Die Anforderungen an das Handeln der Lehrperson sind komplex (Kapitel 3). Um guten Unterricht umzusetzen, sind facettenreiche, professionelle Kompetenzen notwendig (Baumert & Kunter, 2006). Kenntnisse über den Ablauf unterrichtlicher Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse ermöglichen es Lehrpersonen ihre impliziten Handlungen im Unterricht wahrzunehmen und damit reflektierbar zu machen (Schweer et al., 2017). Im vorliegenden Kapitel wird – nach einer kurzen Einführung in den Diskurs zur Professionalität von Lehrpersonen – zuerst auf die Professionsstandards (Abschnitt 4.1.1) und auf die Dimensionen professioneller Handlungskompetenzen von Lehrpersonen (Abschnitt 4.1.2) eingegangen und damit die Voraussetzungen sowie Anforderungsbereiche an unterrichtliches Handeln näher betrachtet. Danach werden in Übereinstimmung mit dem Fokus dieser Arbeit auf die impliziten Wissensstrukturen bzw. Überzeugungen als Kompetenzfacetten unterschiedliche Zugänge zur Offenlegung impliziter Wissensstrukturen aufgegriffen, die dem Lehrer:innenhandeln zugrunde liegen, (Abschnitt 4.1.3). Abschnitt 4.1.4 schliesst an mit Ausführungen zum Begriff der Handlungsorientierungen, der für diese Arbeit zentral ist. Bevor Handlungen ausgeführt werden, bestimmen Wahrnehmungsprozesse, welche Handlungsbedarfe von den Wahrnehmenden überhaupt erkannt und als notwendig erachtet werden. In Abschnitt 4.1.5 wird deshalb der unterrichtliche Wahrnehmungsprozess von Lehrpersonen genauer beleuchtet. Abschliessend wird die Rolle von Reflexion zur Veränderbarkeit impliziter Wissensstrukturen thematisiert, da dies für die Veränderbarkeit von Umgangsformen mit Unterrichtsstörungen relevant ist (Abschnitt 4.1.6). Auch dieses Kapitel schliesst wiederum mit einem Zwischenfazit (4.2).

4.1 Pädagogische Professionalität von Lehrpersonen

Der Begriff der pädagogischen ‹Professionalität›Footnote 1 von Lehrpersonen beinhaltet eine «Vielzahl spezifischer Merkmale des Lehrerberufs, welche zu einer komplexen Anforderungsstruktur führen» (Cramer, 2011, S. 22). Diese Anforderungen werden bewältigt, indem die Lehrperson sich verschiedene Fertigkeiten und Fähigkeiten aneignet. Die professionelle Entwicklung und der Aufbau von Expertise für den Lehrberuf mündet dabei in berufsbezogenes Wissen und Können (Bromme, 2014). Zur näheren Bestimmung pädagogischer Professionalität lassen sich unterschiedliche Ansätze ausmachen. Unterschieden werden der strukturtheoretische Ansatz (zum Beispiel Combe & Kolbe, 2008; Helsper, 2002; Oevermann, 2002), der kompetenztheoretische Ansatz (Baumert & Kunter, 2006) und der berufsbiographische Ansatz (zum Beispiel Reh & Schelle, 2006).

Strukturtheoretisches Verständnis von Professionalität. Kennzeichnend für die strukturtheoretische Perspektive von Professionalität ist, dass der Lehrberuf es mit unauflösbaren Widersprüchen, sogenannten Antinomien zu tun hat (Oevermann, 2002; Helsper, 2004). Pädagogisches Handeln wird unter einer strukturtheoretischen Perspektive als prekäres und von Unsicherheiten geprägtes Handeln erfasst, wobei die Widersprüche je nach Akteur und Situation unterschiedlich sein können (Helsper, 2004). Entscheidend für den Umgang mit diesen Antinomien ist die selbstreflexive Arbeit am professionellen Selbst (Helsper, 2004). Die Interaktion zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen wird quasi als therapeutische Struktur betrachtet, in der die Lernenden in ihrer ganzen Persönlichkeit angesprochen werden (Oevermann, 2002). Ein Beispiel für eine im Lehrberuf unausweichliche Antinomie stellt das Nähe-Distanz-Problem dar (Cramer, 2012). Lehrpersonen arbeiten im Unterricht einerseits unter der Bezugnahme auf die individuellen Lebenswelt von Schüler:innen und ihren Lernstand (Nähe zu Einzelschüler:innen), sind sind aber gleichzeitig auch von einer heterogenen Lerngruppe, die sehr gross sein kann, gefordert (Distanz zu Einzelschüler:innen). Die Lehrperson muss mit Bezug auf die die Vermittlung von Wissen und die Durchsetzung von Normen zwischen der Nähe zu einzelnen Schüler:innen und den Bedürfnissen der Gesamtklasse wechseln, was mit Distanzierung einhergeht (Wittek, Schneider & Kramer, 2020). Die Bewältigung dieser Nähe-Distanz-Antinomie erfordert ein ständiges Neuaushandeln des Arbeitsbündnis zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen, was zu Verunsicherung im Lehrer:innenhandeln führt (Helsper 2004). Darin zeigt sich die im strukturtheoretischen Professionsansatz verortete Bedürftigkeit von Lehrpersonen nach berufsbezogener Reflexivität (Wittek et al., 2020).

Kompetenzorientiertes Verständnis von Professionalität. Anders als im strukturtheoretischen Ansatz wird im kompetenzorientierten Bestimmungsansatz von Professionalität Unterricht als spezifische Handlungssituation verstanden und die Expertise der Lehrperson mit deren wissens- und handlungsbezogenen Professionalität gleichgesetzt (Bromme, 2014). Im Zentrum steht der «Anschluss an die internationale Diskussion um professionelle Standards im Lehrerberuf und um die Sicherung einer qualitätsvollen Lehrerausbildung» (Baumert & Kunter, 2006, S. 469). Unter dem Begriff der professionellen Handlungskompetenz von Lehrpersonen (Baumert & Kunter, 2006) subsumiert werden Professionswissen, selbstregulative Fähigkeiten, Überzeugungen/Wertehaltungen und motivationale Orientierungen von Lehrenden als Kompetenzfacetten zur Bearbeitung pädagogischer Anforderungen. Erfolgreiches Lehrer:innenhandeln wird am Lernzuwachs der Schüler:innen empirisch messbar gemacht (Baumert & Kunter, 2006). Voraussetzungen erfolgreichen Lehrer:innenhandelns werden aus den empirisch erforschten Vorgängen im Unterricht abgeleitet. Die Kompetenzforschung sieht es als ihre Aufgabe, die bildungsbezogenen «Vermittlungsprozesse theoretisch und empirisch aufzuklären und damit zu ihrer Optimierbarkeit beizutragen» (Baumert & Kunter, 2006, S. 473).

Berufsbiographisches Verständnis von Professionalität. Kompetenzerwerb verläuft nicht gleichförmig, vielmehr stellt er einen Prozess dar, bei welchem das Individuum individuelle Lernschritte durchläuft (Cramer, 2012), die in einer biografischen Erfahrungsaufschichtung münden (Lechner, 2016). Als Ansatz, der an das kompetenztheoretische Professionalitätsverständnis anschlussfähig ist, wird im Sinne des berufsbiographischen Verständnisses Professionalität durch die produktive Verarbeitung beruflichen Erlebens aufgebaut (Cramer, 2012, S. 34). Professionalität entwickelt sich im Verlaufe der Biografie entlang verschiedener Dimensionen und wird als «Prozess der individuell-biografisch geprägten Professionalisierung» verstanden (Lechner, 2016, S. 96). Bei diesem Ansatz stellen Lebens- und Berufsgeschichten individueller Akteure relevante Bezugspunkte dar. Einerseits ist der Hinweise auf die zentrale Bedeutung von Selbstreflexivität (Reh, 2004) andererseits auch die Identifikation von Haltungen als handlungs- und wahrnehmungsleitende Grössen im Lehrerhandeln von Bedeutung für die Genese professioneller Kompetenz. Professionalität wird im berufsbiographischen Ansatz als lebenslanger Entwicklungsprozess verstanden.

