„[…] the mental model behind the NMS reform pilot was one of diversity rather than uniformity.”

(Westfall-Greiter & Hofbauer 2015, S. 127)

1.1 Entstehungshintergrund

Mit der systemweiten Einführung der Neuen Mittelschule (NMS) ab dem Schuljahr 2012/2013 hat sich aus Schulentwicklungsperspektive eine Systemintervention in der österreichischen Schullandschaft vollzogen, die es in dieser Form noch nicht gab. Insgesamt knapp 1.300Footnote 1 (vgl. Statistik Austria) vormalige Hauptschulen wurden über insgesamt acht Generationen und jeweils zwei Jahre (vgl. Westfall-Greiter & Hofbauer 2015, S. 127) systematisch auf nationaler Ebene begleitet. Insbesondere Schulleiterinnen und Schulleiter sowie eine ausgewählte Lehrperson des Kollegiums (neue Funktion: Lerndesigner/-in) wurden in bundesweiten Lernateliers (vgl. Kahlhammer 2012) durch forschungsgeleitete Ansätze und Konzepte mit einr neuen Lern- und Lehrkultur vertraut gemacht – einer Hinwendung zu einer „lernseitigen“ Herangehensweise (Agostini, Schratz & Risse 2018; Schratz 2009, S. 16 ff.) sowohl auf Unterrichts- als auch auf Schulentwicklungsebene. „Lernseitigkeit“ meint, eine Perspektive einzunehmen, die das Lernen der Schülerinnen und Schüler, aber auch jenes der Lehrpersonen bzw. Schulleiterinnen und Schulleiter, und weniger didaktische Interventionen in den Mittelpunkt stellt. Weitere Neuerungen auf Unterrichtsebene (vgl. Altrichter et al. 2015) sind das Aufheben der Leistungsgruppen sowie, damit einhergehend, Maßnahmen zur flexiblen Differenzierung (Schratz & Westfall-Greiter 2010; Hoffmann & Katstaller 2015). Eingebettet sind diese Veränderungen in ein neues Lern- und Lehrkonzept („rückwärtiges Lerndesign“, vgl. Wiggins & McTighe 1998), welches übergeordneten Zielsetzungen, orientiert an den Bildungsstandards sowie dem Lehrplan, forciert und in weiterer Folge Unterricht „vom Ende gedacht“ entwickelt. Ergänzt wird das Ganze durch erweiterte Formen der Leistungsrückmeldung (formative Leistungsrückmeldung) sowie eine neue Aufgabenkultur etwa nach dem Webb-Modell (vgl. Webb 1997). Strukturell wird diese Systemtransformation unterstützt durch die Einführung von Teamteaching-Stunden und einer neuen Teacher Leader Funktion – der/die Lerndesigner/-in. „Teamteaching“, so Bachmann, (2012) „ermöglicht ein verbessertes Eingehen auf die unterschiedlichen Begabungen in heterogenen Klassen (gezielte Fördermaßnahmen bei Teilleistungsschwächen und verstärkte Herausforderungen bei Leistungsstärken)“ (S. 809). Lerndesigner und Lerndesignerinnen sind „neben der Schulleitung die zentralen Personen für die Umsetzung des pädagogischen Konzepts der Neuen Mittelschule am Standort“ (Westfall-Greiter, Schratz & Hofbauer 2015, S. 44).

Somit setzen sich SchulleitungenFootnote 2 und neue Teacher Leader Funktionen (u. a. Lerndesigner) im Zuge der bundesweiten Begleitungsphase mit forschungsgeleiteten Fragen der Lern- und Lehrkultur auseinander und vertiefen dadurch ihr professionelles Selbstverständnis. Neben dieser intensiven Professionalisierung der Akteurinnen und AkteureFootnote 3 wurde ihnen an ihren Standorten die Möglichkeit gegeben, die Reformausgestaltung maßgeblich mitzugestalten:

