Die Ergebnisse der Datenanalysen werden zunächst innerhalb der einzelnen kommunikativen Instanzen aufgezeigt.

Auf der Ebene der Referendar:innen (11.1) werden folgende Ergebnisse dargestellt:

  • die Bedeutung der Benotung für die Reflexion der Referendar:innen,

  • geäußerte Wünsche zur Gesprächsführung (der Forderung nach „Klarheit“) während der UNB,

  • das Mitnehmen von Wissensbeständen,

  • die Ablehnung der Schüler:innenrolle

Auf der Ebene des MSW (11.2) werden in knapper Form die wesentlichen Grundsätze des Ausbildungsrahmens zusammengefasst. Vor diesem Hintergrund werden anschließend die Ergebnisse auf der Ebene der Fachleitungen (11.3) mit den Schwerpunkten

  • der Gesprächsführung und

  • des autonomen Lerners

dargestellt.

11.1 Die Referendar:innen

Die Ergebnisse aus der Perspektive der Referendar:innen stützen sich auf die Daten der videographierten UNB, dem Nachträglich Lauten Denken zu dieser Videographie und der Gruppendiskussion eines Kernseminars.

11.1.1 Die Bedeutung der Benotung

Vergleicht man die Ergebnisse aus der Gruppendiskussion mit den Kommentaren der Referendarin zu der videographierten UNB, ergeben sich einige Parallelen.

Es zeigt sich, dass das Bewusstsein darüber, sich mit Beginn der UNB in einer Leistungssituation zu befinden, deutliche Auswirkungen schon am Anfang der UNB auch auf die eigene Reflexion hat. Die Referendarin, so ein Ergebnis ihres Nachträglich Lauten Denkens, orientiert sich schon während ihrer Reflexion zur gezeigten Unterrichtsstunde an den Reaktionen des Fachleiters. Sie beschreibt diese Situation mit der Metapher „eine drohende Gewitterwolke naht sich“, mit der sie ihre Sorge darüber zum Ausdruck bringt, dass ihre Reflexion (oder zumindest Teile davon) zu einem späteren Zeitpunkt vom Fachleiter kritisiert und damit auch negativ benotet werden könnte. Das Wissen, dass sich die Kritik häufig schon früh ankündigt, lässt die Referendarin voller Spannung ihre Reflexion formulieren, stets bereit, auf mögliche Anzeichen ihres Gegenübers zu reagieren.

Hier liegt eine deutliche Gemeinsamkeit mit allen anderen Auszubildenden vor. Die Referendar:innen schildern in der Gruppendiskussion, dass sie mit Spannung die Einschätzung der gezeigten Unterrichtsstunde durch die Fachleitungen erwarten. Sie beschreiben diese Situation als PRÜFUNG, bei der es darauf ankomme, möglichst die Aspekte der gezeigten Unterrichtsstunde zu benennen, die auch die Fachleitungen als die relevanten Aspekte des Unterrichts identifizieren und über die im weiteren Verlauf der Beratung zu sprechen sein wird. Diese als PRÜFUNG erlebte Phase der UNB gilt für die Referendar:innen als großes Hemmnis in der Interaktion mit den Fachleitungen. Anstatt offen und ehrlich über eigene Planungsentscheidungen zu reden, bemühen sie sich schon früh zu antizipieren, welche Sicht die Ausbilder:innen auf ihre Unterrichtsstunde haben. Um sich mit der eigenen Reflexion möglichst in die Nähe der antizipierten Fremdsicht zu positionieren, werden die eigenen Planungsideen und -entscheidungen, die den Kern der Reflexion ausmachen sollten, vernachlässigt. Innerhalb der Gruppendiskussion kommt es deshalb zu dem Vorschlag, die Reflexion aus der sonstigen Bewertung der Unterrichtshospitation herauszuhalten.

