule und des Unterrichts für die Entwicklung der Jugendlichen, die über die rein schulische Bildung deutlich hinaus geht. Herr Raps sieht sich verantwortlich für die Schüler:innen in seiner managenden Funktion deren (Lebens-)Entwicklung zu fördern. Schule und Unterricht hat – aus seiner Perspektive – einen wichtigen Stellenwert für die Unterstützung der Entwicklungsprozesse bei Jugendlichen, damit sie lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Deutlich wird dabei auch, in welcher Verantwortung die Schule und er als Lehrperson für das Leben der Jugendlichen stehen.

7.1.1.2 Vergleichsdimension ‹Unterrichtspraxis›

Identisch zu den Ausführungen der ersten Vergleichsdimension zeigt sich, dass auch bezüglich Herrn Raps unterrichtspraktischer Handlungsorientierungen die Beziehungs- und Interaktionsgestaltung von zentraler Bedeutung sind. Zum anderen spielt die Identifikation der Schüler:innen mit Herrn Raps und der Prozess der Zielinternalisierung durch diese Identifikation eine zentrale Rolle für seine Handlungen in seiner Unterrichtspraxis. Im Folgenden dargestellt werden die fliessenden Übergänge dieser Themen.

In der Eingangspassage stellt Herr Raps – wie bereits dargestellt – die Übernahme von Verantwortung der Schüler:innen für sich und die Lerngruppe in einen positiven Gegenhorizont. Auf die Frage nach einer Erklärung für die positiv wahrgenommene Zusammenarbeit wird in Herrn Raps Argumentation erstmals sichtbar, dass dieser Umstand einerseits den Kompetenzen der Lehrpersonen und der «Kontinuität innerhalb dieses Systems» (Zeile 19) geschuldet ist, aber andererseits auch der «Art und Weise» (Zeile 20), wie die Zusammenarbeit von den Lehrpersonen gestaltet ist:

  • Herr Raps: «Wir haben im Moment ähäh eine Gruppe von Jugendlichen; welche diesbezüglich sehr ich glaube, ausgewogen ist; Wir haben äh; kompetente Mitarbeiter, was das angeht; Wir haben;- äh wir können den Jugendlichen genug Aufmerksamkeit schenken, wenn es um ihre Arbeit, geht und wenn es um ihren Aufenthalt hier geht, und äh natürlich ist eine Kontinuität innerhalb dieses Systems, in welchem wir arbeiten, wichtig; und von der Art und Weise, wie wir mit den Jugendlichen arbeiten wichtig; und das sind glaube ich alles Faktoren welche dazu beitragen, dass wir im Moment äh eine Situation haben; welche wirklich eben äh ja schon unheimlich ähm konstruktiv ist; mit °den Jugendlichen zusammen.» Zeile 16–22.

Hierin zeigt sich die Bedeutung der Beziehung zu den Schüler:innen für Herrn Raps und damit einhergehend auch seine Kenntnisse über die Bedürfnisse der Schüler:innen. Für ihn nimmt die Beziehung zu den Schüler:innen einen zentralen Erklärungsanteil für die positive Zusammenarbeit ein. Sie stellt seiner Orientierung nach die «Grundlage» (Zeile 41) seiner Arbeit dar. Die Beziehung zu den Schüler:innen ist dabei entscheidend, ob er mit den Schüler:innen über «Leistung» (Zeile 42) sprechen kann. Darin zeigt sich seine Orientierung an einem persönlichen Zugang zu den Schüler:innen, der für sein Ziel grundlegend ist, den Schüler:innen Lernerfolge zu ermöglichen.

Der nächste Auszug zeichnet sich durch eine besonders dichte Erzählung aus – worin sich erneut zeigt, dass das Thema der Beziehungsgestaltung für Herrn Raps besonders wichtig ist. Die inhaltliche Struktur der nächsten Passage folgt einer Logik, die geprägt ist von einem engen Zusammenhang zwischen der Beziehungsgestaltung und dem Lernerfolg der Jugendlichen. Inhaltlich wird deutlich, dass Herr Raps sich daran orientiert, über die Identifikation der Schüler:innen mit seiner Person hin zur Zieldimension – der Identifikation der Schüler:innen mit ihrem Lerngegenstand – zu gelangen. Letzteres schliesst erneut an die Verantwortungsübernahme der Schüler:innen für das eigene Lernen an. Die Beziehung als Eckpfeiler seiner pädagogischen Tätigkeit dient dabei als Hebel, um bei den Jugendlichen etwas «bewegen» (Zeile 63) zu können. Indem Herr Raps einen Bezug herstellt zur Bibelzitat «unser tägliches Brot gib uns heute» (Zeile 46), dokumentiert sich erneut die Relevanz der Beziehung zu den Schüler:innen. Für ihn gilt die Beziehungsgestaltung als Kompetenz der Lehrperson. Gemeinsam mit seinen Kollegen steht er diesbezüglich in einem positiven Gegenhorizont, indem er argumentiert, diesbezüglich keine «Defizite» (Zeile 44) zu haben. An der Verantwortungsübernahme durch die Lehrperson dokumentiert sich seine Orientierung, eine stabile Beziehungs- und Interaktionsgestaltung zu den Schüler:innen herzustellen. Dies zeigt sich daran, wie Herr Raps erzählt, dass besonders die Lehrperson in einer starken Verantwortung steht, die Beziehung kompetent erfolgreich aufzubauen und dabei die Schülerseite von ihm völlig weggelassen wird.

  • Herr Raps: «ähm (.) Die Beziehung ist ist für mich die Grundlage meiner Arbeit, ähm weil das der Teil ist, welcher schlussendlich darüber entscheidet; ähm können wir über Leistung ähm reden, können wir über Sache reden, können wir über Verhaltig äh Verhalten reden. Wenn i:ch in diesen Teil in diesem Teil von meiner Arbeit, ähm ich °sage jetzt einmal°; Defizite hätte, zu wenig Kompetenz hätte, da:nn betrifft das nachher den gesamten Schulalltag mindestens von diesen Jugendlichen von welchen ich Bezugscoach bin; das heisst, das ist meine- meine (.) t- (.) ‚Unser täglich Brot gib uns heute‘, und das ist etwas, was für mich sehr sehr wichtig ist und (.) das erachte ich als eben zentralen Eckpfeiler von meiner Arbeit, und das ist etwas; wo-wo aufgrund von der vo:n der Glaubart und Weise, ähm (.) wie wir arbeiten, (.) wie ich arbeite und aufgrund von der äh:h ja Beziehung, welche wir zu den Jugendlichen pflegen (.) und dem Bewusstsein darum von uns, wie wichtig, dass das ist; gelingt es uns auch einen Schulalltag zu haben; wo sehr konstruktiv ähm vonstattengeht und //mhm// äh gut läuft und wir äh- die Jugendlichen schlussendlich erfolgreich sind. Also das ist für mich das A und O und die ist sehr- die ist äh ja?- hat, glaube ich, alle Komponenten, welche ich- wo wo für uns dort wichtig sind.» Zeile 41–53.

Handlungsleitend für Herrn Raps ist, die angestrebte Lernmotivation der Schüler:innen über die personengebundene Identifikation (Zeile 56) mit ihm als Bezugsgruppencoach herzustellen und die Motivation der Schüler:innen allmählich zu ihrer eigenen Identifikation werden zu lassen, was in folgendem Auszug (Zeile 55–64) erkennbar wird. Die Art der Beziehung und das Bewusstsein darum, wie wichtig diese ist, ermöglichen einen konstruktiven Schulalltag, der auch zu Schulerfolg führt. Hierin dokumentiert sich, dass die Beziehung zu den Schüler:innen alle jene Komponenten beinhaltet, die für Herrn Raps in Bezug auf den «konstruktiven Schulalltag» (Zeile 51) relevant sind.

  • Herr Raps: «Es ist so, dass ähm das e:::h (.) dass das schlussendlich auch einen Aufbau hat, das heisst, dass wir- dass dass dass die Jugendlichen ähm ü:ber uns ein Haufen Identifikation mit der Schule, mit ihrer Arbeit, mit ihren Ziel, bekommen in einem ersten Moment, welcher im zweiten Moment natürlich zu ihnen selbst übergehen sollte, die Identifikation, oder gerade bei Jugendlichen, welche äh schulische Karrieren haben, wo sie sich bisher vor allem als erfolglos //mhm// wahrgenommen haben, ist es wichtig, dass man dort bei der Identifikation schafft und das funktioniert in der Regel nur über Menschen, nicht über; ‚In der Zukunft brauchst du das‘, das ist abgedroschen.» Zeile 55–62.

Die systematische Strategie, die Schüler:innen über eine Abfolge von Identifikationsstadien zu eigener Identifikation mit «ihrer Arbeit, mit ihrem Ziel» (Zeile 57) zu begleiten, macht deutlich, dass Herrn Raps sich daran orientiert, den Schüler:innen Eigenverantwortung zu übertragen. Der handlungsleitende Ausgangspunkt dieses angestrebten Zielzustandes liegt in den Lehrpersonen, denn «das funktioniert in der Regel nur über Menschen» (Zeile 62).

Die Orientierung an der Identifikation der Schüler:innen mit Herrn Raps zur Beurteilung der Zusammenarbeit wird von ihm auch dahingehend thematisiert, dass die Internalisierung von schulischen Zielen der Schüler:innen über die persönliche Identifikation mit seiner Person erfolgt. Darin zeigt sich auch, dass Unterrichtsstörungen dann für Herrn Raps problematisch werden, wenn einzelne Dimensionen der Identifikation (Schule, Lerngegenstände und Coach) ins Wanken kommen. Es dokumentiert sich darin, dass Herr Raps Unterrichtsstörungen nicht etwa als Regelverstösse versteht, sondern als tieferliegende Probleme in Bezug auf die «Zielunklarheiten» (Zeile 185) der Schüler:innen, womit deren Lernerfolg und deren Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen bedroht werden:

  • Herr Raps: «Eine Störung (.) für mich im Lehr- (.) oder- im (.) Lernprozess müsste ich sagen. weil ein Lehrprozess haben wir nicht wirklich, (.) ähm (.) eine Störung in diesem Prozess für mich, ist wenn- (.) also die welche natürlich in erster Linie in den Sinn kommen sind irgendwie ähm Alltagsgeschichten; das jemand nicht konzentriert ist im Unterricht, oder äh im Fachatelier sagen wir dem, oder im Lernteam ähm Zeit, verschwenden, das sind das sind die offensichtlichen Sachen; für mich die viel zentraleren, ich sage einmal Störungen innerhalb von Lernprozessen sind zum Beispiel Zielunklarheiten (…).» Zeilen 179–185.

Die argumentationsgenerierende Frage der Interviewerin «was dann für di:ch eine Störung ist, im Lehr- oder auch Lernprozess» (Zeile 177) verlangt eine argumentative Darstellung seines Verständnisses von einer Unterrichtsstörung. Er nimmt die Frage, wie in obigem Auszug erkennbar wird, sogleich auf und stellt klar, dass sich sein Verständnis auf den «Lernprozess» bezieht und nicht etwa auf den «Lehrprozess» (Zeile 179). Darin erkennbar wird, dass Herr Raps Störungen im Lernen der Schüler:innen festmacht und nicht in seinem Lehren. Ebenso zeigt sich darin, dass im Unterricht von Herrn Raps der Fokus auf den Lernprozessen der Schüler:innen liegt. Störungen, die den Lernprozess der Schüler:innen beeinträchtigen, scheinen unterschiedlicher Art zu sein, indem er seine Aufzählung mit «in erster Linie» eröffnet. Für ihn «natürlich» und zum täglichen pädagogischen Geschäft gehörend sind «Alltagsgeschichten» (Zeile 182), also Störungen des Lernprozesses, die die Konzentration der Schüler:innen betreffen. Sein Anschluss an das «Zeit verschwenden» (Zeile 183) im Fachatelier oder im Lernteam zeigt, dass diese Form von Störungen Situationen betreffen, in denen Schüler:innen vom Lernen abkommen. Diese Formen von Störungen gewichtet Herr Raps weniger stark als die Folgeerzählung, welche er durch «die viel zentraleren» (Zeile 184) Störungen markiert. In der kontrastierenden Aufzählung wird erkennbar, dass «Alltagsgeschichten» – wie unkonzentriert sein – für ihn nicht als Störungen erfasst werden. Es zeigt sich, dass er Störungen als problematische Situationen fasst, die sich auf den Lernprozess auswirken und nicht so «offensichtlich» (Zeile 183) sind. Hierin zeigt sich sein differenzierter Blick auf unterschiedliche Störungsformen und Störungsauswirkungen. Erstere – «Alltagsgeschichten» – werden von Herrn Raps nicht auf ihre Ursachen hin thematisiert, weil er sie nicht für wirkliche Störungen hält – es handelt sich in seiner Orientierung, um kurzfristige Störungssituationen ohne weitere Konsequenzen. Hingegen führt er eine differenzierte Beschreibung der Ursachen für die viel «zentraleren Störungen» (Zeile 184) – die «Zielunklarheiten» (Zeile 185) – aus. «Zielunklarheiten» betreffen Vereinbarungen zwischen der Schule und den Jugendlichen sowie deren Eltern. Erneut wird die Orientierung an der Identifikation mit der Schule thematisiert, indem Herr Raps Zielunklarheiten als Unsicherheit darüber beschreibt, dass «der Aufenthalt hier» (Zeile 196) an der Schule unklar wird, und dass sich Unsicherheiten einschleichen in der «Planung von allen zusammen, auf die wir uns geeinigt haben» (Zeile 196 f.):

  • Herr Raps: «Und sobald diese Zielklarheit ins Wanken kommt, sobald ich sagen jetzt einmal (.) ist der Aufenthalt hier /safe/ was ist die Planung, und was ist die Planung von allen zusammen auf die wir uns geeinigt haben, sobald es dort ein Durcheinander gibt. das ist etwas was für mich welches auf den Lernprozess der Jugendlichen immer sehr negative Konsequenzen hat. wenn es auf einmal nicht mehr klar ist um was geht es jetzt ganz genau, aber das ist für mich sehr sehr- oder ist ist übergeordnet aber hat für mich die stärksten Konsequenzen auf den Lernprozess ähm jemand der am Nachmittag äh einmal Schwierigkeiten hat mit etwas anzufangen das ist eine Alltäglichkeit; das ist einfach Arbeit, das gehört zur /Büez/ dazu aber das ist für mich nicht etwas was äh im Widerspruch steht zu jemand arbeitet erfolgreich; Zielunklarheiten wenn wenn es um ich sagen jetzt einmal um Gesamt- Gesamtsupport von einem Jugendlichen geht; das hat eine viel grössere Tragweite und das ist für mich viel störender.» Zeilen 195–205.

Hierin dokumentiert sich, dass Herr Raps dann störungsfrei arbeiten kann, wenn die Schüler:innen die Identifikation mit der Schule nicht in Frage stellen bzw. den Regeln und getroffenen Vereinbarungen folgen. Regelverstösse, die aktiv von den Schüler:innen ausgeführt werden, sieht Herrn Raps nicht als problematisch. Im Gegensatz dazu steht Widerstand, der sich passiv äussert, indem die Jugendlichen in einen Loyalitätskonflikt geraten. Die Jugendlichen und die Eltern sollen durch die Zielvereinbarungen den Aufenthalt an der Schule nicht in Frage stellen. Herr Raps führt aus, dass die pädagogische Arbeit mit den Jugendlichen und das Lernen für die Jugendlichen für ihn verunmöglicht wird, sobald die Abmachungen und Vereinbarungen beeinträchtig sind. Herr Raps schliesst die Beschreibung mit einer erneuten Kontrastierung zu alltäglichen Störungen, die er als im Vergleich zu den «Zielunklarheiten» (Zeile 204) als weniger gravierend einstuft. Unverkennbar wird der Spannungsbogen zwischen Störungen, die von ihm relativiert werden, da er mit weniger gravierenden Unterrichtsstörungen keine Umgangsschwierigkeiten signalisiert. Er behandelt diese Formen der Unterrichtsstörungen als Alltäglichkeiten. Den Umgang mit diesen Störungen erfasst er als «Büez» (Zeile 202). Hingegen sind Störungen gravierend, die nicht direkt den Unterricht betreffen, sondern tieferliegend auf der Ebene der grundsätzlichen Loyalität der Schüler-/innen gegenüber dem Aufenthalt an der Schule identifiziert werden. Geschärft wird dieser Spannungsbogen dadurch, dass Herr Raps die alltäglich vorkommenden Störungen nicht in Verbindung bringt mit «erfolgreich arbeiten». Im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt er die «Büez» (Zeile 202) als Situationen, die im Vergleich zu den Zielunklarheiten im positiven Horizont stehen:

  • «Es gibt es gibt auch Situationen wo Jugendlichen Sachen machen, welche sie nicht tun sollten und sie es haargenau wissen und dann machen sie es? das ist ein Teil des Erwachsenwerdens; das machen Erwachsene auch um Himmels Gottes willen, das ist kein Thema?» Zeile 242–245.

Hingegen dokumentieren sich für Herrn Raps Schwierigkeiten im Umgang mit Störungen, die durch externe Einflüsse geprägt sind und in Loyalitätskonflikten münden, die wie er argumentiert, «mit einem Widerstand mangelnder Identifikation aufgrund von Unklarheiten zu tun hat» (Zeile 247 f.).

In untenstehendem Auszug, in dem Herr Raps aus der Perspektive der Schüler:innen spricht, zeigt sich, dass er das Lernen der Schüler:innen in Bezug auf «alle Fachgeschichten» (Zeile 227) unterbrochen sieht.

  • Herr Raps: «(…) mich nicht damit anfreunden kann, dass das schlussendlich mir dient im Hinblick auf meine Ziele, welche ich dann in der Zukunft habe; dann fällt natürlich dieser Teil ganz weg; und dann fällt- dann hast du natürlich dann ich sage jetzt einmal Mathe Französisch Englisch Deutsch alle Fachgeschichten diese sind natürlich nachher einfach sekundär, weil dann geht es um ganz elementare Geschichten nämlich was will ich jetzt in diesem Moment; und wenn das nicht geklärt ist.» Z. 224–229.

Die fehlende Identifikation verunmöglicht die konzentrierte Beschäftigung mit den «Fachgeschichten» (Zeile 227), die an jener Stelle allgemein formuliert werden. Für Herrn Raps handlungsleitend erweist sich das Zugehörigkeitsgefühl der Schüler:innen, erfasst als «elementare Geschichte», die sich darin äussert, dass sich die Schüler:innen zur Schule zugehörig fühlen und er in seiner strukturierenden, begleitenden Funktion die Schüler:innen zu deren Zielen führen kann.

7.1.1.3 Zusammenfassung Fallanalyse Herr Raps

Zusammenfassung der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›Herr Raps

Anhand der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen› und ‹Interaktion mit den Schüler:innen› lässt sich bei Herrn Raps eine Handlungsorientierung an einer Rolle als Manager und Entwicklungshelfer der Jugendlichen herausarbeiten. Sein zentrale Bezug in dieser Dimension liegt in der Funktion der Schule als Bildungsort, der sich positiv auf die Lebensentwicklung der Schüler:innen auswirkt. Darin offenbart sich auch Herrn Raps Orientierung an seinen Vorstellungen konformen Verhaltensweisen der Schüler:innen, die jene auf die Lebensentwicklung bezogenen Erfolge ermöglichen. In diesem Zusammenhang wird sichtbar, dass Herr Raps die Schüler:innen als Personen mit ausserschulischen Facetten, die in grösseren Lebenszusammenhängen (Biografieträger:innen) stehen, adressiert.

Zusammenfassung Dimension Unterrichtspraxis Herr Raps

Rekonstruiert wurde die zentrale Bedeutung der Beziehung zu den Schüler:innen. Herr Raps orientiert sich in seiner Tätigkeit am Ziel, die Schüler:innen zum (Lern-)Erfolg zu bringen. Dazu orientiert er sich an einer engen, stabilen Beziehungsgestaltung. Dabei ist das Erleben von Herrn Raps erlebter (Selbst-)Wirksamkeit zur Einflussnahme auf eine positive Entwicklung der Schüler:innen über deren Schullaufbahn hinaus für ihn handlungsleitend. Herr Raps sieht die Interaktions- und Beziehungsgestaltung als notwendige Kompetenz einer Lehrperson. Deutlich wird, dass die enge Beziehung zur Identifikationsstiftung und zur Anregung motivationaler Internalisierungsprozesse handlungsleitend für Herrn Raps sind. Er orientiert sich in seiner Unterrichtspraxis an einer Internalisierung der Lernmotivation, die er durch eine mangelnde Identifikation der Schüler:innen mit ihren Zielen bedroht sieht. In seiner Funktion als Coach orientiert er sich daran, zwischen unwichtigen Störungen, die zum Erwachsenwerden dazugehören, und Identifikationsproblemen mit ihm als Person selbst, aber auch mit der Schule und den Lerngegenständen zu unterscheiden. Als handlungsleitend erweist sich für Herrn Raps, nach den Ursachen für die mangelnde Identifikation der Schüler:innen mit ihm als Person selbst, aber auch mit der Schule und den Lerngegenständen zu suchen. Das handlungsleitende Ziel liegt für Herr Raps darin, das Lernen bzw. den Lernerfolg (und damit den Lebenserfolg) der Schüler:innen zu sichern.

7.1.1.4 Erkenntnisse zur Erfassung einer Unterrichtsstörung und zu Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen

Herr Raps erfasst Situationen als Unterrichtsstörungen, in denen die Schüler:innen in den «elementaren Fachgeschichten» (Zeile 227) aufgrund tieferliegender Identifikationsschwierigkeiten vom Lernen und entsprechend vom Lernerfolg abgehalten werden. Die Folgen der Störungen reichen weit über die Grenze der Schule hinaus und haben seiner Ansicht nach einen Einfluss auf das (ausserschulische) Leben der Jugendlichen. Unverkennbar wird darin, dass Unterrichtsstörungen für Herrn Raps mit der Frage verknüpft sind, inwiefern diese die zukünftige Lebensentwicklung der Schüler:innen durchkreuzen. Sein Umgang mit Störungen liegt darin, anhand einer Analyse der Problemursachen und der Wiederherstellung von Zielklarheit den Schüler:innen erneut Lernerfolge zu ermöglichen. Die Beziehung zu den Schüler:innen und die angestrebte Identifikation der Lernenden mit Herrn Raps und der Schule erweisen sich dabei als handlungsleitend für den Umgang mit Schwierigkeiten. Die Internalisierung und Identifikation von Zielen ist für ihn handlungsleitend in Bezug auf die Prävention von Störungen. Die Orientierung an der Verantwortungsübernahme der Jugendlichen für ihr eigenes Lernen und an seiner eigenen, managenden Rolle erweist sich zudem als zentral für die Interaktion mit den Schüler:innen und damit auch für Herrn Raps Umgang mit Unterrichtsstörungen.

