Die Ausführungen der bisherigen Kapitel zeigen, dass unterschiedliche Zugänge miteinander verbunden werden müssen, um die Frage nach den Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen von Lehrpersonen aus Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte theoretisch und empirisch einzubetten. Es wurden Grundlagen zu Unterrichtsstörungen (Kapitel 2), zur Unterrichtsqualität (Kapitel 3) und zur Professionalität von Lehrpersonen (Kapitel 4) miteinander verknüpft. Nachfolgend werden die einzelnen Kapitel zusammengefasst und die Verbindungen nochmals überblickend dargestellt.

Unterrichtsstörungen können dazu führen, dass es bei Schüler:innen zu einer Unterbrechung des Lernprozesses kommt (Doyle 2006; Textor, 2015; Lauth-Lebens et al., 2018). Dem interaktionistischen Paradigma zufolge ist die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen sowohl von personalen als auch von kontextuellen Merkmalen abhängig und als zirkulärer Prozess zu verstehen (Abschnitt 2.2). Aus einer interaktionistischen Perspektive werden Unterrichtsstörungen vom Unterrichtsgeschehen her betrachtet und als Unterbrechungen im Lehr- oder Lernprozess definiert. Fokussiert werden Interaktionsprozesse zwischen den am Unterricht beteiligten Akteur:innen und nicht etwa personenbezogene Ursachen für Unterrichtsstörungen (wie bspw. ein als fortwährend störend wahrgenommenes Kind, das von ADHS betroffen ist) (Abschnitt 2.3). Die Aufarbeitung des Forschungsstandes zu Unterrichtsstörungen (Abschnitt 2.4) zeigt, dass am häufigsten bagatellhafte Störungen (bspw. Dazwischensprechen, Hausaufgaben nicht machen) berichtet werden (Abschnitt 2.4.1). Im Umgang mit Störungen werden punitive Massnahmen eingesetzt, obschon diese in der Forschung als ineffektiv betrachtet werden. Ausserdem werden häufig das Führen von Gesprächen mit den betroffenen Schüler:innen und die Einführung klarer Regeln genannt. Die zusammengetragenen Befunde weisen darauf hin, dass Lehrpersonen sich unterschiedliche Möglichkeiten der Einflussnahme im Umgang mit Unterrichtsstörungen zuschreiben (Abschnitt 2.4.2). Überblickend zeigt sich, dass ungeeignete Umgangsformen Unterrichtsstörungen gar verstärken und sich negativ auf die Unterrichtsqualität und die Gesundheit der verantwortlichen Lehrpersonen auswirken können (Abschnitt 2.3.4). Zentral ist, dass Lehrpersonen die Ursachen von Unterrichtsstörungen erkennen – und Letztere im Sinne der interaktionistischen Perspektive als eine Unterbrechung von Lernprozessen deuten. Dabei ist anzunehmen, dass mit dieser Perspektive die Lernförderung der Schüler:innen in den Fokus der Lehrpersonen rückt. Demgegenüber weisen Forschungsergebnisse darauf hin, dass Lehrpersonen Unterrichtsstörungen häufig auf Persönlichkeitsmerkmale und noch häufiger auf das Verhalten ihrer Schüler:innen zurückführen (Abschnitt 2.4.4). Dementsprechend kann festgehalten werden, dass ein störungsfreier Unterricht für die Unterrichtsqualität, das Lernen der Schüler:innen und das Wohlbefinden aller am Unterricht beteiligten Akteur:innen relevant ist (Textor, 2015). Wie ein möglichst störungsfreier Unterricht umgesetzt werden kann, wurde anhand der Basisdimensionen qualitätsvollen Unterrichts dargestellt (Kapitel 3).

Unterrichtliches Handeln von Lehrpersonen zur Umsetzung eines störungsfreien Unterrichts sollte demnach idealerweise durch die Basisdimensionen qualitätsvollen Unterrichts strukturiert sein (Klieme, 2019; Lipowsky, 2020). In einem adaptiven Unterricht, der durch eine gute Interaktions- und Beziehungsqualität zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen sowie durch eine effektive Klassenführung (Ophardt & Thiel, 2013) gekennzeichnet ist, kommen Unterrichtsstörungen seltener vor (Wettstein & Scherzinger, 2019). Ein guter, störungsarmer Unterricht steigert den Lernerfolg der Schüler:innen (Helmke, 2021). Die Anforderungen an das Handeln der Lehrperson bezüglich der unterrichtlichen Angebotsgestaltung wurden anhand der Denkfigur des didaktischen Dreiecks und der Basisdimensionen qualitätsvollen Unterrichts verdeutlicht. Die Angebotsgestaltung ist, wie anhand der Angebots-Nutzungs-Modelle beschrieben wurde, von den persönlichen Voraussetzungen – also auch von den implizit vorliegenden Handlungsorientierungen – der Lehrpersonen abhängig (Abschnitt 3.1). Die vier Anforderungsbereiche der Klassenführung als Basisdimension guten Unterrichts zeigen, woran sich Lehrpersonen im Sinne der Erkenntnisse zu einer effektiven Klassenführung idealerweise orientieren sollten, um zum einen möglichst störungsfreien und damit qualitätsvollen Unterricht zu gestalten und zum anderen produktiv mit Störungen umzugehen. Diese vier Anforderungsbereiche sind:

  • die Etablierung von Normen, Regeln und Routinen sowie der Aufbau von Verhalten zur individuellen Verhaltensmodifikation,

  • die Steuerung von Unterrichtsprozessen und das Management von Lernzeit,

  • die Begleitung von Lernprozessen sowie

  • der Umgang mit Unterrichtsstörungen.