Für die vorliegende Arbeit werden in allen drei Zugängen Anschlusspunkte identifiziert, da der produktive Umgang mit Unterrichtsstörungen eine erlernbare Facette professioneller Lehrer:innenkompetenz darstellt und die Reflexion über diesen produktiven Umgang mit Unterrichtsstörungen zentral ist (siehe auch Abschnitt 8.6).

Der Fokus auf den kompetenztheoretischen Zugang ist wegen seines deutlichen Bezugs auf Ausbildungsstandards und dem Versuch der systematischen Formulierung von Kompetenzen begründet, die Lehrpersonen zur Umsetzung eines qualitätsvollen Unterrichts benötigen (Baumert & Kunter, 2006). Im Folgenden werden deshalb die zentralen professionellen Handlungskompetenzen, d. h. die Professionsstandards von Lehrpersonen dargestellt und ein ausgewähltes Modell des kompetenztheoretischen Ansatzes erläutert.

4.1.1 Professionsstandards von Lehrpersonen

Die Vorbereitung und Durchführung von Unterricht stellen die zentralen Anforderungsbereiche für den Lehrberuf dar. Zur Qualitätssicherung guten Unterrichts wurden auf bildungspolitischer Ebene Standards formuliert, die jede Lehrperson im Rahmen ihrer professionellen Ausbildung erreichen soll (Baumert & Kunter, 2006). Die von der Kulturministerkonferenz (KMK) formulierten Standards für den Kompetenzbereich ‹Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren› zählen zu den umfassendsten und fundiertesten Standards im Deutschen Sprachraum.Footnote 2 Nachfolgend paraphrasierend ausgeführt werden die Kompetenzformulierungen für die Bereiche ‹Unterrichten und Erziehen›

(Helmke, 2021; Kulturministerkonferenz, 2004):

  1. 1.

    Lehrer:innen planen Unterricht fach- und sachgerecht sowie unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und führen ihn sachlich und fachlich korrekt durch (Vertiefender Auszug: Lehrpersonen kennen Bildungstheorien und Unterrichtsmethoden und können ihren Unterricht und die Qualität davon beurteilen).

  2. 2.

    Durch die Gestaltung von Lernsituationen unterstützen Lehrpersonen das Lernen der Schüler:innen. Sie motivieren und befähigen die Schüler:innen, Gelerntes zu nutzen und Zusammenhänge herzustellen (Vertiefender Auszug: Lehrpersonen kennen Lern- und Motivationstheorien; sind in der Lage Lerngruppen zu begleiten und zu führen und unterstützen Transferprozesse).

  3. 3.

    Die Fähigkeiten von Schüler:innen zum selbstbestimmten Lernen und Arbeiten werden gefördert (Vertiefender Auszug: Lehrpersonen wissen, Methoden zur Förderung von eigenverantwortlichem, kooperativem und selbstbestimmten Lernen einzusetzen)

  4. 4.

    Lehrer:innen kennen die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen von Schüler:innen, wissen über allfällige Benachteiligungen Bescheid und nehmen vor diesem Wissen im Rahmen der Schule Einfluss auf die individuelle Entwicklung der Schüler:innen (vertiefender Auszug: pädagogische, soziologische, psychologische Entwicklungs- und Sozialisationstheorien sowie die Bedeutung von Medien und der Digitalisierung sind bekannt).

  5. 5.

    Lehrkräfte können Werte und Normen der Wertschätzung und Anerkennung von Diversität vermitteln und fördern reflektiertes Urteilen und Handeln der Schüler:innen (vertiefender Auszug: Wissen über Unterstützungsmöglichkeiten von Schüler:innen in Krisensituationen, Reflexion über demokratische Werte und Normen sowie Wissen über deren Vermittlung).

  6. 6.

    Lehrer:innen finden für Schwierigkeiten und Konflikte in Schule und Unterricht Lösungsansätze und sorgen für einen wertschätzenden Umgang (Vertiefender Auszug: Verfügen über Kenntnisse zu Kommunikation und Interaktion der Lehrer:innen-Schüler:innen-Interaktion, kennen Regeln der Gesprächsführung; Fähigkeiten zur Analyse von Konfliktsituationen sowie zur konstruktiven Konfliktbearbeitung).

Die diesen Anforderungen immanenten Kompetenzen bilden den Bezugspunkt in der Formulierung aktueller Professionsstandards (Baumert & Kunter, 2006). Entsprechend lässt sich die Frage, was eine gute Lehrperson ausmacht, anhand unterrichtsrelevanter Merkmale und Kompetenzen der Lehrkräfte beantworten (Helmke, 2021). Lehrpersonen benötigen einen breiten «Spielplan» zur Ausführung ihrer Tätigkeit (Baumert & Kunter, 2006, S. 477). Unterricht – vielmehr dessen Durchführung – ist komplex (Doyle, 2006). Neben dem ‹Knowledge in action›, also dem Erfahrungswissen einer Lehrperson, das zur spontanen Feinabstimmung während dem Unterrichten und zur Koordination sowie der Aufrechterhaltung des komplexen, dynamischen Unterrichtsgeschehens einsetzbar gemacht werden muss, werden auch methodische, fachdidaktische und fachwissenschaftliche Kompetenzen an das Lehrer:innenhandeln gestellt (Baumert & Kunter, 2006). Letztere Facetten gehen im Vergleich zum ‹knowledge in action› aus der längerfristigen Unterrichts- und Stoffplanung hervor.

Diese ausgeführten Standards der Ausbildung von Lehrpersonen, die im deutschsprachigen Raum im Zusammenhang mit den unzureichenden PISA 2000-Resultaten entwickelt wurden, bilden die Basis für systematische Rahmenmodelle professioneller Lehrerkompetenzen (Baumert & Kunter, 2006). Im folgenden Kapitel werden unter Bezugnahme auf ein theoretisches Rahmenmodell Facetten der professionellen Kompetenzen umschrieben, die in einem inhaltlichen Bezug zum Unterrichten bzw. zum Lehrerhandeln stehen (Baumert & Kunter, 2006; Helmke, 2021).

4.1.2 Dimensionen professioneller Handlungskompetenzen

Lehrermerkmale und Lehrerkompetenzen gelten als «Determinanten für die Qualität und Quantität unterrichtlicher Angebote» (Lipowsky, 2020, S. 78). Die Lehrkraft übernimmt einen grossen Anteil an Verantwortung für das Gelingen der Lernprozesse der Schüler:innen (Baumert & Kunter, 2006). Shulman entwickelte eine systematische Bündelung dieser Kompetenzen als «Topologien und Typologien professionellen Wissens im Lehrberuf» (1986 und 1987 zitiert bei Baumert & Kunter, 2006, S. 480). Anschliessend an Shulmans Arbeiten – und an die Kernaussagen des ‹National Board for Professional Teaching Standards›– entwickeln Baumert und Kunter (2006) ein heuristisches Modell professioneller Handlungskompetenz (Abbildung 4.1), das in der Coactiv-Studie validiert wurde (Baumert & Kunter, 2011).

Abbildung 4.1
figure 1

Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert & Kunter, 2006, S. 482)