7.1.2 Fallanalyse Frau Lilie

Frau Lilie unterrichtet an einer ländlichen, stark personalisiertenFootnote 2 Primarschule. Sie verfügt über 20 Jahre Unterrichtserfahrung und unterrichtet zum Zeitpunkt des Interviews in einem Teilzeitpensum mit hohen Stellenprozenten auf der Unterstufe. Das Interview dauerte 60 Minuten und wurde in einem Gruppenraum an der Schule durchgeführt.

7.1.2.1 Vergleichsdimension ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›

Nachfolgend dargestellt werden die zentralen Handlungsorientierungen von Frau Lilie hinsichtlich der Vergleichsdimension, die an der Wahrnehmung von und der Interaktion mit den Schüler:innen ausgelegt ist. Der nachfolgende Auszug aus der Eingangspassage eignet sich dazu, weil dort die Frage nach der Beurteilung der Zusammenarbeit von Frau Lilie verhandelt wird:

  • Frau Lilie: «Ja, also ich habe jetzt erst gerade begonnen mit diesen, diese habe ich ja jetzt //mhm// erst seit siebeneinhalb Wochen? und ähm jetzt sind wir sehr vieles am Einüben halt so Verhalten, (.) welche ich gerne möchte? im Klassenzimmer @(.)@ und si:e vorher vielleicht anders, gehabt haben °bei einer anderen Lehrperson° (.) sie müssen mich ein wenig spüren wie ich das will haben? und ich spüre sie wo hin sie möchten wir versuchen so ein wenig (.) ja einen gemeinsamen Nenner zu finden im Moment.» (Zeile 3–7).

Für die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen ist Frau Lilies Orientierung an ihren Vorstellungen eines normiertem Verhaltens der Schüler:innen handlungsleitend. So kann anhand ihres Fokus in den ersten gemeinsamen Schulwochen auf das Einüben von Verhaltensweisen, die sie «gerne möchte» und dem «Spüren wie ich das will haben» (Zeile 6) die Relevanz der von Frau Lilie erwarteten Verhaltensweisen der Schüler:innen nachgezeichnet werden. Deutlich wird auch ein wechselseitiges Moment, indem sie sich zum einen daran orientiert, sich und den Schüler:innen Zeit zu geben, um sich zu verstehen und zum anderen «einen gemeinsamen Nenner zu finden» (Zeile 7, diese Handlungsorientierung wird auf Seite 113 nochmals aufgenommen).

Für Frau Lilies Handeln zentral erscheint, dass sie die Verhaltensweisen der Schüler:innen in Abgrenzung zu anderen Lehrpersonen («und sie vorher vielleicht anders gehabt haben», Zeile 6) neu einübt. Im Modus einer Bewertung ermöglicht Frau Lilie Einblick in ihre Interaktionspraxis mit den Schüler:innen, wie sie die von ihr erwarteten Verhaltensweisen einübt.

  • Frau Lilie: «… ich das Gefühl habe man kann (.) viel mit ihnen schaffen sie sind gesprächsbereit, sie sind auch willig äh zum Schaffen, °ja °und jetzt- manchmal geht es sehr gut dann habe ich das Gefühl: ‚Ah, jetzt läuft es so wie ich es will‘ und dann haben wir wieder ein bisschen ein Loch, aber dann schauen wir es wieder an es ist das erste Jahr in dem ich (.) keine Strafen habe.» Zeile 8–11.

Hierin dokumentiert sich, dass Frau Lilie sich daran orientiert, ihre Vorstellungen von Verhaltensweisen für ihren Unterricht bei den Schüler:innen durchzusetzen. «Gesprächsbereite» (Zeile 8) Schüler:innen, bei denen sie in einem «Loch» (Zeile 10) Einfluss auf deren Verhaltensweisen nehmen kann, sind mit Frau Lilies Verhaltenserwartungen kompatibel. Ein «Loch» ergibt sich dann, wenn die Zusammenarbeit (und das Einüben der erwarteten Verhaltensweisen) mit den Schüler:innen nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Mit dem Anschluss in obenstehendem Auszug, das erste Mal «keine Strafen» (Zeile 11) zu haben, proponiert Frau Lilie ein Thema, welches sie für ihre Zusammenarbeit mit den Schüler:innen vorsieht, um nicht erwünschte Verhaltensweisen «anschauen» zu können und damit veränderbar zu machen. Markiert wird damit eine neue Form ihrer Praxis, die damit einen Umbruch in ihren bestehenden Routinen aufzeigt. In untenstehendem Auszug expliziert Frau Lilie ihre Überraschung, dass die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen auch ohne Strafen gut «läuft» (Zeile 11):

  • Frau Lilie: «…und äh das läuft wirklich gut ich hatte am Anfang ein wenig Angst und gedacht: ‚Okay, jetzt habe ich wirklich das letzte Druckmittel habe ich jetzt auch nicht mehr‘, Ja. aber hier jetzt bin ich echt erstaunt °wie gut es läuft.°» Y: «Mhm was war der Grund für dich, dass du gesagt hast: ‚Jetzt mache ich keine Strafen mehr?» Frau Lilie: «Ich habe eigentlich immer Strafen gehabt und dann- Ich habe nie ein richtig gutes Gefühl °dabei gehabt°. weil ich so dachte das ist zwar eines und die einen Kinder kannst du ein bisschen mit dem unter Druck setzten und es //haut// dann aber es ist wie, es kommt nicht vom Kinder selber es ist nichts Positives es ist nicht förderorientiert (.) und so mit dem Lehrplan 21 mit dieser Einführung hab ich wie das Gefühl gehabt ‚Nein, wart schnell, das bringst du nicht unter einen Hut das musst du abschaffen das musst du °anders machen‘° //mhm/// °darum°.» (Zeile 11–20).

Die argumentationsgenerierende Frage nach dem «Grund» (Zeile 14) für die Entscheidung neu ohne Strafen zu arbeiten, nimmt Frau Lilie auf. Es zeigt sich, dass sie Strafen bislang dazu genutzt hat, die Verhaltensweisen in ihrem Klassenzimmer nach ihren Vorstellungen zu etablieren und die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen zu steuern. Frau Lilie kehrt sich nun aber von dieser Form der Zusammenarbeit ab («es ist das erste Jahr in dem ich (.) keine Strafen habe», Zeile 11), mit der Begründung die «Kinder kannst du ein bisschen mit dem [Strafen, CM] unter Druck setzten und es //haut// dann aber es ist wie, es kommt nicht vom Kinder selber es ist nichts Positives es ist nicht förderorientiert» (Zeilen 16–18). Sie zeigt sich überrascht von der positiven Umsetzung des straffreien Arbeitens «Ja. aber hier jetzt bin ich echt erstaunt °wie gut es läuft°» (Zeile 13). In diesem Überraschungsmoment wird Frau Lilies Handlungsorientierung an verhaltenssteuernden Massnahmen deutlich, die bis dato geprägt waren von einem Strafsystem. Andererseits wird in der angedeuteten Veränderung der Strukturierung der Zusammenarbeit auch deutlich, dass sie die Perspektive der Schüler:innen einnimmt – obschon unklar bleibt, inwiefern sie dabei durch äussere Vorgaben (Lehrplan 21) motiviert ist. Rekonstruiert wurde, dass sich Frau Lilie in einem Spannungsfeld befindet. Dieses bewegt sich zwischen ihrer bisherigen Orientierung an der Verhaltensbeeinflussung und einer Praxis von Strafsystemen einerseits und einem neuen Ideal der straffreien Zusammenarbeit andererseits, in dem die Schüler:innen mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Frau Lilie löst das Spannungsfeld auf, indem sie auf ihr (noch) unbekannte Mittel (Coachings) ausweicht, diese aber in ihrem ursprünglichen Orientierungsrahmen der Verhaltensbeeinflussung (Strafen) einsetzt:

  • Y: «Wie machst du es jetzt anders? Frau Lilie: «[…] jetzt haben wir diese Mez-Ziele, also messbar erreichbar °und zeitlich begrenzt° //mhm// und wir haben es angeschaut wie dass diese Ziele am besten formuliert werden von den Kinder selber; (.) dann tun sie sich dieses Ziel setzen, wenn etwas nicht haut und dann schauen es wir wieder im Lerncoaching (.) gespräch an das ist so an Stelle von Strafen dass wir gleich dran sind und gleich schauen ‚Wo könntest du dich entwickeln, was haut noch nicht gut, redest immer rein? Mach doch hier einmal ein Mez-Ziel.‘ °und dann geht das eigentlich°.» Zeile 21–29.

In obigem Auszug wird erkennbar, dass Frau Lilie den Kindern Eigenverantwortung für ihr Handeln und ihr Verhalten übertragen möchte, indem sie die Kinder ihre Ziele selbst formulieren lässt. Deutlich wird, dass die Lerncoachings einen verhaltensbeeinflussenden Charakter behalten, da sie dann eingesetzt werden, wenn etwas nicht ganz ‹rund› läuft und sie bei den Kindern Bedarfe für Verhaltensänderungen erkennt («Wo könntest du dich entwickeln, was haut noch nicht gut, redest immer rein?», Zeile 27 f.). Hierin dokumentiert sich, dass die Kinder sich in diese Richtung weiterentwickeln sollen, die von Frau Lilie als für ihre Tätigkeit sinnvoll erscheint und die Verantwortung für die Formulierung der Ziele durch die Lehrperson gesteuert werden («das ist so an Stelle von Strafen, dass wir gleich dran sind und gleich schauen» Zeile 27). Mit den «MEZ-Zielen» (Zeile 29) und den Coachinggesprächen verändert Frau Lilie das Strafsystem in Richtung ihres positiven Gegenhorizontes, dennoch bleibt diese Strategie der Handlungsorientierung der Verhaltensbeeinflussung identisch.

Wie bereits zu Beginn der Fallanalyse ausgeführt, zeichnet sich Frau Lilies Orientierung an einem Interaktionsgeflecht zu den Schüler:innen ab, das durch eine Wechselseitigkeit geprägt ist, indem sie «spüre sie wohin sie möchten wir versuchen so en wenig (.) (.) ja einen gemeinsamen Nenner zu finden im Moment» (Zeile 7). Aufgrund der handlungsleitenden Relevanz wird diese Orientierung nochmals aufgenommen, da an anderer Stelle im Interview deutlich wird, dass die Übernahme der Perspektive der Schüler:innen und deren Wohlergehen von handlungsleitender Relevanz für Frau Lilie sind. Sie stellt eine «angstfreie» Zusammenarbeit, in der sich Lehrperson und Schüler:innen «in die Augen schauen» und «angstfrei» «über etwas sprechen» (Zeile 60) können, in einen positiven Horizont. Die nachfolgende Sequenz folgt im Anschluss an die argumentationsgenerierende Frage der Interviewerin, wie sich Frau Lilie das Funktionieren ohne Strafen erklärt.

  • Frau Lilie: «@(.)@ Ich habe das Gefühl das Kind fühlt sich ähm als Person wirklich und nicht so erniedrigt durch die Strafen. sondern es (.) weiss es kommt nicht dran also sie haben keine Angst vor mir @oder@ keine Angst vor der Situation oder keine Angst am Morgen zu kommen sie wissen wir finden irgendeine °Lösung (.) ich habe das Gefühl die fühlen° sich einfach in dieser Situation wohler und sind darum auch bereit mir ein @bisschen@ entgegen zu kommen °oder es ist dann wie ein Geben und Nehmen° und bei der Strafe ist es einfach da bin ich irgend der Böse oder die Böse und sie sind die Eingeschüchterten also es ist ein andere Ebene und so können wir uns in die Augen schauen und über etwas sprechen angstfrei und darum glaube ich (.) //mhm// °trägt das sehr viel zu dem bei, dass es funktioniert° //mhm//» Zeile 53–61.

Deutlich wird, dass die Kinder aufgrund der angenehmeren und angstfreieren Umgebung eher bereit sind, Frau Lilie entgegenzukommen, um mit ihr zusammenzuarbeiten («sind darum auch bereit mir ein @bisschen@ entgegenzukommen», Zeile 57). Das Funktionieren im Klassenzimmer («°trägt das sehr viel zu dem bei, dass es funktioniert», Zeile 61) ist abhängig davon, dass die Schüler:innen sich wohl fühlen, aber gleichzeitig auch bereit sind, den Verhaltenserwartungen von Frau Lilie nachzukommen («es ist ein Geben und ein Nehmen», Zeile 58). Ihre neue Strategie steht im Gegensatz zum bisherigen Strafsystem. Frau Lilie orientiert sich in der Zusammenarbeit an einem konstruktiven Verhältnis zwischen ihr und den Schüler:innen. Dieses Verhältnis der Zusammenarbeit ermöglicht es ihr, über Kommunikation («über etwas angstfrei sprechen», Zeile 60) mit den Schüler:innen ihr angestrebtes Ziel zu erreichen. Dieses Ziel ist, dass die Schüler:innen ihre Erwartungen an Verhaltensweisen übernehmen und umsetzen. Sobald Frau Lilie merkt, diesen Zielzustand nicht zu erreichen, es also nicht so läuft wie sie will und sie «ein bisschen ein Loch» haben (Zeile 10), schreitet Frau Lilie regulierend ein («schauen wir es wieder an», Zeile 10).

7.1.2.2 Vergleichsdimension ‹Unterrichtspraxis›

Bezüglich Frau Lilies unterrichtspraktischen Handlungsorientierungen lässt sich festhalten, dass die Koordinierung der Schüler:innen zur Aufrechterhaltung ihrer Vorstellung von Unterricht leitend ist. Die Orientierung daran, ihre Schüler:innen koordiniert oder ihrer Vorstellung nach geordnet zu unterrichten, wird darin erkennbar, dass sie «unkoordinierte[n] Lärm» (Zeile 184) als störend bezeichnet. Es dokumentiert sich gleichsam, dass Frau Lilie anhand von verhaltenssteuernden Massnahmen die für das Lernen notwendigen Rahmenbedingungen schafft (wie bspw., dass die Schüler:innen «mit dem Gesicht zur Wand stehen, wenn sie besprechen», Zeile 196):

  • Frau Lilie: «@(.)@ oder wenn sie dann zum Beispiel zu laut sprechen, wir haben viel bei den kooperativen Lernformen- haben wir die Phasen, in welchen sie müssen besprechen? Die Andern sind aber noch am arbeiten? und brauchen in diesem Moment Ruhe; und wenn sie? dann zum Beispiel zu laut besprechen stört das auch extre:m, dort sind wir immer dran, am Schaffen dass sie zum Beispiel mit dem Gesicht zur Wand stehen, wenn sie °@besprechen@ oder nicht mit dem Gesicht äh in den Raum, hinein also ich suche dort schon ein paar Formen», Zeilen 192–197.

In ihrer unterrichtlichen Handlungsstrategie, mit den Schüler:innen den «Flüsterton» (Zeile 200) einzuüben, und den Ausführungen, dass Frau Lilie seit «zwei Jahren voll mit diesen dran» (Zeile 200 f.) ist und «sehr viele Kinder Mühe» (Zeile 201) haben mit dem Flüstern, dokumentiert sich in untenstehendem Auszug ihre Orientierung an der Erarbeitung einer ruhigen Atmosphäre und an einer dazu notwendigen Beeinflussung der Verhaltensweisen der Schüler:innen. Hierbei kann festgestellt werden, dass Frau Lilie in der Orchestrierung einen Lernbezug herstellt, indem sie sich daran orientiert, den Schüler:innen die nötige «Ruhe» (Zeile 194) zu ermöglichen. Ebenso wird Frau Lilies Orientierung an der Steuerung von Verhaltensweisen deutlich, mit dem Lernzielbezug darin, dass sie «nichts gegen so intensive Gespräche zur Sache» hat, hingegen «unnötig Stühle umherschieben, Türen zuschlagen solche Dinge» (Zeile 186) als störend erfasst. In ihrer Erfassung einer Störung zeigt sich, dass das Lernen durch Schüler:innen, die intensiv zu einem Thema diskutieren, gefördert, hingegen durch unkoordinierten Lärm und Nichteinhaltung des Flüstertons verhindert wird. Darin dokumentiert sich letztlich auch, dass nicht primär ihr eigenes ‹Gestört-sein› im Zentrum steht, sondern sie hierbei einen Bezug zur Situation der gestörten Schüler:innen herstellt und damit auch deren Perspektive hierzu übernimmt.

  • Frau Lilie: «@mhm@ ja ich bin so ein wenig lärmempfindlich? und zwar so unkoo::rdinierter äh Lärm. Ich habe nichts gegen so i:ntensive Gespräche zu der Sache, ich habe es nicht gerne wenn umhergerannt wird, oder unnötig Stühle umhersch:ieben; °Türen zuschlagen solche Dinge.° (.) Ware umherwerfen. Einfach, wo ich das Gefühl habe ‚Ach nein, das muss nicht sein.‘ //mhm// Das sind für mich (.) °Stö:rungen.°.» Zeilen 184–188.

Beispielhaft beschreibt Frau Lilie eine unkoordinierte Situation im Unterricht, in der es – ihrem Verständnis nach – zu einer gestörten Unterrichtssituation kommt. In untenstehendem Auszug dokumentiert sich, dass im Wechsel von «A nach B» (Zeile 339), d. h. in Übergangssituationen, der Handlungsplan der Klasse durcheinandergerät, was Frau Lilie «stresst» (Zeile 343). Es zeigt sich darin auch, dass durch eine ausreichend klare Struktur Störungen vermieden werden können, wie im von ihr ausgeführten Beispiel der «Lernform» (Zeile 338), bei der sich keine stressigen Störungen ergeben, denn «dort wissen sie, was sie zu tun haben» (Zeile 338), da die Schüler:innen hier ihren Verhaltenserwartungen entsprechen. Es wird deutlich, dass Störungen dann entstehen, wenn ihr die Steuerung der Verhaltensweisen entgleist und die Schüler:innen Raum erhalten, sich unkoordiniert zu verhalten («und dann müssen sie im Kreis zuerst das Schemeli 20 Mal hin und her? und dann muss ich noch sagen ‹Nein? nicht du neben mir›? und so.» Zeile 341 f.). Hierbei steht das ungeordnete Verhalten der Schüler:innen im negativen Gegenhorizont. Hierin dokumentiert sich, dass sich Frau Lilie an einem Ideal orientiert, bei dem sich die Schüler:innen ruhig und geordnet verhalten.

  • Frau Lilie: «Ja das sind meistens solche Sequenzen so Wechsel? zwischen den Sequenzen. das stresst mich am meisten nicht jetzt in der Lernform selber = eben; weil dort wissen sie was sie zu tun haben. (.) aber der Wechsel von A nach B? vom Platz in Stuhlkreis? oder so dass das nicht geht ohne jemand noch anzulangen oder auf diesen draufhocken //@.@// oder (.) äh den Stuhl noch hin und her- Wir haben hier diese Schemeli welche voll laut tönen? //mhm// und dann müssen sie im Kreis zuerst das Schemeli 20 Mal hin und her? und dann muss ich noch sagen ‚Nein? nicht du neben mir‘? und so. das stresst mich wirklich. dass ich das Gefühl habe ach ich bringe es nicht hin? //mhm// den Wechsel ruhig; (.) dass der Wechsel ruhig °vonstatten geht.°» Zeilen 337–346.

Im obigen Auszug dokumentiert sich dann auch, dass Frau Lilie die Schüler:innen auf Klassenebene adressiert und nicht etwa einzelne, störende Zielkinder identifiziert und sich selbst in der Verantwortung sieht, jene störenden Situation zu managen. Es zeig sich dabei, dass sie sich an ihrer Eigenverantwortung orientiert, die Koordination zu verwalten («das stresst mich wirklich. dass ich das Gefühl habe ach ich bringe es nicht hin?», Zeile 343).

Für Frau Lilies unterrichtliches Handeln zentral ist, dass sie als Lehrperson in der Verantwortung steht, diese Steuerung der Verhaltensweisen der Schüler:innen zu erreichen. Das äussert sich darin, dass sie es als eine Belastung empfindet, Verhaltensweisen «in nützlicher Frist» «nicht hinbekommen» (Zeile 204) und sie «ein wenig versagt» (Zeile 204) hat, wenn sie Störungen nicht bearbeiten kann. Ihre Strategie im Umgang mit den Empfindungen liegt darin, bei sich selbst anzusetzen und zu überlegen, was sie noch «besser machen» (Zeile 208) könnte, was in folgendem Auszug deutlich wird:

  • Frau Lilie: «°Ja° dann habe ich natürlich das Gefühl, ich hätte ein wenig versagt? oder mache ich irgendetwas falsch; oder ich müsste es noch besser machen oder anders machen und ich komme dann nicht °auf die Idee.° //mhm// aber das ist wi:rklich- das ist bei den seltensten Klassen so; °(.) wo ich das Gefühl habe° ich schaffe es jetzt überhaupt nicht. //mhm// und dann manchmal kann ich dann halt nicht schlafen; @oder@ weil ich an dem herum studiere wie es weitergehen könnte; °und was ich anders machen könnte.°» Zeile 207–212.