„Innerhalb der Rahmenvorgaben sollte den Schulstandorten Platz für eigene Entwicklungen und Ausformungen eingeräumt werden, wodurch auch ihnen eine wesentliche Rolle in der Umsetzung der NMS zukam. Dies führte letztendlich dazu, dass eine bundesweite Entwicklungsbegleitung – unter starker Einbindung der NMS-Länderverantwortlichen – beauftragt wurde. Diese Initiative konnte die Standorte individuell bei ihrer Entwicklungsarbeit unterstützen und zugleich auch einheitliche, zentrale Umsetzungsideen gewährleisten. Parallel zur bundesweiten Entwicklungsbegleitung wurden auch in den einzelnen Bundesländern Unterstützung- und Entwicklungsbegleitungsmaßnahmen installiert. All dies spiegelt sehr gut wider, dass es sich bei der NMS um ein lernendes System handelt.“ (Petrovic & Svecnik 2015, S. 13).

Schulleiterinnen und Schulleiter sowie die gesamten Schulkollegien finden sich demnach in Spannungsfeldern zwischen eigener Ausgestaltung und systemweiten UmsetzungsstrategienFootnote 4 wieder. Neue autonome Räume werden ihnen eröffnet und eine Kultur der Diversität gefördert. Westfall-Greiter und Hofbauer beschreiben daher das Ausgangsmodell der Neuen Mittelschule wie folgt:

„[…] the mental model behind the NMS reform pilot was one of diversity rather than uniformity. This diversity reflects the tendency of schools to think and act locally, rooted in the federalist structure of compulsory education in Austria […]“ (Westfall-Greiter & Hofbauer 2015, S. 127).

Reformen mit Gestaltungsspielräumen nach dem Prinzip der Diversität folgen weniger einer Implementationslogik und sehen daher „Implementationstreue“, wie sie von Rolff (2012) im Prozess der Schulentwicklung gefordert wird, nicht unbedingt als zu erreichendes Ziel.

„Aus der Implementationsforschung wissen wir allerdings: Nichts wird so realisiert, wie es einmal geplant war. Aber nur wenn wir Beliebigkeit akzeptieren, brauchen wir überhaupt keine Planung. Deshalb muss sich Schulentwicklung um Implementationstreue bemühen. Zur Verbesserung der Implementationstreue gibt es einige methodische Ansätze. Der erste ist: Ziele klären und vereinbaren. Der zweite bezieht sich auf eine strikte Prozessorientierung. Und der dritte sorgt für Institutionalisierung bzw. Inkorporation. Daraus ergibt sich die Formel: Strategie vor Prozess vor Struktur.“ (S. 19).

Die Frage drängt sich auf, wem oder was hier die Treue gehalten werden soll, da unterschiedliche Logiken der Einzelschulstandorte unterschiedlich sein können. Forschungsergebnisse verweisen ebenfalls darauf, dass Reformumsetzungen bzw. Organisationsentwicklungsvorhaben, die Ziele formulieren, die den Akteuren sinnfrei erscheinen oder zu denen ihnen der Bezug fehlt, Vorhaben sind, die in der Regel scheitern (u. a. Kotter 2003; Gräsel & Parchmann 2004). Auch das Festhalten an einer strikten Prozessorientierung erscheint in einer agilen Organisationsumwelt nicht mehr zeitgemäß. Nichtsdestoweniger steht jede Reform vor dem Dilemma, Ermöglichungsräume für Akteure zu schaffen, ohne dabei der Willkür zu verfallen. Die daraus resultierenden Rahmenbedingungen, auf die auch Marti (2017) verweist, sorgen dafür, dass sich Schulleiterinnen und Schulleiter sowie Lehrkräfte zwischen engen VorgabenFootnote 5 und Unbestimmtheiten bewegen (vgl. S. 134), wenn es um Entwicklungsprozesse und/oder Umsetzungsbemühungen von Reformen geht.