11.1.2 Die Gesprächsführung

Gar nicht passen will das Bild von der als „drohendes Gewitter“ erwarteten Kritik zu dem tatsächlich gezeigten Gesprächsverhalten des Fachleiters während der UNB. Anders als man vielleicht erwarten würde, beschreibt die Referendarin die Kritik in der nachfolgenden Beratung nicht mit der zuvor von ihr verwendeten Wettermetaphorik. Sie charakterisiert die Redeweise ihres Ausbilders als unangemessen paternalistisch. Die Verwendung des Sprechergruppenplurals in der Äußerung „wir schauen dann mal“ entlarvt sie als eine Art pädagogischer Strategie, mit der sie sich wie eine Schülerin behandelt fühlt. Zudem empfindet sie die Fragetechnik ihres Fachleiters, mit der er ihr während der UNB inhaltlich auf die Sprünge helfen will, als „Hokuspokus“. Die von ihm eingesetzte Fragetechnik (seine Regiefragen) kann ihr nicht helfen. Mit der Nennung ihres Beratungsanliegens machte sie bereits kenntlich, dass sie auf das Interrogatum die Antwort schuldig bleiben musste. Statt eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten, wird sie mit dem vom Fachleiter initiierten mäeutischen Dialog auf sich selbst verwiesen. Diese von ihr als „Überpädagogisierung“ beschriebene Strategie lehnt die Referendarin vehement ab. Sie wünschte sich von ihrem Ausbilder eine Interaktion, in der er „einfach“ und „klar“ die zu beratenden Inhalte benennt.

Die Forderung der Referendarin nach einer klaren Ausdrucksweise jenseits eines pädagogischen Sprachgestus‘ beschreibt auch den Wunsch, der in der Gruppendiskussion hinsichtlich der Beratungsweise geäußert wird. Dieser Wunsch wird innerhalb des metaphorischen Konzeptes vom MITNEHMEN zum Ausdruck gebracht.

11.1.3 Das Mitnehmen von Wissensbeständen

Der Wunsch, dass Anregungen und Korrekturen „einfach“ und „klar“ während der UNB mitgeteilt werden sollten, steht in enger Verbindung mit den aus der Diskussion der Referendar:innen gewonnenen Erkenntnissen der Metaphernanalyse. Demnach geht es für alle LAA aus der untersuchten Kernseminargruppe darum, „viel mitzunehmen“. Gemeint sind damit ausbildungsrelevante Hinweise, die gemessen am aktuellen Ausbildungsstand der Referendar:innen wichtig für die eigene Ausbildung sind.

Schaut man sich in der untersuchten UNB konkret an, welche Wissenselemente Frau Henke aus der UNB mitnehmen will, erkennt man (vgl. Abschn. 9.3) vor allem zwei Beratungsanliegen: Die Referendarin wollte zum einen wissen, wann man Schüler:innen im Unterrichtsgespräch unterbrechen darf und zum andern, wie am Ende einer Stunde eine Vertiefung der Stundenergebnisse zu ermöglichen ist.

Die erste Frage ist stark kontextabhängig. Hier sind mehrere Bedingungen des Unterrichts zu berücksichtigen, wie etwa die Relevanz der Beiträge hinsichtlich des Stundenthemas. Eine allgemeine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt einer Unterbrechung konnte der Fachleiter hier nicht geben.

Die zweite Frage nach möglichen Dimensionen einer inhaltlichen Vertiefung des Stundenthemas ist eher beantwortbar. Hier könnten exemplarisch verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt werden; im Falle der Frage nach dem Unterschied von Belegen und Argumenten könnten die Schüler:innen beispielsweise gemeinsam überlegen, ob ihnen im Sinne des angezielten Stundenlernziels die Unterscheidung deutlich geworden ist. Die gemeinsame Reflexion des gewonnen Lernertrags wäre somit eine Möglichkeit, die Vertiefung des Unterrichtsgegenstandes am Stundenende herzustellen.

Neben der geforderten inhaltlichen Anleitung wünschen sich einige Referendar:innen eine Priorisierung der notwendig erscheinenden Ausbildungsschritte, weil sie noch unsicher sind, wie die einzelnen Rückmeldungen zu ihrem Unterricht zu bewerten sind. Der Wunsch nach einer Priorisierung der Beratungsinhalte zugunsten einer deutlichen Orientierung steht im engen Zusammenhang zum Mitnehmkonzept.