Der Kern von Professionalität, so Baumert und Kunter (2006), stellt das Wissen und Können in Form von deklarativem, prozeduralem und strategischem Wissen der Lehrperson dar. Das Modell zeigt, dass Wissen und Können von Lehrpersonen keine additiv nebeneinander stehenden Kompetenzmerkmale sind. Abbildung 4.1 beinhaltet die unterschiedliche Struktur und Topologie, die unterschiedlichen mentalen Repräsentationen der Wissenstypen und zeichnet damit die Bestandteile zur Genese professionellen Wissens und Könnens nach (Baumert & Kunter, 2006). Repräsentiert sind neben dem Professionswissen die Dimensionen ‹Motivationale Orientierungen› und ‹Selbstregulation›. Dazu – und das mit besonderer Relevanz für die vorliegende Arbeit – werden ‹Werthaltungen und Überzeugungen› als getrennte Kompetenzdimension dargestellt, da «Wissen und Überzeugungen (…) einen unterschiedlichen epistemologischen Status [beanspruchen, C.M.]» (Baumert & Kunter, 2006, S. 496) und überdies in unterschiedlichen mentalen Repräsentationen verortet sind. Baumert und Kunter (2006) halten sich dazu an die begriffliche Auslegung von Op’t Eynde, De Corte und Verschaffel (2002), die «pädagogisch relevante Überzeugungen als implizite oder explizite, subjektiv für wahr gehaltene Konzeptionen, welche die Wahrnehmung der Umwelt und das Handeln beeinflussen» definieren (zitiert nach Baumert & Kunter, 2006, S. 497). Baumert und Kunter (2006) sprechen diesen Kompetenzfacetten einen zentralen Stellenwert im pädagogischen Handeln zu. Die Autoren beziehen sich auf die Ausprägungen der Berufsmoral, die sowohl für den Umgang mit Heterogenität als auch für die Unterstützungsqualität der Schüler:innen als bedeutsam erachtet wird. Weiter sprechen die Autoren diesen «intuitiven Theorien» (Baumert & Kunter, 2006, S. 498) nach Wilkinson und Schwartz (1987) eine mentale Prozesshaftigkeit höherer Ordnung zu, welche kognitive Vorgänge anhand epistemologischer Orientierungen steuern. Subjektive Theorien über das Lehren und Lernen haben laut Baumert und Kunter (2006) zentralen Einfluss auf die Wahrnehmung und Deutung von Situationen im Unterricht, ebenso wie auf die Struktur der Erwartungen und damit auch auf das Handeln der Lehrpersonen.

Überzeugungen haben demnach eine «erhebliche Bedeutung für die professionelle Wahrnehmung von Unterrichtsprozessen und das berufliche Handeln von Lehrkräften», dennoch ist die «immer noch unbefriedigende Forschungslage unübersehbar» (Baumert & Kunter, 2006, S. 499). Die Ausführungen bei Baumert und Kunter (2006, 2011) zu diesem Kompetenzbereich brechen trotz der hervorgehobenen Relevanz für das unterrichtliche Handeln überraschend schnell ab. Dabei ist die Beschäftigung mit impliziten Wissensdimensionen keineswegs unerforscht. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge und Begrifflichkeiten zur Beschreibung dieses impliziten, handlungsleitenden Kompetenzbereichs (siehe Abschnitt 4.1.3). Zwar scheint der gemeinsame Nenner dieser Zugänge zur Beschreibung impliziter Wissensdimensionen deutlich, trotzdem unterliegen diese Konzepte teils unterschiedlichen Grundannahmen.

Im Folgenden werden zuerst mehrere wichtige, in der Literatur präsente begriffliche und methodologische Zugänge zur Bestimmung «intuitiver Theorien» oder «epistemologischen Orientierungen» (Baumert & Kunter, 2006, S. 498) vorgestellt, um in einem weiteren Schritt das dieser Arbeit zugrunde liegenden Konzept der Handlungsorientierung (Nohl, von Rosenberg, & Thomsen, 2015; Nohl, 2019) zur Freilegung des handlungsleitenden Wissens bei der Wahrnehmung und beim Umgang mit Unterrichtsstörungen zugänglich zu machen.

4.1.3 Unterschiedliche Konzepte zur Beschreibung der impliziten Strukturen des professionellen Wissens von Lehrpersonen

Nachfolgend werden unterschiedliche Zugänge dargestellt, wie implizit handlungsleitende Wissensstrukturen konzeptionell erfasst werden können. Die Zugänge lassen sich zwei Richtungen zuordnen. Vorgestellt werden Ansätze der (philosophisch geprägten) Wissenssoziologie (‹tacit knowledge› und ‹habituelle Wissensdimensionen) und zum anderen der pädagogischen Psychologie (‹subjektive Theorien› und ‹berufsbezogene Überzeugungen›). Es werden sowohl Ansätze aus dem englischsprachigen als auch aus dem deutschsprachigen Diskurs berücksichtigt. Die Auswahl der Ansätze bleibt beschränkt und könnte um weitere Ausführungen ergänzt werden. Die Zugänge sind ausserdem nicht trennscharf, weswegen ihre Abgrenzung nach deren Darstellung diskutiert wird (Abschnitt 4.1.3.5).

4.1.3.1 Tacit Knowledge

Tacit Knowledge ist nach Michael Polanyi implizites Wissen, das durch Erfahrungslernen geprägt ist (Neuweg, 2006). Tacit Knowledge sind prozedurale Wissenseinheiten (also Wissen über Prozesse) eines Individuums. Polanyi geht davon aus, dass ein Individuum mehr weiss als dass es tatsächlich explizieren könnte (Polanyi, 1966). Implizites Wissen gehört unmittelbar zu den Handlungen eines Individuums. Dieses Wissen ist implizit in das Handeln eines Individuums eingelassen und muss von Forschenden aufgedeckt werden (Neuweg, 2006). Dem Tacit Knowledge wird unter anderem die Bedeutung der Intuition zugesprochen. Damit wird jene Dimension beschrieben, die zeigt, dass intelligentes Handeln häufig auf eine intuitive, unbewusste Art und Weise ausgeführt wird. Während der Handlung ist es dazu nicht zwingend nötig zu explizieren, was die einzelnen, dazu nötigen Komponenten der Handlung darstellen. Werden Individuen dazu aufgefordert, die einzelnen Komponenten einer Handlung zu reflektieren, gibt es laut Polanyi immer noch einen Restanteil, der eben gerade nicht expliziert werden kann. Intelligent handelnde Individuen denken nicht immer im Voraus über diese Handlungen nach (Neuweg, 2006).

Tacit Knowledge kann auch als Tacit Knowing How verstanden werden. Es bezeichnet jenes in den kompetenten Personen eingewobene, versteckte Handlungswissen, das diese anleitet und zur erfolgreichen Ausführung der entsprechenden Handlung führt. Weiter beinhaltet implizites Wissen aber auch mehr oder weniger stabile Konzepte in Form mentaler Modelle, ‹Beliefs oder Paradigmen, welche Individuen als interpretatives Rahmenwissen zur Einordnung der Welt dienen (Neuweg, 2006). Letztlich ist implizites Wissen immer auch als Wissensdimension zu verstehen, die zum Verständnis von Konzepten in ihrem Ursprungszusammenhang benötigt wird. Explizites Wissen hängt von der darunter liegenden Ebene des impliziten Wissens ab, das es dem Individuum überhaupt erst ermöglicht, explizites Wissen einordnen zu können. Insofern liegt jeder Handlung implizites Wissen zugrunde (Neuweg, 2006; Polanyi, 1966).

4.1.3.2 Habitus

Das Konzept des Habitus der Praxistheorie Bourdieus (Bourdieu, 1982) und der praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack, 2017; Mannheim, 1980) liegt die Annahme zugrunde, dass habituelle Wissensstrukturen das Handeln von Lehrpersonen bestimmen (Kramer & Pallesen, 2018; Kramer & Pallesen, 2019) und (Bressler & Rotter, 2018).

Habitus wird von Bourdieu als ein praktischer Sinn, konkret als «inkoorporierte[r] Niederschlag sozialer, lebensweltlicher Strukturierungen» definiert (Kramer & Pallesen, 2018, S. 45). Der Habitus stellt das generative Prinzip von Handlungspraxen von Individuen dar (Bourdieu, 1982). Die impliziten Wissensbestände leiten das Handeln im Sinne des Modus Operandi an (Bressler & Rotter, 2018). Bourdieu unterscheidet zwei Formen von Habitus, die er als primärer Habitus (primär über die familiären Sozialisationsinstanzen gebunden) und als feldspezifischen Habitus (berufsbezogen entwickelter Habitus) bezeichnet (Bourdieu, 2001). Kramer und Pallesen (2018) knüpfen an letzteren an und bezeichnen diesen als beruflichen Habitus, den sie auf den Lehrerberuf adaptieren und entsprechend von einem Lehrerhabitus sprechen (S. 46). Diesen umfassen sie anhand vier zentraler Anforderungsbereiche: «a) die Anforderung zur Anregung, Wahrnehmung und Begleitung von Bildungsprozessen über paradoxe Kriseninterventionen, b) die Anforderung zur Gestaltung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses, c) die Anforderung des Fallverstehens und schliesslich als d) die Anforderung einer grundlegenden Reflexionsfähigkeit» (Kramer & Pallesen, 2018, S. 47).