Supovitz und Weinbaum (2008) bestätigen in ihrem Buch „The Implementation Gap“, dass „[…] a complex combination of individual, social and organizational characteristics interact and influence both the pace and content of program implementation” (S. 10). Ball, Maguire und Braun (2012) gehen in Anbetracht dessen weg vom Ausdruck der „Reformimplementation“ und sprechen sich für „Reform-Enactment“ aus:

„As Taylor et al (1997, p. 20) say of policy work in education, we need to observe politics in action, tracing however economic and social forces, institutions, people, interests, events and chance interact. Issues of power and interests need to be investigated.’ Thus, policy enactment involves creative processes of interpretation and recontextualization. […]. Policies rarely tell you exactly what to do, they rarely dictate or determine practice, but some more than others narrow the range of creative responses. […] policy texts are typically written in relation to the best of all possible schools, schools that only exist in the fevered imagination of politicians, civil servants and advisers and in relation to fantastic contexts. These texts cannot simply be implemented! They have to translated from text to action – put ‘into’ practice – in relation to history and context, with the resources available.” (S. 3).

Ball, Maguire und Braun schreiben provokant von „fevered imagination of politicans“, arbeiten jedoch einen wichtigen kritischen Punkt dabei heraus: Reformen müssen so gestaltet werden, dass den Einzelschulen die Möglichkeit bleibt, die Reformen mit ihrem lokalen Wissen und den dort herrschenden Bedingungen verknüpfen zu können. Eine abstrakte Vorstellung von Schule, für die eine Reform formuliert wird, muss dabei Adaptionsräume offen halten (eine Schule in einem Ballungsraum ist anders als eine in einer abgeschiedenen ländlichen Region), beiden wird aber die gleiche Reform zuteil. Orientiert man sich an dem Ausspruch von Rolff, so bedarf es Ziele, Prozesse und letztlich Institutionalisierungsverfahren – besonderd auf lokaler Ebene.

Wie beschrieben, hat auch die Neue Mittelschulreform, die der vorliegenden Arbeit ihre Handlungsrahmung gibt, ein solches Reformumsetzungsverständnis.

Bis dato wurden in Österreich kaum Untersuchungen durchgeführt, die den Einfluss dieser Reform auf das Handeln der betroffenen Akteure hat. Vereinzelte Qualifizierungsarbeiten setzten sich mit Länderperspektiven (NOESISFootnote 6), Teilaspekten wie der Professionalisierung der neuen Teacher Leader Funktion von Lerndesignern (vgl. z. B. Kahlhammer 2012) oder Unterrichtsaspekten (vgl. z. B. Muhr 2018) auseinander. Schulentwicklungsprozesse und Schulleitungshandeln im Reformprozess der Neuen Mittelschule wurden jedoch bis dato kaum untersucht. Im Kern beschäftigt sich diese Arbeit daher mit Schulleiterinnen und Schulleitern und ihrem responsiven Handeln während der Reformumsetzungsphasen ihrer Schulstandorte. Besonders sind hierbei die Strategien von Interesse, die sich Schulleiterinnen und Schulleiter zurechtlegen, wenn es um die lokalen Adaptionen und das Antwortverhalten ihrer Schulstandorte auf die institutionellen Ansprüche geht. Es lassen sich demnach zwei zentrale, übergeordnete Fragen formulieren, die für die Arbeit leitend sein werden:

  1. (1)

    Woran bzw. an wem orientieren sich Schulleiterinnen und Schulleiter bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Neuen-Mittelschulreform an ihrem Standort?

  2. (2)

    Wie respondieren Schulleiterinnen und Schulleiter in der Reformumsetzung – also auf Organisationsebene – auf ihre institutionelle Umwelt?

