Zu Beginn dieser Untersuchung beschäftigte mich die Frage, was die Interagierenden eigentlich tun, wenn sie Unterrichtsstunden nachbesprechen und was als das Belastende in diesen Nachbesprechungen auftaucht.

In meiner Studie konnten als Folge zweier übergeordneter Instanzen verschiedene Ansprüche und ihr Zusammenwirken während der UNB (mit der Beteiligung der Referendar:innen als dritter kommunikativer Instanz) aufgezeigt werden.

Die Rekonstruktion der in der UNB-Interaktion deutlich werdenden Positionierungen des Fachleiters und der Referendarin zeugen auf beeindruckende Weise davon, wie widersprüchlich die jeweiligen Rahmungen der Beteiligten nebeneinander existieren und damit die Kommunikation stören. Weitere Störungen ließen sich mit der Metaphernanalyse der Gruppendiskussion aufspüren. Auch hier fallen die Rahmungen der Referendar:innen anders aus, als es die kommunikativen Instanzen der Ausbildungsverordnung und der pädagogischen Konzepte der ausbildenden Institutionen erwarten lassen.

12.1 Was folgt?

Am Ende dieser Arbeit bleiben vor dem Hintergrund des Forschungsanliegens die Aspekte zu nennen, die im Rückblick auf die beschriebene Gemengelage und die wahrgenommenen Belastungen der UNB als besonders erwähnenswert scheinen:

  1. 1.

    die Noten und ihre enorme Einflussnahme auf die Interaktion während der UNB,

  2. 2.

    der Sinn vermeintlich dysfunktionaler Kommunikation seitens der Fachleitungen,

  3. 3.

    die Forderung nach größerer Transparenz für die unterschiedlichen Rahmungen der UNB

12.1.1 Die Notengebung

Ohne die verschiedenen Ansprüche, die an die Ausbildung und damit auch und besonders an die UNB erhoben werden, hier im Einzelnen nochmals darstellen zu wollen, ist ein Aspekt in allen Daten wiederkehrend als besonders wirksam hinsichtlich seiner Einflussnahme auf die Interaktion der UNB identifiziert worden – die Benotung der Unterrichtsbesuche im Anschluss an die UNB. Diese Beobachtung ist an sich vielleicht nicht so überraschend. Die Tatsache, dass eine Bewertung und allemal eine Benotung Einfluss auf das Interaktionsgeschehen der Beteiligten nimmt, ist spontan einleuchtend. In welchem Ausmaß dies geschieht und dass dies auch in dem „eigenverantwortlich zu leistenden Professionalisierungsprozess“ (Gebauer 2021: 3) in der Lehrer:innenausbildung zu beobachten ist, konnte in dieser Untersuchung eindeutig gezeigt werden.

Versuche, dem Problem der Benotung im VD zu begegnen, existieren bereits:

  • Innerhalb der ausbildenden Institutionen gibt es jene wie das ZfsL Münster, denen das Spannungsfeld von Beratung und Beurteilung bewusst ist und die dieses aufzulösen versuchen (s. Abschn. 3.4.1). Als benotungsfreie Anteile innerhalb einer UNB werden neben der Positivrunde allerdings nur das Ende der UNB mit dem Aufzeigen weiterer Entwicklungsschritte und das Feedback zum Gesprächsverlauf ausgewiesen. Gerade aber die Reflexion zur eigenen Unterrichtsstunde, die von den LAA eindeutig als Leistungssituation wahrgenommen wird, bleibt hiervon unberücksichtigt. Somit sind diese Vorschläge zwar vor dem Hintergrund eines wesentlichen Problems formuliert, treffen aber mit ihrer Lösung nicht den eigentlichen Kern des Problems.

  • Das schweizerische Konzept der Selbstlernarchitektur Wranas (2008:) nimmt den Gedanken der Notengebung in der Lehrerausbildung kritisch auf und schlägt als Konsequenz eine „Lernberatung“ (ebd.: 81) vor, die es den Auszubildenden ermöglicht, in Auseinandersetzung mit Ausbilder:innen diejenigen Selbstlernkompetenzen auszubilden, die bei der Ausbildung künftiger Lehrer:innen sonst immer schon vorausgesetzt werden. In diesem dialogischen Verfahren, das eindeutig als Lern- und nicht als Leistungssituation konzipiert ist, könnte in der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand die eigene Position im Hinblick auf die persönliche Professionalisierungskompetenz festgestellt werden. Inwieweit dieser Vorschlag auf die zweiphasige deutsche Lehrerausbildung übertragbar ist, bleibt fraglich.

