Im einleitenden Kapitel wird zunächst die Problemstellung (Abschnitt 1.1) dargestellt. Daraufhin werden die Forschungsfragen erläutert und wird der projektbasierte Entstehungszusammenhang der vorliegenden Arbeit geklärt (Abschnitt 1.2). Schliesslich wird die Gliederung der Arbeit dargelegt (Abschnitt 1.3).

1.1 Problemstellung

Störungen im Unterricht gehören zum pädagogischen Alltag – sie sind nicht vollständig vermeidbar und Lehrpersonen gehen mit solchen Störungen unterschiedlich um. Die Kenntnis produktiver Formen des Umgangs mit Unterrichtsstörungen ist dabei besonders deshalb von Bedeutung, weil Letztere facettenreiche negative und unerwünschte Folgen nach sich ziehen können (Baeriswyl-Zurbriggen, Krause & Kunz Heim, 2015; Barth, 2017; Lohmann, 2007; Nolting, 2012; Wettstein & Scherzinger, 2019). Häufig senken sie die Unterrichtsqualität und verhindern damit produktive Lernprozesse bei den Schüler:innen (Klusmann, Richter & Lüdtke, 2016). Empirische Befunde zeigen ausserdem, dass ein hohes Ausmass an wahrgenommenen Unterrichtsstörungen starke emotionale Belastungen bis hin zu Burnout-Erkrankungen zur Folge haben kann (Wettstein & Scherzinger, 2019).

Gemäss dem die aktuelle wissenschaftliche Diskussion dominierenden interaktionistischen Verständnis entstehen Unterrichtsstörungen in einem Zusammenspiel zwischen Produktion und Rezeption (Eckstein, 2018a; Eckstein, Grob & Reusser, 2022). Das heisst, dass erst dann von einer Unterrichtsstörung gesprochen wird, wenn potenziell störendes Verhalten gezeigt und dieses Verhalten von anderen Personen als störend wahrgenommen wird: Zum einen müssen also auf der Produktionsseite spezifische Verhaltensweisen gezeigt (bspw. ungefragtes Hineinreden), zum anderen muss dieses Verhalten von der gestörten Person auf der Rezeptionsseite als tatsächlich störend wahrgenommen werden (bspw. weil die betreffende Person durch das Hineinreden nicht mit ihrer aktuellen Lehr- oder Lerntätigkeit fortfahren kann). Die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen wird im interaktionistischen Verständnis als mehrdimensionaler, dynamischer Prozess verstanden, bei dem der Lehr- und Lernprozess ins Stocken gerät oder verunmöglicht wird (Winkel, 2011). Der Fokus liegt dabei auf einem gestörten Interaktionszustand und nicht etwa auf personenbezogenen Eigenschaften. Während dieses interaktionistische Verständnis, gemäss dem Unterrichtsstörungen nicht allein auf personenbezogene Eigenschaften zurückzuführen sind (wie bspw. ADHS-Diagnosen), im wissenschaftlichen Kontext mittlerweile häufig anzutreffen ist, sind einseitige Ursachenzuschreibungen, wie aus neueren Untersuchungen hervorgeht, bei Lehrpersonen noch immer häufig festzustellen (Belt & Belt, 2017; Sullivan, Johnson, Owens & Conway, 2014). Eine solche einseitige, personengebundene Ursachenzuschreibung von Unterrichtsstörungen kann dabei zur Folge haben, dass stigmatisierte Schüler:innen (bspw. von der Lehrperson als ‹Störenfriede› wahrgenommene Schüler:innen) von ihren Lehrpersonen nicht mehr im gleichen Masse wie ihre Mitschüler:innen gefördert werden, indem sie bspw. weniger schwierige Aufgaben erhalten (Hofer, 1986 zitiert nach Schweer, Thies & Lachner, 2017) oder aber die Investitionen zur Förderung der als problematisch identifizierten Schüler:innen sinken (Lohmann, 2007). Verhaltensweisen solcher ‹sowieso den Unterricht störenden› Schüler:innen (bspw. als laut und rücksichtslos wahrgenommene Schüler:innen) werden dann von den Lehrpersonen auch schneller als störend wahrgenommen (Eckstein, 2018a). Dieser Umstand kann durch unbewusste Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse erklärt werden, die durch implizite Wissensdimensionen strukturiert sind (Kramer & Pallesen, 2018, Schweer et al., 2017). Diese impliziten Wissensstrukturen stellen eine zentrale Kompetenzfacette professionellen Lehrer:innenhandelns dar (Baumert & Kunter, 2006). Es gibt mehrere theoretische und empirische Zugänge, welche sich mit impliziten, das Handeln anleitenden Wissensstrukturen beschäftigen. In der vorliegenden Arbeit wird in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Handlungsorientierungen (Nohl et al, 2015; Nohl, 2019) zurückgegriffen. Handlungsorientierungen sind implizite, das Handeln von Personen anleitende «Orientierungen, die sich als Modus Operandi der Bearbeitung einzelner Problemkonstellationen» (Nohl, 2019, S. 54) zeigen. Kurzum: Handlungsorientierungen prägen auf einer unbewussten Ebene die Wahrnehmung und das Handeln, weswegen sie auch als handlungsleitendes Wissen bezeichnet werden. Diesen Wissensbeständen wird eine gewisse Stabilität zugesprochen – sie geben Individuen besonders in stressvollen Situationen Halt und Handlungssicherheit (Dann & Haag, 2017).

Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand zur Problematik der Unterrichtsstörungen kann gesagt werden, dass der Fokus empirischer Untersuchungen in diesem Bereich in der Vergangenheit auf expliziten Wissensstrukturen lag. Eine Zusammenschau verschiedener Untersuchungen zu Unterrichtsstörungen zeigt, dass aus Fragebogenstudien oder inhaltsstrukturierenden Auswertungen, bereits relativ breit abgestützte Befunde zu Formen, Folgen und Ursachen von Unterrichtsstörungen sowie zu den von Lehrpersonen explizit genannten Umgangsformen mit solchen Störungen vorliegen (Makarova, Herzog & Schönbächler, 2014; Scherzinger, Wettstein & Wyler, 2017; Sullivan et al., 2014). Zwar gibt es Untersuchungen, die sich mit impliziten Wissensstrukturen in regulären Unterrichtssituationen befassen, doch ist die diesbezügliche Forschungslage zu Unterrichtsstörungen unzureichend (Lauth-Lebens, Lauth & Rietz, 2018). Es ist also unklar, welche implizit vorliegenden Handlungsorientierungen Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen anleiten. Ausserdem beschäftigen sich bisher wenige Studien mit der Frage, welche Rolle der Unterrichtskontext bei der Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen spielt.

Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des qualitativen Teilprojekts der SUGUS-Studie (siehe auch Abschnitt 1.3 und 6.2). Aus den Analysen der quantitativen Teilstudie geht das interaktionistische Theoriemodell der Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen hervor (Eckstein, 2018a). Das qualitative Teilprojekt der SUGUS-Studie schliesst an diesem interaktionistischen Theoriemodell an und fokussiert die individuelle Wahrnehmung von als störend wahrgenommenen Verhaltensweisen sowie Möglichkeiten der Prävention und Intervention bei Unterrichtsstörungen (Hofstetter, 2022). Die Ergebnisse zeigen, über welche explizit benannten Formen des Umgangs mit Unterrichtsstörungen, des Auftretens von Unterrichtsstörungen und den Möglichkeiten der Prävention und Intervention bei Unterrichtsstörungen Lehrpersonen berichten (Hofstetter, 2022; Eckstein, 2018a). Diese Arbeiten weisen jedoch darauf hin, dass der Unterrichtskontext für die Problematik der Unterrichtsstörungen eine zentrale Rolle spielt (Hofstetter, 2022; Eckstein, 2018a). Hineinreden bspw. dürfte in lehrpersonenzentrierten Unterrichtssettings als stärker störend wahrgenommen werden als in offenen, schüler:innenzentrierten Arrangements. Unterschiedliche didaktische Settings gehen jedoch vermutlich nicht nur mit Unterschieden in der Wahrnehmung, sondern auch mit solchen in der Produktion von und den Möglichkeiten des Umganges mit Unterrichtsstörungen einher (Hofstetter, 2022).