1.2 Erkenntnisinteresse

Schulen sind besondere Organisationen – Merkens (2011) spricht von „Organisationen mit pädagogischen Zielen“ (S. 25). Sie sind sowohl in ihren organisationalen Abläufen besonders, als auch auf besondere Weise von umweltlichen Vorgaben geprägt. „Das gilt insbesondere für die Organisationen mit pädagogischen Aufgaben, in denen ein öffentlicher Auftrag erfüllt wird, wie das bei Kindergärten oder Schulen der Fall ist“ (Merkens 2011, S. 25). Ausgehend von der Annahme, dass bei lokalen Adaptionen die Beziehung zwischen der Organisation und ihrer Umwelt eine zentrale Rolle einnimmt, baut die Arbeit auf forschungs-theoretischen Annahmen des Neo-Institutionalismus auf. „Der alte Institutionalismus richtet die Aufmerksamkeit auf formale und informale Handlungen, Muster der Einflussnahmen sowie auf Koalitionsbildungen zwischen Akteuren in Organisationen“, schreiben Walgenbach und Meyer (2008, S. 12), „während der Neoinstitutionalismus die Auswirkungen institutionalisierter Regeln und Erwartungen der Umwelt auf die Ausgestaltung von Organisationen thematisiert“ (ebd). Greenwood et al. (2008, S. 3ff) unterteilen die neo-institutionalistische Theoriebildung in mehrere Phasen: Grundlegung (1977–1983), frühe Entwicklungsphase (1983–1991), parallel dazu die Konsolidierungsphase (1983–1991), und die Expansionsphase (1991–2007). In der Erziehungswissenschaft wird der Theorie vor allem unter den Organisationspädagogen und -pädagoginnen in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit viel Aufmerksamkeit zuteil (Fend 2008; Koch & Schemmann 2009; Merkens 2011; Muslic 2017; Koch 2018). Zu den Hauptvertretern und -vertreterinnen zählen neben John W. Meyer und Brian Rowan, die 1977 mit „Insitutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony“ einen der beiden grundlegenden Texte verfassten, auch Lynn Zucker (1977) sowie Paul DiMaggio und Walter W. Powell (1983). Letztere untersuchten in ihrem Beitrag „The iron cage revisted: Institutional ismorphism and collective rationality in organizational fields“, wie Homogenität organisationaler Strukturen und Managementpraktiken zu erklären sind. Hierbei entwickelten sie das zentrale Analyseinstrument des Neo-Institutionalismus – das organisationale Feld. Ihrer Beobachtung nach ähneln Organisationen, die sich in einem organisationalen Feld befinden, durch die gesetzten Veränderungsprozesse der Akteure zunehmend einander. Diesen Ansatz auf Schulen und ihre Umwelten zu übertragen, wird ein zentraler Punkt dieser Arbeit sein. Weitere relevante Autoren und AutorinnenFootnote 7 für die vorliegende Forschung sind jene Forschende, die sich genauer mit dem Institutionenbegriff und in weiterer Folge mit Fragen der Legitimität im Kontext des Neo-Institutionalismus auseinandergesetzt haben. W. Richard Scott entwirft in seinem Beitrag „Institutions and Organisations“ (2001) ein Säulenmodell, das eine Beschreibung von unterschiedlichen Institutionen und ihren Logiken ermöglicht. Suchmann, dessen Beitrag „Managing legetimacy: Strategic and insititutional approaches“ (1995) ebenfalls als Standardreferenz für den Ansatz des Neo-Institutionalismus gilt, setzt sich mit dem Aspekt der Legitimität auseinander und beschreibt diese wie folgt: „Legitimacy is a generalized perception or assumption that actions of an entity are desirable, proper, or appropriate within some socially constructed systems of norms, values, beliefs, and definitions.” (S. 574). Neuere Entwicklungen im Bereich „institutionelle Logiken“, wie sie von Thornton, Ocasio und Lounsbury (2012) aufgegriffen werden, ergänzen die theoretische Auseinandersetzung. Walgenbach und Meyer übersetzen diese Definition u. a. wie folgt: „Eine Organisation wird als legitim betrachtet, wenn ihre Aktivitäten innerhalb gesellschaftlicher Werte, Normen, Vorstellungen und Festlegungen wünschenswert, richtig und angemessen erscheinen.“ (2008, S. 64). Die Einführung einer Reform, wie jene zur Neuen Mittelschule, bringt veränderte Ansichten und entwickelt daher mitunter Situationen, in denen Vorstellungen und Festlegungen für manche nicht mehr als wünschenswert oder angemessen erscheinen – wie Schulleiterinnen und Schulleiter damit umgehen, bildet wie bereits erwähnt ein Kernelement der vorliegenden Arbeit.