  • Der Gedanke, den VD von seiner Notenlast zu befreien und damit echte Lernchancen während der Ausbildung zu ermöglichen, ist auch hierzulande nicht neu. So plädiert Bovet (1999: S. 38 ff.) für eine veränderte Form der UNB als Beratungsform ohne jede Benotung. Das bisherige Prüfungsverfahren am Ende der Ausbildung, so Bovet (1999: 97),

    „... führe dazu, dass die Beratung mit Blick auf die Lehrproben [das sind die Abschlussprüfungen am Ende der Referendarzeit, A.B.-H.] und das dafür Notwendige erfolgt, nach Wunsch der Referendare auch so erfolgen soll, weil sie ja hinreichend präpariert werden möchten. (...) Dieser Anpassungsdruck, der von den Prüfungen ausgeht, macht sich unter Umständen schon beim ersten beratenden Unterrichtsbesuch bemerkbar.“

    Ob der Gedanke an eine veränderte Prüfungsform eine politische Zukunft hat, ist zurzeit nicht absehbar. Es scheint vielmehr der politische Wille darin zu bestehen, mögliche Hemmnisse der Ausbildung durch die Weiterqualifizierung der Fachleitungen abzubauen (s. Abschn. 12.1.2).

12.1.2 Der Sinn vermeintlich dysfunktionaler Kommunikation

Wenn hier im Zusammenspiel der Interaktion zwischen Fachleitungen und Auszubildenden an mehreren Stellen darauf verwiesen wird, dass (vor allem im Bereich der Gesprächsführung) die jeweiligen Erwartungen und Rahmungen im Widerspruch zueinander stehen, so ließe sich die Frage stellen, wieso diese Widersprüche, sobald sie bemerkt werden, von denen, die im Feld professionell agieren, nicht aufgelöst werden? Als Erklärung für das Fortbestehen der erkannten Widersprüche müsste es Gründe geben, die nach Gülich (1981: 443) diese Kommunikationsform nicht als dysfunktionale Kommunikation kategorisieren, sondern aufzeigen, dass sie „andere Funktionen“Footnote 1 als die kommunizierten besitzen.

Auf Seiten der Ausbilder:innen und auch derer, die die Ausbildungskonzepte zu vertreten haben, lassen sich folgende Funktionen vermuten:

  1. 1.

    Die eingenommene Haltung, die die humanistische Psychologie fordert, ist insgesamt menschenfreundlich und damit attraktiv für die Ausbilder:innen, die sich selbst einer Reihe von Ansprüchen im Ausbildungskontext ausgeliefert finden.

  2. 2.

    Die Ausbildungskonzepte der ZfsL, die sich inhaltlich hinsichtlich der geforderten Autonomie eines erwachsenen Lernenden alle ähneln, haben damit eine Rahmung festgelegt, auf der sich alle Ausbilder:innen relativ problemlos einigen können.

    Sie dient damit als Orientierung, die auch nach außen als Konzepte der ZfsL leicht vertreten werden können. Auch als Fortbildungsinhalte dienen sie anderen Institutionen zur Vorbereitung auf das Amt der Fachleitung. Zu nennen wäre hier beispielsweise die verpflichtende Fortbildung für Neufachleiter:innen, die das Landesprüfungsamt in Dortmund durchführt.Footnote 2

  3. 3.

    Das Bild vom erwachsenen Lerner entlastet schon inhaltlich die Beratungskommunikation. Die Referendar:innen gelten schließlich als verantwortlich für ihren eigenen Professionalisierungsprozess. Inhaltliche Aussagen, Korrekturen oder gar Kontroversen von außen können nur schwerlich reklamiert werden.

  4. 4.

    Formen von konfrontierender Interaktionen werden ausgeblendet, was sowohl die gesamte Interaktion während der UNB und sicher auch die Ausbilder:innen selbst in ihrer Rolle entlastet.Footnote 3

Die hiermit beschriebenen Funktionen sollen nicht als Vorwurf verstanden werden in dem Sinne, dass Fachleitungen mit der UNB einen falschen Eindruck von ihrer Tätigkeit vermitteln wollen. Goffman (2017: 60) geht davon aus,

„daß es kaum einen gewöhnlichen Beruf oder eine Beziehung gibt, deren Darsteller nicht auf verborgene Handlungen zurückgreifen, die mit dem hervorgerufenen Eindruck unvereinbar sind.“

Damit ist angedeutet, dass es sich mit dem hier beschriebenen Verhalten und kommunikativen Strategien nicht um eine „falsche Darstellung“ im Gegensatz zu einer anderen, richtigen (vielleicht kontroverseren) Darstellungsweise handelt. Für Goffman ist die Vermeidung von völlig offenen und unverdeckten Darstellungen des eigenen Handelns besonders verständlich, je „mehr Angelegenheiten berührt werden und je mehr Rollen mit einer Beziehung verknüpft sind, …“ (ebd.). Allerdings ist es unübersehbar, dass diese Darstellungen nicht nur die anderen (die Referendar:innen), sondern auch die Darstellenden (die Ausbilder:innen) schützen.