Bildungssoziologische Arbeiten, die sich mit den habituellen Wissensstrukturen mit Bezug auf das Bourdieusche Habituskonzept von Lehrpersonen auseinandersetzen, sind bis Mitte der 2010er Jahre rar (Kramer & Pallesen, 2019). Hericks (2006) legte erstmals eine Arbeit vor, die den Lehrerhabitus fokussiert und damit eine Verknüpfung zwischen einer Praxistheorie und den beruflichen Handlungsanforderungen über den Spannbogen des Habituskonzept nach Bourdieu vornahm. Zunehmend lassen sich praxistheoretische Arbeiten finden, die den Lehrerberuf und seine Anforderungen im Sinne der atheoretischen, handlungsleitenden Wissensbestände beleuchten (Kramer und Pallesen, 2019). Ausgehend von professionstheoretischen Annahmen und der Weiterentwicklung der Dokumentarischen Methode (siehe Abschnitt 6.1.4) etablieren sich eine dokumentarisch-methodische Lehrer:innenforschung (Kramer & Pallesen, 2019) und eine Dokumentarische Unterrichtsforschung (Asbrand & Martens, 2018). Das Konzept des Lehrerhabitus ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil das Handeln der Lehrpersonen nur bedingt auf im Studium erworbene Kenntnisse und Kompetenzen zurückzuführen sind (Kramer & Pallesen, 2018).

4.1.3.3 Subjektive Theorien

Subjektive Theorien können im Anschluss an das ‹Forschungsprogramm Subjektive Theorien› von Groeben, Wahl, Schlee und Scheele (1988) als komplexe Netzwerke von Kognitionen definiert werden, die die Selbst- und Weltsicht sowie die Handlungen einer Person darstellen (Patry & Gastager, 2017). Sie werden auch als «schweigendes Wissen» (Patry & Gastager, 2017, S. 92) bezeichnet, weil diese Theorien den Subjekten nicht bewusst sind und nur indirekt über Rekonstruktion zugänglich gemacht werden können. In diesem Zusammenhang wird aus demselben Grund häufig auch von impliziten Theorien gesprochen. Im Verständnis des Forschungszweiges zur Rekonstruktion subjektiver Theorien nach Groeben et al. (1988) können subjektive Theorien nur von den Subjekten selbst anhand der Strukturlegetechnik rekonstruiert werden – was wiederum einen Rückkoppelungseffekt auf diese hat: Reflexion kann diese subjektiven Theorien veränderbar machen (Patry & Gastager, 2017). Empirisch zeigte sich, dass subjektive Theorien unterschiedliche Funktionen übernehmen, wobei die Handlungssteuerung eine der zentraleren Funktionen darstellt – insbesondere bei Handlungen unter (Zeit-)Druck (Dann & Haag, 2017). Subjektive Theorien, die in unterschiedlichen Formen vorliegen, steuern die Wahrnehmung und Interpretation von Situationen, die ein Handeln von Individuen erfordern. Sie werden im konkreten Fall unbewusst angewendet und miteinander kombiniert zum Einsatz gebracht. Daraus werden Handlungsoptionen generiert, die vom Individuum unbewusst gefiltert werden, woraus ein konkreter Handlungsplan resultiert (Patry & Gastager, 2017, S. 102). Für die pädagogische Praxis relevant scheint, dass erfolgreiche Lehrpersonen über mehr Wissen zu komplexen Zusammenhängen verfügen als weniger erfolgreiche Lehrpersonen. Emotionen (Ärger) können die subjektiven Theorien ins Wanken bringen, worauf die Handlungen inkonsistent zu den subjektiven Theorien und dadurch zu impulsiven Handlungen werden (Dann, 1989).

4.1.3.4 Berufsbezogene Überzeugungen

Überzeugungen können in Anlehnung an den internationalen Diskurs zur Strukturierung und Kategorisierung der Wissensdimensionen jenseits des objektivierten Wissens definiert werden. Bei berufsbezogenen Überzeugungen handelt es sich um

«affektiv aufgeladene, eine Bewertungskomponente beinhaltende Vorstellungen über das Wesen und die Natur von Lehr-Lernprozessen, Lerninhalten, die Identität und Rolle von Lernenden und Lehrenden (sich selbst) sowie den institutionellen und gesellschaftlichen Kontext von Bildung und Erziehung, welche für wahr oder wertvoll gehalten werden und welche ihrem berufsbezogenen Denken und Handeln Struktur, Halt, Sicherheit und Orientierung geben. Überzeugungen können individueller oder kollektiver Natur, explizit oder eher implizit (intuitiv), fragmentarisch und sogar widersprüchlich sein oder sich zu personalisierten praktischen (subjektiven) Theorien bzw. zu mehr oder weniger kohärenten, theorieförmigen Handlungs- und Aussagesystemen verbinden.» (Reusser & Pauli, 2014, S. 642).

Dabei umfasst diese Definition jene Dimensionen der beruflichen Handlungskompetenz der Lehrpersonen, die über das «deklarative und prozedurale pädagogisch-psychologische und disziplinär-fachliche Wissen hinausgehen» (Reusser & Pauli, 2014, S. 642). Daran anschliessend passt die beinahe deckungsgleiche Definition zur Bezeichnung jener Wissensdimensionen, die nach Baumert und Kunter (2006) als Überzeugungen gefasst werden. Sie definieren Überzeugungen in Anschluss an Op’t Eynde, De Corte und Verschaffel (2002, zitiert nach Baumert & Kunter, 2006, S. 497) als «Vorstellungen und Annahmen von Lehrkräften über schul- und unterrichtsbezogene Phänomene und Prozesse, die eine bewertenden Komponente beinhalten» definiert werden und es sich «um pädagogisch relevante Überzeugungen, die als implizite oder explizite, subjektiv für wahr gehaltene Konzeptionen vorliegen, welche die Wahrnehmung der Umwelt und das Handeln beeinflussen» handelt. Ebenso sprechen Reusser und Pauli (2014) diesen Facetten der professionellen Handlungskompetenz einen zentralen, handlungsleitenden Wert zu. Sie (Reusser & Pauli 2014, S. 650–651) identifizieren drei Gegenstandsbereiche (berufsbezogener) Überzeugungen: (1) allgemeine und domänenspezifische epistemologische Überzeugungen, (2) personenbezogene Überzeugungen und (3) kontextbezogene Überzeugungen. Erstere beziehen sich auf Inhalte sowie Prozesse des Wissens, Erkennens und Lehrens und Lernens, wobei der Forschungsschwerpunkt auf Überzeugungen zu den beiden letztgenannten Punkten liegt (Reusser & Pauli, 2014). Bspw. lassen sich Befunde zu Kontrasten zwischen konstruktivistischen und rezeptiv-transmissiven lerntheoretischen Überzeugungen von Lehrpersonen hierunter einordnen (Reusser & Pauli, 2014). Zweitens beziehen sich personenbezogene Überzeugungen auf die Selbstwahrnehmung der Lehrkräfte und auf deren schülerbezogene Überzeugungen. Hierin zu verorten sind bspw. Befunde zu stereotypen Wahrnehmungsmustern, zum Pygmalioneffekt, sowie zu Lehrer-Selbstwirksamkeitserwartungen als Determinanten der Unterrichtsqualität (Reusser & Pauli, 2014). Drittens unterscheiden sich kontextbezogene Überzeugungen anhand ihres Systembezuges, indem sich diese auf Merkmale des schulischen und gesellschaftlichen Kontextes und damit auf die Aufgaben, Funktionen und Ziele von Schule beziehen (Reusser & Pauli, 2014). Bspw. liessen sich diesem Gegenstandsbereich Überzeugungen bezüglich der Heterogenität oder Chancengleichheitsfragen zuordnen.

Die Erfassung berufsbezogener Überzeugungen gilt als heterogen. Neben (überwiegend dominierenden) qualitativen Zugängen – von denen die Strukturlegetechnik des Forschungsprogramms subjektive Theorien (vorheriges Unterkapitel) – hervorgehoben wird, werden standardisierte Fragebogenerhebungen aufgeführt (Reusser & Pauli, 2014). Es lassen sich Probleme in der Erfassung impliziter Überzeugungen nachzeichnen, die den Subjekten nur schwach bewusst (oder unbewusst) sind, wobei sich sowohl messtheoretische Herausforderungen sowie inhaltliche Forschungslücken feststellen lassen (Pauli & Reusser, 2014, S. 649).