Ebenfalls bereits angesprochen, werden im Neo-Institutionalismus Umwelten als Felder beschrieben, in denen Institutionen mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen angesiedelt sind. Schulleiterinnen und Schulleiter sind hochgradig relevante Akteure, wenn es um die Entwicklung der Organisation Schule geht (Wissinger 2000; Rolff 2009; Bonsen 2010; Wissinger 2011; Schratz et al. 2016; Böse et al. 2018). Dies belegen auch Vorstudien, die im Rahmen dieser Arbeit an den untersuchten SchulenFootnote 8 durchgeführt wurden. Dabei wurden sieben der elf Schulen besucht und in den Qualitätsbereichen von Schulqualität AllgemeinbildungFootnote 9 (SQA) porträtiert. Mithilfe eines dafür entwickelten Instruments – EntwicklungsporträtsFootnote 10 – wurden unterschiedliche intra- und interorganisationale Personengruppen zu Schulentwicklungsprozessen der Einzelschulstandorte befragt. Tenor dieser Befragung war, dass Schuleiterinnen und Schulleiter maßgeblich die Entwicklungsprozesse an den Standorten gestalten. Zurückgehend auf die zentralen Fragen dieser Arbeit, kann festgehalten werden, dass sich auch Schulleiterinnen und Schulleiter als zentrale Akteure in institutionellen Kontexten bewegen. Ein Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit besteht darin, die subjektiv wahrgenommenen institutionellen Umwelten von Leitungshandelnden, in diesem Fall Schulleiterinnen und Schulleitern, darzustellen und die unterschiedlichen AnspruchsgruppenFootnote 11 zu beschreiben und das Antwortverhalten der Schulleitenden auf diese Gruppen nachzuzeichnen.

Die Arbeit zielt außerdem darauf ab, Erkenntnisse über AgentenschaftFootnote 12 von Schulleiterinnen und Schulleitern und deren Legitimationsquellen zu gewinnen. Aufbauend auf die Ausführungen von Suchmann zu Legitimation, ergänzen Meyer und Jepperson (2000), dass den

„in der Moderne legitimierten Akteuren die Fähigkeit zugeschrieben [wird], (1) im Verhältnis zu sich selbst (Agentenschaft für das Selbst) ebenso wie (2) im Verhältnis zueinander (Agentenschaft für andere) als ‚Andere‘ zu agieren sowie (3) für Einheiten, die selbst keine Akteure sind, und in den umfassenden kulturellen Rahmen (Agentenschaft für Prinzipien) zu handeln“ (nach Walgenbach & Meyer 2008, S. 127).

Wie eine Übernahme von unterschiedlichen Agentenschaften bei Schulleiterinnen und Schulleiter erfolgt, soll mit Hilfe empirisch fundierter Daten aus Interviews diskutiert werden. In diese Diskussion fließt auch die Frage nach einem Professionsverständnis von Schulleitenden ein. Aufgrund der historisch gewachsenen Strukturen von Schulleiterinnen- und Schulleiterrollen in Österreich erlebte das Professionsverständnis in den letzten Jahrzehnten einen starken Wandel (Schratz et al. 2015). Die neuen Anforderungen, die an Schulleitungen gestellt werden, auch wiederum in Zusammenhang mit der Neuen-Mittelschulreform, werden in die Überlegungen miteinbezogen.

Einher mit der Frage nach der Beziehung zur Umwelt und jener nach Legitimität, geht im Neo-Institutionalismus auch die Frage nach dem Umgang mit konfligierenden Anspruchsgruppen (vgl. Senge & Hellmann 2006, S. 19).

„Akteure befolgen Institutionen nicht nur deshalb, weil sie selbst keine Handlungsalternative sehen, sondern weil sie davon ausgehen, daß andere diese institutionalisierten Praktiken von ihnen erwarten.“ (Meyer 1977, S. 75 nach Meyer und Hammerschid 2006, S. 162)“.

Meyer und Hammerschmid (2006, S. 162 f.) ergänzen diese Annahme:

„Sie [Akteure] übernehmen die Vorgaben somit nicht notwendigerweise als unreflektierte, verinnerlichte Selbstverständlichkeit, sondern gehen mit ihnen durchaus auch bewußt und kalkulierend um. Sie signalisieren beispielsweise Übereinstimmung, koppeln aber gleichzeitig zentrale Tätigkeiten ab und schützen diese vor externer Evaluation […] da es zur Gewinnung von Legitimation oftmals ausreicht, den Anschein der Konformität zu erwecken.“