12.1.3 Größere Transparenz für die unterschiedlichen Rahmungen der UNB

Am Ende meiner Untersuchung bin ich der Überzeugung, dass die hier vorgenommene mehrperspektivische Sicht auf den Vorbereitungsdienst insgesamt, allemal aber für die Situation der UNB, die Probleme innerhalb der Lehrerausbildung klarer erkennen lässt. Mit den Worten Goffmans (2017) lassen sich die existierenden Ausbildungskonzepte als Idealisierungen beschreiben. Es entsteht damit der Eindruck, dass im „Vordergrund“ (ebd.: 217) der Ausbildung eine „Aufführung“ stattfindet, die beispielsweise mit Regieanweisungen für den autonomen Lerner arbeitet. Im für das Publikum uneinsehbaren „Hintergrund“ der Bühne wird diese Art der Darstellung vorbereitet. Die gesamte Veranstaltung hat dabei die Funktion einer „Eindrucksmanipulation“ (ebd.: 219).

Manipuliert werden muss einerseits der Eindruck von Macht, wie er sich beispielsweise in der Form der Beratung und in der Benotung ausdrückt und die gesellschaftlich auf Widerstand stoßen könnte. Ein probates Mittel der Manipulation besteht darin, den „kommunikativen Kontakt mit dem Publikum einzuschränken“ (ebd.: 220), also nicht über die Aktivitäten im Hintergrund der Bühne zu sprechen.

Andererseits manipulieren die Auszubildenden ihre Ausbildungssituation. Im Bewusstsein darüber, dass sie einer ständigen Leistungsperformanz unterstehen, bemühen sie sich um eine Positionierung als erfolgreiche Lehrkräfte im Lichte der antizipierten Erwartungen (die UNB ist eine PRÜFUNG). Gleichzeitig haben sie den Wunsch, aus der UNB einen inhaltlichen Nutzen zu ziehen, etwas MITZUNEHMEN.

Was kann Transparenz im Zusammenhang mit der Lehrer:innenausbildung bedeuten? Transparenzerwartungen sind in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens stark verankert. Der Idee der transparenten Gestaltung von Ausbildungsprozessen innerhalb der Lehrerausbildung stehen viele Institutionen entsprechend affirmativ gegenüber.Footnote 4 Die Hoffnungen, die auf die öffentliche Darstellung des Systems zielen, gründen sich, so Ringel (2019: 115) auf die erwartete Möglichkeit einer „weitreichenden Einsehbarkeit“ und damit auf die „Legitimität, Kontrollierbarkeit und Effizienz“ gesellschaftlicher Strukturen. Ringel zufolge sind diese Erwartungen an das „Transparenzideal“ (ebd.: 114) allerdings unbegründet. Sie scheinen auch mir in dieser Form überzogen zu sein.

Eine Idealisierung hat nach Goffman neben der Funktion, beim „Publikum“ den gewünschten Eindruck zu erwecken, zusätzlich den Effekt, den auch Foucault innerhalb seiner Gouvernementalitätsdebatte (allerdings mit deutlich kritischerem Unterton als Goffman) benannt hat. Für Goffman (2017: 220), und hier zitiert er die Ausführungen C. Cooleys, kann als weiterer Effekt der Idealisierung in der Selbstkonstituierung des idealisierenden Subjekts gesehen werden: „Versuchten wir niemals, ein wenig besser zu scheinen, als wir sind, wie könnten wir uns dann bessern oder uns selbst von «außen nach innen erziehen»“? Dieser Effekt kann umso eindrucksvoller wirken, je größer der „Glaube an die eigene Rolle“ (ebd.: 19) ist, d.h. je vollständiger der Einzelne „selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet.“ Damit hat das Spiel auf der Vorderbühne den positiven Effekt, Ausbilder:innen im Sinne der veröffentlichten Statuten eine Haltung gegenüber den LAA einnehmen zu lassen, die für die Ausbildung sicherlich günstiger ist, als es eine zu fordernde Haltung hätte.