In ihrer Suche nach alternativen Handlungsplänen («herum studiere, wie es weitergehen könnte und was ich anders machen könnte», Zeile 212) dokumentiert sich ihre Orientierung an der Verantwortung, selbst Lösungen zur Orchestrierung der Klasse zu finden. An der starken Eigenorientierung zeigt sich auch, dass Frau Lilie die Schüler:innen nicht für Unterrichtsstörungen verantwortlich macht, sondern vielmehr Ursachen für Unterrichtsstörungen bei sich selbst sucht. Hervorgehoben werden kann damit Frau Lilies Handlungsorientierung der Verantwortungsübernahme, um Unterrichtsstörungen zu bearbeiten. Deutlich wird auch, dass sie sich selbst als potenziellen Teil von Unterrichtsstörungen betrachtet («oder mache ich irgendetwas falsch» Zeile 207 f.). Im Anschluss an die eingangs dargestellte Veränderung des straffreien Zusammenarbeitens mit den Schüler:innen ist hier folgender Querbezug von zentraler Bedeutung: Frau Lilie orientiert sich daran, die Verhaltensweisen der Schüler:innen mit Sicherheit (bis anhin mit Strafen) zu kontrollieren. Der Wechsel, den sie nun anstrebt, dies auch ohne Strafen zu schaffen, führt dazu, dass sie nicht mehr gleichermassen auf die Sicherheit zählen kann. Stattdessen versucht sie, die Schüler:innen in den Prozess miteinzubinden. In obigem Zitat zeigt sich dann jedoch, dass sie sich selbst verantwortlich sieht, störende Verhaltensweisen zu managen und ihr der angestrebte Wechsel hin zu einer straffreien Zusammenarbeit, in der die Schüler:innen ihren Teil an Verantwortung übernehmen, noch misslingt.

Frau Lilie schreibt sich als Lehrperson die Aufgabe zu, bei sich zu schauen, wie sie die «verhaltensauffälligen» (Zeile 325) Schüler:innen so in den Unterricht integriert, dass es «funktioniert» (Zeile 326):

  • Frau Lilie: «(…)Es ist ja auch unsere Aufgabe eigentlich? die die ganz vielen verschiedenen Sachen da unter einen Hut zu bringen; und es ist ja eine spannende Sache auch? //mhm// Und darum; (2) Nein ich finde das gehört dazu. @.@ Und ich suche halt auch dann den Fehler /echli/ bei mir? das kommt noch dazu; = also wenn ich das Gefühl habe sie sind jetzt extrem verhaltens@auffällig@ denke ich immer Okay was könnte ich noch anders machen dass das funktioniert; Oder liegt es vielleicht irgendwo durch auch an meinem Unterricht; oder an meinem Verhalten °dass es nicht /haut/.°» Zeile 322–328.

Die Aufgabe, alle Schüler:innen zu integrieren, stellt Frau Lilie in einen positiven Gegenhorizont, indem sie dies als «spannende Sache» bezeichnet und sie als Selbstverständlichkeit ihrer pädagogischen Tätigkeit sieht («nein ich finde das gehört dazu», Zeile 324). Es dokumentiert sich ihre Orientierung an der Machbarkeit, Schüler:innen mit Verhaltensauffälligkeiten in die Klasse zu integrieren und diese nicht etwa aufgrund derer Eigenschaften zu exkludieren. Erneut zeigt sich darin ihre handlungsleitende Orientierung, bei sich selbst anzusetzen und zu überlegen «was könnte ich noch anders machen, dass das funktioniert» (Zeile 327). In Frau Lilies Selbstzuschreibung, alle Kinder in die Klasse zu integrieren, dokumentiert sich ihr inkludierender Handlungsmodus.

7.1.2.3 Zusammenfassung Fallanalyse Frau Lilie

Zusammenfassung der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›Frau Lilie

Handlungsleitend in der Interaktion mit den Schüler:innen ist Frau Lilies Orientierung an erwarteten Verhaltensweisen der Schüler:innen, die sie mit diesen einübt und nach ihren Vorstellungen gezielt beeinflusst. Dabei orientiert sie sich an der Wahrung der Bedürfnisse der Schüler:innen, worin sich ein responsivesFootnote 3 Interaktionsmoment offenbart. Nachgezeichnet wurde, dass sich Frau Lilie in einem Spannungsfeld befindet. Dieses bewegt sich zwischen ihrer bisherigen Orientierung an der Verhaltensbeeinflussung einerseits und einer Praxis von Strafsystemen und einem neuen Ideal der straffreien Zusammenarbeit andererseits, in dem die Schüler:innen mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Zusammenfassung Dimension Unterrichtspraxis Frau Lilie

Handlungsleitend für Frau Lilies Unterrichtspraxis erweist sich eine Orientierung an der Steuerung des Verhaltens der Schüler:innen und an verhaltensbeeinflussenden Massnahmen mit dem Ziel, ein ruhiges Unterrichtsgeschehen zu ermöglichen. In ihrem Unterricht orientiert sich Frau Lilie an ihrer eigenen Verantwortung für die Steuerung des Verhaltens der Lernenden. Die Schüler:innen werden in dieser Orientierung nicht für Unterrichtsstörungen verantwortlich gemacht. Frau Lilie schreibt sich selbst zu, als Lehrperson in der Verantwortung zu stehen und allen Schüler:innen einen gut orchestrierten Unterricht anzubieten.

7.1.2.4 Erkenntnisse zur Erfassung einer Unterrichtsstörung und zu Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen

Nachgezeichnet wurde, dass Frau Lilie unter Unterrichtsstörungen Momente ihres Unterrichts versteht, in denen die Schüler:innen unkontrolliert Verhalten und Lärm produzieren. Die Steuerung von Verhaltensweisen der Schüler:innen im Klassenverbund erweist sich als handlungsleitend im Umgang mit diesen Störungen. Frau Lilies Umgang mit Unterrichtsstörungen zeigt sich in der Orientierung an ihrer Eigenverantwortung und darin, bei sich selbst anzusetzen, um Lösungen zur Behebung der Unterrichtsstörung zu finden. Deutlich wird, dass sie laute, störende Momente, in denen die Schüler:innen sich unkontrolliert verhalten, mit Hilfe verhaltensbeeinflussender Massnahmen bearbeitet, die sie unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Schüler:innen einsetzt.

7.1.3 Fallanalyse Frau Minze

Frau Minze unterrichtet an einer städtischen Regelschule und verfügt über 19 Jahre Unterrichtserfahrung. Sie ist Klassenlehrperson einer Mittelstufenklasse in einem Vollzeitpensum. Das Interview dauerte fünfundvierzig Minuten, wobei die Lehrperson bereits im Vorfeld über ihr knappes Zeitbudget informierte. Aufgrund eines ungeplanten Telefonats musste das Interview frühzeitig abgebrochen werden. Das Gespräch konnte im Klassenzimmer der Lehrperson durchgeführt werden. Auswertungen des quantitativen SUGUS-ProjektesFootnote 4 zeigen, dass Frau Minze im Vergleich zum Durschnitt allgemein etwas belasteter ist und über mehr Normabweichungen in ihrem Unterricht berichtet.

7.1.3.1 Vergleichsdimension ‹Wahrnehmung von den Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›

Die Interviewerin stellt Frau Minze zu Beginn des Interviews die Einstiegsfrage nach der Wahrnehmung von der Zusammenarbeit mit der Klasse. Die von ihr erlebten Anstrengungen äussert sie explizit, indem sie formuliert «den Unterricht sehr anstrengend» (Zeile 6) zu finden und das Gefühl hat, «wahnsinnig viel dreingeben» (Zeile 6 f.) zu müssen. Verdeutlicht wird dieses Empfinden von Anstrengung durch häufige Pausen im Sprechverlauf von Frau Minze. Indem sie von der eigenen Empfindung ihrer Wahrnehmung als anstrengend berichtet, dokumentieren sich Frau Minzes Emotionen hinsichtlich der Interaktion mit den Schüler:innen, die in folgendem Auszug in einem negativen Horizont stehen.

  • Y: «Ja es °läuft gut°(.) äh:m ja wenn du jetzt gerade keine Fragen hast du darfst es auch jederzeit nachher nachfragen wenn etwas unklar wär(.)Dann bitte ich dich erzähle mir doch mal wie du im Moment die Zusammenarbeit mit deiner Klasse wahrnehmen tust.» Frau Minze: «Äh:m persönlich empfinde ich die Wahrnehmung als sehr (.)(stöhnen) °mh° (.) ich finde den Unterricht sehr anstrengend; ich habe das Gefühl ich (.) muss wahnsinnig viel dreingeben (.) damit am Schluss auch (.) e:chli ein Ergebnis rausschaut. (.) und de:er (.) diese Wahrnehmung verstärkt sich eigentlich von Jahr zu Jahr, //°mhm°// (.) und ich hab:e jetzt schon mehrer:e Mittelstufenklassen unterrichtet, und habe noch nie das Gefühl gehabt dass am Schluss so wenig rausgekommen ist wie jetzt da. //°mhm°// also ä:h de-der Energieaufwand an (.) wi:e tu ich es machen was könnte ich veränderen, wie könnte ich das Lernarangement anpassen, damit sie es ä:h behalten (.) wie kann ich die Motivation zum Lernen fördern; das das ist (.) immens gross (2) i- in meinem Empfinden, //°mhm°// äh zu dem was am Schluss rauschaut. //°mhm°//(.) ich hatte noch nie so ein schwache Klasse gehabt leistungsmässig; //°mhm°// (.) °das° von dem her finde ich es ein bisschen (.) unbefriedigend, zum teil auch ein bisschen frustrierend, //°mhm°// eso; ja; //°mhm mhm (.) mhm°/.» Zeilen 1–17.

An ihrem Bezug zu einem «Ergebnis» (Zeile 7), das sich aus der Zusammenarbeit ergeben muss, deutet sich an, dass Frau Minze das Erbringen von Leistung (resultierend als Ergebnis der Zusammenarbeit) ins Zentrum stellt. Ihr hohes persönliches Engagement und ihre Enttäuschung darüber, dass ihr Engagement beim jetzigen Klassenzug im Vergleich zu anderen Jahrgängen («ich habe schon mehrere Mittelstufenklassen unterrichtet (…) noch nie (…) am Schluss so wenig rausgekommen wie jetzt da», Zeilen 9 f.) keine Früchte trägt, deuten darauf hin, dass ihre bisherigen Strategien oder Routinen nicht funktionieren. Die Leistung der «schwachen Klasse» (Zeile 14) steht im negativen Horizont gegenüber den bisherigen Klassen. Ihr Handlungsplan, das «Lernarrangement» (Zeile 12) anzupassen, «damit sie es äh behalten» (Zeile 12), scheint nicht aufzugehen, was zur Empfindung von Anstrengung führt. Das deckt sich mit ihrer persönlichen Involvierung und Hingabe, die aber in Frustration endet, weil die Routinen bei der jetzigen Klasse nicht zu greifen scheinen: Sie bringt Input, es folgt aber kein Output bei den Schüler:innen. Die Ausführungen zur aktuellen Situation stehen im negativen Gegenhorizont, worin sich ihre Orientierung in der Zusammenarbeit mit den Schüler:innen zeigt: Sie beschreibt ein aktuell stark zu ihr geneigtes Erbringungsverhältnis. Ihre Orientierung dokumentiert sich jedoch in einem eher ausgeglichenem Erbringungsverhältnis, in welchem die Schüler:innen Leistung zeigen. Massgeblich für die Beurteilung der Zusammenarbeit ist ihr eigenes Befinden, was sich darin zeigt, dass Frau Minze die Ausführungen zum Empfinden der Zusammenarbeit mehrfach auf ihr eigenes Gefühl der empfundenen Anstrengung bezieht.

Im späteren Verlauf des Interviews fragt die Interviewerin nach der Einschätzung der Beziehung zu den Schüler:innen. Im Gegensatz zur negativ erfassten Leistungserbringung der Schüler:innen stellt Frau Minze die Beziehung zu den Schüler:innen in einen positiven Horizont. Sie macht ihre Begründung für die Einschätzung der guten Beziehung zu den Schüler:innen anhand der Rolle von Schulsozialarbeiterin und Schulleitung deutlich. Indem Frau Minze feststellt, dass sie «das Gefühl habe sie vertrauen mir auch, //mhm// (.) also si:e ä:hm kommen erst nach ganz ganz langer Zeit irgendwie an einer andere Stelle zu der Schulsozialarbei:t, oder zu der Schulleitung,» (Zeilen 21 f.) und sie darin «ein Zeichen ja es ist ein Vertrauen da, äh:m» (Zeile 25) sieht, dokumentiert sich hier ihr Verständnis, dass andere, explizit dafür ausgewiesene Personen in der Regel Ansprechpartnerin für vertrauenswürdige Themen sind und nicht unbedingt sie selbst als Lehrperson. Hierin zeigt sich Frau Minzes Orientierung an einem distanzierten Beziehungsverhältnis zu den Schüler:innen, indem sie preisgibt, dass sie sich selbst nicht als Ansprechperson für vertrauenswürdige Themen sieht. Dennoch zeigt sich in den Auszügen, dass Frau Minze eine (an Strategie orientierte) Beziehung zu den Schüler:innen aufgebaut hat. Ihre Strategie Strategie zum Aufbau einer Beziehung zu den Schüler:innen wird mit ihren Ausführungen zur «festeren» und «lockeren» Führung der Schüler:innen deutlich.

  • Frau Minze: «(…) ich habe (.) so ein bisschen nachgelassen zwischen fester Führung ein bisschen lockerer wieder ein bisschen festerer, (.) wo wo ich das Gefühl habe das gibt ihnen wie eine gewisse Sicherheit; //mhm// (.) also sie wissen einfach was ich toleriere, und was nicht geht und mit dem können sich eigentlich äh dann auch (.) r:echt gut umgehen; da- sie kennen die Regeln, und d- das gibt ihnen wie (.) wie so ein gewissen Rahmen; //°mhm°// °wo sie sich können drin bewegen°.» Y: «°mhm° Du hast vorhin gesagt eben tust manchmal ein bisschen (.) enger führen und machmal wieder ein bisschen lockerer führen, kannst du da vielleicht ein Beispiel machen, wie ich mir das kann vorstellen, //mhm//.» Frau Minze: «Also es gibt zum Beispiel Situationen, sie müssen äh sie kriegen einen Test zurück, und dann müssen sie diesen am nächsten Tag unterschrieben zurückbringen; //mhm// und dann gibts ähm so Wochen wo ich denk ok, ich lasse es jetzt einfach mal so ein bisschen laufen und tu nicht dauernd nachfragen hast du es und hast du es heute au, und mache eine Strichliliste oder mache gerade einen Eintrag,(.) sondern sag zum Beispiel ok; also morn muss der dann aber da sein (.) //mhm// und ähm dann gibts wieder so Phasen wo ich denk eeh jetzt fangen sie an das auszunützen, //mhm// und dann sag ich he du jetzt hast du den heut wieder nicht da = ja ich bring- dann sag = ich du also weist du am nächsten Tag muss er da sein und das gibts einfach nicht, dass sie einfach auch wieder mal ein bischen merken (…).» Zeile 26–43.

In der Verwendung des Begriffs «Führung» (Zeile 26) im Zusammenhang mit Ausführungen zur Beziehungsgestaltung zeigt sich mitunter, dass die Interaktionsgestaltung für Frau Minze einen strategischen Charakter aufweist. Das Vertrauen der Schüler:innen gewinnt sie durch das Changieren von «lockerer» und «festerer» Führung (Zeilen 26 f.). Die Schüler:innen bleiben in den Ausführungen von Frau Minze in einer passiven Rolle – so auch in der Interaktionsgestaltung, die durch ihre Führung der Schüler:innen geprägt ist und durch ihren «Rahmen» (Zeile 30) abgesteckt wird. Darin dokumentiert sich Frau Minzes Orientierung an ihrer Eigenverantwortung, ihre Führung ohne Aushandlungsprozesse mit den Schüler:innen alleine auszugestalten – «also sie wissen einfach was ich toleriere» (Zeile 28). Frau Minze bleibt in Phasen der lockeren Führung aufmerksam, ob die Schüler:innen ihr Vertrauen ausnützen, worin sich ihre Skepsis gegenüber den Schüler:innen ausdrückt. So lässt Frau Minze zwischendurch die Nachfragen und die rigiden Kontrollen aus, wobei sie sich ausserhalb ihrer Orientierung an Kontrolle bewegt. Darin, dass Frau Minze entgegen ihrer Orientierung Phasen der lockeren Führung zulassen muss, dokumentiert sich ihr Verständnis der Notwendigkeit für die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen dieser Klasse. Es zeigt sich ein strategischer Modus der Interaktionsgestaltung, der durch Führung und Kontrolle durch Frau Minze strukturiert ist.

Frau Minzes Orientierung an Führung und Kontrolle der Schüler:innen wird im Interview nochmals an einer anderen Stelle deutlich. Frau Minze beschreibt eine Situation, in der sie sich als handlungsunfähig erlebt: wenn die Kinder ihre Hausaufgaben nicht erledigen.

  • Frau Minze: «…dann regt es mich richtig auf. (.) //mhm// dann dann denke ich wirklich ,jetzt habe ich doch? und wieso denn schon wieder? und wieso? geht das nicht; wieso haben von 15 Schüler? einfach 10? keine Hausaufgaben. das gibt es doch einfach nicht? das ist doch abnormal‘. //mhm// also dass ich mich wirklich? auch äh ja? frage? was kann ich denn noch machen? also was habe ich? wirklich? in der Hand also wenn ein Kind? keine Hausaufgaben macht, dann hat man überhaupt nichts in der Hand null. //mhm// also wenn man die Eltern? nicht kann ins Boot holen; und die Eltern zuhause das kontrollieren? dann haben wir keine Chance. (.) Null. //mhm// (2) es ist wirklich also. da da ist man ohnmächtig. //mhm// wirklich ohnmächtig. (2) und diese Ohnmacht die macht mich zum Teil richtig @rasend@. (.) °also° wo ich wirklich auch sagen muss ,hey pff. es sind nicht deine Kinder. es ist nicht die Zukunft von deinen Kindern. ähm mach das nicht zu deinem Problem. das ist ja eigentlich die Sache von den Eltern.» Zeile 152–162.

Die von Frau Minze formulierte «Ohnmacht» (Zeile 159), auf die störenden Verhaltensweisen, die sich hier auf das Nicht-Machen von Hausaufgaben beziehen, keine Einflussmöglichkeiten zu haben, äussert sich in einer Abhängigkeit von anderen Personen, in diesem Beispiel von den Eltern: «also wenn man die Eltern? nicht kann ins Boot holen; und die Eltern zuhause das kontrollieren? dann haben wir keine Chance. (.) Null» (Zeile 157 f.). Unverkennbar wird damit, dass sie Erwartungen an einen Elternsupport hat, der auf Kooperation mit ihrem Handlungsplan (Anfertigung von Hausaufgaben) fusst. Frau Minzes Handlungsplan in der ‘resignierten’ Situation dokumentiert sich in einer emotionalen Distanzierung. Wenn sie «rasend» (Zeile 160) wird, orientiert sie sich an Distanzierungsmechanismen auf Beziehungsebene wie «es sind nicht Deine Kinder» (Zeile 160 f.). Frau Minze eröffnet ein Spannungsfeld – sie orientiert sich an Kontrollierbarkeit, dennoch ist sie abhängig von externen Kompositionsfaktoren und Support, um diese Kontrolle durchsetzen zu können. Damit äussert sich ihre Problematik, keinen selbstbestimmten Handlungsplan zu haben, obschon sie sich in ihrer Interaktionspraxis daran orientiert. Zur Belastung wird es somit für sie, wenn ihre gewohnten Strategien nicht aufgehen und sich die Schüler:innen ihren Handlungsplänen widersetzen.

7.1.3.2 Vergleichsdimension ‹Unterrichtspraxis›

Auf die Rückfrage der Interviewerin nach einem Beispiel für Phasen der engeren und lockeren Führung, initiiert Frau Minze nach einer kurzen Antwort auf die Frage von sich aus Ausführungen zu Situationen im Unterricht, die sie als störend erlebt.

  • Frau Minze: «(…) //° oder auch //mhm// Störungen im Unterricht, wobei (.) ähm (stöhnen) (2) ja, es ist noch interessant es ist ja auch eine persönliche Wahrnehmung wir machen gegenseitig Unterrichtsbesuche und ein Kollege von mir war hier; und hat gesagt °ich würde das nicht aushalten, ich würd das nicht aushalten, dauernd das Geschnörr,° und entweder nehme ich es schon gar nicht mehr wahr,//mhm// oder ich habe dort einen anderen Toleranzbereich; //mhm// wo ich denk oke, es gibt so ne: so ne Dings wo man nicht mehr kann arbeiten, (.) und und = dann einer wo: ja wo sie das auch noch zulässt wo es auch braucht so nen Austausch und so; //mhm// also es ist ja wirklich glaub sehr persönlich wie man das empfindet.» Zeile 44–52.

Frau Minze überführt ihr Beispiel für engere oder lockere Führung der Klasse auf ihre Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen. In Abgrenzung zu ihrem Berufskollegen beschreibt Frau Minze ihren «Toleranzbereich» (Zeile 49), was sie akzeptiert und wo sie wieder strenger führen muss, weil das Verhalten der Schüler:innen ausserhalb ihres akzeptierten Bereichs liegt. In Bezug auf das Schwatzen der Schüler:innen im Unterricht beschreibt sie eine Gratwanderung zwischen einem nötigen Austausch und einem «Dings» (Zeile 49), bei dem sie den unterrichtlichen Handlungsplan unterbrochen sieht und «man nicht mehr arbeiten kann» (Zeile 49). Der Übergang zu einer Situation, in der man nicht mehr arbeiten kann, bezeichnet Frau Minze als «persönlich» und stellt ihren Kollegen in einen negativen Horizont. Wenn ihr Kollege auf Unterrichtsbesuch zu viel «Gschnörr» (Zeile 47) empfindet, expliziert Frau Minze keine Schwierigkeiten. Ihre Relativierung, dass sie das «Gschnörr» (Zeile 47) möglicherweise gar nicht mehr wahrnimmt, verdeutlicht ihre Unsicherheit, die sich aus dem Urteil ihres Kollegen ergibt. So deutet auch die Rechtfertigung, dass es sich um eine subjektive Wahrnehmung handelt, darauf hin, dass Frau Minze gerade nicht als Lehrperson dargestellt werden möchte, die zu viele Störungen toleriert. Verstärkt wird damit die in der vorherigen Vergleichsdimension rekonstruierte Orientierung an Kontrolle und Führung der Schüler:innen und einem Unterricht, der sich ohne «Gschnörr» (Zeile 47) auszeichnet. Die Interviewerin fordert im weiteren Interviewverlauf Frau Minze auf, genauer zu erzählen, was für sie eine Störung im Unterricht ist. Frau Minze erörtert anhand eines Beispiels, was sie im Unterricht als störend wahrnimmt:

  • Frau Minze: «Also zum Beispiel einer, der während, dem ich etwas erklä:re- dass dass dauernd geschwatzt wird. //mhm// Oder i:rgendeine, Bemerkung, immer daraufhin; ,ja, genau‘, oder ,ja habe ich doch gesagt‘, oder ähm; (.) ,ja? ich weiss es auch‘ so; einfach so reinrufen, während Erklärungen; (.) o::der au:ch wenn ich sage es wird Stillarbeit gemacht; jeder arbeitet für sich, und dass dann welche beginnen miteinander zu diskutieren, oder sogar? äh dann miteinander schwatzen? über i:rgendetwas anderes, //mhm// das äh (.) ist dann- ja. //mhm// aber mich dünkt es es ist auch eine Frage, von dem wie tu ich es am Anfang deklarieren, ich habe gestern gerade so eine Einheit gemacht wo ich sagte , ihr macht diese Aufgabe und zwar ganz alleine und ich höre g:ar ni:chts; //mhm//einfach ga:r nichts‘. und °das ist 30 Minuten tiptop gegangen. einfach kein Problem, also ich habe wirklich keine einzigen Schüler gehört oder irgendwie ein Nuscheln mit dem Nachbar einfach also das ist dann gegangen;° - aber ich denke das darf man wirklich auch (.) nur eben maximal 30 Minuten machen; weil das ist sehr anstrengend, //mhm//und dann muss man wie auch mal so einen Austausch zulassen. () //mhm// °ja so etwas.°» Zeile 55–67.