In Anlehnung an die Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci (2020) kann vermutet werden, dass in einem Unterricht, in dem auch die Schüler:innen sichtbar Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen und selbstbestimmt mitentscheiden, wann sie was und mit wem bearbeiten, aufgrund eines dadurch resultierenden erhöhten Lernengagements weniger störende Verhaltensweisen auftreten. Um einen solchen schüler:innenzentrierten Unterricht zu gestalten, sind veränderte Schul- und Unterrichtsstrukturen nötig (Stebler, Pauli & Reusser, 2021a). Im Umgang mit der Heterogenität der Schüler:innenschaft und den Anforderungen kompetenzorientierter Bildungspläne stehen Schulen zudem zunehmend vor der Herausforderung, die Oberflächen- und Tiefenmerkmale des Unterrichts in Richtung eines personalisierten Lernens (Galle, 2021; Stebler, Pauli & Reusser, 2017; Stebler, Pauli & Reusser, 2021a) weiterzuentwickeln. Schulen mit personalisierten Lernkonzepten weichen unter anderem durch eine veränderte Unterrichtsarchitektur von traditionellen Mustern der Lehr-Lern-Organisation ab (Stebler et al., 2017). Ziel dieser Schulen ist es, den Unterricht auf die Bedürfnisse der Schüler:innen auszurichten und ihnen damit ein personalisiertes Lernen zu ermöglichen. In Schulen, in denen vermehrt in offenen Lernformen gearbeitet wird, in denen die Lehrperson nicht mehr länger alleine allen Schüler:innen im gleichen Tempo den gleichen Unterrichtsstoff beibringt, ergeben sich auch für die Lehrpersonen selbst neue Unterstützungsmöglichkeiten (bspw. mehr Möglichkeiten zum Teamteaching oder zum Teilen von Leitlinien im Umgang mit der Einhaltung von Regeln etc.). In einer Studie konnte gezeigt werden, dass in Schulen, die mit personalisierten Lernkonzepten arbeiten, mehr Kooperation zwischen den Lehrpersonen stattfindet (Stebler, Pauli & Reusser, 2021b). Diese intensivierten Formen des Zusammenarbeitens wiederum ermöglichen es den Lehrpersonen, in geteilter Verantwortung allfällige durch Unterrichtsstörungen entstandene Lasten gemeinsam zu tragen. Im Vergleich mit Schulen ohne personalisierte Lernkonzepte kann deshalb erwartet werden, dass zum einen weniger störendes Verhalten von den Schüler:innen an den Tag gelegt wird, zum anderen aber auch vielfältigere Unterstützungsmöglichkeiten für Lehrpersonen eröffnet werden (Stebler, Pauli & Reusser, 2021b). Bislang nicht erforscht wurde, ob sich diese Unterschiede in der Lernkultur auch in den auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen bezogenen impliziten Handlungsorientierungen der Lehrpersonen, widerspiegeln. Dieser Frage nachzugehen ist unter anderem deshalb von Bedeutung, weil daraus Erkenntnisse für eine optimale Gestaltung von Rahmenbedingungen und Handlungsformen für einen produktiven Umgang mit Unterrichtsstörungen gewonnen werden können.