Damit scheint auch der Vorwurf an die Fachleitungen ins Leere zu laufen, der ihnen die Verantwortung für die empfundene Belastung während der UNB zuschreibt.Footnote 5

Die anderen Darsteller, die von ihrer eigenen Rolle weniger überzeugt sind, sind für Goffman diejenigen, die „das Spiel durchschauen.“ Nun bin ich als Autorin dieser Studie sicher nicht in der Lage, das ganze Spiel zu durchschauen, schon allein deswegen nicht, da mir nur Teile des Spiels bekannt sind. Ein Punkt, um den es mir bei der kritischen Darstellung ausbildungsdidaktischer Grundannahmen geht, ist der, die „rationalisierten Mythen“ (ebd.: 117) als Ursache von Handlungsproblemen und -irritationen, wie sie in der Ausbildungskommunikation nachgewiesener Maßen auftreten, offenzulegen und sie damit einer neuen Reflexion zuzuführen. Allerdings sollte mit einem so hergestellten distanzierten Blick nicht etwa die Hinterbühne für alle geöffnet werden und damit die Praxis der Interaktionsgestaltung als Idealisierung „entlarvt“ werden. Vielmehr soll die Möglichkeit gegeben werden, unbeachtet und im Schutz der Hinterbühne die eigenen Handlungen neu zu überdenken und damit die Vorderbühne ggf. neu zu gestalten.

Was folgt daraus?

  • Ein erster Schritt könnte auf der Grundlage der hier angestellten Untersuchung darin bestehen, die Ausbildung deutlich differenzierter an die jeweiligen Ausbildungsbedingungen der einzelnen Referendar:innen anzupassen.

    Gemessen an einem angenommenen Kontinuum zwischen angezielter Autonomie und gewünschtem Unterstützungsbedarf (über die Begriffe ließe sich streiten) könnte ein erster Schritt für die Beratung nach einer Besuchsstunde darin bestehen, dass Referendar:innen wählen, welche Art von Beratung sie sich für den nachfolgenden Prozess vorstellen. Nolle (2021) schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass die Ausbilder:innen die angehenden Lehrkräfte während der Ausbildung dazu qualifizieren sollten, „den Grad ihrer aktuellen Selbstbestimmung im Lernprozess bewusst wahr(zu)nehmen“ (ebd.: 42).

    Eigene erste Erfahrungen zeigen, dass Referendar:innen, wenn Ihnen die Möglichkeit gegeben wird, gerne entscheiden, welche Art von Beratung sie wünschen. Meiner Ansicht nach bestünde kaum die GefahrFootnote 6, dass sich die Referendar:innen in einem Akt der Selbstüberschätzung kritikfähiger kennzeichneten als sie es eigentlich sind. Denn als Korrektiv zur Selbstaussage blieben, wie in Kap. 7 und 8 gezeigt werden konnte, immer noch die beobachtbaren Positionierungen der LAA, die interaktiv hergestellt nicht verborgen bleiben.

  • Würde nicht länger ein idealisierter Autonomiebegriff als Grundlage der Ausbildung vorausgesetzt werden, der schon aus strukturellen Gründen, die beispielsweise aus der Benotung resultieren, im Ausbildungsdiskurs problematisch ist, könnte stattdessen ein Bewusstsein darüber entstehen, dass die Referendar:innen eine eigene Rahmung für ihre Ausbildung besitzen.

    Neben der Wahrnehmung der UNB als PRÜFUNG existiert die Rahmung des MITNEHMENS. Das Konzept des MITNEHMENS könnte zumindest stellenweise als Ausgangspunkt genutzt werden, um Bedingungen des Wissenstransfers im VD zu reflektieren. In welcher Form kann hier Wissen weitergegeben werden und an welchen Stellen ist dies aus Gründen der Ungewissheit und Unbestimmtheit von Lernprozessen (vgl. Abschn. 9.2.2) so nicht möglich? Damit käme der Beratungssituation eine veränderte Bedeutung zu. Anstatt als Fachleitung der voraussetzungsreichen Rahmung der ersten beiden kommunikativen Instanzen mit dem Konzept des autonomen Lerners und einer sich daran orientierenden Gesprächsführung konsequent verpflichtet zu fühlen, könnten und sollten auch die Rahmungen der Auszubildenden berücksichtigt werden. Ohne dabei durchgängig als GEBER im Beratungsprozess betrachtet zu werden, wäre ein gemeinsamer Austausch über inhaltliche Anliegen möglich. Dabei könnte gemeinsam nach Lösungen und Orientierungen für das unterrichtliche Handeln gesucht und Grenzen der Beratung aufgezeigt und offensiv vertreten werden.

  • Schließlich könnten die Belastungen im Referendariat auch dadurch erheblich reduziert werden, dass man die Verkürzung der Ausbildungszeit (von 24 auf 18 Monate bei gleichzeitiger erhöhter Unterrichtsverpflichtung von 12 auf 14 Stunden bei gleichbleibender Anzahl von Unterrichtsbesuchen) rückgängig macht. Damit erhielten die Referendar:innen mehr Zeit zwischen den einzelnen UB, um Ausbildungsinhalte und Anregungen besser zu vertiefen.