Ihrem Verständnis eines störungsfreien Unterrichts nach arbeiten die Schüler:innen während selbstständigen Arbeitsphasen ruhig und für sich alleine. In ihren Ausführungen wird unverkennbar, dass sie dabei sich selbst und ihre didaktische Tätigkeit als Lehrperson ins Zentrum stellt: In ihrer Beschreibung einer Unterrichtsstörung als Situationen, in denen Schüler:innen sie durch ihre verbalen Äusserungen unterbrechen, dokumentiert sich ihre Orientierung an Störungen als Unterbrechungen ihres eigenen Handlungsplans. Ihre Orientierung an Führung und Kontrolle und der Durchsetzung ihres Handlungsplans im Unterricht zeigt sich im Beispiel des Deklarierens eines Auftrages in Phasen der Stillarbeit, indem sie anschliesst «es ist auch eine Frage, von dem wie tu ich es am Anfang deklarieren» (…) «und das ist 30 Minuten tiptop gegangen» (Zeilen 60–63). Dabei steht ihr eigenes Handeln im positiven Gegenhorizont. Nach der Stillarbeitsphase muss in ihrem Verständnis Austausch zugelassen werden «und dann muss man wie auch mal so einen Austausch zulassen» (Zeile 67), ansonsten reissen Frau Minzes Führungsmöglichkeiten ein und werden nicht mehr von den Schüler:innen akzeptiert. Darin dokumentiert sich, dass sie die Schüler:innen strategisch so anleiten muss, dass sie gewillt sind, bei den Aufträgen ihrem Verständnis nach störungsfrei zu arbeiten.

Mehrfach wird deutlich, dass Frau Minze sich daran orientiert, ihre eigenen Handlungspläne im Unterricht durchzusetzen. So wird auch in der folgenden Passage ersichtlich, wie Frau Minze im Falle auftretender Unterrichtsstörungen (nachfolgend als unerledigte Hausaufgaben) mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ihren Handlungsplan durchsetzt.

  • Frau Minze: und also dort wo es ganz fest eingerissen ist, es hat äh vor (.) was war das Ende vierte Klasse, ist das also wirklich ja? also fünf haben die Hausaufgaben gehabt? und zehn nicht. und das haben sie auch noch cool? gefunden. (2) Und dann haben wir mal ein Gespräch gehabt; dort ist der Schulleiter? in die Klasse gekommen, und hat mal mit ihnen so geredet; also was sich das auch auswirkt; und dann haben wir nach diesem Gespräch haben wir gesagt oke? wer dann dreimal hintereinander wieder die Hausaufgaben nicht hat, der hat dann nochmals eine Einladung mit den Eltern zusammen; beim Schulleiter. und dann mussten die Eltern unterschreiben, dass sie Konsequenzen von dem kennen. wenn die Kinder nicht schaffen zuhause? dass sie halt einfach auch keine °Fortschritte mehr machen können im Lernen°; und von dort weg, hat es sich /echli/ angefangen zu bessern.» Zeile 162–171.

In der Erzählung zeigt sich, dass Frau Minze gegenüber den Schüler:innen keinen Einfluss auf das Erledigen der Hausaufgaben geltend machen kann. Deutlich wird, dass ihre Autorität untergraben wurde, indem sie konstatiert: «das haben sie auch noch cool gefunden» (Zeile 164). Ihre Handlungsoption in der stark negativ empfundenen Situation liegt dann in der Hinzuziehung des Schulleiters als Autoritätsmittel, um ihren Handlungsplan aufrechtzuerhalten. Die Lenkung der Schüler:innen sowie der Eltern, die unterschreiben müssen, dass sie die Konsequenzen «dass sie halt einfach auch keine Fortschritte mehr machen können im Lernen» (Zeile 170) kennen verdeutlicht damit erneut Frau Minzes Kontrollverhalten. Die Einbeziehung des Schulleiters und der Eltern hat Frau Minzes Handlungsplan wiederhergestellt. Es dokumentiert sich, dass Frau Minze von der Schulleitung Rückhalt benötigt, um durchzusetzen, dass die Schüler:innen die Hausaufgaben erledigen und sich damit ihrer Ansicht nach normkonform und ihrem Handlungsplan entsprechend verhalten.

Gleichsam zeichnet sich in obiger Passage eine Homologie der Orientierung an der Abhängigkeit von externen Faktoren (fehlender Elternsupport oder Schulleitung als Autoritätsmittel) ab, die Frau Minze nicht vollständig kontrollieren kann. Erkennbar wird das auch in der Anschlusssequenz, in welcher sich die Bedeutung von Frau Minzes Verständnis normkonformer Schüler:innen zeigt:

  • Frau Minze: «(…)aber. ich glaube es hat auch gebessert weil zwei von den /Redelsfüehrer/ die sind weggezogen? //mhm// und dann ist irgendwie die Coolness vom nicht gemachten Hausaufgaben; die ist dann wie verloren gegangen aus dieser Klasse. (2) // okey// °Das Ist äh° ich denke e:s braucht manchmal braucht es so einen? der so ein /echli/ der Leader? ist, wo sich so verhaltet //mhm// Und wenn man gute? Leader in der Klasse hat dann kann das alles drehen? (.) //mhm// °das ist das macht es glaube ich wirklich schwierig°.» Zeile 171–176.

Hier zeigt sich, dass Frau Minze in Bezug auf störende Verhaltensweisen von Faktoren abhängig ist, denen sie fremd und handlungsfähig gegenübersteht – deutlich wird das darin, dass es für sie «gute leader» braucht, damit sich «das alles drehen» kann (Zeile 175). Frau Minze weist keinen Handlungsplan auf, wie sie die Schüler:innen pädagogisch beeinflussen kann. Ihre Orientierung an der Beeinflussung durch externe Faktoren – in diesem Fall die Vorstellung von Glück oder Pech bei der Zusammensetzung der Schüler:innen und deren Personeneigenschaften – dokumentiert sich sowohl darin, dass es «gute leader» (Zeile 175) braucht, als auch in untenstehendem Auszug:

  • Y: «Wenn jetzt ähm, wenn sie so schwatzen miteinander; und und und und ähm eben die stö:ren, inwiefe:rn? stört es (2) dich selbst; die anderen Schüler? (.) und vielleicht auch den Schüler der selbst gerade am stö:ren ist.» Frau Minze: (seufzt) (3) «Also i:ch? habe vor allem ein Schüler; der nicht anders kann. //mhm//. der kann einfach nicht. also ich glaube er merkt es selbst gar nicht. also er ist dann selbst schon so erschrocken wenn ich sage, ,äh (.) jetzt aber hä‘? und dann nimmt er sich wieder etwas zusammen aber er merkt? es gar nicht dass er zum Beispiel auch dauernd reinplappert; //mhm// dass er immer noch etwas nachher- das das ist irgendwie ja. und da:s (.) nehmen die anderen glaube ich schon auch sehr als eine Störung wahr, //mhm// also wenn ich dann zum Beispiel- ich habe gestern glaube ich; so eine Bemerkung gemacht; ja und dann ,ja? und der stört ja sowieso immer‘, also das ist irgendwie so wie klar? also an das haben wir uns schon gewöhnt, der schwatzt sowieso schon immer (…).» Zeile 69–80.

Frau Minze setzt in obigem Ausschnitt zu einer etwas längeren Pause (Zeile 72) an. Sie bezieht die von der Interviewerin eingeführten Differenzierungsmöglichkeiten der Störungswahrnehmung auf einen einzelnen Schüler. Das Verhalten dieses Schülers wird in einen negativen Gegenhorizont gesetzt. Das Verhalten des Schülers, «der gar nicht anders kann» (Zeile 72) wird von Frau Minze normalisiert, denn «der stört ja sowieso immer» (Zeile 78 f.). Sein Verhalten stört Frau Minze, dennoch stehen aus ihrer Sicht Veränderungsmöglichkeiten für diesen Schüler ausser Frage. Im Gegensatz zur Möglichkeit Aufträge von Anfang an klar zu deklarieren, womit das Arbeiten störungsfrei funktioniert, macht Frau Minze in Bezug auf den Jungen, der «nicht anders kann» keine nachhaltigen Möglichkeiten zur Prävention von störendem Verhalten deutlich. Zwar macht Frau Minze geltend, dass sie ihn immer wieder darauf hinweist («äh jetzt aber hä», Zeile 74), sich das aber nicht bewährt. Ihre Lösung im Umgang mit dem Jungen, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich an das «Reinplappern» «gewöhnt» hat (Zeile 80).

7.1.3.3 Zusammenfassung Fallanalyse Frau Minze

Zusammenfassung der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›Frau Minze

Die Wahrnehmung der und die Interaktion mit den Schüler:innen ist geprägt durch Frau Minzes Orientierung an deren Leistungserbringung. In der Interaktion mit den Schüler:innen orientiert sie sich an ihren gefestigten Routinen. Greifen diese nicht, wird die Zusammenarbeit für Frau Minze belastend. In der Bewertung der Zusammenarbeit orientiert sich Frau Minze an ihrem eigenen Befinden. In der Interaktionsgestaltung mit den Schüler:innen erweist sich hingegen ihre Orientierung an strategischer Führung und Kontrolle der Schüler:innen als handlungsleitend. Dies zeigt sich in der Wahrung einer gewissen Distanz zu den Schüler:innen, die sich für Frau Minze in der Aufrechterhaltung der strategischen Interaktion mit den Schüler:innen als wichtig erweist.

Zusammenfassung Dimension UnterrichtspraxisFrau Minze

Frau Minzes Handlungsorientierungen bezüglich ihrer Unterrichtspraxis zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr eigenes Handlungsprogramm durchzusetzen versucht. Problematische Situationen entstehen, wenn Frau Minze die Kontrolle über den Handlungsplan verliert, zum Beispiel, wenn sie abhängig von nicht beeinflussbaren Faktoren ist. Diese Orientierung zeigt sich zum Beispiel in der Situation, wenn Schüler:innen die Autorität von Frau Minze untergraben und sie ihren Handlungsplan durch Hinzuziehung des Schulleiters als Autoritätsmacht wieder durchzusetzen versucht. Es kann sich aber auch darin zeigen, dass sie störende Schülerverhaltensweisen normalisiert.

7.1.3.4 Erkenntnisse zur Erfassung einer Unterrichtsstörung und zu Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen

Unterrichtsstörungen dokumentieren sich bei Frau Minze darin, dass Schüler:innen ihren Handlungsplan unterbrechen und dadurch ihr Anspruch auf strategische Führung und Kontrolle der Schüler:innen untergraben wird. Unterrichtsstörungen manifestieren sich in Lärm («Gschnörr»), Hineinreden oder darin, dass die Aufträge nicht wie von Frau Minze verlangt umgesetzt werden. Frau Minzes Handlungsorientierung im Umgang mit Unterrichtsstörungen zeigen sich darin, dass sie störende Verhaltensweisen normalisiert, sich emotional distanziert oder aber anhand anderer Personen ihren Handlungsplan wieder herzustellen versucht. Die als Leistungserbringer:innen adressierten Schüler:innen müssen sich dabei nach Frau Minzes Handlungsorientierungen ausrichten und sich ihr anpassen

7.2 Ergebnisse der sinngenetischen Typenbildung

Die vorliegende Arbeit interessiert sich für gemeinsame Handlungsorientierungen der Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen, die ihren Ausdruck in der sinngenetischen Typenbildung finden. Die fallspezifischen Handlungsorientierungen bilden den Ausgangspunkt für die sinngenetische Typenbildung. Zur Typisierung werden die am Einzelfall rekonstruierten Handlungsorientierungen abstrahiert, indem homologe und heterogene Handlungsorientierungen anhand eines vergleichenden Dritten zu einer Typik herausgearbeitet werden (siehe Abschnitt 6.5.5). In der komparativen Einzelfallanalyse zeigte sich, dass die zur Abstraktion möglichen Handlungsorientierungen sich in drei Dimensionen fassen lassen, die durch das vergleichende Dritte – das Tertium Comparationis – strukturiert werden. Das Tertium Comparationis bildetet dabei die aus dem Forschungsinteresse abgeleitete Frage nach dem Umgang mit Unterrichtsstörungen. Die Vergleichsdimensionen sind Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen, Unterrichtspraxis und Erfassung von Unterrichtsstörungen. Aus der Rekonstruktion der Orientierungen in den drei Dimensionen ergibt sich die Rekonstruktion ihres Umgangs mit Unterrichtsstörungen (siehe auch Tabelle 7.1). Diese Dimensionen bilden die Basis für die sinngenetische Typenbildung.

Die drei Vergleichsdimensionen wurden in allen Fällen verhandelt, so dass sich im Zuge der komparativen Analyse Hypothesen zu fallübergreifenden Handlungsorientierungen abzeichneten. Innerhalb der identifizierten Typen zeigen sich trotz ähnlicher, übergeordneter (d. h abstrahierter) Handlungsorientierungen fallspezifische Unterschiedlichkeiten. Insofern werden nachfolgend die abstrahierten Handlungsorientierungen beschrieben. Dabei wird sowohl auf die zentralen verbindenden Handlungsorientierungen verwiesen, gleichzeitig werden aber auch Unterschiede in Bezug auf den Einzelfall innerhalb des Typus hervorgehoben. Zu allen Fällen werden hierfür relevante Ausschnitte aus den Interviews hinzugezogen.

Im Umgang mit Unterrichtsstörungen lassen sich drei Typen identifizieren:

  • Typ I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung›

  • Typ II ‹verhaltensbeeinflussende Schüler:innenorientierung›

  • Typ III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung›

Die Beschreibung der sinngenetischen Typen basiert auf der Rekonstruktion der fallspezifischen Handlungsorientierungen, weswegen nachfolgend an einigen Stellen Dopplungen mit den Ausführungen zur Einzelfallbeschreibungen der ausgewählten Fälle (Abschnitt 7.1.17.1.3) in Kauf genommen werden. Der Aufbau der Typenbeschreibungen (Abschnitt 7.2.17.2.3) ist nach folgender Struktur ausgelegt:

  • Eingeführt wird mit der ausführliche Beschreibung der zwei Vergleichsdimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› sowie ‹Unterrichtspraxis›..

  • Anschliessend erfolgt eine Zusammenfassung dieser zwei Vergleichsdimensionen.

  • Die aus den Ausführungen der ersten zwei Vergleichsdimensionen abgeleiteten und ergänzten Erkenntnisse zur dritten Vergleichsdimension ‹Erfassung einer Unterrichtsstörung› und zum vergleichenden Dritten (Tertium Comparationis) ‹Umgang mit Unterrichtsstörungen› werden gemeinsam jeweils am Schluss der Teilkapitel (7.2.17.2.3) präsentiert.

7.2.1 Typ I: entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung

Diesem Typ wurden drei Fälle des Samples zugeordnet: Frau Rose, Herr Raps und Herr Mohn.

Nachfolgend werden die beiden Vergleichsdimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› sowie ‹Unterrichtspraxis› ausführlich dargestellt und hergeleitet.

7.2.1.1 Vergleichsdimension ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› Typ I

Handlungsleitend für diesen Typus ist ein aktiv gestaltetes und aufgebautes Interaktions- und Beziehungsverhältnis zu den Schüler:innen. Die Fälle dieses Typs verbindet die Handlungsorientierung, dass das Beziehungsverhältnis zu den Schüler:innen nicht selbstläufig gegeben ist, sondern dass dieses aktiv erarbeitet werden muss. Die aktive Gestaltung des Interaktions- und Beziehungsverhältnisses manifestieren sich über alle Fälle hinweg als leicht unterschiedliche Praktiken des Beziehungsaufbaus mit die Schüler:innen. Die in diese Praktiken eingeschriebenen Unterschiede werden nachfolgend für jeden Fall ausgeführt.

Für Herrn Raps erweist sich die Orientierung am Aufbau der Beziehung zu den Schüler:innen über die Identifikation mit den Lehrpersonen bzw. Coaches (einschliesslich sich selbst) handlungsleitend, was sich bspw. in folgenden Auszug zeigt (Interview Herr Raps, Auszüge aus Zeilen 55–64):

  • Herr Raps: «Es ist so, dass ähm das e:::h (.) dass das schlussendlich auch einen Aufbau hat, das heisst, dass wir- dass dass dass die Jugendlichen ähm ü:ber uns ein Haufen Identifikation mit der Schule, mit ihrer Arbeit, mit ihren Ziel, bekommen in einem ersten Moment, welcher im zweiten Moment natürlich zu ihnen selbst übergehen sollte, (…) für uns als als Coaches; ist dort die Beziehung zu den Jugendlichen ist unser Mittel, wie wir dort etwas °bewegen können.» Auszüge aus Zeilen 55–64.

Anschluss an die Schüler:innen zu finden erweist sich ebenso wie für Herrn Raps auch für Frau Rose und Herrn Mohn handlungsleitend. Herr Mohn orientiert sich ähnlich wie Herr Rap daran, Beziehung über persönliche Identifikation zu schaffen, indem er als «Vorbild» (Herr Mohn, Zeile 361) wirken möchte, so dass die Schüler:innen «auch noch ein bisschen so sein» wollen wie die Lehrperson (Herr Mohn, Zeile 363). Für den Aufbau einer Beziehung zu den Schüler:innen steht die Schaffung gemeinsamer Erfahrungen im Zentrum. Indem er gemeinsame Erlebnisse und «Vertrauen» (Zeile 49) herstellt, baut er seine Anschlussfähigkeit an die Schüler:innen auf, was sich in nachfolgendem Ausschnitt zeigt:

  • Herr Mohn: Das machen wir einfach, um die Klasse zu bilden um die Gruppe zu bilden um ein gemeinsames Erlebnis und ich finde es auch wie richtig dass beide Klassenlehrer mitkommen. und dass so (.) spüren die die müssen – alle müssen einen Einstieg haben miteinander(…).» Zeile 64–66.

Die Beziehung zu den Schüler:innen aufzubauen, dokumentiert sich bei Frau Rose darin, dass sie anhand von Einschätzungen der Schüler:innen deren Bedürfnisse erfasst, um ihren Unterricht entsprechend auszurichten. Dabei nutzt sie den «Fragebogen von Herrn Helmke» (Frau Rose, Zeile 54), um zu evaluieren, wo ihr Anschluss an die Bedürfnisse der Schüler:innen noch nicht ausreicht:

  • Frau Rose: «(…) und mache Striche bei denen wo es (.) ähm bei denen wo es eher negativ ist und ähm (2) überlege mir so ein wenig was dahinter stecken könnte und nachher diskutiere ich diese Punkte auch mit der Klasse.» Zeile 85–87.

Eine Beziehung zu den Schüler:innen aufzubauen und Anschluss an die Bedürfnisse der Schüler:innen zu finden, deutet bei den Fällen dieses Typus auf ein gegenseitiges (reziprokes), wechselwirkendes Interaktionsverhältnis zu den Schüler:innen hin. Die Fälle dieses Typs sind bei der Interaktion mit den Schüler:innen in unterschiedlicher Form auf deren aktives Mitwirken im Unterricht angewiesen. Herr Raps orientiert sich dabei an der Übernahme von Eigenverantwortung der Schüler:innen. Handlungsleitend für die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen erweist sich Herrn Raps Orientierung daran, dass die Schüler:innen für das Erzielen von «Erfolg» (Herr Raps, Zeile 437) Verantwortung übernehmen, indem er ausführt: «Unser Verhalten muss dementsprechend sein, dass wir uns das [Erfolg, CM] gegenseitig ermöglichen» (Herr Raps, Zeile 439). Hierin dokumentiert sich eine wechselseitige Verantwortlichkeit, worin den Schüler:innen eine aktive Rolle zugesprochen wird. Gleichermassen findet sich dieser Zuspruch bei Frau Rose in ihrer Orientierung an den Rückmeldungen zu ihrem Unterricht. Herr Mohn sucht nach Verständnis und Einsicht bei den Schüler:innen, die durch eine gute Beziehung zur Lehrperson daran interessiert sind, für sein Wohlergehen Mitverantwortung zu tragen:

  • Herr Mohn: «Du hast wenn du eine gute Beziehung? zu den Kindern? hast dann haben die, nicht ein ein solches Verhalten das dich zur Weissglut bringt, das wollen die nicht, wenn du eine gute? Beziehung zu den Kindern hast, wollen die nicht dass du (2) dass du nicht mehr magst? und nicht mehr kommst, (.) dann bist ja dann weg, (.) nein die wollen das nicht? (2).» Zeile 264–267.

Eine Beziehung zu den Schüler:innen aufzubauen und Anschluss an die Bedürfnisse der Schüler:innen zu finden, dokumentiert sich überdies und wie in obigen Ausschnitt erstmals deutlich wird, auch darin, dass die Fälle des ersten Typs sich für ihr (unterrichtliches) Handeln und die Interaktionsgestaltung mit den Schüler:innen an einer engen, stabilen Beziehung zu diesen orientieren. Die Funktion der Beziehung zu den Schüler:innen wird dabei von den Fällen dieses Typus als «Unser täglich Brot gib uns heute‘» (Herr Raps, Zeile 63) bzw. als «Hebel, um etwas bewegen zu können» (Herr Raps, Zeile 63) sowie als «Grundlage (.) zum Lernen» (Herr Mohn, Zeile 97) oder als «A und O» (Frau Rose, Zeile 646) bezeichnet.