4.1.3.5 Diskussion der unterschiedlichen Konzepte zur Beschreibung der impliziten Strukturen des professionellen Wissens von Lehrpersonen

Implizite Strukturen professionellen Wissens von Lehrpersonen werden in der Fachliteratur unter unterschiedlichen Begriffen untersucht und beschrieben: Tacit Knowledge, Habitus, Überzeugungen, subjektive Theorien und Orientierungen. Pajares (1992) bezeichnet ‹Beliefs› bzw. Überzeugungen als ‹a messy construct› und Reusser und Pauli (2014) stellen fest, dass weiterer Klärungsbedarf bezüglich der präzisen Beschreibung und Untersuchung impliziter Wissensstrukturen besteht. Trotz der Unterschiede liegt allen theoretischen Zugängen ein gemeinsamer Nenner zugrunde: Sie beleuchten jene – die Handlungspraxis anleitenden – Wissensdimension, die Baumert und Kunter (2006) in ihrem Modell unter dem Begriff Überzeugungen als relevante Kompetenzfacette darstellen und von der ein Einfluss auf das konkrete Handeln der Lehrpersonen erwartet wird. Obschon die Forschungslage uneinheitlich ist, wird allgemein davon ausgegangen, dass implizite Wissensstrukturen einen direkten Handlungsbezug aufweisen (Helmke, 2021; Mandel, 2019). Die Darstellung der jeweils unterschiedlichen Bezeichnungen der impliziten Wissensstrukturen innerhalb der jeweiligen theoretischen Zugänge verdeutlicht, warum kaum von einem einheitlichen Konzept gesprochen werden kann. Tacit Knowledge und Subjektive Theorien fokussieren in ähnlicher Weise das Handeln, das durch implizite Wissensstrukturen angeleitet ist. Im Zentrum der theoretischen Zugänge des Habitus und der berufsbezogenen Überzeugungen hingegen stehen die Wahrnehmung und damit das Handeln vorstrukturierende Dimensionen. Die Limitationen der vier vorgestellten theoretischen Zugänge führten dazu, dass bisweilen über Schwierigkeiten zur empirischen Offenlegung dieser handlungsleitenden Wissensstrukturen berichtet wird (u. a. Reusser & Pauli, 2014).

In Anbetracht dieser Limitationen und der Feststellung, dass sich in den vorgestellten Zugängen kaum forschungsmethodologischen Überlegungen finden, ist nach einer Methode zu fragen, anhand derer die Erfassung impliziter Wissensstrukturen möglich ist. Für die vorliegende Arbeit wird dazu die Dokumentarische Methode (siehe Abschnitt 4.1.4 und Abschnitt 6.4) gewählt (Bohnsack, 2017; Loos, Nohl, Przyborski, & Schäffer, 2013; Nohl, 2017). Diese Methode hat sich in der erziehungswissenschaftlichen Forschung «als Zugang zu impliziten, handlungsleitenden und kollektiven Wissensbeständen der sozialen Akteure in einer ganzen Reihe von Forschungskontexten bewährt» (Amling & Hoffmann, 2013, S. 180). Rekonstruiert werden handlungsleitende Orientierungen, anhand derer die unbewusste Handlungspraxis von Lehrpersonen beleuchtet werden kann. Aufgrund der differenzierten Betrachtung der Handlungsstrukturen von Lehrpersonen, eignet sich die dokumentarische Methode besonders auch um Aussagen zum Unterricht einer Lehrperson zu machen (Bonnet, 2009).

4.1.4 Handlungsorientierungen

Für die vorliegende Arbeit wird der Begriff der Handlungsorientierungen (Nohl et al, 2015; Nohl, 2019) zur Bezeichnung impliziter, handlungsleitenden Wissensstrukturen als Leitbegriff verwendet. Unter Handlungsorientierungen werden «(kleinschnittigere)Footnote 3 Orientierungen verstanden, die sich als Modus Operandi der Bearbeitung einzelner Problemkonstellationen» (Nohl, 2019, S. 54) zeigen. Sie beziehen sich auf spezifische Inhalte und behalten ihre Geltung immer nur in Bezug auf eine spezifische inhaltliche Thematik (Nohl, 2019, Nohl et al., 2015). Erst das Zusammenspiel mehrerer Handlungsorientierungen machen den (Lehrer:innen-)Habitus einer (Lehr-) Person aus (Nohl et al., 2015, S. 218). Die Dokumentarische Methode bietet einen methodologischen Zugang, um solche Handlungsorientierungen zu rekonstruieren bzw. sichtbar zu machen (Nohl, 2019, Nohl, 2017).

Das Auswertungsverfahren der Dokumentarischen Methode geht auf Karl Mannheims Wissenssoziologie (1980) zurück und findet seine methodischen Ursprünge durch Ralf Bohnsack (1983) in der Interpretation von Gruppendiskussionen (Bohnsack, 1983; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Die Dokumentarische Methode der Interpretation zielt auf die Rekonstruktion eines kollektiven Habitus in Gruppendiskussionen oder aber habitueller Strukturen in Einzelinterviews (Nohl, 2017; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Im Zentrum der empirischen Rekonstruktion steht die «begrifflich-theoretische Explikation» (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 290) jener Inhalte, die in konjunktiven Erfahrungsräumen (also auf einer impliziten Ebene) unmittelbar verstanden werden, ohne dass sie weiter expliziert werden müssten. Der konjunktive Erfahrungsraum umfasst eine von einer konkreten Gruppe gelöste Kollektivität, die Individuen dadurch verbindet, dass sie gemeinsame Handlungspraxen teilen. Im Falle der vorliegenden Arbeit liesse sich der gemeinsame Erfahrungsraum als die Tätigkeit des Unterrichtens als Lehrperson fassen (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014).

In der Dokumentarischen Methode wird zwischen zwei Wissensarten unterschieden, die es von den Forschenden in getrennten Analyseeinheiten zu unterscheiden gilt: Das uns in der Regel begrifflich zugänglich und explizierbare kommunikative Wissen und jenes nicht vollständig zugängliche konjunktive Wissen, welches in die Handlungspraxis eingelassen ist. Die Dokumentarische Methode macht das stillschweigende – in die Handlungspraxis integrierte – Wissen durch Explikation im Forschungsprozess zugänglich (Bohnsack, Nentwig-Geesemann, & Nohl, 2013; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Mannheim (1980) nimmt eine Unterscheidung zwischen einem immanenten und einem dokumentarischen Sinngehalt vor, nach welcher die Strukturierung der Auswertungsschritte der Dokumentarischen Methode folgt (siehe Abschnitt 6.5). Der immanente Sinngehalt eines Gegenstands bezieht auf den Gegenstand und dessen benennbaren Merkmale selbst. Der dokumentarische Sinngehalt hingegen fokussiert eine andere Ebene und fragt nach dem kulturellen Entstehungsgegenstand eben jenes Objektes und geht damit über die immanenten Sinnebene hinaus (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Der oben bereits dargelegte konjunktive Erfahrungsraum als grundlegendes Element der Mannheim ‘ schen Handlungs- und Kommunikationstheorie wird als (sozialer) Raum verstanden, der als in die Handlungspraxis eingelassene Form des gegenseitigen Bezugs gefasst wird und der durch atheoretisches, nicht vollständig explizierbares Wissen geprägt ist. Das Wissen welches man braucht, um in einem konjunktiven Erfahrungsraum bestehen zu können (also bspw. einer Gruppe, Kultur, Familie angehören und die darin ungeschriebenen Regeln verstehen und leben) muss nicht reflexiv verfügbar sein (Bohnsack et al., 2013; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). In Bezug auf die Fragestellungen wird anhand der Dokumentarischen Methode möglich, zu untersuchen, wie Lehrpersonen in ihrem beruflichen Unterrichtsalltag mit Unterrichtsstörungen umgehen. Das atheoretische WissenFootnote 4 nimmt im konjunktiven Erfahrungsraum einen zentralen Stellenwert ein. Der empirische Gegenstand bei der Rekonstruktion des atheoretischen Wissens bleibt dabei das Akteurswissen der Befragten selbst (Bohnsack et al., 2013). Die Forschenden sprechen sich selbst nicht mehr Wissen als den Beforschten zu, sondern sie nehmen lediglich eine spezifische Analyseperspektive ein. Für die vorliegende Arbeit wird über die Erzählungen der Befragten Lehrpersonen anhand der Dokumentarischen Methode dasjenige Handlungswissen im Umgang mit Unterrichtsstörungen rekonstruiert, von dem ausgegangen wird, dass es nicht oder nur teilweise reflexiv verfügbar ist. Die Rekonstruktion der Handlungsorientierungen im Umgang von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen bedarf in Anlehnung an Schütz (1971) einer Konstruktion zweiten Grades. Konstruktionen zweiten Grades sind «Konstruktionen von Konstruktionen» (Bohnsack, 2017, S. 15), die sich dadurch auszeichnen, dass die Forschenden Handlungspraxen der beforschten Individuen rekonstruieren. Diese Rekonstruktionen zweiten Grades bedarf es deshalb, weil wir unser Handeln nicht vollständig explizieren können und es in der Verantwortung des Forschenden liegt, das in die alltägliche Handlungspraxis eingelassene Wissen, zu rekonstruieren (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014).