In Anbetracht der Relevanz von Handlungsorientierungen für das pädagogische Handeln und die daraus entstehenden Konsequenzen für das Lernen der Schüler:innen überrascht es, dass die diesbezügliche Forschungslage zum Umgang mit Unterrichtsstörungen äusserst dünn ist (Lauth-Lebens et al., 2018). Die Lücke in der Erfassung impliziter Wissensstrukturen im Umgang mit Unterrichtsstörungen tritt umso deutlicher hervor, wenn man bedenkt, dass unbewussten Handlungsmuster gerade in Situationen, die Zeit- und Handlungsdruck sowie emotionale Betroffenheit verursachen und unerwünschte Affekthandlungen auslösen, eine grosse Rolle spielen und unerwünschte Wirkungen haben können. Ein Grossteil des Lehrpersonenhandelns – insbesondere bei schwierigen Ereignissen oder Störungen im Unterricht – erfolgt unter Zeit- und Handlungsdruck (Dann & Haag, 2017). Häufig müssen Lehrpersonen rasch und unter emotionaler Betroffenheit auf Ereignisse reagieren. Dies führt zu nicht immer nur produktiven und vor allem sehr unterschiedlichen Affekthandlungen. Diese sind oftmals stark durch implizite, den Handelnden nicht bewusste Wissensstrukturen geprägt, deren Reflexion helfen dazu beitragen würde, dass eine Ungleichbehandlung von Schüler:innen vermieden wird (Schweer et al., 2017).

Empirische Befunde zeigen, dass Reflexionsprozesse Lehrpersonen zu einer Veränderung auch von relativ stabilen Handlungsorientierungen befähigen können (Kolbe, 2004; Reh, 2004). Die Reflexion eigener Handlungspraktiken ermöglicht in diesem Sinne eine Erweiterung der eigenen Professionalität (Kolbe, 2004) und bildet damit auch die Basis für eine Steigerung der Unterrichtsqualität (Helmke, 2021). Kenntnisse darüber, dass es implizite Orientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen gibt, können eine Person dazu befähigen, ihre eigenen unbewussten Umgangsweisen zu erkennen und zu reflektieren um sie gegebenenfalls dann zu verändern (siehe dazu auch Schweer et al., 2017). Eine Vermittlung eines entsprechen Wissens liesse sich bspw. dadurch erreichen, dass angehenden Lehrpersonen auf Weiterbildungen Videovignetten gezeigt werden (Pallesen, 2019; Steinwachs & Gresch, 2019, Krammer, Lipowsky, Pauli, Schnetzler & Reusser, 2012). Ziel ist eine Verbreiterung des Spektrums von Handlungsmöglichkeiten, was wiederum als Basis zur Gestaltung eines qualitätsvollen Unterrichts betrachtet werden kann (Baumert & Kunter, 2006). Es führt auch dazu, dass Lehrpersonen zu neuen, gegebenenfalls stressfreieren Formen des Umgangs mit Unterrichtsstörungen finden können. Die Vermittlung solcher Reflexionsfähigkeiten und -erfahrungen bildet einen zentralen Aspekt der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen (Reusser & Pauli, 2014; Schweer, Thies & Lachner, 2017). Dazu muss zuerst geklärt werden, welche möglichen impliziten Handlungsorientierungen von Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen zur konkreten Reflexion anregen könnten. Das Problem bei Handlungsorientierungen besteht nämlich darin, dass sie den betreffenden Personen nicht vollständig zugänglich sind – sie können also nicht ohne weiteres benannt werden. Auch für die Forschung hat es sich als herausfordernd erwiesen, implizite Wissensstrukturen freizulegen. in der vorliegenden Arbeit wird die Dokumentarische Methode herangezogen, um implizite Wissensstrukturen durch eine Auswertung von Interviews nach spezifischen Regeln und Techniken zu erfassen (Bohnsack, 2017; Loos, Nohl, Przyborski & Schäffer, 2013; Nohl, 2017). Im Unterschied zu anderen qualitativen Forschungsmethoden ermöglicht es die Dokumentarische Methode, über die explizite Ebene hinaus das handlungsleitende Wissen von Personen sichtbar zu machen.