Die enge Beziehung zu den Schüler:innen ist relevant, um damit die Möglichkeit zu haben, bei «Störungen von den Schülern» (Frau Rose, Zeile 173) zu reagieren, dadurch über deren «Leistung» und «Verhalten» (Herr Raps, Zeile 42 f.) sprechen zu können oder durch eine enge Beziehung zu den Schüler:innen keiner «nervt und die ganze Klasse durcheinander bringt» (Herr Mohn, Zeile 353). Hierin wird deren handlungsleitende Relevanz für die Fälle dieses Typs erkennbar. Die Fälle dieses ersten Typs orientieren sich an der Wirksamkeit der engen Beziehung, um darüber auf die Schüler:innen einwirken zu können, was sich anhand eines Auszuges aus dem Interview von Herrn Raps verdeutlichen lässt:

  • Herr Raps:» ähm (.) Die Beziehung ist ist für mich die Grundlage meiner Arbeit, ähm weil das der Teil ist, welcher schlussendlich darüber entscheidet; ähm können wir über Leistung ähm reden, können wir über Sache reden, können wir über Verhaltig äh Verhalten reden. Wenn i:ch in diesen Teil in diesem Teil von meiner Arbeit, ähm ich °sage jetzt einmal°; Defizite hätte, zu wenig Kompetenz hätte, da:nn betrifft das nachher den gesamten Schulalltag.» Zeile 41–45.

Für die zwei Fälle des ersten Typs – Herr Mohn und Herr Raps – stellte sich bezüglich ihrer unterrichtlichen Handlungsorientierungen heraus, dass diese enge Beziehung von den Lehrpersonen als Basis für das Unterrichten betrachtet wird. Für Herrn Raps bestimmt die Beziehung zu den Schüler:innen, bei der er sich an der Identifikation über seine Person orientiert, seine unterrichtlichen Handlungsmöglichkeiten, um bei den Schüler:innen Identifikationsprozesse mit den Lerngegenständen auszulösen und mit diesen über Schwierigkeiten sprechen zu können, was sich in folgenden Auszügen zeigt:

  • Herr Raps: «Es ist so, dass ähm das e:::h (.) dass das schlussendlich auch einen Aufbau hat, das heisst, dass wir- dass dass dass die Jugendlichen ähm ü:ber uns ein Haufen Identifikation mit der Schule, mit ihrer Arbeit, mit ihren Ziel, bekommen in einem ersten Moment, welcher im zweiten Moment natürlich zu ihnen selbst übergehen sollte, die Identifikation, oder gerade bei Jugendlichen, welche äh schulische Karrieren haben, wo sie sich bisher vor allem als erfolglos //mhm// wahrgenommen haben, ist es wichtig, dass man dort bei der Identifikation schafft und das funktioniert in der Regel nur über Menschen (…).» Zeile 55–61. Herr Raps: «(.) Die Beziehung ist ist für mich die Grundlage meiner Arbeit, ähm weil das der Teil ist, welcher schlussendlich darüber entscheidet; ähm können wir über Leistung ähm reden, können wir über Sache reden, können wir über Verhaltig äh Verhalten reden.» Zeile 41–43.

Ebenso zeigt sich bei Herrn Mohn, dass die Beziehung als Grundlage für das Lernen der Schüler:innen erfasst wird. Anders als Herr Raps orientiert er sich dabei weniger an der Identifikation mit sich selbst als Lehrperson, sondern vielmehr daran über ein gemeinsam erarbeitetes «Wir-Gefühl» einen derartigen Zusammenhalt in der Klasse zu etablieren, so dass eine Basis für Lernen geschaffen wird, was sich in folgendem Auszug verdeutlicht:

  • Herr Mohn: «Du kannst einfach nicht arbeiten? wenn sie sozialen /Klinsch/, also wenn sie Probleme haben (.) untereinander; ob jetzt Knaben = oder = Mädchen. dann kannst du nicht arbeiten, du kannst nicht auf das Lernen eingehen; du musst das zuerst regeln, (.).» Zeile 89–91.

Die Komparation der Fälle zeigte auf der Dimension der Interaktion mit und der Wahrnehmung von den Schüler:innen, dass die Fälle des ersten Typus die Schüler:innen als kompetente Personen adressieren, denen auf unterschiedliche Art Verantwortung zugesprochen wird. Nachfolgend werden diese verbindenden Handlungsorientierungen in ihren Unterschiedlichkeiten ausgeführt.

Herr Raps nimmt die Schüler:innen als Personen wahr, deren (Lebens-)Entwicklung über die Schulzeit hinausgeht. Nachgezeichnet wurde, dass Herr Raps die Schüler:innen als Biografieträger:innen adressiert, deren Übernahme von Verantwortung für die eigene (über die Fachinhalte hinausgehende) Arbeit aus der Perspektive von Herrn Raps in einem positiven Bedeutungszusammenhang steht.

  • Herr Raps: «Aber in diesem Jahr ist das jetzt schon fast etwas ausserordentlich, ähm weil ich sehr viele Jugendliche habe, wo viel Verantwortung übernehmen; ähm für ihre Arbeit, äh und dort ich wirklich irgendwie so eine managende Funktion habe, was mir sehr gefällt, was mir sehr li:egt und die Jugendliche dort ähh::h glaub ja? in eine Richtung arbeiten wo ich denke, das wird ihnen in der Zukunft dienen.» Zeile 6–9.

Gleichermassen lässt sich diese Orientierung an der positiven Zuschreibung von Verantwortungsübernahme auch bei Herrn Mohn nachzeichnen. Bei Herrn Mohn steht dabei die positive Zuschreibung von sozialer Verantwortungsübernahme im Zentrum. So stellte sich für Herrn Mohn heraus, dass er sich daran orientiert, anhand gemeinsamer Erlebnisse, die über das fachliche Lernen hinausgehen, ein Gruppenzusammenhalt zu etablieren, «der als Basis von keine Störungen» (Herr Mohn, Zeile 402) dient. Herr Mohn, ebenso wie Herr Raps, orientiert sich daran, den Schüler:innen Verantwortung für Prozesse abzugeben und sie dabei unterstützend zu begleiten, was sich in folgendem Beispiel zeigt. Herr Mohn beschreibt eine Situation im Skilager, wo er von den Schüler:innen erwartet, dass diese die «Abendunterhaltung» gestalten, um zu illustrieren, inwiefern er den Schüler:innen Mitspracherecht erteilen möchte.

  • Herr Mohn: «Und es ist vielleicht @auch mühsam@’//@ja@// also sie Teil haben lassen. (.) an organisatorischen Sachen auch. Auch an Verantwortung. Zum Beispiel die Abendunterhaltung im Skila:ger, das ist Sache der Kinder. Ich helfe ihnen dass dass das nachher klappt, aber sie müssen es machen und sonst gehen wir lesen oder ins Bett; und das übernehmen sie dann auch.» Zeile 390–394.

Sowohl für Herrn Raps als auch für Herrn Mohn zeigt sich, dass die Schüler:innen als Personen (und nicht nur als Lernende) adressiert werden, die kompetent (genug) sind, um Verantwortung zu übernehmen und Prozesse im Unterricht einschätzen zu können.

  • Herr Mohn: «Ja Die Kinder fragen, ist-, finde ich am besten eigentlich. Muss wirklich die Kinder fragen, ,wi:eso ist es nicht gelaufen?` //mhm// Die sagen dir eigentlich schon; was ist.» Zeile 450–452.

Die Adressierung der Schüler:innen als kompetente Personen, von denen die Fälle erwarten, dass sie Verantwortung übernehmen, ist auch für Frau Rose handlungsleitend. Indem Frau Rose die Schüler:innen – anhand derer Unterrichtseinschätzung durch einen Fragebogen – an der Unterrichtsgestaltung teilhaben lässt, dokumentiert sich, wie sie die Schüler:innen als kompetente Personen adressiert:

  • Frau Rose: «(…)wo ich einfach auch von der Zeit her- war mir gar nicht aufgefallen also das Zeitmanagement bei mir, wie wie fest dass das bei den Schülern-(.) also wie gut sie das beobachten /mhm/ dass ich meistens @tendenziell@ zu viel plane /mhm/ und dann habe ich- war es einfach wirklich für mich eine gute Rückmeldung dass ihnen das auch auffällt dass ich @tendenziell streichen muss@.» Zeile 103–108.

Diese – die Fälle verbindende – Praxis zeigt, dass Typ I die Schüler:innen durch Mitspracherecht und der Erwartungshaltung der Verantwortungsübernahme am Unterricht teilhaben lassen.

7.2.1.2 Vergleichsdimension ‹Unterrichtspraxis› Typ I

Die Fälle des Typs ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› orientieren sich in ihrer Unterrichtspraxis daran, Ursachen für Unterrichtsstörungen zu deuten und diese nicht in personenbezogenen Verhaltensweisen der Schüler:innen zu verorten (siehe Typ III). Es zeigt sich, dass die Fälle die Erfahrung teilen, Störungen als «Botschaften» (Herr Mohn, Zeile 452) zu nutzen, und sich Lehrpersonen dieses Typus verbindend die Frage stellen: «Ja es sind Störungen, aber was steckt dahinter?» (Frau Rose, Zeile 744). Gleichermassen belegt sich für Herrn Raps, dass er Ursachen für die «zentralen» Störungen ausfindig macht, um die «Zielklarheit» (Herr Raps, Zeile 195) der Schüler:innen und damit die Aufrechterhaltung der Lernprozesse zu ermöglichen. Die unterrichtspraktische Handlungsorientierung, Ursachen für Störungen zu identifizieren, dokumentiert sich bspw. in Herr Mohns Umdeutung einer Störung als Hinweise dafür, dass er in der Verantwortung steht, seinen Unterricht an die Bedürfnisse der Schüler:innen anzupassen:

  • Herr Mohn: «(…) die Störung deuten als `Ich brauche Hilfe, oder es ist (2) n:icht anspruchsvoll, oder es interessiert mich nicht, oder oder ich mag nicht mehr? @es ist alles gut aber ich mag nicht mehr@? oder ich habe heute einfach einen schlechten Tag.` (Zeile 241–243) // Ja und die Störungen einfach nicht als Störungen empfinden, so:ndern als als ä:hm; als Botschaft, Jetzt braucht es eine Rhythmisierung, jetzt braucht es Veränderung, jetzt – die Störung nicht als Störung. ja. Sondern als Info.» Zeile 452–454.

Damit einhergeht die gemeinsame Orientierung, dass die Lehrperson selbst für Unterrichtsstörungen verantwortlich sein kann, sich dadurch aber auch handlungsfähig zeigt, um etwas zu verändern, so dass Unterrichtsstörungen bearbeitet werden können. Herr Mohn hält bspw. fest: «Jetzt braucht es eine Rhythmisierung, jetzt braucht es Veränderung» (Zeile 453). Nachzeichnen lässt sich, dass die Fälle gegenüber den anderen Typen (II und III) eine Flexibilität gegenüber unerwarteten Unterrichtssituationen zeigen. Für die Fälle dieses Typus dokumentiert sich anhand ihrer gemeinsamen Orientierung an einer differenzierten Ursachenzuschreibung für Unterrichtsstörungen eine Praxis der Perspektivenübernahme für die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Schüler:innen.

Gekoppelt an die Ursachenzuschreibung der Schüler:innen lässt sich für diesen Typ eine Differenzierung von unterschiedlichen Unterrichtsstörungen bzw. Ursachen für Unterrichtsstörungen identifizieren, die sich auf deren Orientierung an der (Lern)-Entwicklung der Schüler:innen beziehen lassen. Verbindend für die Fälle des ersten Typus ist, dass diese in unterschiedlich gravierende Ursachen für störende Verhaltensweisen differenzieren.

Einige Formen von Unterrichtsstörungen führen dazu, dass die Schüler:innen in ihrem Lernprozess unterbrochen werden oder sich nicht entwickeln können, die werden als «ekliger» (Herr Mohn, Zeile 348) bezeichnet, oder als viel «zentraler» (Herr Raps, Zeile 184) eingestuft. Abgegrenzt werden diese Störungen von jenen Situationen im Unterricht, die «dazu gehören», «kein Thema» sind (Herr Raps, Zeile 245). Für Frau Rose erweist sich für die Erfassung einer Störung handlungsleitend, ob die Schüler:innen beim störenden Verhalten mitdenken, also ihrem Programm folgen, und produktiv sind. Hierin erkennbar wird, dass sie sich bei der Erfassung einer Störung an den Lernprozessen der Schüler:innen orientiert, was sich auch darin dokumentiert, dass Frau Rose stets einen strukturierten Handlungsplan verfolgt, dessen Zielbezug in den Lernprozessen der Schüler:innen liegt, oder sie sich bei der Definition einer Störung an der ausbleibenden Entwicklung eines Schülers abhandelt, der aufgrund einer medizinischen Diagnose von den anderen Schüler:innen diesbezüglich in einen negativen Gegenhorizont gestellt wird.

Diese handlungsleitende Orientierung des Lernprozessbezugs der Schüler:innen zeigt sich ebenso wie bei Frau Rose auch bei Herrn Mohn, der sich jenen Schüler:innen, die «Mühe haben beim Dranbleiben» (Zeile 337) annimmt und diese durch seine Begleitung in Form einer an Beziehung orientierten «liebevollen Härte» (Zeile 339) zurück in deren Lernprozess führt. Ebenso deutlich wird diese Orientierung bei Herrn Raps, der Störungen als durchkreuzte oder unterbrochene Lernprozesse erfasst, die durch Zielunklarheiten und mangelnder Identifikation – und damit einhergehend mangelnder Übernahme von Selbstverantwortung für den eigenen Lernprozess – ausgelöst sind. Diese bearbeitet Herr Raps, so dass Leistung und Erfolg für die Schüler:innen gewährleistet werden können.

Für Frau Rose und Herrn Mohn stellt sich in Abgrenzung zu Herrn Raps ein weiteres Thema. Zwar wurde bereits in der ersten Vergleichsdimension aufgezeigt, dass sich alle Lehrpersonen des ersten Typus daran orientieren, Anschluss an die Schüler:innen zu finden, für Frau Rose und Herrn Mohn soll an dieser Stelle zusätzlich der unterrichtspraktische Bezug stärker hervorgehoben werden. So konnte rekonstruiert werden, dass sich sowohl Herr Mohn als auch Frau Rose daran orientieren, produktiv der heterogenen Schülerschaft zu begegnen. Für Herrn Mohn erweist sich die unterrichtspraktische Handlungsorientierung zentral, durch «offene» und «breite» (Zeile 371) Themen den unterschiedlichen Interessen und Voraussetzungen der Schüler:innen gerecht zu werden. Frau Rose orientiert sich ebenso an unterschiedlichen Zielen der Schüler:innen, die sie in Coaching-Gesprächen festlegt und begleitet. Darin dokumentiert sich, dass Frau Rose die Schüler:innen als Individuen, mit unterschiedlichen (schulischen) Bedürfnissen wahrnimmt und begleitet:

  • Frau Rose: «Und jetzt aber (2) ich versuche wirklich jedes- eben ich habe ich mache Coaching-Gespräche und bei jedem Kind- jedes Kind hat so ein persönliches Ziel an welchem er oder sie arbeiten will; Welches wir gemeinsam im Coaching-Gespräch erarbeitet haben und (.) eben je nach Kind reagiere ich oder agiere ich anders.» Zeile 205–208.

7.2.1.3 Zusammenfassung Typ I

Zusammenfassung der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›Typ I

Handlungsleitend für die Fälle des Typus I ist in Bezug auf die Wahrnehmung der Schüler:innen und die Interaktion mit ihnen ein enges, aktiv erarbeitetes Beziehungsverhältnis. Anschluss an die Schüler:innen zu finden, erweist sich als zentral (bspw. über Identifikation mit den Lehrpersonen selbst, über gemeinsame Erlebnisse oder über das Einholen der Unterrichtseinschätzung anhand eines Fragebogens). Die Fälle dieses ersten Typs versetzen sich in die Schüler:innen und deren Bedürfnisse hinein.

Die enge Beziehung erweist sich für die Fälle dieses Typs als handlungsleitend im Hinblick auf das Einwirken auf die Schüler:innen – dies trifft auch auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen zu. Rekonstruiert wurde ein wechselseitiges Interaktionsverhältnis, bei dem die Fälle in ihrer Handlungspraxis auf die Mitwirkung der Schüler:innen angewiesen sind (zum Beispiel, indem die Schüler:innen selbst Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen oder indem sie den Unterricht evaluieren). Die Fälle des ersten Typus orientieren sich daran, die Schüler:innen als kompetente Akteure zu adressieren, denen ein Mitspracherecht gewährt wird und von denen eine Verantwortungsübernahme für ihr Lernen im Unterricht erwartet wird.

Zusammenfassung Dimension Unterrichtspraxis› – Typ I

Für die Fälle des Typus I handlungsleitend ist die Suche nach Ursachen von Unterrichtsstörungen. Dabei werden Ursachen von Störungen von den Fällen dieses Typus grundsätzlich nicht schüler:innenbezogen zugeschrieben. Unterrichtsstörungen werden bspw. als Hinweise darauf verstanden, dass der Unterricht angepasst werden muss, woraus eine Flexibilität gegenüber unerwarteten Ereignissen im Unterricht resultieren kann. Es zeigt sich, dass Störungen im Bewusstsein der Fälle des Typus I auch von der Lehrperson selbst ausgehen können. Die Fälle dieses Typus verbindet, dass sie sich an den schülerseitigen Bedürfnissen ausrichten und ihren Unterricht dahingehend adaptieren. Alle Lehrpersonen dieses Typus orientieren sich an einer Differenzierung in gravierende und weniger zentrale Störungen. Erstere haben einen Einfluss auf die (Lern-)Entwicklung der Schüler:innen. Der handlungsleitende Zielbezug der Fälle liegt darin, Lern- und Entwicklungsprozesse der Schüler:innen zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Nachgezeichnet wurden lernseitige Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen.

7.2.1.4 Erkenntnisse hinsichtlich der Erfassung einer Unterrichtsstörung und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen für die Fälle des Typus I

  • Typ I erfasst Unterrichtsstörungen als unterbrochene Lern- und Entwicklungsprozesse bei den Schüler:innen. Bei der Erfassung einer Unterrichtsstörung erweist sich für diesen Typ somit die Orientierung an den Schüler:innen und deren Lernen als handlungsleitend.

  • Die Fälle dieses Typs orientieren sich im Umgang mit Unterrichtsstörungen daran, anhand einer engen, aktiv aufgebauten Beziehung auf ihre Schüler:innen einwirken zu können. Die Fälle orientieren sich zudem daran, den Unterricht an die Bedürfnisse der Schüler:innen bei Unterrichtsstörungen zu adaptieren und die unterbrochenen Lern- und Entwicklungsprozesse wiederherzustellen.

7.2.2 Typ II: verhaltensbeeinflussende Schüler:innenorientierung

Diesem Typ wurden drei Fälle des Samples zugeordnet: Frau Lilie, Frau Dahlie und Frau Tulpe.

Nachfolgend werden die beiden Vergleichsdimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› sowie ‹Unterrichtspraxis› ausführlich dargestellt und hergeleitet.

7.2.2.1 Vergleichsdimension ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› Typ II

In Bezug auf die Wahrnehmung von und der Interaktion mit den Schüler:innen zeigt sich für die Fälle dieses Typus die Gemeinsamkeit, dass die Verhaltenserwartungen an die Schüler:innen zentral für das Handeln der Lehrpersonen sind. Diese Erwartungen zeigen sich (ungleich zu Typ III) vor einer responsiven Wechselseitigkeit zwischen Lehrperson und Schüler:innen sowie einer Orientierung an den Perspektiven und Bedürfnissen der Schüler:innen. Nachfolgend werden die als ähnlich typisierten Orientierungen an Verhaltenserwartungen der Schüler:innen unter Wahrung der Responsivität zu den Schüler:innen für die Fälle des zweiten Typus dargestellt.

Frau Lilies Wahrnehmung der Schüler:innen und ihre Interaktion mit den Schüler:innen ist geprägt durch ihre Handlungsorientierung an der Steuerung und Modifikation der Verhaltensweisen der Schüler:innen gemäss ihrer Erwartungen. Gleichsam zeichnet sich Frau Lilies Orientierung an einem Beziehungsgeflecht zu den Schüler:innen ab, das durch Wechselseitigkeit geprägt ist. Frau Lilie befindet sich in einem Spannungsfeld: Einerseits strebt sie eine straffreie Zusammenarbeit an, andererseits sieht sie sich auf Strafsysteme angewiesen, um das Verhalten der Schüler:innen zu regulieren.

Frau Lilies Umgang mit diesem Spannungsfeld dokumentiert sich im Ausweichen auf ihr unbekannte Mittel (Coaching-Gespräche), die sie aber im Rahmen ihrer ursprünglichen Handlungsorientierung (Verhaltensbeeinflussung durch Strafsysteme) einsetzt, wie nachfolgend gezeigt wird. Ebenso zeigt sich, dass Frau Lilie das aus ihrer Sicht störende Verhalten der Schüler:innen adressiert («redest immer rein, mach doch hier einmal ein Mez-Ziel», Zeile 29). Die Passage befindet sich am Anfang des Interviews und folgt auf die Frage der Interviewerin, wie Frau Lilie ohne Strafen vorgeht:

  • Frau Lilie: «[…] jetzt haben wir diese Mez-Ziele, also messbar erreichbar °und zeitlich begrenzt° //mhm// und wir haben es angeschaut wie dass diese Ziele am besten formuliert werden von den Kinder selber; (.) dann tun sie sich dieses Ziel setzen, wenn etwas nicht haut und dann schauen es wir wieder im Lerncoaching (.) gespräch an das ist so an Stelle von Strafen dass wir gleich dran sind und gleich schauen ‚Wo könntest du dich entwickeln, was haut noch nicht gut, redest immer rein? Mach doch hier einmal ein Mez-Ziel.‘ °und dann geht das eigentlich°.» Zeile 21–29.