Innerhalb der Dokumentarischen Methode haben sich unterschiedliche Perspektiven auf das atheoretische Wissen und unterschiedliche Bezeichnungen für dieses in das Handeln eingelagerte Wissen etabliert. Bohnsack (2017) unterscheidet Orientierungsrahmen im engeren und weiteren Sinne. Der Orientierungsrahmen im engeren Sinne verweist auf die Struktur der Handlungspraxis und stellt den Modus Operandi, einer Person dar (Bohnsack, 2017). Orientierungsrahmen im engeren Sinne stehen im Spannungsfeld mit den Orientierungsschemata (explizites, kommunizierbares Wissen) der Person, wohingegen der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne auf das Verhältnis zwischen Orientierungsschemata und dem Orientierungsrahmen im engeren Sinne verweist (Hinzke, 2018, S. 483). In anderen methodischen Abhandlungen werden Handlungsorientierungen unterschieden. Sie bezeichnen «(kleinschnittigere)Footnote 5 Orientierungen, die sich als Modus Operandi der Bearbeitung einzelner Problemkonstellationen» (Nohl, 2019, S. 54) zeigen. Handlungsorientierungen beziehen sich demnach auf spezifische Themen und behalten ihre Geltung immer nur in Bezug auf einen spezifischen Problemausschnitt (Nohl, 2019, Nohl et al., 2015). Das Zusammenspiel mehrerer Handlungsorientierungen kann zur Bestimmung eines (Lehrpersonen)Habitus bzw. zur Bestimmung eines übergeordneten Orientierungsrahmen einer Lehrperson herangezogen werden (Nohl et al., 2015, S. 218). Für die vorliegende Arbeit ist die Rekonstruktion von Handlungsorientierungen der passende methodische Zugang, der es ermöglicht die spezifische Praxis des Umgangs mit Unterrichtsstörungen zu untersuchen. Der Fokus dieser Arbeit liegt demnach nicht darauf einen umfassenden Lehrpersonen-Habitus zu rekonstruieren, sondern das Praxisproblem des Umgangs mit Unterrichtsstörungen näher zu untersuchen.

In Anschluss an die Klärung unterschiedlicher Zugänge – die die impliziten Strukturen handlungsleitenden Wissens beleuchten – wird im Folgenden ergänzend auf den unterrichtlichen Wahrnehmungsprozess eingegangen. Dies vor dem Hintergrund, dass den unterrichtlichen Handlungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen Wahrnehmungsprozesse der Lehrpersonen vorausgehen. Diese Wahrnehmung bestimmt, inwiefern eine Situation überhaupt als Unterrichtsstörung interpretiert wird, und strukturieren die darauffolgenden Reaktionen bzw. Handlungen aller Beteiligten vor.

4.1.5 Professionelle Unterrichtswahrnehmung von Lehrpersonen

Die professionelle Wahrnehmung von Unterrichtssituationen und Unterrichtsstörungen ist durch verschiedene Prozesse geprägt (Barth, 2017; Schmidt, 2012): Zum einen sind die Wahrnehmung und das Verhalten im Klassenzimmer häufig nicht reflektiert und von impliziten Wissensdimensionen abhängig (u. a. Schweer, Thies & Lachner, 2017). Zum anderen sind sie durch Merkmale der wahrnehmenden Person (wie affektive, motivationale und kognitive Faktoren), durch frühere Erfahrungen und nicht zuletzt durch aktuelle Interessen, Ziele sowie die soziale Situation und die Beziehung der interagierenden Subjekte bestimmt (Wettstein et al., 2016, S. 172; Scherzinger et al., 2017). Drei wahrnehmungstheoretische Ansätze werden nachfolgend ausgeführt: Das kognitiv-handlungstheoretische Paradigma und das Situationswahrnehmungs-Paradigma nach Schweer et al. (2017) sowie unter einer pädagogischer Blicklogik die habituellen Komponenten des unterrichtlichen Wahrnehmungsprozesses (Schmidt, 2012). Nachfolgend werden die ersten beiden Ansätze vorgestellt, die zwei unterschiedliche Perspektiven auf Wahrnehmungsprozesse repräsentieren. Anschliessend wird aufgezeigt, dass beiden Paradigmen eine zentrale Komponente fehlt, die mit einem dritten Ansatz ergänzend dargestellt wird.

Schweer und Kolleg:innen (2017) unterscheiden ein kognitiv-handlungstheoretisches Paradigma und ein Situationswahrnehmungs-Paradigma, um die Wahrnehmung und das Verhalten von Lehrpersonen im Unterricht zu beschreiben und vorherzusagen. Im kognitiv-handlungstheoretischen Paradigma werden Lehrkräfte als rational Handelnde betrachtet, die aktiv und problemlösend Informationen verarbeiten und in die Handlungsplanung miteinbeziehen. Im Zentrum stehen dabei Denkprozesse, die zu einer Lösungsfindung in herausfordernden Situationen führen. Mit anderen Worten liegt der Fokus auf dem Prozess, durch den es bei einer Lehrperson zu einer bestimmten Handlung kommt. Ein diesem Paradigma zuzuordnendes Modell ist das Wahrnehmungsmodell von Barth (2017). Das Kompetenzmodell zur professionellen Wahrnehmung und zum Handeln im Unterricht von Barth (2017) verdeutlicht die enge Verknüpfung zwischen kognitiven Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen. Unterrichtliche Situationen werden vor dem Hintergrund des bestehenden Wissens einer Lehrperson erkannt und im Hinblick darauf (als störend/nicht störend) beurteilt. Ein entsprechender Handlungsplan wird vor dem Hintergrund der erfolgten Beurteilung generiert und schliesslich in die jeweilige Situation implementiert (Barth, 2017). Die Lehrpersonen filtern so für die gesamte Klasse relevante Unterrichtsaspekte und stellen Schlussfolgerungen auf (Barth, 2017).

Im kognitiv-handlungstheoretischen Paradigma weniger berücksichtigt wird die Situationswahrnehmung, die überhaupt erst dazu führt, dass sich eine Lehrperson in einem Handlungszugzwang wiederfindet. Ihm gegenüber steht daher das Situationswahrnehmungsparadigma (Schweer et al., 2017), bei dem der Schwerpunkt auf der Frage nach der subjektiven Wahrnehmung und der Einschätzung von Situationen im Unterricht liegt. Bei diesem Paradigma werden Momente fokussiert, durch die Lehrpersonen in Situationen geraten, welche sie emotional betroffen machen; dementsprechend tritt hierbei die Prozesshaftigkeit der Handlungsfindung zurück, wie sie im kognitiv-handlungstheoretischen Paradigma zu finden ist. Schweer, Thies und Lachner (2017) zeigen mit dem Situationswahrnehmungsparadigma ein Verständnis von Wahrnehmungsprozessen, das sich von einem rein kognitiven Paradigma abgrenzt, im Vergleich zu den noch folgenden Ansätzen (siehe weiter unten in diesem Abschnitt) jedoch nach wie vor kognitivistische Anteile beinhaltet.