Gerade Schulen, die sich in starken Umbruchphasen befinden, etwa initiiert durch umfassende Reformen wie die Neue-Mittelschulreform, sehen sich mit vielen neuen Vorgaben konfrontiert. Schulleiterinnen und Schulleitern kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu – gemeinsam mit den Lerndesignerinnen und Lerndesignern sind sie es, die aus erster Hand erfahren, welche Neuerungen kommen und es wird ihnen die Verantwortung zuteil, diese Neuerungen in ihre Schulen zu tragen. Sie interpretieren und deuten die Neuerungen kontextspezifisch. Die nähere Betrachtung von Kontextfaktoren erfährt in der Schulleitungsforschung in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit (vgl. Hallinger 2003; Schwarz & Brauckmann 2015). Auch Ball, Maguire und Braun (2012, S. 19) betonen, dass der Kontext im Zuge von Reformumsetzungen ernstgenommen werden sollte:

„Policies enter different resource environments; schools have particular histories, buildings and infrastructures, staffing profiles, leadership experience, budgetary situations and teaching and learning challenges […] and the demands of contexts interact.”

Für Ball, Maguire und Braun (2012). spielen sich Kontexte in den folgenden Bereichen ab:

  • Situated contexts (e.g. locale, school histories and intakes)

  • Professional cultures (e.g values, teacher commitments and experience and ‘policy management’ in schools)

  • Material contexts (e.g. staffing, budget, buildings, technology and infrastructure)

  • External contexts (e.g. degree and quality of LA support; pressures and expectations from broader policy context such as Ofsted ratings, league table positions, legal requirements and responsibilities. (S. 21)

Zwar beschreiben die Autorinnen unter der Kategorie „external contexts“ Teilaspekte der institutionellen Umwelt, gehen darauf jedoch nicht näher ein. Kontexte, explizit verstanden als institutionelle Umwelten, bleiben unbesprochen. Institutionelle Umwelten, bestehend aus unterschiedlichen Anspruchsgruppen, wie etwa Schulaufsicht oder Fort- und Weiterbildungsinstitute, interpretieren und deuten ebenfalls die neuen Inhalte von Reformen (vgl. Rößler & Kemethofer 2018). Diese Anspruchsgruppen mit unterschiedlichen Logiken stellen somit Erwartungshaltungen an die Organisation und gestalten dadurch Kontexte. Diese Erwartungen können unterschiedlich sein – Schulleiterinnen und Schulleiter bewegen sich in diesem Spannungsfeld und müssen mit diesem umgehen. Hasse und Krücken erläutern hierzu, dass sich

„Institutionen […] als übergreifende Erwartungsstrukturen definieren [lassen], die darüber bestimmen, was angemessenes Handeln und Entscheiden ist. Damit Institutionen wirken können, müssen die Beteiligten allerdings um diese Erwartungen wissen, und sie müssen annehmen, dass auch andere mit diesen Erwartungen vertraut sind.“ (Hasse & Krücken 2005, S. 15)

Akteure – in der vorliegenden Arbeit Schulleiterinnen und Schulleiter – reagieren also auf (vermeintliche) Erwartungen, was Veränderungsprozesse anleitet und sich auch in bestimmten Handlungen niederschlägt. Um diese Handlungsebene zu berücksichtigen, soll die vorliegende Arbeit durch theoretisch fundierte Erkenntnisse aus der Change-Managementforschung (Agyris und Schön 1976; Kotter 2003; Czarniawksa & Joerges 1996; Cunha & Cunha 2018) sowie der responsiven Organisationsforschung (vgl. Althans und Engel 2017; Ortmann 2010, 2017) erweitert werden. „Eine responsive Organisationsforschung interessiert sich dementsprechend für Transformations- und Tradierungsprozesse von Organisationen als Handlungssystem in ihrem (Spannungs-)Verhältnis zu Institutionen, d. h. zu gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen.“ (Althans & Engel 2016, S. 3). Zwar nähern sich die Schulen alle in einer bestimmten Form den Vorgaben der neuen Reformen an, doch nichtsdestoweniger vollziehen manche Schulen den Wandel schneller als andere (vgl. Green & Higgens 1996). Auch variieren Schulen in ihrem Antwortverhalten auf diese neuen Vorgaben. Mit Hilfe dieser Arbeit soll auch untersucht werden, welche Ursachen, Gründe und Begründungen dafür existieren.