Frau Lilie orientiert sich an einem konstruktiven Interaktionsverhältnis zu den Schüler:innen, bei dem deren Wohlbefinden zentral ist. Das Funktionieren im Klassenzimmer ist abhängig davon, dass die Schüler:innen sich wohl fühlen, aber gleichzeitig auch bereit sind, den Verhaltenserwartungen von Frau Lilie nachzukommen («es ist ein Geben und ein Nehmen», Zeile 58).

  • Frau Lilie: «Also es ist ein andere Ebene und so können wir uns in die Augen schauen und über etwas sprechen angstfrei und darum glaube ich (.) //mhm// °trägt das sehr viel zu dem bei, dass es funktioniert.» Zeile 59–61.

Wie bei Frau Lilie erweist sich Frau Dahlies Handlungsorientierung hinsichtlich der Wahrnehmung der Schüler:innen und der Interaktion mit den Schüler:innen in der (erlernbaren) Verhaltenskontrolle als zentral. Bei der Wahrnehmung der Schüler:innen ist die «Impulssteuerung» (Frau Dahlie, Zeile 158) der Kinder zentraler Bezugspunkt für ihre Erfassung einer Unterrichtsstörung. Sie beschreibt, dass eine für sie störende Situation im Unterricht dann vorkommt, wenn spielerische Lernsituationen durch Kinder verunmöglicht werden, die ihre Impulse noch nicht unter Kontrolle haben oder aber durch ihr «hypoaktives» (Zeile 145) Verhalten im Unterricht abhängen. Frau Dahlie erfasst Störungen an den Regulationsfähigkeiten der Schüler:innen – sie markiert einen kontrollierten Umgang mit Impulsen als «wünschenswert» (Frau Dahlie, Zeile 159).

  • Frau Dahlie: «(…) zum Beispiel Kinder die die die von der Impulssteuerung einfach noch nicht ganz ähm das geschafft haben, was für sie @wünschenswert@? wäre wo zum Beispiel bei einem Spiel, einfach ausrasten; ausflippen; so dass dass es wirklich ein Spi:el oder oder so eine Lernsituation kann (.) kann beeinträchtigen; kann unterbrechen.» Zeile 158–161.

Neben der Homologie in der Orientierung an der Verhaltenssteuerung und Verhaltenskontrolle der Schüler:innen lässt sich eine weitere Gemeinsamkeit zu Frau Lilie aufzeigen: ihre Orientierung an einer wechselseitigen Interaktionsgestaltung zu den Schüler:innen. Frau Dahlie orientiert sich an einem Selbstverständnis von unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Schüler:innen, auf die sie mit unterschiedlichen Formen der Kommunikation reagiert, was auch auf einen reflektierten Umgang mit unterschiedlichen Beziehungstypen hindeutet («selbstverständlich [reagiere ich, CM.] nicht bei allen auf die gleiche Art», Zeile 20f). Es dokumentiert sich, dass sich Frau Dahlie in der Wahrnehmung der Schüler:innen und der Interaktion mit den Schüler:innen an unterschiedliche Kommunikationsformen orientiert, indem sie verdeutlicht, dass einige Schüler:innen über «viele Worte» (Zeile 22) andere über «Nähe» (Zeile 23) und wieder andere über «Brieflein» kommunizieren.

  • Frau Dahlie: «bei den einen Kindern braucht es ähm (deutliches Luftholen) braucht es viele Worte oder viel eso- w- verbaler Austausch, bei anderen ist es einfach gut wenn man immer wieder ein bisschen in der Nähe, i:ist; //mhm// u-und die möchten vielleicht gar nicht ganz so viel schwatzen, andere gibts die kommunizieren dann plötzlich irgend über ein Brieflein, @oder eso oder legen einem etwas hin@.» Zeile 21–25.

Der dritte – diesem Typ zugewiesene – Fall orientiert sich gleichermassen an einer wechselseitigen, responsiven Interaktionsgestaltung mit den Schüler:innen. Diese Handlungsorientierung zeigt sich bei Frau Tulpe darin, dass Gespräche zu Themen der Schüler:innen, die über den Unterricht hinausgehen, zur Gestaltung der Interaktion mit den Schüler:innen handlungsleitend sind, was sich an untenstehendem Ausschnitt zeigt:

  • Frau Tulpe: «@ähm@ wie mach ich das; die Kinder interessieren mich eigentlich; //mhm// also ich frage viel, was sie so in der Freizeit machen//mhm// wir erzählen vom freinen Nachmittag, vom Wochenende, von den Ferien, //mhm// (.) wenn sie zwischen den Stunden ans Pult nach vorne kommen und mir etwas erzählen, denn höre ich, //mhm// (.) sie sind mir nicht gleich.» Zeile 33–36.

Frau Tulpe orientiert sich in der Wahrnehmung der Schüler:innen und in der Interaktion mit diesen an einem lose gekoppelten Gefüge, indem sie bei der Beschreibung der Zusammenarbeit bspw. mehrere Relativierungsformen («sie sind mir nicht glich», Zeile 36; «interessieren mich eigentlich», Zeile 33; «sie sind mir nicht egal», Zeile 26) einbezieht. An anderer Stelle zeigt sich, dass Frau Tulpe sich an einer Strategie des In-Beziehung-Tretens mit den Schüler:innen orientiert, die bedarfsorientierte oder lockere Züge annimmt: «Manchmal» (Zeile 449) fragt sie nach, und die Kinder geben «manchmal» (Zeile 450) Antwort. Es dokumentiert sich Frau Tulpes Handlungsorientierung, bei unproduktivem Verhalten mit Kümmern oder In-Beziehung-Treten mit den Kindern (Zeile 453) zu reagieren. Die Beschreibung zeichnet sich demnach durch eine Lockerheit aus, die sich im «manchmal» (Zeile 448) dokumentiert – die Kinder dürfen etwas antworten, müssen aber nicht. Frau Tulpe kommt auch dann zurecht, wenn sie nicht antworten.

  • Frau Tulpe: «Manchmal frage ich? ‚Was ist los mit dir, ist irgendetwas, kann ich dir helfen?‘ und manchmal sagen sie etwas manchmal aber auch nicht aber sie haben es eigentlich noch gerne, wenn ich sage ‚Du mir fällt auf, dass Du jetzt bist du so? müde hast du zu wenig geschlafen? oder was ist los.‘ und dann haben sie es eigentlich noch gerne, wenn man sich so ein wenig @um sie kümmert@.» Zeile 448–451.

Damit unterscheidet sich Frau Tulpe von Frau Lilie und Frau Dahlie, bei denen diese lockere Interaktionsgestaltung nicht thematisiert wird.

Zentral für Frau Tulpe ist wie bei Frau Lilie und Frau Dahlie, dass die Schüler:innen die von ihr erwarteten Verhaltensweisen umsetzen, wobei für Frau Tulpe eine deutlichere Orientierung am Lernen der Schüler:innen nachgezeichnet wurde. Frau Tulpe konkretisiert, dass sich Situationen im Frontalunterricht, in denen Schüler:innen «nicht mitdenken» (Zeile 80), als Störungen manifestieren: Wenn Frau Tulpe in dieser Unterrichtssituation «etwas» sagt und sich an die Kinder richtet, dann ist es etwas «Wichtiges» (Zeile 87). Es dokumentiert sich, dass sie sich in ihrer Tätigkeit unterbrochen fühlt und präsentiert damit ihr Norm- und Erwartungssystem von Verhaltensweisen an die Schüler:innen. Frau Tulpe erwartet, dass die Schüler:innen aufmerksam zuhören, damit sie nachher dieses «Wichtige» (Zeile 87) selbst umsetzen können und nicht erneut fragen, was zu tun ist. Hierin dokumentiert sich eben auch, dass Frau Tulpe sich daran orientiert, den Schüler:innen relevante Informationen für deren Lernprozesse effizient weiterzugeben.

  • Frau Tulpe: «Denn (.) meistens, wenn ich ja zum Beispiel am Frontalunterrichten bin ist es etwas wichtiges; //mhm// dann will ich ja dass alle das hören, und das sie nachher das selber können weitermachen; und dann muss man /lose/, weil ich sonst ja noch dreimal muss erklären; //mhm// ich mach’s dann sicher noch einmal, aber //mhm// wenn ich etwas da Vorne will erklären; will ich dass es alle gehört haben.» Zeile 86–90.

Im Unterschied zu Typ I bezieht sich die für Typ II rekonstruierte Responsivität – und die damit einhergehende Übernahme der Perspektive auf die Bedürfnisse der Schüler:innen – nicht als Möglichkeit zur Einflussnahme auf die (Lern-) Entwicklung der Schüler:innen oder gar auf deren Partizipation im Unterricht. Die Berücksichtigung der Wechselseitigkeit zwischen Schüler:innen und Lehrperson ist für diesen Typus zentral, wobei der Zielbezug grundsätzlich in der Steuerung und Herstellung erwünschter Verhaltensweisen liegt. Frau Tulpe weicht hierbei von den beiden anderen Fällen ab. Bei ihr wurde in der Steuerung der Verhaltensweisen einen deutlicheren Bezug zum Lernen der Schüler:innen nachgezeichnet.

7.2.2.2 Vergleichsdimension ‹Unterrichtspraxis› Typ II

Für die Fälle dieses Typs erweist sich die Orientierung daran, das Verhalten der Schüler:innen so zu steuern, dass der Unterricht ohne «unkoordinierten Lärm» (Frau Lilie, Zeile 184) oder «unnötigen» Lärm (Frau Dahlie, Zeile 186) stattfinden kann. Für die Unterrichtspraxis handlungsleitend erweist sich die gemeinsame Orientierung der Fälle an verhaltenssteuernden Massnahmen zur Umsetzung eines lärmfreien, aber auch lerndienlichen Unterrichts. Nachfolgender Auszug verdeutlicht dies für Frau Lilie:

  • Frau Lilie: «@mhm@ ja ich bin so ein wenig lärmempfindlich? und zwar so unkoo::rdinierter äh Lärm. Ich habe nichts gegen so i:ntensive Gespräche zu der Sache, ich habe es nicht gerne wenn umhergerannt wird, oder unnötig Stühle umhersch:ieben; °Türen zuschlagen solche Dinge.° (.) Ware umherwerfen. Einfach, wo ich das Gefühl habe ‚Ach nein, das muss nicht sein.‘ //mhm// Das sind für mich (.) °Stö:rungen.°» Zeilen 184–188.

Bei Frau Lilie zeigt sich diese Handlungsorientierung an anderer Stelle im Interview auch darin, dass sie zur Erzielung einer ruhigen Arbeitsatmosphäre mit den Schüler:innen am «Flüsterton» (Zeile 200) arbeitet oder regulierende Strategien wie «mit dem Gesicht zur Wand stehen, wenn sie besprechen» (Zeile 196 f.) einsetzt. Rekonstruiert wurde, dass Frau Lilie dabei auf das Lernen der Schüler:innen referenziert, die durch eine ruhige Umgebung besser arbeiten können, gleichsam stört es aber auch sie selbst («ich bin so ein wenig lärmempfindlich», Zeile 184).

Frau Dahlie orientiert sich zur Erhaltung eines ruhigen Unterrichts wie Frau Lilie an Strategien der Veränderung von Verhaltensweisen von Schüler:innen, die sich im Führen von «Strichli-Listen» (Frau Dahlie, Zeile 431), in der positiven Verstärkung mit der Strategie einen «Daumen» zeigen (Frau Dahlie, Zeile 463) oder im Hervorheben positiven Verhaltens als Anreizstruktur durch «Aufmerksamkeit reingeben dort wo es gut gelingt» (Frau Dahlie, Zeile 471) äussern.

  • Frau Dahlie: «Ich habe zum Beispiel auch schon gezeigt? einem Kind einfach einen Daumen? wenn es einmal hineingerufen hat ohne? dann ist wie? dann sehen auch die anderen? Kinder ich habe es wahrgenommen ich habe es gemerkt man muss jetzt keine grosse Sache daraus machen. es ist es jetzt einfach noch am Lernen. (…),Ah? ah ja? jetzt habe ich das ja gemacht,‘ und für das es dann lehrt. (.) ähm das besser kontrollieren. //oke ja// (2) und einfach- ja? und eben auch dort? wieder einfach das gelungene? Verhalten; (.) das betonen. //mhm// nicht das was noch nicht so gelingt darf man schon darüber? reden? aber Aufmerksamkeit reingeben dort wo es gut gelingt.» Auszüge aus Zeilen 462–471.

Wie bei Frau Lilie zeigt sich für Frau Dahlie, dass sie sich im Einsatz dieser verhaltenssteuernden Massnahmen daran orientiert, ob diese den Schüler:innen helfen, ihre Verhaltensweisen zu verändern bzw. inwiefern sie dadurch in ihrem Verhalten dazu lernen. Im Gegensatz konnte jedoch bei Frau Dahlie kaum Bezug zum Lernen der Schüler:innen rekonstruiert werden. Vielmehr bezieht sich Frau Dahlie auf die Verhaltensebene, ebenso im untenstehenden Auszug, bei dem sie auf ein Verhaltensziel referenziert: zu schauen «wie viel mal schaffe ich das» (Zeile 437).

  • Frau Dahlie: «@der der ganze ganze Murmel-Fächer ja@ /@/ja@// das kann es höchstens? mal geben bei einem einzelnen? Kind? wenn wir das im Coaching-Gespräch? besprechen; //mhm// und denken. oder wie (.) herausfinden; ob das einem Kind könnte, helfen. für ein bestimmtes Kind. ein Ziel zu erreichen;,,Wie viel Mal schaffe ich das,‘ das kann es mal geben.» Zeile 434–437.

Der dritte Fall dieses Typus, Frau Tulpe, orientiert sich ebenso wie die beiden ersten Fälle in der Erfassung einer Unterrichtsstörung daran, inwiefern störende Verhaltensweisen Lärm verursachen («Umegagere/, Wasser trinken hundertmal, Bleistifte spitzen, Unterlagen suchen, umher laufen, andere foppen, Grimassen machen @(.)@ ähm (.) nuschen unter dem Bank, (.) malen.,», Frau Tulpe, Zeile 109–110). Es dokumentiert sich aber auch, dass sie Störungen als Situationen erfasst, in denen die Schüler:innen nicht mitdenken und anschliessend nicht wissen, was zu tun ist, und insofern nicht lernen können. Ihre Handlungsorientierungen gehen über verhaltensbeeinflussende Massnahmen hinaus. In Abgrenzung zu den ersten beiden Fällen dieses Typus zeigt sich für Frau Tulpe ein stärkerer Bezug zum Lernen der Schüler:innen. Dabei verweist sie auf Handlungsmöglichkeiten, die einen didaktischen Bezug haben: sie verzeichnet Unterrichtsstörungen als Folge einer mangelnden Passung (des Unterrichts) «für alle» (Zeile 95):

  • Frau Tulpe: «Ja das heisst für mich? ich habe es nicht gut gemacht? ich habe irgendwi:e nicht alle erreicht, //mhm// irgendetwas, müsste ich ändern damit alle zuhören; es ist vielleicht zu wenig spannend? oder ich habe es schon dreimal gesagt? //mhm// oder ähm (.) irgendjemand ist überfordert? jemand ist unterfordert, //mhm// Also es passt nicht für alle. in diesem Fall. //oke//.» Zeile 92–95.

Frau Tulpe führt diesbezüglich an anderer Stelle aus, dass «überforderte Kinder» (Zeile 106) den Unterricht stören, worauf sie diese auf eine «Lerninsel» (Zeile 126) schicken kann. Dem Interview ist zu entnehmen, dass es sich dabei um eine begleitete Form des Unterrichts handelt, der jedoch nicht in der Klasse und mit einer anderen Lehrperson durchgeführt wird. Hierin dokumentiert sich, dass Frau Tulpe sich daran orientiert, die «schwachen Schüler:innen» (Zeile 107) in ihrem Lernen zu unterstützen, weil diese auf der Lerninsel «besser arbeiten» (Zeile 127).

7.2.2.3 Zusammenfassung Typ II

Zusammenfassung der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›Typ II

Bei den Fällen des Typus II steht die Orientierung an erwarteten Verhaltensweisen der Schüler:innen im Zentrum. Dabei kann ähnlich wie bei den Fällen des Typus I auch für die Fälle des Typus II eine übergreifende Handlungsorientierung an den Perspektiven der Schüler:innen und damit einhergehend ein wechselseitiges, responsives Interaktionsverhältnis rekonstruiert werden. Der Zielbezug liegt darin, dass die Schüler:innen diejenigen Verhaltensweisen zeigen, die es den Lehrpersonen ermöglichen, die lernförderliche Unterrichtsordnung aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu Typ I sind die Fälle des Typus II nicht gleichermassen auf eine engen Beziehung zu den Schüler:innen angewiesen. Es zeigt sich jedoch, dass eine positive Interaktionsbasis zu den Schüler:innen relevant für ihr Handeln ist.

Zusammenfassung der Dimension UnterrichtspraxisTyp II

Die unterrichtliche Praxis der Fälle des Typus II zeichnet sich durch eine Orientierung an der Steuerung der Verhaltensweisen der Schüler:innen aus. Die Fälle orientieren sich daran, eine lärmfreie, ruhige, aber auch lernförderliche Unterrichtsatmosphäre herzustellen. Im Vergleich zu den Fällen des Typus I steht die (Lern-)Entwicklung der Schüler:innen bei den Fällen des Typus II weniger im Zentrum.

7.2.2.4 Erkenntnisse hinsichtlich der Erfassung einer Unterrichtsstörung und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen für die Fälle des Typus II

Die Fälle des Typus II erfassen Unterrichtsstörungen grundsätzlich als Situationen, in denen die Schüler:innen durch ihr unkoordiniertes Verhalten nicht den Erwartungen der Lehrpersonen entsprechen. Vor diesem Hintergrund erfassen die Fälle Unterrichtsstörungen als lärmige Situationen. Darüber hinaus wurde zumindest für Frau Tulpe ein deutlicher Bezug zum unterbrochenen Lernen der Schüler:innen nachgezeichnet. Rekonstruiert wurde, dass Fälle sich im Umgang mit Unterrichtsstörungen grundsätzlich an verhaltensbeeinflussenden Massnahmen orientieren. Dabei sollen jedoch die Bedürfnisse der Schüler:innen gewahrt und eine lernförderliche Unterrichtsordnung aufrechterhalten werden.

7.2.3 Typ III: selbstbezogene Lehrer:innenorientierung

Diesem Typ wurden zwei Fälle des Samples zugeordnet: Frau Minze und Herr Flieder.

Nachfolgend werden die beiden Vergleichsdimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› sowie ‹Unterrichtspraxis› ausführlich dargestellt und hergeleitet.

7.2.3.1 Vergleichsdimension ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen› Typ III

Die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen wird von beiden Fällen gleichermassen negativ beurteilt. In der Eingangspassage fordert die Interviewerin Herrn Flieder auf, von der Zusammenarbeit mit der Klasse zu berichten. Die Zusammenarbeit beurteilt Herr Flieder im Vergleich zu anderen Jahrgängen negativ, was sich im Vergleich zu «Jahrhundert»-Klassen (Zeile 69) manifestiert (siehe nächste Seite). An Herrn Flieders Erzählung wird deutlich, dass er keinen Zugang zur Klasse findet, in die er anfangs der vierten Klasse eintrat: «Anfangs vierte / fünfte habe [er, C.M.] so ähm verhärtete Situationen angetroffen. Herr Flieder erklärt die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit mit den Schüler:innen mit der «Geschichte» (Zeile 7) der Klasse. In der nachfolgenden Sequenz dokumentiert sich darüber hinaus, dass Herr Flieder mit seiner Wahrnehmung und seiner Normvorstellung bei der Klasse aneckt. Darin zeigt sich ein Fremdheitsgefühl von Herrn Flieder gegenüber der Klasse, die sich darin ausdrückt, dass es ihn stört, dass die «Mädchen» warten, «bis die Buben alles hatten» (Zeile 12–13), aber die Mädchen nicht wollten, dass ihn das stört.

  • Herr Flieder: «(.) Und als ich sie antrat also anfangs Vie::rte/ Fü:nfte habe ich so ähm verhärtete Situationen angetroffen. Also zum Beispiel das Thema Mädchen Buben die Buben hatten immer, Vorrang, die Buben durften zuerst die Buben, - die Mädchen haben gewartet. bis die Buben alles hatten; //mhm// Beim Blätter austeilen, bei /Goodies/, beim Schaukeln, beim Foto machen, und das hat mich sehr gestört. und das wollten dann die Mädchen nicht dass ich mich daran störe Sie fanden ‘lassen Sie das es ist immer so gewesen und es wird auch so bleiben’.» Zeile 11–19.

Diese Fremdheit gegenüber der Klasse und die sich darin dokumentierende Unzugänglichkeit zeigt sich auch diesbezüglich, dass Herr Flieder «auf ein fahrendes Schiff aufspringen musst» (Zeile 34) und «sie sowieso alles kennen also die haben drei Jahre Vorsprung in der Kenntnis von den Kollegen» (Zeile 31–32), wobei er dann eben «vielmals keine Ahnung hatte, was jetzt genau passiert» (Zeile 36).

  • Herr Flieder: «U::nd sonst, haben sie natürlich ein ganz grosses, - sie- sie- nehmen die Störung in dem Sinn nicht so wahr weil sie sowieso alles kennen Also die haben drei Jahre Vorsprung in der Kenntnis von den Kollegen? wo ich auf ein fahrendes Schiff aufspringen musste und vielmals keine Ahnung hatte was jetzt genau passiert.» Zeile 30–36.

Die Unzugänglichkeit zur Klasse und die Fremdheit gegenüber den Schüler:innen wird auch darin erkennbar wird, dass Herr Flieder die «Geschichten die einfach genau ablaufen» erkennt, aber im Vergleich zu den «Jahrhundert-Klassen» (Zeile 69) diese nicht einordnen kann. Herr Flieder eröffnet in untenstehender Passage einen Gegenhorizont zu vorherigen Klassen, in denen die Zusammenarbeit als positiv empfunden wurde. Die «Verhärtung» der Klasse, die Herrn Flieder einen Zugang verunmöglicht, wird von ihm als problematisch erfasst. Es zeichnet sich eine Handlungsstrategie des «herunterfahren» (Zeile 70) ab: Herr Flieder senkt seine Erwartungen an die Klasse, um damit im Umgang mit der Unzugänglichkeit zur Klasse handlungsfähig zu bleiben. Damit deutet sich eine vermeidende Strategie an, indem er sich aus der Verantwortung zieht, Anschluss an die Klasse herzustellen.