1.2 Ziele und Forschungsfragen der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit wird anhand einer Reihe von Interviews unter Anwendung der Dokumentarischen Methode untersucht, was von Lehrpersonen auf einer impliziten Handlungsebene als Störung erfasst wird bzw. worin sich Unterrichtsstörungen auf der Ebene ihres Dokumentsinnes für Lehrpersonen zeigenFootnote 1. Weiter wird untersucht, welche Handlungsorientierungen bei Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen nachgezeichnet werden können. Die befragten Lehrpersonen unterrichten teils an Schulen mit und teils an Schulen ohne personalisierte Lernkonzepte. Das Ziel der Anwendung der Dokumentarischen Methode liegt in einer Typisierung, also einer Abstrahierung der Handlungsorientierungen der einzelnen Lehrpersonen. Dementsprechend wird in einem zweiten Schritt eine Beschreibung der typisierten Handlungsorientierungen vorgenommen. Im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Lehrpersonen aus Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte wird in einem dritten Schritt untersucht, ob es bestimmte Kontextmerkmale gibt, anhand derer die typisierten Handlungsorientierungen erklärt werden können. Dementsprechend stehen folgende Forschungsfragen im Zentrum der vorliegenden Arbeit:

  1. 1.

    Was erfassen Lehrpersonen in ihrem Unterricht als Unterrichtsstörung (worin dokumentieren sich Unterrichtsstörungen für Lehrpersonen)?

  2. 2.

    Welche Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen leiten Lehrpersonen, die in Schulen mit und ohne personalisierte Lernkonzepte unterrichten? Welche Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen lassen sich rekonstruieren und trennscharf beschreiben?

  3. 3.

    Mit welchen Kontextfaktoren lassen sich die rekonstruierten Typen des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen erklären?

Die Forschungsfragen werden mit Hilfe des methodischen Zugangs der Dokumentarischen Methode (Nohl, 2017, 2019) beantwortet, anhand derer die vorliegenden Interviews (Witzel, 2000) ausgewertet wurden.

1.3 Entstehungskontext der Arbeit

Die vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Studie zur Untersuchung gestörten Unterrichts (SUGUS)Footnote 2 wurde an der Universität Zürich durchgeführt. Sie besteht aus einem quantitativen und aus einem qualitativen Teilprojekt. Die leitenden Ziele sind die präzise Beschreibung der Problemlage sowie pädagogisch-didakische Gelingensbedingungen zu identifizieren anhand derer Unterrichtsstörungen möglichst vermieden und entschärft werden können (Eckstein, Luger, Grob & Reusser, 2016, S. 2). Die quantitative Teilstudie ging den spezifischen Fragen nach, unter welchen Bedingungen des Unterrichts, welche Lernenden welche Formen und Grade unterrichtlicher Devianz zeigen und unter welchen Bedingungen des Unterrichts Devianz von wem wie stark störend erlebt wird (Eckstein, 2018a). Aus den Analysen der quantitativen Teilstudie geht das Zusammenspiel dieser beiden Fragestellungen adressierende interaktionistische Theoriemodell der Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen hervor (Eckstein, 2018a). Das qualitative Teilprojekt der SUGUS-Studie schliesst an diesem interaktionistischen Theoriemodell an und fokussiert die individuelle Wahrnehmung von als störend wahrgenommenen Verhaltensweisen sowie Möglichkeiten der Prävention und Intervention bei Unterrichtsstörungen (Hofstetter, 2022). Die vorliegende Arbeit ergänzt die unterschiedlichen Analyseblickwinkel indem implizite Orientierungen von Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen qualitativ-rekonstruktiv auf der Basis von Interviews erforscht werden. Die qualitative Teilstudie wurde zum einen an Schulen durchgeführt, die keine ausgewiesenen personalisierten Lernkonzepte in ihrem Unterricht umsetzen, weswegen von eher traditionellen Schulen gesprochen wird (siehe auch Abschnitt 6.2). Zum andern wurden für die vorliegende Teilstudie auch sogenannte perLen-Schulen rekrutiert. Es handelt sich um Schulen aus der Stichprobe der von der Stiftung Mercator geförderte perLen-Studie (personalisierte Lernkonzepte in heterogenen Lerngruppen). Ziel der an der Universität Zürich und an der Universität Fribourg durchgeführten Studie war die Erforschung der Unterrichtskonzepte von Primar- und Sekundarschulen (N = 65), die sich deutlich von traditionellen Lehr- und Lernformen abheben, indem sie innovative Unterrichtskonzepte in ihren Schul- und Unterrichtsalltag integriert haben (Stebler et al., 2017, siehe auch Abschnitt 6.2).