1.3 Argumentationsgang der Arbeit

Der Argumentationsgang der Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Während Kapitel eins zugleich Einleitung und Rekontextualisierung der vorliegenden Forschungsarbeit ist, widmen sich Kapitel zwei und drei der theoretischen Rahmung. Schulleitungshandeln, betrachtet im „Zangengriff“ (Böttcher & Terhart 2004, S. 9) unterschiedlicher Institutionen mit teils konfluierenden Ansprüchen, bietet den Ausgangspunkt für eine theoretische Auseinandersetzung mit Umsetzungsprozessen und Schulentwicklungsvorhaben an einzelnen Schulstandorten – aber auch in BildungsregionenFootnote 13. Orientiert an den Theorien des Neo-Institutionalismus, mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Legitimitätsquellen, derer sich Schulleiterinnen und Schulleiter bei Schulentwicklungsvorhaben bedienen, wird ein theoretisches Grundgerüst erarbeitet, aus dem sich fünf Unterthesen zur übergeordneten Leitfrage (1) ableiten. Wie im vorangegangenen Teil beschrieben, werden Schulleiterinnen und Schulleiter in ihrem institutionellen Kontext dargestellt. Vorwegnehmend lassen sich die folgenden Thesen herausarbeiten, die für die weitere kategoriegeleitete Analyse der empirischen Daten leitend sind:

  1. 1.

    Schulleiter/-innen agieren in Organisationen, die besondere Merkmale haben und sich daher von anderen Organisationen (z. B. Wirtschaftsunternehmen) unterscheiden.

  2. 2.

    Schulleiter/-innen nehmen ihren Standort und dessen institutionelle Umwelt unterschiedlich wahr.

  3. 3.

    Institutionelle Umwelten von Schulen und daher auch Handlungsfelder von Schulleitern und Schulleiterinnen, charakterisieren sich wie folgt:

    1. 3.1.

      Institutionelle Umwelten der Organisation Schule setzen sich aus unterschiedlichen Anspruchsgruppen zusammen, bei denen sich unterschiedliche Handlungslogiken zeigen.

    2. 3.2.

      Institutionen können unterschiedliche Logiken aufweisen und dem entsprechend unterschiedliche institutionelle Erwartungshaltungen, z. B. bei Reformumsetzungen zur Folge haben.

Ebenfalls im zweiten Kapitel wird mit Hilfe von neo-institutionalistischen Zugängen erörtert, wie sich die Rolle von Schulleiterinnen und Schulleitern in Österreich zeigt (4), bzw. welche unterschiedlichen Agentenschaften Schulleitungen übernehmen. Dabei wird zum einen noch einmal gesondert auf die professionsspezifischen Orientierungsmöglichkeiten Bezug genommen (4.1), zum anderen wird die These formuliert, dass sich Schulleitende in ihren Akteursverständnissen unterscheiden (4.2). Letztgenannte These versteht sich auch als Ergebnis der unterschiedlichen Akteursverständnisse innerhalb der neo-institutionalistischen Zugänge. Die Ausgestaltung der Rolle des/der Schulleiter/-in als „Institutional Entrepreneuer“, im Sinne eines Führungsverständnisses in der institutionellen Umwelt, wird gesondert thematisiert. Neben der eigenen Wahrnehmung werden auch Anspruchsgruppen im Kontext von Legitimierungsprozessen nach neo-institutionalistischem Verständnis diskutiert (4.3).

  1. 4.

    Das Verständnis von Schulleitung bzw. die Agentenschaft dieser Funktion kann unter-schiedlich interpretiert werden. Schulleiterinnen und Schulleiter antworten verschieden auf ihre Umwelten und adressieren unterschiedliche Anspruchsgruppen.

    1. 4.1.

      Für Schulleiterinnen und Schulleiter gibt es in Österreich wenig professionsspezifische Orientierungsmöglichkeiten z. B. innerhalb einer eigenständigen Professionsvertretung.

    2. 4.2.