  • Herr Flieder: «/uh uh/ herzig und bis in Bus, Im Bus geht es dann wieder los. Da gibt es so alte Geschichten die einfach genau ablaufen und ich weiss nicht genau wie es abläuft. Ja. (.) Also ich arbeite gerne mit der Klasse und lieber als am Anfang. Am Anfang, habe ich mich immer genervt ich habe vorher zwei ganz tolle Klassen gehabt. also wirklich Jahrhundert-Klassen. und ich wusste ich muss herunterfahren. aber ich dachte nicht dass ich jetzt so ein Thema habe von Verhärtung. Da kann man nichts machen °es ist immer so gewesen° Ja.» Zeile 66–73.

Gleichermassen berichtet Frau Minze negativ von der Zusammenarbeit mit den Schüler:innen. Die Anstrengung, die Frau Minze in der Zusammenarbeit mit den Schüler:innen erlebt, äussert sie in untenstehendem Auszug explizit, indem sie formuliert «den Unterricht sehr anstrengend» (Zeile 6) zu finden und das Gefühl hat, «wahnsinnig viel dreingeben» (Zeile 6 f.) zu müssen. An ihr Bezug zu einem «Ergebnis» (Zeile 7), das in der Zusammenarbeit herausschauen muss, deutet sich an, dass Frau Minze das Erbringen von Leistung (resultierend als Ergebnis der Zusammenarbeit) ins Zentrum stellt. Frau Minzes hohes persönliches Engagement und der Frust, dass ihr Engagement bei dem jetzigen Klassenzug im Vergleich zu anderen Jahrgängen («ich habe schon mehrere Mittelstufenklassen unterrichtet (…) noch nie (…) am Schluss so wenig rausgekommen wie jetzt da», Zeilen 9 f.) nicht funktioniert, zeigt, dass ihre bisherigen Strategien oder Routinen nicht funktionieren.

  • Frau Minze: «Äh:m persönlich empfinde ich die Wahrnehmung als sehr (.)(stöhnen) °mh° (.) ich finde den Unterricht sehr anstrengend; ich habe das Gefühl ich (.) muss wahnsinnig viel dreingeben (.) damit am Schluss auch (.) e:chli ein Ergebnis rausschaut. (.) und de:er (.) diese Wahrnehmung verstärkt sich eigentlich von Jahr zu Jahr, //°mhm°// (.) und ich hab:e jetzt schon mehrer:e Mittelstufenklassen unterrichtet, und habe noch nie das Gefühl gehabt dass am Schluss so wenig rausgekommen ist wie jetzt da.» Zeile 5–10.

Deutlich wird, dass die Fälle sich an ihrem bisherigen Erfahrungsraum zur Interaktion mit den Schüler:innen orientieren. Greifen die gewohnten Routinen nicht oder entsprechen die Interaktionen mit den Schüler:innen nicht bisherigen Berufserfahrungen wird die Zusammenarbeit als negativ empfunden.

Für die beiden Fälle des dritten Typs dokumentiert sich hinsichtlich der Vergleichsdimension Interaktion mit und Wahrnehmung von den Schüler:innen, dass sie sich an Distanzierungsstrategien zu den Schüler:innen orientieren. Herrn Flieders Umgang mit dem zuvor dargestellten Fremdheitsgefühl gegenüber der Klasse, das zu einem Herunterfahren der Erwartungen führt, zeigt sich auch in einer Emotionsregulation bzw. einer Affektkontrolle, um in der Interaktion handlungsfähig zu bleiben (weitere Ausführungen dazu folgen auf der nächsten Seite). Frau Minze orientiert sich an ihrem Auftrag, die Schüler:innen zu führen und zu kontrollieren, aber nicht etwa Ansprechperson für vertrauenswürdige Themen zu sein. Diese Funktion lagert sie an die Schulsozialarbeit bzw. an die Schulleitung aus und gibt damit Verantwortung ab, womit sich wie bei Herrn Flieder eine vermeidende Handlungsorientierung zeigt. Darin dokumentiert sich eine distanzierte Form der Beziehung zu den Schüler:innen. Untenstehender Auszug unterstreicht diese auch an anderer Stelle im Interview, wo erkennbar wird, dass sich Frau Minze an emotionalen Distanzierungsmechanismen orientiert. Die dort von Frau Minze formulierte «Ohnmacht» (Zeile 159), keine Einflussmöglichkeiten zu haben auf die störenden Verhaltensweisen, die sich hier auf das Nicht-Machen von Hausaufgaben beziehen, äussert sich in einer Abhängigkeit von anderen Personen, in diesem Beispiel von der Zusammenarbeit mit den Eltern: «Also wenn man die Eltern? nicht kann ins Boot holen; und die Eltern zuhause das kontrollieren? dann haben wir keine Chance. (.) Null» (Zeile 157 f.). Es zeigt sich damit, dass Frau Minze Erwartung an einen Elternsupport setzt, der auf Kooperation mit ihrem Handlungsplan (Hausaufgaben machen) fusst. Erneut dokumentiert sich hierbei, dass Frau Minze die Verantwortung abgibt. Frau Minzes Handlungsplan in dieser resignierten Situation dokumentiert sich in einer emotionalen Distanzierung, die sich als eine vermeidende Strategie bezeichnen lässt. Wenn sie «rasend» (Zeile 160) wird, dann orientiert sie sich an Distanzierungsmechanismen auf Beziehungsebene wie «es sind nicht Deine Kinder» (Zeile 160 f.). Frau Minze eröffnet ein Spannungsfeld – sie orientiert sich an Kontrollierbarkeit, dennoch ist sie abhängig von externen Kompositionsfaktoren und Support, um diese Kontrolle durchsetzen zu können. Damit äussert sich Frau Minzes Problematik, keinen selbstbestimmten Handlungsplan zu haben, obschon sie sich in ihrer Interaktionspraxis daran orientiert. Zur Belastung wird somit für sie, sich die Schüler:innen ihren Kontrollmechanismen widersetzen und sich Frau Minze selbst aus der Verantwortung etwas bewirken zu können entlässt («dann hat man überhaupt nichts in der Hand null», Zeile 157). Die Passage ist in Anschluss an die Frage der Interviewerin nach ausgelösten Gefühlen und Empfindungen durch Unterrichtsstörungen zu lesen:

  • Frau Minze: «dann regt es mich richtig auf. (.) //mhm// dann dann denke ich wirklich ,jetzt habe ich doch? und wieso denn schon wieder? und wieso? geht das nicht; wieso haben von 15 Schüler? einfach 10? keine Hausaufgaben. das gibt es doch einfach nicht? das ist doch abnormal‘. //mhm// also dass ich mich wirklich? auch äh ja? frage? was kann ich denn noch machen? also was habe ich? wirklich? in der Hand also wenn ein Kind? keine Hausaufgaben macht, dann hat man überhaupt nichts in der Hand null. //mhm// also wenn man die Eltern? nicht kann ins Boot holen; und die Eltern zuhause das kontrollieren? dann haben wir keine Chance. (.) Null. //mhm// (2) es ist wirklich also. da da ist man ohnmächtig. //mhm// wirklich ohnmächtig. (2) und diese Ohnmacht die macht mich zum Teil richtig @rasend@. (.) °also° wo ich wirklich auch sagen muss ,hey pff. es sind nicht deine Kinder. es ist nicht die Zukunft von deinen Kindern. ähm mach das nicht zu deinem Problem. das ist ja eigentlich die Sache von den Eltern‘,» Zeile 152–162.

Ebenso wie für Frau Minze zeigt sich für Herrn Flieder, dass er zur Interaktion mit den Schüler:innen sich an der Regulation seiner Affekte orientiert, um damit handlungsfähig zu bleiben – besonders dann, wenn er von Unterrichtsstörungen betroffen ist. Im Interviewverlauf richtet die Interviewerin die Frage nach empfundenen Gefühlen und Emotionen bei Störungen an Herrn Flieder. In der Antwort Herrn Flieders dokumentiert sich, wie Herr Flieder im Umgang mit Unterrichtsstörungen seine Affekte kontrolliert. Damit wird deutlich, dass er sich und sein Empfinden ins Zentrum stellt. Die Regulation seiner Emotionen im Umgang mit Unterrichtsstörungen ist für ihn ein zentraler Bestandteil seiner Tätigkeit als Lehrperson. Störungen treffen ihn «persönlich» und können bei ihm «Wut und Enttäuschung» auslösen (Zeile 245). Das Ringen mit Affekten wird zu einem späteren Zeitpunkt im Interview erneut rekonstruiert, wo Herr Flieder zum Schluss des Interviews die Möglichkeit nutzt, weitere Themen anzubringen. Darin dokumentiert sich, dass Herrn Flieder dieses Thema der Affektregulation besonders wichtig ist. Die Affektregulation erweist sich für Herrn Flieder als handlungsleitend, um einen professionellen Interaktionsmodus zu wahren. Der ‹brüllende Lehrer›, so die Sichtweise Flieders, agiert in Ohnmacht. Herr Flieder ist sich bewusst, dass es negative Formen des Umganges mit Störungen gibt (Brüllen, Ohrfeigen etc.) – er befindet sich im Regulationsmodus, um diese daraus entstehenden Affekte zu regulieren, damit er gerade nicht so agiert.

  • Herr Flieder. «Weil es geht ganz fest in die Gefühlsebene? (.) und dann Affekte kann es geben? oder. (.) brüllen, habe ich jetzt etwas mal gehört wo wo einer dann nur noch gebrüllt hat, //mhm// und nachher gesagt: Hey ich habe noch nie gebrüllt die Kinder auch völlig erstarrt? oder. (2) //mhm// also früher sind es Ohrfeigen gewesen? //mhm// im Affekt, und heute kannst du das subtil anders machen oder.» Zeile 916–922.

Hinsichtlich der Dimension Interaktion mit und Wahrnehmung von den Schüler:innen zeigt sich verbindend für beide Fälle dieses Typs, dass sie sich daran orientieren, Schüler:innen in ihrer Klasse zu unterrichten, bei denen sie Veränderungsmöglichkeiten ausschliessen, weil diese aufgrund ihrer persönlicher Eigenschaften ‹nicht anders können› (in Anlehnung an Frau Minze, Zeile 69). Hierin dokumentieren sich Normalisierungsprozesse, in denen sich wiederum zeigt, dass die Fälle sich nicht in der Lage sehen, Anschluss an diese Schüler:innen zu finden – sie schreiben sich nicht zu, diese Situationen verändern zu können (ungleich zu den Fällen des Typus I).

Bei Frau Minze lässt sich dies beispielhaft mit untenstehendem Auszug veranschaulichen. Darin wird deutlich, dass das Verhalten des Schülers Frau Minze stört, dennoch Veränderungsmöglichkeiten in Frau Minzes Sichtweise auf diesen Schüler ausser Frage stehen. Zwar macht Frau Minze geltend, dass sie ihn immer wieder darauf hinweist («äh jetzt aber hä», Zeile 74), sich das aber nicht bewährt. Ihre Lösung im Umgang mit dem Jungen zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich an das «reinplappern» «gewöhnt» (Zeile 76 und 80) hat.

  • Frau Minze: «(seufzt) (3) Also i:ch? habe vor allem ein Schüler; der nicht anders kann. //mhm//. der kann einfach nicht. also ich glaube er merkt es selbst gar nicht. also er ist dann selbst schon so erschrocken, wenn ich sage, ,äh (.) jetzt aber hä‘? und dann nimmt er sich wieder etwas zusammen aber er merkt? es gar nicht dass er zum Beispiel auch dauernd reinplappert.» Zeile 72–76.

Gleichermassen wird bei Herrn Flieder erkennbar, dass er einen Schüler, der «hat Ritalin» (Zeile 22), als «extrem störend» (Zeile 21) beschreibt. Herr Flieder schreibt den störenden Verhaltensweisen pathologische Ursachen («und wenn der die Pille nicht nimmt; dann ist der Teufel los», Zeile 9) zu, die aus seiner Sicht nicht verändert werden können. Herr Flieder führt aus, dass der Junge «einsichtig geworden ist» (Zeile 25) und den Unterricht von sich aus verlässt, «wenn es wirklich schlimm wird» (Zeile 26). Hierin dokumentiert sich, dass nicht Herr Flieder sich die Aufgabe zuschreibt, etwas zu verändern, sondern sich in der Auflösung der störenden Situation daran orientiert, dass dieser Schüler einsieht, sich selbst aus dem Unterricht zu entfernen.

7.2.3.2 Vergleichsdimension ‹Unterrichtspraxis› Typ III

Hinsichtlich der unterrichtspraktischen Handlungsorientierungen zeigt sich für die Fälle des Typus III, dass die eigenen Handlungspläne im Zentrum stehen und Anpassungserwartungen an die Schüler:innen gerichtet werden. Es wurde ungleich zu den Fällen des Typus I kaum Flexibilität im unterrichtlichen Handlungsplan rekonstruiert. Herr Flieder orientiert bezüglich seiner Unterrichtspraxis daran, dass «seine gute Lektion» (Zeile 216) von den Schüler:innen nicht zu deren «persönlichen Animositäten» (Zeile 217) ausgenützt werden soll, was er als Unterrichtsstörung bezeichnet, wie in untenstehendem Auszug gezeigt werden kann:

  • Herr Flieder: «U::nd da:nn Störungen im Unterricht dass man (.) eine Arbeit eigentlich ausnutzt, um dann irgendein Nebengeschäft zu °machen°. //oke// Also Stillbeschäftigung mit ein bisschen sticheln, //mhm// und so (.) also etwas wo ich eigentlich finde. es ist eigentlich gut vorbereitet, es wäre eine gute Lektion, wo jemand missbraucht. zu persönlichen °Animositäten°. //m::hm// Das ist ist für mich eine °Störung°.» Zeile 213–217.

An anderer Stelle zeigt sich, dass Herr Flieder Störungen als «Quereinschlag» (Zeile 236) in seine Idee erfasst, worin sich dokumentiert, dass er seinen Handlungsplan durch Störungen unterbrochen sieht. Gleichermassen dokumentiert sich diese Orientierung an der Unterbrechung des eigenen Handlungsplans bei Frau Minze, die Störungen als Unterbrechung ihrer Tätigkeit erfasst, was sich mit folgendem Auszug verdeutlichen lässt:

  • Frau Minze: «Also zum Beispiel einer, der während, dem ich etwas erklä:re- dass dass dauernd geschwatzt wird. //mhm// Oder i:rgendeine, Bemerkung, immer daraufhin; ,ja, genau‘, oder ,ja habe ich doch gesagt‘, oder ähm; (.) ,ja? ich weiss es auch‘ so; einfach so reinrufen, während Erklärungen; (.) o::der au:ch wenn ich sage es wird Stillarbeit gemacht; jeder arbeitet für sich, und dass dann welche beginnen miteinander zu diskutieren, oder sogar? äh dann miteinander schwatzen? über i:rgendetwas anderes.» Zeile 55–60.

Auch in der folgenden Passage wird ersichtlich, wie Frau Minze im Falle auftretender Unterrichtsstörungen (nachfolgend als unerledigte Hausaufgaben) mit aller ihrer zur Verfügung stehenden Mitteln ihren Handlungsplan durchsetzt. In der Erzählung wird deutlich, dass Frau Minze gegenüber den Schüler:innen keinen Einfluss auf das Erledigen der Hausaufgaben geltend machen kann. Es zeigt sich, dass ihre Autorität untergraben wurde, indem sie konstatiert «das haben sie auch noch cool gefunden» (Zeile 164). Ihre Handlungsoption in der stark negativ erfassten Situation liegt dann in der Hinzuziehung des Schulleiters als Autoritätsmittel, um ihren Handlungsplan aufrechtzuerhalten. Die Lenkung der Schüler:innen sowie der Eltern – die unterschreiben müssen, dass sie die Konsequenzen, «dass sie halt einfach auch keine Fortschritte mehr machen können im Lernen» (Zeile 170) kennen – verdeutlicht damit erneut Frau Minzes Kontrollverhalten. Der Einbezug des Schulleiters und der Eltern hat Frau Minzes Handlungsplan wiederhergestellt. Es dokumentiert sich, dass Frau Minze von der Schulleitung Rückhalt benötigt, um durchzusetzen, dass die Schüler:innen die Hausaufgaben erledigen und sich damit ihrer Ansicht nach normkonform verhalten und sich an ihren Plan halten.

  • Frau Minze: «… und also dort wo es ganz fest eingerissen ist, es hat äh vor (.) was war das Ende vierte Klasse, ist das also wirklich ja? also fünf haben die Hausaufgaben gehabt? und zehn nicht. und das haben sie auch noch cool? gefunden. (2) Und dann haben wir mal ein Gespräch gehabt; dort ist der Schulleiter? in die Klasse gekommen, und hat mal mit ihnen so geredet; also was sich das auch auswirkt; und dann haben wir nach diesem Gespräch haben wir gesagt oke? wer dann dreimal hintereinander wieder die Hausaufgaben nicht hat, der hat dann nochmals eine Einladung mit den Eltern zusammen; beim Schulleiter. und dann mussten die Eltern unterschreiben, dass sie Konsequenzen von dem kennen. wenn die Kinder nicht schaffen zuhause? dass sie halt einfach auch keine °Fortschritte mehr machen können im Lernen°; und von dort weg, hat es sich /echli/ angefangen zu bessern.» Zeile 162–171.

Rekonstruiert werden konnte für die Fälle des Typus III hinsichtlich der unterrichtspraktischen Handlungsorientierungen, dass die Fälle sich daran orientieren, von externen, aus ihrer Sicht wenig beeinflussbaren Faktoren in ihrem Handeln abhängig zu sein. Darin dokumentiert sich für die Fälle des Typus III ein Spannungsfeld, in dem störende Verhaltensweisen der Schüler:innen belastend werden. Bei Frau Minze zeigt sich dies bspw. darin, dass sie zur Gestaltung eines störungsfreien Unterrichts davon abhängig ist, ob sie «gute leader» (Zeile 175) in der Klasse hat.

  • Frau Minze: «(…)aber. ich glaube es hat auch gebessert weil zwei von den /Redelsfüehrer/ die sind weggezogen? //mhm// und dann ist irgendwie die Coolness vom nicht gemachten Hausaufgaben; die ist dann wie verloren gegangen aus dieser Klasse. (2) // okey// °Das Ist äh° ich denke e:s braucht manchmal braucht es so einen? der so ein /echli/ der Leader? ist, wo sich so verhaltet //mhm// Und wenn man gute? Leader in der Klasse hat dann kann das alles drehen? (.) //mhm// °das ist das macht es glaube ich wirklich schwierig°.» Zeile 171–176.

Auch bei Herrn Flieder wird gleichermassen die Abhängigkeit von nicht beeinflussbaren Faktoren erkennbar. Wie bereits im vorausgehenden Kapitel dargestellt, orientiert sich Herr Flieder in der Zusammenarbeit mit den Schüler:innen daran, seine Erwartungen bei dieser Klasse runterzufahren, weil er keine Handlungsmöglichkeiten für Veränderungspotential erkennt und keinen Zugang findet. Hinsichtlich seiner Unterrichtspraxis und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen zeigt sich diese Orientierung in ähnlicher Weise. Erkennbar wird sein Handlungsplan im Umgang mit Unterrichtsstörungen, indem er in untenstehendem Auszug seine «Trickchen» preisgibt. Deutlich wird Herrn Flieders Routine im Umgang mit Störungen. In der Beschreibung seiner Vorgehensweise zeigt sich, dass Herr Flieder eine bewusste Gewichtung der positiven Momente im «Schulalltag» (Zeile 901) vornimmt. Es dokumentiert sich dabei eine Abhängigkeit vom Verhalten der Schüler-/innen. Er kann mit positiven Fotos auf störende Ereignisse reagieren und damit Situationen «aufpeppen» (Zeile 909). Es zeigt sich, dass die Situation dadurch zwar besser wird, aber er im Umgang mit Störungen vom Verhalten der Schüler:innen und den ausgelösten negativen Emotionen abhängig bleibt. Der Ausschnitt dieser Passage bezieht sich auf den Abschluss des Interviews, wo Herr Flieder die Möglichkeit ergreift, Ergänzungen anzubringen. In einer längeren Erzählung verdeutlicht er, wie er durch seine «Trickchen» (Zeile 900) mit Unterrichtsstörungen umgeht. Sein Umgang mit Störungen liegt – neben dem Ansprechen – in der aktiven, durch Anstrengung geprägten Relativierung von negativen Erlebnissen. Negative Erlebnisse werden zum Wohle der eigenen Gesundheit mit positiven Erlebnissen relativiert.

  • Herr Flieder: «Also ich habe so mein mein mein /Trickchen/ auf dem Heimweg (.) ich schaffe mit drei Fotos.. Und dann schaue ich dass ich zwei gute Fotos? habe und ein Schlechtes; (…) oder und mein Ziel? ist dass das schlechte Foto das nicht wegbringt aber sie ist da. ich muss sie anschauen aber ich kann sie aufpeppen indem dass ich sage: He es ist so viel Gutes passiert heute. und das hat jetzt dürfen sein = aber wie was mache ich morgen mit dem(…).» Auszüge aus Zeilen 899–911.

7.2.3.3 Zusammenfassung Typ III

Zusammenfassung der Dimensionen ‹Wahrnehmung der Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen›Typ III

Die Fälle des dritten Typus orientieren sich hinsichtlich der Dimension der Wahrnehmung der Schüler:innen und der Interaktion mit den Schüler:innen daran, die eigenen, bekannten Routinen um- und durchsetzen zu können. Beide Fälle erfahren in der Umsetzung ihrer Routinen Schwierigkeiten, so dass die Zusammenarbeit mit den Schüler:innen negativ wahrgenommen wird. Diesem Spannungsfeld begegnen die Fälle des Typus III mit Formen der inneren Distanz zu den Schüler:innen. Als handlungsleitend erweist sich die Regulation der eigenen Affekte in der Interaktion mit den Schüler:innen. Im Gegensatz zu den Fällen des Typus I und II suchen die Fälle des Typus III nicht in vergleichbarem Ausmass Anschluss an die Schüler:innen. Rekonstruiert wurden Normalisierungsprozesse in Bezug auf störende Verhaltensweisen einzelner Schüler:innen. Als handlungsleitend erweist sich dabei das Akzeptieren dieser störenden Verhaltensweisen und gleichsame die Orientierung daran, dass die störenden Schüler:innen von sich aus den Unterricht verlassen. Dies steht im Gegensatz zu den Fällen des Typus I und II, die bei störenden Verhaltensweisen bspw. nach Ursachen suchen oder mit verhaltenssteuernden Massnahmen reagieren. Für die Fälle des Typus III wurden lehrseitige Handlungsorientierungen rekonstruiert.