11.1.4 Die Ablehnung der Schüler:innenrolle

Ein Ergebnis dieser Studie besteht in dem dringenden Interesse der Referendar:innen, einen inhaltlichen Ertrag aus den Nachbesprechungen mitzunehmen.

Dabei scheint Frau Henke deutlich als ein Typ von LAA zu gelten, der im Sinne Košinárs ein besonders hohes Professionalisierungsverständnis besitzt, das sich vor allem durch eine konturierte aktive Gestaltung der Ausbildungsinhalte auszeichnet (vgl. Abschn. 7.5). Gerade mit diesem Typ von Auszubildenden sollte eine sachliche Beratung möglich sein, weil das eigene Ausbildungsinteresse hoch ist. Die hier agierende Referendarin mit ihrem fokussierten Blick auf die eigenen Beratungsanliegen zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie auf eine pädagogische Gestaltung der Interaktion nicht angewiesen ist. Eine Expertenberatung würde sie dagegen gerne akzeptieren.

Die Frage, die sich hier allerdings stellt, ist die nach der Einflussnahme durch die Benotung. Wenn Frau Henke schon bei der eigenen Reflexion die Reaktionen ihres Fachleiters berücksichtigt (wie dies auch alle anderen Referendar:innen während der UNB tun) und damit die UNB als Leistungssituation rahmt, dann ist es schwer zu erklären, wie eine Expertenberatung möglich sein soll, die sich nur an der Sache orientiert. Die Sachorientierung steht im Widerspruch zu einer möglichst positiven Selbstpositionierung gegenüber dem bewertenden Ausbilder.

So erscheinen die Forderungen der Referendar:innen hinsichtlich der Beratungsweise (zumindest teilweise) widersprüchlich. Alle Referendar:innen nehmen die UNB als Leistungssituation wahr, in der sie möglichst erfolgreich bestehen wollen. Sie möchten dabei aber nicht die Rolle von Schüler:innen übernehmen. Sie lehnen den im schulischen Diskurs verorteten Sprachhabitus ab, hier als „Hokuspokus“ beschrieben, weil sie sich mit dieser Art der Ansprache nicht ernst genommen fühlen. Stattdessen wünschen sie sich „klare“ Hinweise, denn sie möchten von den Ausbilder:innen gerne etwas lernen, was sie als „mitnehmen“ beschreiben. Dabei soll der erwünschte Input von den Ausbilder:innen als Geber des Wissenstransfers möglichst so aufbereitet werden, dass der Wissenstransfer leicht fällt. Dass diese Form der gewünschten Didaktisierung sie als Nehmer des Wissenstransfers in die Nähe der Schüler:innenrolle bringt, wird dabei nicht reflektiert.

11.2 Das MSW

Von der kommunikativen Instanz des MSW wird für die zweite Phase der Lehrerausbildung vor allem die Rolle des „erwachsenen Lerners“ betont (s. Abschn. 3.2), so auch in der Neufassung des Kerncurriculums (04/2021: 5). Das Curriculum legt mit den Vorgaben der KMK vom 16.05.2019 die

„Leitgedanken der schulpraktischen Lehrerausbildung“ fest, die für den „selbstverantworteten Kompetenzerwerbsprozess“ (ebd.) die individuelle „Berufsbiographie …“ (ebd.)

der Referendar:innen zu berücksichtigen geben. Wie schon oben (Abschn. 3.2) dargelegt besteht der theoretische Diskurs innerhalb dieser Instanz auf der Selbststeuerung der Auszubildenden. Gleichzeitig besteht der Anspruch des Vorbereitungsdienstes auf einer an den Standards der Wissenschaft orientierten AusbildungFootnote 1. Mit der Ausrichtung auf Wissenschaftlichkeit und gleichzeitig auf Personenorientierung (hier die erwachsenen Lernenden) wird die Komplexität der Ausbildungsansprüche deutlich. Sie erinnert dabei mit der Konstruktion von Rationalität einerseits und Verschiebung der Macht in die Konstituierung des Subjekts andererseits an die Gouvernementalitätsdebatte im Anschluss an Foucault. Mit Foucaults (2015: 64 ff.) Verständnis der erweiterten Machtstrukturen moderner Regierungsformen wird die Zusammenführung äußerer Fremdführung, wie die Standards der Wissenschaft in der Lehrerausbildung, und die „Selbstdisziplin“ der Individuen (als erwachsene Lernende) zusammengebracht und als besonders wirksame Machtform beschrieben.Footnote 2

Die Komplexität der hiermit auf den Weg gebrachten Ausbildungsweise wird nachfolgend auf der Ebene der Ausführenden weiter differenziert.