1.4 Gliederung der Arbeit

In Kapitel 2 werden theoretische und empirische Erkenntnisse zu Unterrichtsstörungen dargestellt. Zwei unterschiedliche theoretische Perspektiven auf Unterrichtsstörungen werden erläutert. Es folgt eine Darstellung der empirischen Befunde zu häufig berichteten Unterrichtsstörungen, zum Umgang mit Unterrichtsstörungen sowie deren Folgen sowie zu den Ursachen von Unterrichtsstörungen. Die Beschäftigung mit der Problematik der Unterrichtsstörungen hängt unweigerlich auch mit Fragen zur Unterrichtsqualität im Allgemeinen und mit der Klassenführung im Besonderen zusammen. Insofern erfolgt in Kapitel 3 eine Beschreibung zentraler Qualitätsdimensionen guten Unterrichts, um aufzuzeigen, inwiefern dadurch Unterrichtsstörungen präventiv begegnet sowie das Lernen der Schüler:innen in idealer Weise gefördert werden kann. Dabei wird insbesondere die Klassenführung als zentrale Dimension der Unterrichtsqualität und des Umganges mit Unterrichtsstörungen beleuchtet und es werden die didaktischen Arrangements von Schulen betrachtet, die nach personalisierten Lernkonzepten unterrichten. In Anbetracht der Komplexität von Unterricht und der daraus resultierenden Störungsanfälligkeit ist es erforderlich, dass Lehrpersonen unter Zeit- und Handlungsdruck zu handeln imstande sind, da es ihnen nur auf diese Weise möglich ist, das Unterrichtsgeschehen aufrechterhalten. Die Ausführungen zu den Dimensionen von Unterrichtsqualität machen deutlich, dass komplexe Anforderungen an das Handeln von Lehrpersonen bestehen, welche anschliessend in Kapitel 4 diskutiert werden. Nach einer Verortung unterschiedlicher professionstheoretischer Bezüge werden in Kapitel 4 Professionsstandards von Lehrpersonen ausgeführt und wird auf das Modell professioneller Kompetenzen von Baumert und Kunter (2006) eingegangen. Ausgehend von diesen Ausführungen werden unterschiedliche Zugänge zu impliziten Wissensstrukturen professioneller Kompetenz beleuchtet. Das Konzept der Handlungsorientierungen wird in einem eigenständigen Teilkapitel theoretisch und methodologisch hergeleitet. Da Handlungen durch Wahrnehmungsprozesse vorstrukturiert sind, wird anschliessend der unterrichtliche Wahrnehmungsprozess von Lehrpersonen beleuchtet. Abschliessend folgen Ausführungen zur Rolle der Reflexion als Modus der Transformation der stabilen impliziten Wissensstrukturen. Nach einer Zusammenfassung der theoretischen und empirischen Erkenntnisse sowie einer Begründung der Forschungsfragen in Kapitel 5 folgen in Kapitel 6 Ausführungen zum Forschungsdesign der vorliegenden Studie. Die Ergebnisse werden in Kapitel 7 dargestellt und in Kapitel 8 vertiefend diskutiert. Abschliessend werden in Kapitel 8 die Limitationen dieser Arbeit und die Implikationen für die Praxis sowie die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen aufgegriffen.