Unterrichtsprozesse werden von Schweer und Kolleg:innen (2017) als soziale Interaktionsmomente gefasst, weswegen nachfolgend auf die Spezifika sozialer Wahrnehmungsprozesse eingegangen wird, um daraus dann den dritten Ansatz herzuleiten. Vorhandene kognitive Strukturen – wie implizite Persönlichkeitstheorien und interpersonale Erwartungssysteme – strukturieren die Situationswahrnehmung im Klassenzimmer vor (Schweer et al., 2017). Das Besondere an sozialen Wahrnehmungsprozessen liegt in der Wahrnehmung von Personen und deren Handlungen, in die eine Reihe subjektiver Faktoren hineinspielen (Schweer e al., 2017). Soziale Wahrnehmung dient der Handlungsplanung und entscheidet darüber, wie sich eine Person zu einem Gegenüber verhalten soll. Die wahrnehmende und die wahrgenommene Person regulieren dabei wechselseitig das aufeinander bezogene Verhalten. Die Wahrnehmungsprozesse und die Beurteilung wahrgenommenen Verhaltens ist massgeblich durch normative Erwartungen geprägt (Schweer et al., 2017). Eindrücke werden nach subjektiven Kriterien organisiert: Individuen verfügen über kognitive Strukturen, welche ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten steuern. Schweer, Thies und Lachner (2017) definieren implizite Persönlichkeitstheorien als Bündel von Eigenschaften, die als zusammengehörig erlebt werden und sich als handlungsrelevante Denkmuster erweisen. In enger Verbindung zu den impliziten Persönlichkeitstheorien stehen interpersonale Erwartungssysteme. Die normativen Erwartungen bilden die Ansprüche ab, welche eine Lehrperson an ihre Schüler:innen stellt. Damit werden auch Interaktionsprozesse zwischen Lehrperson und Schüler:innen durch normative Erwartungen gesteuert. Widersprechen die Schüler:innen dem Erwartungssystem der Lehrperson, entsteht Diskonkordanz. Die betreffenden Schüler:innen werden weniger freundlich und unterstützend behandelt, was deutlich macht, dass Konkordanz/Diskordanz über die Wahrnehmungsebene hinausgeht und sich direkt auf der Verhaltensebene zeigt (Schweer et al., 2017). Gerade der erste Eindruck einer:s Schüler:in hat einen wegweisenden Einfluss auf die zukünftige Interaktionsqualität. Bei einer Erwartungsdiskordanz können ungünstige Handlungsroutinen gefestigt werden, was längerfristig negative Konsequenzen für die Entwicklung der Schüler:innen haben kann (Schweer et al., 2017).

Bei der Wahrnehmung einer Unterrichtsstörung ist die Beurteilung der spezifischen Unterrichtssituation von zentralem Stellenwert (Barth, 2017). Wahrnehmung bleibt subjektiv und durch individuelle Unterschiede bestimmt. Sie funktioniert, indem die Wahrnehmenden Informationen selektiv aufnehmen und diese Informationen je nach innerem Zustand subjektiv gewichten, kognitiv bewerten und emotional färben (Clausen, 2002). Wahrgenommene Unterrichtsstörungen sind folglich das Ergebnis einer subjektiv empfundenen Momentaufnahme – Konstruktionen, die in ihrem Stärkegrad variieren und durch individuelle Unterschiede geprägt sind (Clausen, 2002; Pfitzner & Schoppek, 2007). Die Art und Weise, wie Störungen wahrgenommen und empfunden werden, ist von den Einstellungen, den impliziten Wissensstrukturen und den Erwartungen der daran beteiligten Personen abhängig (Walter & Walter, 2014). Damit wird ersichtlich, dass Wahrnehmungen und die daraus abgeleiteten Handlungsentscheidungen letztlich von unbewussten, habituellen Dispositionen geprägt sind (Kramer & Pallesen, 2018; Lauth-Lebens et al., 2018). Hierin zeigt sich eine weitere Dimension, die im kognitiv-handlungstheoretischen Paradigma zu wenig berücksichtigt wird und im Hinblick auf die auch das Situationswahrnehmungsparadigma Lücken aufweist. Sowohl das Unterrichten als auch die Unterrichtswahrnehmung und der Umgang mit Unterrichtsstörungen werden durch implizites Wissen beeinflusst (Steinwachs & Gresch, 2019). Eine Fokussierung auf habituelle Strukturen ermöglicht ein besseres Verständnis der unbewussten Mechanismen, die die Wahrnehmung von Lehrpersonen prägen, und der Art und Weise, auf die diese Prägung sich vollzieht. Schmidt (2012) verwendet den Ausdruck pädagogische Blicklogik zur Benennung dieser auf dem Habitus einer Person beruhenden Wahrnehmungspraxis. Die individuelle pädagogische Blicklogik (eine Praxis der pädagogischen Fokussierung und Betrachtungsweise von Situationen) ist durch das (professionelle) Selbstverständnis und das Wissen der jeweiligen Person geleitet. Zudem ist sie von einem bestimmten Wahrnehmungsfokus geprägt, der die Wahrnehmung durch eine habituelle Praxis (oder die Handlungsorientierungen der Akteure) bestimmt (Schmidt, 2012). Die Wahrnehmung ist dabei nicht allein durch explizierbare, kognitive Wissensstrukturen bestimmt. Das, was überhaupt erst in den Wahrnehmungsfokus einer Person rückt, ist durch ihr implizites Wissen bzw. durch ihren Habitus strukturiert: «Der Blick entfaltet sich vor dem Hintergrund des Habitus und ist damit entlang von impliziten Wahrnehmungsmustern und -schemata aufgespannt, die diesen spezifisch ausrichten» (Schmidt, 2012, S. 60). Der Habitus filtert die Flut an möglichen Wahrnehmungsreizen und macht das Handeln in einer Situation dadurch überhaupt erst möglich. Denn nur durch diese präreflexive Selektion wird Handeln im Geschehen selbst ermöglicht (Schmidt, 2012; in einem weiteren Sinne auch: Schweer et al., 2017).

Auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit Unterrichtsstörungen übertragen, bedeutet dies, dass die Wahrnehmung einer Störung und die nachfolgende Reaktion darauf der Kontrolle der betreffenden Person zwar nicht vollständig entzogen ist, aber eben nicht allein auf bewusste Intentionen zurückgeführt werden kann. Die Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen ist durch oftmals nicht bewusste, weil habitualisierte, handlungsleitende Wahrnehmungsschemata bzw. implizite Wissensstrukturen geprägt, die je nach Person variieren. Dies erklärt, warum Akteur:innen spezifische Situationen im Unterricht in unterschiedlicher Weise als störend oder als förderlich wahrnehmen und interpretieren (Schmidt, 2012, S. 98). Bislang gibt es wenige Untersuchungen zur habituellen Wahrnehmungs- und Handlungspraxis in schwierigen Unterrichtssituationen bzw. bei Unterrichtsstörungen (Lauth-Lebens et al., 2018). Gerade im Umgang mit Unterrichtsstörungen wäre jedoch eine Verbesserung der Handlungssicherheit durch eine Verstärkung der Reflexion bedeutungsvoll.

4.1.6 Zur Rolle der Reflexion als Modus der Transformation von Handlungsorientierungen

Da in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen wird, dass die subjektiven Wissensbestände von Lehrpersonen zum Umgang mit Unterrichtsstörungen erfasst und für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen zugänglich und nutzbar gemacht werden sollen. Da dieses Wissen jedoch einen stark impliziten Charakter aufweist, werden nachfolgend ausgewählte Annahmen zur Rolle der Reflexion in Bezug auf implizite, handlungsleitende Wissensstrukturen dargestellt und diskutiert.