11.3 Die Fachleitungen

Es konnte gezeigt werden, wie die Offenheit der anspruchsvollen ausbildungsdidaktischen Forderung im Sinne einer programmatischen Leerstelle von den ZfsL in NRW gefüllt wirdFootnote 3. Damit gelangt der komplexe Anspruch der standardorientierten Ausbildung von der Ebene des theoretischen Diskurses über die Ebene der pädagogischen Konzepte der ZfsL schließlich auf die Ebene der handelnden Subjekte.

Besondere Beachtung erfahren dabei die Konzepte und Ergebnisse zu

  • der Rolle der erwachsenen Lernenden in der Ausbildung und

  • der Gesprächsführung während der UNB.

11.3.1 Die Rolle der erwachsenen Lernenden in der Ausbildung

Im Zentrum der Ausbildungsdidaktik der Lehrerausbildung steht die aufklärerische Überzeugung an die Kraft der Vernunft, mit der erwachsenenpädagogische Prinzipien begründet werden. Diese Überzeugung ließ sich in der ersten kommunikativen Instanz, den Vorgaben des MSW und in der OVP nachweisen. Die Hinweise zur Ausbildungsdidaktik werden im Hinblick auf die Gestaltungsfreiräume der ausbildenden Institute vom MSW sprachlich offen formuliert.

Das Verständnis von Lehrerausbildung als einem Professionalisierungsprozess, bei dem von einer „lernenden Person als selbstgesteuert und eigenständig“ ausgegangen wird, reklamiert einen hohen Grad an Autonomie für die Auszubildenden (s. auch Abschn. 3.4.1).

Eine weitere Idee der konzeptuellen Beratungstheorie der ZfsL ist die des subjektiven Theoretikers (vgl. Abschn. 3.4.2). Es geht bei dieser Idee, die Goll et al. ursprünglich in Anlehnung an Schlee im Sinne einer Kollegialen Fallbesprechung aufgegriffen hat, darum, das Verständnis, das Person X1 von Situation Y hat, mit Sichtweisen von mindestens einer weiteren Person X2 von Y im Sinne eines evolutionären Prozesses abzugleichen. Der Prozess dieser Abgleichung ist konfrontativ zu denken, weil Person X1 in Kenntnis der Gegenposition die Gelegenheit erhalten soll zu überlegen, welches Verständnis von Y der Vorzug zu geben ist. Es ist leicht zu erkennen, dass dieses Verfahren einem Auszubildenden gerecht würde, der aktiv und selbstgestaltend seinen Ausbildungsprozess steuern kann. Als Bedingung aber, um diesen kommunikativen Austausch wirklich führen zu können, wäre die Abwesenheit von Noten zu gewährleisten. Tatsächlich bringen die Noten die LAA in eine Position, aus der heraus sich schlecht „auf Augenhöhe“ argumentieren lässt. Eine konfrontativ angelegte Auseinandersetzung lässt sich in Erwartung einer Bewertung nur sehr bedingt führen.

Als ein Ergebnis dieser Arbeit kann die von den LAA mehrfach zitierte Metaphorik der Fachleitungen gelten, mit denen diese ihre Ausbildertätigkeit konzeptualisieren. AUSBILDUNG IST EIN WEGFootnote 4 zeigt ein Ausbildungsverständnis, bei dem die Verantwortung vor allem beim Wanderer beziehungsweise bei den LAA selbst liegt. Damit verbietet es sich beispielsweise, Anweisungen zu geben, man gibt lieber ein paar Tipps. Weitere Strategien, um Konfrontationen während der Rückmeldung zum gezeigten Unterricht zu entgehen, sind neben den nachgewiesenen semantischen Herabstufungen das Sprechergruppenplural. Die damit behauptete Sprechergemeinschaft stiftet Verbindungen und Gemeinsamkeiten, die von vornherein eine konfrontative Klärung oder auch nur Aushandlung unterschiedlicher Standpunkte ausklammert.