Es wurde dargelegt, dass die Umsetzung einer effektiven Klassenführung sowohl durch die impliziten Handlungsorientierungen der Lehrpersonen als auch durch den unterrichtlichen Kontext bedingt ist, in dem die Lehrpersonen agieren (Abschnitt 3.2). Anschliessend wurden personalisierte Lernkonzepte als spezifischer unterrichtlicher Kontext und als Form einer veränderten ‹Grammar of Schooling› (Tyack & Tobin, 1994) beleuchtet, welchen ein besonderer Wert für die Prävention von, aber auch für einen produktiven Umgang mit Unterrichtsstörungen zugeschrieben wird. Dies hat seinen Grund darin, dass nun die Basisdimensionen qualitätsvollen Unterrichts zur Mit- und Selbstbestimmung der Schüler:innen umgesetzt werden können (Abschnitt 3.3.1). Anhand der Ergebnisse der perLen-Studie wurde der didaktische Kontext an diesen Schulen beschrieben. In Bezug auf die Basisdimensionen guten Unterrichts kann zusammenfassend gesagt werden, dass perLen-Lehrpersonen die kognitive Aktivierung ihrer Schüler:innen anhand adaptiver, qualitätsvoller Aufgaben gewährleisten, die auch im dialogischen Austausch auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden können (Stebler et al., 2021b, S. 421). Adaptive, verstehensorientierte Lernunterstützung und ein motivierendes Unterrichtsklima (bspw. Lerncoachings, Mitbestimmung und Selbstverantwortung im Lernprozess) ermöglichen den perLen-Lehrpersonen eine konstruktive Unterstützung der Schüler:innen. Grundlegendes Ziel einer effektiven Klassenführung ist die Optimierung der Lernzeit für die Schüler:innen (Stebler et al., 2021b, S. 421). Anhand dieser Ausführungen wurde theoriegeleitet deutlich gemacht, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von Unterrichtsstörungen an Schulen mit personalisierten Lernkonzepten geringer sein dürfte oder dass dort zumindest andersartige Störungen auftreten dürften. Begründet werden kann dies damit, dass das Lernengagement der Schüler:innen in didaktischen Arrangements steigt, welche gleichermassen Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit ermöglichen. Das erhöhte Lernengagement der Schüler:innen führt – so die theoretische Annahme – wiederum zu weniger Unterrichtsstörungen (Mötteli et al., 2022). Gleichzeitig ziehen personalisierte Arrangements veränderte Lehrer:innenrollen sowie veränderte Möglichkeiten zur Lernunterstützung der Schüler:innen einerseits und zur intensivierten Lehrpersonenzusammenarbeit andererseits nach sich (Hofstetter, 2022). Es ergeben sich dadurch wiederum (neue) Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten für das komplexe Handeln der Lehrpersonen (Abschnitt 3.3.2).

Diese komplexen Anforderungsbereiche an das Handeln der Lehrpersonen wurden in Kapitel 4 dargestellt. Um guten Unterricht an Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte umsetzen zu können, müssen Lehrpersonen über facettenreiche professionelle Kompetenzen verfügen (Baumert & Kunter, 2006). Deren Voraussetzungen zur Umsetzung guten Unterrichts wurden als kompetenzorientierte Professionsstandards dargestellt (Abschnitt 4.1.1). Ausgehend vom Modell professioneller Handlungskompetenzen nach Baumert und Kunter (2006, Abschnitt 4.1.2) wurde aufgezeigt, dass implizite, handlungsleitende Wissensdimensionen der Lehrpersonen – in dieser Arbeit als Handlungsorientierungen bezeichnet – einen zentralen Einfluss auf deren unterrichtlichen Wahrnehmungs- und Handlungsprozess haben (Abschnitt 4.1.3). Im Gegensatz zu anderen Zugängen, welche implizite, die Handlungspraxis anleitende Wissensbestände beleuchten, eröffnen sich mit dem Konzept der Handlungsorientierungen bestimmte methodologische Überlegungen. Dieses der Dokumentarischen Methode entspringende Konzept ermöglicht die Rekonstruktion von implizit vorliegenden Handlungsorientierungen in Bezug auf einen bestimmten Praxisausschnitt der betrachteten Personen. Wahrnehmungen und Handlungen von Lehrpersonen sind also nicht bloss durch deklaratives Professionswissen bedingt, sondern vor allem auch durch implizite Handlungsorientierungen strukturiert (Baumert und Kunter, 2006, Abschnitt 4.1.4). Besonders im Umgang mit Unterrichtsstörungen greifen Lehrpersonen auf implizite Handlungsorientierungen zurück, da diese das Potenzial bergen, Affekthandlungen auszulösen (Wettstein & Scherzinger, 2019). Es wurde gezeigt, dass diese impliziten Wissensdimensionen oder eben Handlungsorientierungen durch gezielte Reflexion bewusst und veränderbar gemacht werden können (Abschnitt 4.1.6).