      An wem sich ein/-e Schulleiter/-in hinsichtlich seines/ihres eigenen Akteurs-Verständnisses orientiert, unterscheidet sich im Vergleich zu anderen Leiter/-innen.

    3. 4.3.

      Die Gewichtung der bzw. die Orientierung an bestimmten Anspruchsgruppen erfolgt durch die Schulleiter/-innen. Dadurch wird auch die Schulentwicklung der Schule mitbeeinflusst.

Der Leitfrage (2) widmet sich Kapitel drei. Organisationen und ihre Akteure respondieren auf Ansprüche ihrer institutionellen Umwelt – Schulleiterinnen und Schulleitern kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Ansprüche, wie etwa Reformen, bedeuten vielfach Wandel und Veränderung innerhalb der Organisation – Schulleitende sind mit deren Umsetzung konfrontiert und müssen dementsprechend handeln (5). Wie Veränderung dabei wahrgenommen wird, kann unterschiedlich sein (5.1). Mit den unterschiedlichen Ansprüchen an Schulen im Verlauf der letzten vier Dekaden wurden entlang der verschiedenen Reformen auch unterschiedliche (Steuerungs-)Logiken weitergegeben. So haben sich in den vergangenen Jahrzenten unterschiedliche Handlungsparadigmen im Schulleitungskontext abgezeichnet (vgl. Schratz et al. 2015). Eine weitere These greift diese Entwicklungslinien auf, indem sie das Antworten von Schulleiter/-innen auf Ansprüche der institutionellen Umwelt mit deren Leitungslogiken verknüpft (5.2). Die letzte Hypothese (6) greift den Akt des Respondierens auf und setzt diesen noch einmal im Bezug zu unterschiedlichen Leitungslogiken (6.1) bzw. zu daraus resultierenden Entwicklungs- und Umsetzungsstrategien (von Reformen) an den Einzelschulstandorten (6.2).

  1. 5.

    Schulleiter/-innen werden im Rahmen ihrer Leitungsfunktion damit konfrontiert, Veränderungen in der Organisation durchzuführen, z. B. Reformen umzusetzen.

    1. 5.1.

      Veränderungsprozesse werden dabei von Schulleiter/-innen als inkrementell oder fundamental wahrgenommen.

    2. 5.2.

      Bei der operativen Umsetzung zeigen sich unterschiedliche institutionelle Rahmungen/Logiken (vgl. Matrix 1.0, 2.0, 3.0, 4.0).

  2. 6.

    Schulleiter/-innen respondieren in ihrer Agentenschaft auf Ansprüche ihrer Umwelt

    1. 6.1.

      mit entsprechendem Führungshandeln

    2. 6.2.

      mit entsprechenden Entwicklungsmaßnahmen innerhalb der Organisation.

Das vierte Kapitel beschreibt den empirischen Teil der Qualifikationsarbeit. Eine umfassende Reflexion und Darstellung der Methode sowie die inhaltsanalytische Herangehensweise (u. a. Kuckartz 2012, Schreier 2014) werden bei der Auswertung der Ergebnisse dargelegt. Die theoriegeleiteten Thesen der Arbeit werden mit Hilfe einer qualitativen Untersuchung explorativ überprüft und durch eine darauf folgende induktive Codierungsphase erweitert. Hierzu wurden episodische Interviews (n = 11) (Flick 1995, 2011) mit Schulleiterinnen und Schulleitern durchgeführt. Um respondierendes Leitungshandeln abbilden zu können, erfolgt eine Orientierung am Responsivitätsmodell nach Gärtner et al. (2017), welches mittels neo-institutionalistischer Zugänge sowie ausgewiesenen Erweiterungen operationalisiert wird.

Mit Hilfe kontrastiver Falldarstellungen werden unterschiedliche prototypische Zugänge von Schulleitenden in ihrem Antwortverhalten auf die Neue-Mittelschulreform rekonstruiert.

Im abschließenden fünften Kapitel werden die Ergebnisse entlang der beiden Leitfragen diskutiert und interpretiert. Weiters werden die Grenzen und Chancen der vorliegenden Qualifikationsarbeit aufgezeigt, bevor eine Gesamtbilanz gezogen und ein Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen gegeben wird.