Zusammenfassung der Dimension Unterrichtspraxis Typ III

Als handlungsleitend hinsichtlich der Unterrichtspraxis von den Fällen des Typus III erweist sich deren Orientierung an den eigenen unterrichtlichen Handlungsplänen. Den Fällen gemeinsam ist die Erfassung einer Störung als Bruch in diesen unterrichtlichen Handlungsplänen. Gemeinsam ist den Fällen des Typus III zudem das Herantragen von Anpassungserwartungen an die Schüler:innen. Es zeigt sich, dass die Fälle des Typus III Störungen als ihr eigenes gestört sein deuten und wahrnehmen, nicht jedoch als (durch die Lehrperson zu bearbeitende) Schwierigkeiten der Schüler:innen (wie Typus I und II). Die entsprechende Handlungsorientierung lässt sich an Abhängigkeiten von externen Faktoren festmachen, die für die Fälle des Typ III zu belastenden Spannungsfeldern führen.

7.2.3.4 Erkenntnisse hinsichtlich der Erfassung einer Unterrichtsstörung und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen für die Fälle des Typus III

In der Erfassung einer Unterrichtsstörung erweist sich die Orientierung an Unterbrüchen im eigenen Handeln bzw. im eigenen Handlungsplan als zentral. Die Fälle des Typus III orientieren sich im Umgang mit Unterrichtsstörungen daran, ihre Affekte zu regulieren und mit Hilfe von inneren Distanzierungsmechanismen auf Beziehungsebene in der Interaktion mit den Schüler:innen handlungsfähig zu bleiben. Daran anschlussfähig ist, dass die Fälle des Typus III störende Schüler:innen aufgrund von Personeneigenschaften für die Störungen verantwortlich macht und deren Verhalten versucht zu normalisieren. Rekonstruiert wurde für die Fälle des Typus III ein Spannungsfeld, das sich aus der Orientierung an der Abhängigkeit von externen, kaum beeinflussbaren Faktoren in der Erfassung von und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen ergibt (bspw. «Glück» zu haben mit einer ruhigen Klasse).

7.2.4 Zwischenfazit

Es kann gesagt werden, dass drei – sich deutlich voneinander unterscheidende – Typen im Umgang mit Unterrichtsstörungen rekonstruiert wurden. Die Fälle des Typus I fallen durch ihre lernseitigen, schülerorientierten Handlungsorientierungen auf. Dieser Typ ist aus zwei perLen-Lehrpersonen sowie einer SUGUS-Lehrperson mit Zusatzausbildung im Umgang mit Heterogenität zusammengesetzt. Die enge Beziehung wird als «Unser täglich Brot gib uns heute‘» (Herr Raps, Zeile 63) bzw. als «Hebel, um etwas bewegen zu können» (Herr Raps, Zeile 63) sowie als «Grundlage (.) zum Lernen» (Herr Mohn, Zeile 97) oder als «A und O» (Frau Rose, Zeile 646) bezeichnet. Ebenso zeigte sich das handlungsleitende Verständnis, dass Störungen den Lernprozess der Schüler:innen unterbrechen. Die Fälle des Typus III hingegen sind durch die lehrseitigen, auf sich selbst bezogenen Handlungsorientierungen sowie durch ihre Distanzierungsmechanismen auf Beziehungsebene und ihre Affektregulation gekennzeichnet. Unterrichtsstörungen durchkreuzen den eigenen Handlungsplan dieser Lehrpersonen. Dieser Typ besteht aus SUGUS-Lehrpersonen. Die Fälle des Typus II zeichnen sich durch ihre Handlungsorientierungen an der Verhaltensregulation aus, die zur Aufrechterhaltung der Unterrichtsordnung notwendig sind. Störungen zeigen sich in unkoordinierten Unterrichtssituationen. Typ II ist aus zwei perLen- und einer SUGUS-Lehrperson zusammengesetzt.

Tabelle 7.2 gibt einen Überblick über die Typen und deren zentralen Handlungsorientierungen in Bezug auf die identifizierten Vergleichsdimensionen sowie in Bezug auf die übergeordneten Erkenntnisse des Tertium Comparationis ‹Umgang mit Unterrichtsstörungen›. Letztere werden in der Tabelle für jeden Typ in der Titelzeile dargestellt. Die erste Spalte stellt die Bezeichnung der Vergleichsdimensionen (1–3) dar. Die entsprechenden Handlungsorientierung werden für jeden Typ in den einzelnen Zellen ausgeführt.

Tabelle 7.2 Übersicht über die drei sinngenetischen Typen

7.3 Korrespondenzanalyse

Wie in Abschn. 6.5.5.2 beschrieben, wird als ein noch wenig angewendeter methodischer Schritt in der Dokumentarischen Methode, eine Korrespondenzanalyse durchgeführt (Amling & Hoffmann, 2013). Ausgehend von Analysen der quantitativen Kurzfragebogendaten werden mögliche Kontextfaktoren zur Erklärung für die sinngenetisch typisierten Handlungsorientierungen beleuchtet. Zur Erklärung der sinngenetischen Typen anhand der Korrespondenzanalyse, wurde durch einen deskriptiven Vergleich der Mittelwerte in SPSS untersucht, inwiefern sich die Typen in Bezug auf die Konstrukte ‹Rahmenbedingungen› und ‹Schülerorientierung› unterscheiden (Eckstein et al., 2018). Auch wenn es sich dabei nicht um klassische Dimensionen sozialer Lagerungen handelt, werden diese in Bezug auf den Schulkontext als zentrale Dimensionen betrachtet. In Rückbezug zu den Interviews und theoretischen Überlegungen erwiesen sich diese zwei Konstrukte als bedeutungsvoll zu möglichen Erklärungsansätzen der sinngenetischen Typen (siehe Abschnitt 7.4).

Den Entscheid, das Konstrukt ‹Rahmenbedingungen›Footnote 5 an der Schule (Eckstein et al., 2018) einzubeziehen, lassen sich mit den in Abschnitt 3.3 für die perLen-Schulen herausgearbeiteten didaktischen und schulischen Rahmenbedingungen begründen, deren ‹Grammar of Schooling› (Tyack und Tobyn, 1994) von traditionellen Schulen abweicht (Stebler, Pauli & Reusser, 2021). Die Beurteilung der Rahmenbedingungen wurde anhand einer Skala mit drei Items gemessen (Beispielitem: «Einschätzung der Personalressourcen»; Antwortmöglichkeit auf vierstufiger Likertskala von 0 = stimmt gar nicht bis 3 = stimmt genau).

Bei den nicht signifikanten Unterschieden der Mittelwerte des Konstruktes schulische ‹Rahmenbedingungen› zwischen den drei Typen zeigt sich, dass Fälle des Typus III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› die Rahmenbedingungen an ihrer Schule als eher ungünstig wahrnimmt. Fälle des Typus I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› hingegen nimmt die Rahmenbedingungen der Schule konsistent günstig wahr. Ebenso werden die Rahmenbedingungen von den Fällen des Typus II ‹verhaltensbeeinflussende Schüler:innenorientierung› als günstig wahrgenommen (Tabelle 7.3).

Tabelle 7.3 Deskriptive Analyse des Konstrukts ‹Rahmenbedingungen›

Unterschiede hinsichtlich der ‹Schüler:innenorientierung› sind in Bezug auf die Forderung, eine effektive, von ‹Choice and Voice› geprägte Unterrichtsarchitektur lernseits zu denken (Bray & McClaskey, 2015), relevant für weiterführende Überlegungen. Die validierte Skala zur Messung der Schülerorientierung (Eckstein et al., 2018) umfasste vier Items (Beispielitem: «Persönliche oder soziale Fragen bespreche ich mit den SuS auch während den Lektionen, selbst wenn der Fachunterricht dann ein wenig zurücktritt.»; Antwortmöglichkeit auf einer vierstufigen Likertskala von 0 = stimmt gar nicht bis 3 = stimmt genau).

Die Analyse zeigt im Vergleich zum Konstrukt ‹Rahmenbedingungen› geringere Standardabweichungen der Mittelwerte (Tabelle 7.4). Der deskriptive Vergleich der Mittelwerte der drei Typen zeigt, dass die Fälle des Typus III die niedrigste Schülerorientierung aufweist. Fälle des Typus I und II scheinen hingegen eine höhere Schüler:innenorientierung aufzuweisen.

Tabelle 7.4 Deskriptive Analyse des Konstrukts ‹Schüler:innenorientierung›

Die oben beschriebenen, deskriptiven Mittelwertunterschiede sollen anhand von Rückbezügen zu den Interviews nun für vertiefende Überlegungen genutzt werden.

7.4 Ansätze zur Erklärung der sinngenetisch rekonstruierten Typen

Nachfolgend werden anhand der Korrespondenzanalyse (Abschnitt 7.3) Rückbezüge zum Interviewmaterial hergestellt, um daraus in einem ersten Schritt mit dem Fokus auf die schulischen Rahmenbedingungen zu einem Ansatz zur Erklärung der sinngenetischen Typen zu gelangen (Abschnitt 7.4.1). In einem zweiten Schritt werden Ansätze einer Relationierung mit dem Fokus auf die Schüler:innenorientierung als weitere Abstrahierung der sinngenetischen Typen diskutiert (Abschnitt 7.4.2).

7.4.1 Rückbezüge zu den Interviews anhand der korrespondenzanalytischen Befunde

Schulische Rahmenbedingungen

Betrachtet man die schulischen Rahmenbedingungen als mögliche Dimensionen sozialer Lagerungen, dann liesse sich hinsichtlich der Verortung der sinngenetischen Typen ableiten, dass die Rahmenbedingungen zumindest teilweise als «rahmenbedingungstypisch» (Hoffmann und Keitel, 2018, S. 216) aufgefasst werden können. Bei der Rekonstruktion der fallübergreifenden Handlungsorientierungen zeigte sich, dass die Fälle des ersten Typus mehrfach Bezüge zu den Möglichkeiten herstellen, die sich aus den Rahmenbedingungen an der Schule ergeben. Wie zuvor dargestellt, ergeben sich bezüglich der Skala Rahmenbedingungen zwischen Typ I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› und III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› kleine Mittelwertsunterschiede, die allerdings nicht statistisch bedeutsam sind. Besonders deutlich zeigt sich die Bezugnahme auf schulische Rahmenbedingungen in den Interviews von Herrn Mohn und Herrn Raps (beide Typ I). In den Interviews werden Prozesse und Möglichkeiten auf Schulebene deutlich, die von Herrn Raps und Herrn Mohn in Bezug auf die Interaktionsgestaltung mit den Schüler:innen positiv beurteilt werden.

Für Herrn Mohn zeigte sich, dass er zum Aufbau eines «Wir-Gefühls» (siehe auch Abschnitt 7.2.1) und einer Interaktionsbasis zu den Schüler:innen in ein Klassenlager fährt – gemeinsam mit den neu zusammengesetzten Schüler:innen und anderen Lehrpersonen. Dies gilt an der gesamten Schule seit vielen Jahren (schon bevor Herr Mohn an dieser Schule unterrichtete) und findet zu einem festgelegten Zeitraum statt. An anderer Stelle bezieht Herr Mohn sich darauf, dass die Eltern der Schüler:innen grundsätzlich sehr «motiviert und dankbar» sind, «dass sie [die Schüler:innen] können da sein und dass man sieht, dass es den Kindern besser geht oder gut geht» (Zeile 289–290). Damit stellt Herr Mohn die Schule in einen positiven Horizont, weil er die Rahmenbedingungen für die Schüler:innen an der Schule positiv beurteilt, womit er sich von anderen Schulen abgrenzt. Bei der Sichtung des gesamten Interviews wurde an weiteren Stellen (nicht dokumentarisch ausgewertet) deutlich, dass er sich in positiver Weise von anderen Schulen abgrenzt und damit die Rahmenbedingungen als förderlich betrachtet (bspw.: «Und so haben wir eigentlich so – das haben wir – wir haben so ein paar solche Anlässe im Schulhaus und über die Stufen, die einfach auf die Stimmung einen Einfluss haben.», Zeile 140–141 oder «Ich glaube, fast bis auf einen haben alle noch einen Master gemacht, noch nach irgendwie 10, 15 Jahren Arbeiten. Das ist wie einfach Haus aus bei uns, du bildest dich weiter. Machst etwas», Zeile 972–974). Gleichermassen werden bei Herrn Raps mehrfach positive Rahmenbedingungen auf Schulebene thematisch (siehe Abschnitt 7.1.1 und Abschnitt 7.2.1). Herrn Raps Erklärung für seine positiv wahrgenommene Zusammenarbeit, zeigt sich in der «Kontinuität innerhalb dieses Systems» (Zeile 19), aber andererseits auch der «Art und Weise» (Zeile 20), wie die Zusammenarbeit von den diesbezüglich kompetenten Lehrpersonen gestaltet ist. Die Rahmenbedingungen der Schule bzw. des Systems ermöglichen es Herrn Raps, «den Jugendlichen genug Aufmerksamkeit zu schenken» (Zeile 18), was er als positiv wahrnimmt.

Sowohl Herr Raps als auch Herr Mohn benennen Rahmenbedingungen der Schule, welche einen positiven Einfluss auf ihr Handeln haben. In diese Richtung wäre demnach abzuleiten, dass die auf das Lernen der Schüler:innen ausgerichteten Handlungsorientierungen zumindest für diese beiden Fälle erst durch die gegebenen Rahmenbedingungen möglich werden.

Der vergleichenden Logik folgend wäre nun von Interesse, die Verweise auf Rahmenbedingungen bei Typ III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› anhand des Materials genauer zu erläutern. Am Material rekonstruierbar ist aber nur das, was von den interviewten Personen tatsächlich gesagt wird. Der Ansatz zur Erklärung der Genese der typisierten Handlungsorientierungen anhand von Rahmenbedingungen auf Ebene der Schule stösst an dieser Stelle an seine Grenzen. Bei den Fällen des Typus III wurden bei der Gesamtdurchsicht der Interviews kaum Bezüge zu unterstützenden Rahmenbedingungen an der Schule oder durch andere Teammitglieder thematisch, die sich auf das Unterrichten oder Möglichkeiten zur Förderung der Interaktion mit den Schüler:innen (Typ I) beziehen. Damit ist eine weitere Analyse zwar nicht möglich, dennoch kann diesbezüglich auf den deutlichen Unterschied zwischen den Fällen der Typen I und III bzw. auf das Fehlen jener Bezüge bei Typ III hingewiesen werden.

Schüler:innenorientierung

Die etwas tieferen Mittelwerte des Konstruktes Schüler:innenorientierung bei den Fällen des Typus III und die nachfolgenden Ausführungen zu Ansätzen einer Relationierung der Vergleichsdimensionen (siehe Abschnitt 7.4.1) stärken die Schlussfolgerung, dass die Ausprägung hinsichtlich der Schüler:innenorientierung plausibel zur Abstrahierung der sinngenetisch typisierten Handlungsorientierungen ist.

7.4.2 Relationale Verbindungen innerhalb der sinngenetischen Typen

Auf eine relationale Typenbildung in ihrer methodischen Originalform (Nohl et al., 2015) muss, wie in Abschn. 6.5.5.3 dargelegt, verzichtet werden, da sich die Vergleichsdimensionen innerhalb der sinngenetischen Typenbildung nicht auf mehrere, sich unterscheiden Praxen, sondern auf Teilaspekte des Umgangs mit Unterrichtsstörungen beziehen. Ausgehend von den Erkenntnissen der drei rekonstruierten sinngenetischen Typen werden nachfolgend dennoch einige Überlegungen hinsichtlich der sinnlogischen Verbindungen zwischen den Vergleichsdimensionen dargelegt und damit Ansätze einer möglichen Relationierung diskutiert. Ausgeleuchtet und diskutiert werden Zusammenhänge zwischen Handlungsorientierungen, die sich in den verschiedenen Vergleichsdimensionen zeigen (Kosinar & Schmid, 2017).

Bereits in der komparativen Analyse wurde ersichtlich, dass die fallübergreifenden Handlungsorientierungen hinsichtlich der Vergleichsdimensionen innerhalb eines Typus grundsätzlich regelmässigen Verbindungen folgen. In Abbildung 7.1 werden diese Verbindungen schematisch dargestellt. Die Dimension der Wahrnehmung von den Schüler:innen und der Interaktion mit den Schüler:innen wird dabei als primäre Handlungsorientierung (Kosinar & Laros, 2021; Kosinar & Schmid, 2017) als oberer Spitz des Dreiecks gesetzt. Die Handlungsorientierungen hinsichtlich der Interaktion mit den Schüler:innen stehen sowohl mit den Handlungsorientierungen hinsichtlich der Unterrichtspraxis als auch hinsichtlich der Erfassung von und des Umgangs mit Unterrichtsstörungen in Verbindung. Die Verbindungen lassen sich konsistent innerhalb aller drei sinngenetischen Typen aufzeigen. Nachfolgend werden diese Verbindungen in einem Vergleich zwischen den Fällen der Typen I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› und III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› illustriert.

Abbildung 7.1
figure 1

(Eigene Darstellung nach Kosinar und Laros, 2021)

Relationale Verbindungen der Vergleichsdimensionen.

Die erste Seite (I) wird als Verbindung zwischen der Wahrnehmung von den Schüler:innen und der Interaktion mit den Schüler:innen und der Unterrichtspraxis der Lehrpersonen beschrieben. Konkret zeigt sich dies wie folgt: Die Fälle des Typus I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› orientieren sich in an einem reziproken, aktiv erarbeiteten Interaktionsverhältnis in Form von engen, stabilen Beziehungen zu den Schüler:innen. Ebenso ist für die Fälle des Typus I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› wesentlich, die Schüler:innen in ihrem Lernen und in ihrer Entwicklung zu fördern (siehe Abschnitt 7.2.1). Die Fälle des Typus I orientiert sich in Anschluss daran an einer an die Bedürfnisse der Schüler:innen ausgerichteten Unterrichtspraxis. Insofern stehen auch bei den unterrichtspraktischen Handlungsorientierungen die Bedürfnisse der Schüler:innen im Zentrum – Unterricht wird ausgehend von der engen Beziehung und unter Wahrung der Bedürfnisse der Schüler:innen von den Fällen des Typus I lernseits gedacht. Die relationale Verbindung dieser zwei Dimensionen zeigt sich ebenso bei den Fällen des Typus III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung›. Die durch Distanzwahrung und Unzugänglichkeit konstituierte Wahrnehmung von den Schüler:innen und Interaktion mit den Schüler:innen der Fälle des Typus III spiegelt sich, so die relationierenden Überlegungen, in unterrichtspraktischen Handlungsorientierungen, die bei diesen Fällen grundsätzlich lehrseits verortet sind: Die Fälle des Typus III orientieren sich an eigenen unterrichtlichen Handlungsplänen und erwarten Anpassungsleistungen der Schüler:innen an den Unterrichtsplan der Lehrperson.

Die zweite Seite (II) des Dreiecks wird als Verbindung zwischen der Wahrnehmung von den Schüler:innen und der Interaktion mit den Schüler:innen und dem Erfassen von sowie des Umganges mit Unterrichtsstörungen betrachtet. Die reziproke, enge Interaktionsgestaltung, die für die Fälle des Typus I ‹entwicklungsbezogene Schüler:innenorientierung› handlungsleitend ist, spiegelt sich darin, dass für diese Fälle die Orientierung an der Ermöglichung von Lern- und Entwicklungsprozessen im Umgang mit Störungen handlungsleitend ist. Der Umgang mit Störungen steht demnach im Dienste der Entwicklung der Schüler:innen, worin sich das zuvor bereits benannte lernseitige Moment erneut zeigt. Hingegen wurde für die Fälle des Typus III nachgezeichnet, wie sich diese im Umgang mit Störungen daran orientieren, anhand der eigenen Emotionsregulation handlungsfähig zu bleiben und die durch die Lehrperson geführten Handlungspläne durchsetzen zu können. Für die Fälle des Typus III ‹selbstbezogene Lehrer:innenorientierung› stehen somit ein lehrseitiger Umgang mit Unterrichtsstörungen im Zentrum, was in sinnlogischer Verbindung zu dem durch Unzugänglichkeiten und innerer Distanz geprägten Interaktionsverhältnis zu den Schüler:innen steht.

Letztlich lässt sich die Beobachtung des lehr- oder lernseitigen ausgerichteten unterrichtlichen Handelns auch auf die dritte Seite (III), die Verbindung zwischen der Unterrichtspraxis und der Erfassung von sowie des Umgangs mit Unterrichtsstörungen übertragen. Die Verbindung zwischen den Handlungsorientierungen hinsichtlich der Unterrichtspraxis zeigt sich äquivalent zu den bereits dargestellten Verbindungen. Die lernseitig ausgerichteten Handlungsorientierungen hinsichtlich der Unterrichtpraxis zeigen sich auch im für die Fälle dieses Typus abgeleiteten Umgang mit Unterrichtsstörungen, der im lernseitigen Ermöglichen von Lern- und Entwicklungsprozessen durch die reziproke Unterrichts- und Interaktionsgestaltung geprägt ist. Hingegen zeichnet sich für die Fälle des Typus III durch lehrseitige Handlungsorientierungen hinsichtlich ihrer Unterrichtspraxis aus, was auch den lehrseitigen Umgangsweisen mit Unterrichtsstörungen widerspiegelt.

Zusammenfassend zeichnet sich ab, dass die Dimension Schülerorientierung bei den Fällen des Typus I im Vergleich zu den Fällen des Typus III deutlich hervorzuheben ist und damit als mögliche Erklärung bzw. Abstrahierung für die rekonstruierten Handlungsorientierungen der sinngenetischen Typen in Betracht gezogen werden muss. Diese Erkenntnisse lassen sich mit den in Abschnitt 7.3 identifizierten Mittelwertsunterschieden auf der Skala Schülerorientierung von den Fällen der Typen I und III in Verbindung bringen.