Für den lernförderlichen und in diesem Sinne produktiven Umgang mit Unterrichtsstörungen ist es also von Bedeutung zu erforschen, welche impliziten Handlungspraxen Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen aufweisen. Insbesondere gilt es, Handlungsorientierungen zu identifizieren, die zu einer Verstärkung von unerwünschten Folgen von Unterrichtsstörungen führen können. Solche unerwünschten Folgen sind bspw. die Gefährdung der Lehrer:innengesundheit und die Erhöhung der wahrgenommenen Unterrichtsstörungen. Wenn anderseits davon ausgegangen wird, dass in didaktischen Arrangements, die am Schüler:innenlernen ausgerichtet sind, andersartige oder weniger Unterrichtsstörungen auftreten, ist es von Interesse zu erforschen, ob sich bei diesen Lehrpersonen andere Handlungsorientierungen zeigen als bei solchen, die nicht mit personalisierten Lernkonzepten arbeiten. Zudem ist zu fragen, welche Rolle schulische Rahmenbedingungen hierbei spielen. Daraus könnten Empfehlungen für die Gestaltung von didaktischen Arrangements zum produktiven Umgang mit Unterrichtsstörungen abgeleitet werden

Bisherige Studien zu Unterrichtsstörungen befassen sich überwiegend mit leicht explizierbaren Wissensstrukturen von Lehrpersonen (Eckstein, 2018a; Scherzinger, et al., 2017; Makarova et al., 2014; Sullivan, et al., 2014). Dagegen ist die Forschungslage zu impliziten Handlungsorientierungen zum Umgang mit Unterrichtsstörungen bislang noch lückenhaft (Lauth-Lebens et al., 2018). Zudem bleibt die Frage offen, inwiefern sich die veränderte Lehrer:innenrolle in Schulen mit personalisierten Lernkonzepten, die häufig offene Lernarrangements (Everston & Neal, 2006) umsetzen, auch in spezifischen Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen widerspiegelt. Es fehlt an empirischen Kenntnissen darüber, ob sich die Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen von Lehrpersonen aus Schulen mit personalisierten Lernkonzepten von jenen aus Schulen ohne solche Konzepte unterscheiden und welche Rolle hierbei die schulischen Rahmenbedingungen spielen. Dieser Frage nachzugehen ist insofern von Bedeutung, als hieraus Bedingungen abgeleitet werden können, unter denen produktiv(er) mit Unterrichtsstörungen umgegangen werden kann.

Folgende konkreten Forschungsfragen stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit:

  1. 1.

    Was erfassen die Lehrpersonen in ihrem Unterricht als Unterrichtsstörung (worin dokumentieren sich Unterrichtsstörungen für Lehrpersonen)?

  2. 2.

    Welche Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen leiten Lehrpersonen, die in Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte unterrichten? Welche Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen lassen sich rekonstruieren und trennscharf beschreiben?

  3. 3.

    Mit welchen Kontextfaktoren lassen sich die rekonstruierten Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen erklären?

Theoriegeleitet wird angenommen, dass die Aufdeckung impliziter Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen es ermöglicht, dass diese reflektiert werden können und folglich eine Voraussetzung zur Weiterentwicklung der Professionalität der Lehrpersonen sowie der Unterrichtsqualität bilden (Kolbe, 2004; Helmke, 2021). Die Erweiterung der Professionalität durch Reflexion bedeutet eine Verbreiterung des Spektrums an beruflichen Kompetenzen, was wiederum als Basis zur Gestaltung eines qualitätsvollen Unterrichts dienen kann (Baumert & Kunter, 2006). Um eine gezielte Reflexion von Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen zu ermöglichen, muss zuerst geklärt werden, was Lehrpersonen überhaupt als Unterrichtsstörungen erfassen. Diese Forschungsfrage deckt störende Situationen ab, welche auf einer impliziten Ebene rekonstruiert werden (Forschungsfrage I). Weiter interessiert, wie Lehrpersonen auf einer impliziten Ebene mit Unterrichtsstörungen umgehen – also welche Handlungsorientierungen die Praxis des Umgangs mit Unterrichtsstörungen anleiten und welche überindividuellen Muster sich abzeichnen bzw. welche Typen sich rekonstruieren lassen (Forschungsfrage II). Schliesslich wird untersucht, ob sich aufgrund möglicher spezifischer Handlungsorientierungen von Lehrpersonen aus Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte Kontextfaktoren herausschälen lassen, mit denen mögliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen erklärbar werden (Forschungsfrage III).