Wie bereits aufgezeigt wurde, haben implizite (in den Habitus einer Person eingelagerte) Wissensstrukturen Einfluss auf die Handlungen und die Wahrnehmung von Lehrpersonen. Insofern geben die Wissensstrukturen dem Handeln einer Person Stabilität und Handlungssicherheit in Situationen, die beispielsweise Handeln unter Zeitdruck erfordern. Eine kurzfristige Veränderbarkeit solcher handlungsleitenden Wissensstrukturen wäre ihrer Funktion wegen daher nicht hilfreich, da sonst gerade diese erleichterte Handlungsstrukturierung nicht verlässlich gegeben wäre. Für die individuelle Professionalisierung ist eine Weiterentwicklung sämtlicher Wissens- und Handlungsstrukturen (gerade im Umgang mit Unterrichtsstörungen) dennoch von grosser Relevanz.

Veränderungen – also Transformationen im Habitus eines Individuums – können mit Hilfe rekonstruktiver Forschungsmethoden fallbezogen aufgeklärt werden (Helsper, Kramer & Thiersch, 2013). Bereits Bourdieu und auch Bohnsack liefern dazu Ansätze, die weiter ausdifferenziert werden können. Bourdieu versteht Individuation als Prozess der Übernahme des familiären Erbes, in dem es zu Brüchen kommen kann. Der individuelle Habitus kann dann als Abwandlung des kollektiven (familiären) Habitus verstanden werden, wo Bourdieu wiederum Transformationsprozesse lokalisiert (Helsper et al., 2013). Für Bohnsack (1989) ist die Habitusgenese im Sinne von Individuationsprozessen – der Re-Orientierung durch Erfahrungen in neuen Orientierungsrahmen – zu verstehen, welche sich in – einander überlagernden – konjunktiven Erfahrungsräumen (und damit im kollektiven Habitus) manifestieren (Helsper et al., 2013). Bezüglich der Untersuchung von Habitustransformationsprozessen sind die von Arnd-Michael Nohl im Rahmen der Dokumentarischen Biografieforschung durchgeführten Studien zu bildungs- und habitusbezogenen Wandlungsprozessen hervorzuheben (Nohl et al., 2015). In diesen Studien werden Wandlungsprozesse in der Biographie einzelner Individuen über die Rekonstruktion biographischer Erfahrungsaufschichtungen dargestellt (Wiezorek, 2005). Nach Nohl (2001) transformieren sich Orientierungen von Personen in Bildungsprozessen. Bildungsprozesse können in einem solchen Verständnis folglich in habituellen Transformationsprozessen münden. Demnach steht hier ein Habitusbegriff im Zentrum, der mehrdimensional gedacht wird und der sich im Verlaufe einer Bildungsbiografie ausdehnen und verändern kann (Geimer & von Rosenberg, 2013, S. 146).

Zusätzlich zu den bildungsbiographischen Transformationsprozessen ermöglicht Reflexion eine Umstrukturierung handlungsleitender Wissensstrukturen bzw. Handlungsroutinen, die sich aus jenen Wissensstrukturen ergeben – was Donald Schön (1986) als ‹reflective practitioner › beschreibt. Durch das «Wissen um die eigenen Wahrnehmungsprozesse und Handlungsroutinen» (Schweer et al., 2017, S. 137) können Lehrpersonen ihre Erwartungen, Ansprüche und Handlungen reflektieren und sie damit verändern. Dazu reicht die Vermittlung von Wissen allein jedoch nicht aus, vielmehr müssen darüber hinaus die Handlungsorientierungen reflektiert werden (u. a. Schweer et al., 2017). Reflexion wird als Antwort auf verschiedene Problemzusammenhänge betrachtet. Um einen solchen Zusammenhang hervorzuheben – durch Reflexion wird das Komplexitätsproblem auf Unterrichtsebene bearbeitbar. So können hierdurch die im Moment des Geschehens unmöglich wahrnehmbaren, vielzähligen Interaktionsprozesse analysiert und veränderbar gemacht werden (Leonhard, 2020).

Die (bildungs-)biographische Selbstreflexion ist für die Entwicklung eines professionellen Habitus bei Lehrpersonen zentral (Helsper, 2018). Trotz Anerkennung dieser Relevanz wird die Machbar- und Instruierbarkeit unterschiedlicher Reflexionsmodi in der Lehrer:innenbildung kritisch diskutiert (Leonhard, 2020). Eine vielversprechende Möglichkeit zur Reflexion impliziten, handlungsleitenden Wissens wird heute u. a. in der Arbeit mit Videovignetten gesehen (Steinwachs & Gresch, 2019). Momente der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen, in denen authentische Unterrichtssituationen anhand von Videovignetten analysiert und kritisch-konstruktiv reflektiert werden, bergen in diesem Kontext ein besonderes Potenzial (Pallesen, 2019; Steinwachs & Gresch, 2019; Krammer, Lipowsky, Pauli, Schnetzler & Reusser, 2012). Die Video-Studien der Forschungsgruppe um Reusser (Krammer & Reusser, 2004) gehörten zu den ersten, in denen auf das Potenzial von Unterrichtsvideo zur Reflexion über die Qualität didaktischen Handelns hingewiesen wird.

Es ist einleuchtend, dass Lehrpersonen für ihre Professionalisierung eine Basis zur Reflexion des Umgangs mit Unterrichtsstörungen bereitgestellt werden muss (Reh, 2004). Eine solche Reflexion kann dann wiederum eine Basis zur positiven Beeinflussung der Unterrichtsqualität bilden und Möglichkeiten zur Erlernung eines produktiven Umgangs mit Unterrichtsstörungen eröffnen (Helmke, 2021). Die Vermittlung solcher Reflexionsfähigkeiten und -erfahrungen sowie die Bereitstellung entsprechender Reflexionsinhalte sind zentrale Gegenstände der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen (Reusser & Pauli, 2014; Schweer et al., 2017).

4.2 Zwischenfazit

In Kapitel 4 wurden in zusammenfassender Weise Voraussetzungen dargestellt, die Lehrpersonen zur Umsetzung guten Unterrichts sowie zur Wahrnehmung und zum Umgang mit Unterrichtsstörungen erfüllen müssen. Die pädagogische Professionalität von Lehrpersonen ist durch dabei eine Vielzahl komplexer Merkmale gekennzeichnet. Lehrpersonen benötigen facettenreiche Kompetenzen zur qualitätsvollen Ausübung ihrer Tätigkeit. Nicht zuletzt spiegelt sich dieser breite Anforderungskatalog bspw. in den von der KMK formulierten Professionsstandards wider.

Ausgehend vom kompetenzorientierten Verständnis von Professionalität wurde anhand des Modells professioneller Handlungskompetenzen nach Baumert und Kunter (2006) aufgezeigt, dass die impliziten, handlungsleitenden Wissensstrukturen der Lehrpersonen – in dieser Arbeit mit den Leitbegriff der Handlungsorientierungen bezeichnet – einen massgeblichen Einfluss auf den unterrichtlichen Wahrnehmungs- und Handlungsprozess haben. In der Aufbereitung und Diskussion unterschiedlicher Zugänge zu impliziten, handlungsleitenden Wissensstrukturen wurde aufgezeigt, dass neben einem gemeinsamen Nenner auch wichtige theoretische Unterschiede bestehen. Zudem konnten bei den allermeisten Zugängen keine methodologischen Ausführungen festgestellt werden. Das der Dokumentarischen Methode entspringende und im Kapitel sodann beleuchtete Konzept der Handlungsorientierungen wurde deshalb als Leitbegriff gewählt, weil damit sowohl theoretische als auch methodologische Grundlagen verbunden sind. Die Rekonstruktion von Handlungsorientierungen ermöglicht einen Zugang zu handlungsleitenden Wissensbeständen von Personen in Bezug auf einen konkreten Praxisausschnitt – im vorliegenden Fall handelt es sich hierbei um implizit vorliegende Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen. Weiter wurde ausgeführt, dass dem Umgang mit Unterrichtsstörungen vorausgehende Wahrnehmungsprozesse ebenfalls durch implizit vorliegende Strukturen geprägt sind.

Schliesslich wurde darauf hingewiesen, dass diese impliziten Wissensstrukturenoder eben Handlungsorientierungen durch Reflexion – insbesondere durch die fallrekonstruktive Arbeit mit Videovignetten – veränderbar gemacht werden können. Damit wird die Voraussetzung geschaffen, die Professionalität einer Lehrperson sowie in der Folge die Qualität ihres Unterrichts zu steigern, aber auch effektiv mit Unterrichtsstörungen umgehen zu können.