11.3.2 Die Gesprächsführung während der UNB

Ein Ergebnis der durchgeführten Dokumentenanalyse der ZfsL besteht darin, dass im Zusammenhang mit der UNB von den ZfsL vor allem die Gesprächsführung als ein wesentlicher Aspekt der Ausbildungsdidaktik in den Blick genommen wird. Alle ZfsL sind sich bei der konzeptionellen Ausgestaltung darin einig, dass sich die UNB einer besonders herausragenden Aufgabe stellen muss: Die problematische Funktionsdopplung von Leistungsbenotung und unterstützender Rückmeldung während dieser Beratungssituation scheint eine Interaktionsform zu verlangen, die die Entwicklungsmöglichkeiten der LAA trotz der Zwiespältigkeit der Funktionen unterstützen soll.

Alle ZfsL greifen (offenbar als Reaktion auf diese Zwiespältigkeit) für die UNB-Interaktion auf die Grundzüge der humanistischen Psychologie zurück, die sich mit der Betonung des klientenzentrierten Ansatzes gut mit der Personenorientierung im VD verbinden lässt. Dabei spielt die veränderte Rollenstruktur zwischen Therapeut:in und Klient:in, respektive zwischen Ausbilder:in und Referendar:in, eine besondere Rolle, da mit der Aufgabe einer direktiven Beratungshaltung die Autonomie des Beratenden beachtet wird. Grundlage dieser Beratungshaltung ist nach Rogers (2012) das Vertrauen in die Fähigkeiten der Klient:innen, zu einer „konstruktiven Selbstregulierung“ zu gelangen (ebd.: 36). Als wesentliche Bedingung der therapeutischen Beziehung gilt dabei die bedingungslose Wertschätzung der Person der Klienten:innen, gerade auch im Hinblick auf belastende Erfahrungen (vgl. Rogers 2016: 41). Innerhalb der wertschätzenden therapeutischen Beziehung lernen die Klienten allmählich, ihre eigenen Erfahrungen zu akzeptieren. Ist der Zustand erreicht, in dem das Selbst und seine Erfahrungen „verhältnismäßig kongruent sind“ (ebd.: 27), kann man davon ausgehen, dass der Organismus seine ihm „innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten“ (ebd.: 26) besitzt und nutzt.

11.4 Das Zusammenwirken der drei Instanzen

Nachdem im vorigen Kapitel wesentliche Ergebnisse der Datenanalysen innerhalb der drei kommunikativen Instanzen beschrieben wurden, werden im Folgenden ihr Zusammenwirken und damit auch die Interdependenzen, die die Konzepte im Kontext ihres sozialen Auftretens auslösen, betrachtet. Die wesentlichen Aspekte, die dabei eine prominente Rolle spielen, greifen auf bisherige Ausführungen zurück.

11.4.1 Der Autonomiebegriff

Es konnte in der Detailanalyse der UNB gezeigt werden, dass die Referendarin trotz der wahrgenommenen Leistungssituation ihre Ausbildungsbelange präzise wiederholt vorbringt. Und auch mit den Daten aus der Gruppendiskussion konnte nachgewiesen werden, dass den Referendar:innen vor allem an klaren und orientierenden Rückmeldungen zu ihrem Unterricht gelegen ist. Inwieweit wird mit diesem Anspruch nach Anleitung dem Verständnis von „Autonomie“ in der Ausbildungsdidaktik widersprochen? Ist das Autonomiekonzept für die Ausbildung im VD (s. beispielsweise das Konzept aus dem ZfsL Rheine, S. 8) mit dem Anspruch der LAA, der sich in der MITNEHM-Metaphorik ausdrückt, wirklich unvereinbar? Ist es also richtiger, wenn sich Ausbilder:innen dem GEBEN-Konzept entziehen und sich stattdessen in Anlehnung an die kommunikativ-therapeutischen Leitlinien Rogers’ auf die Stärken und Ressourcen der LAA vertrauen, um die Autonomie der Referendar:innen zu achten (vgl. ebd.)?Footnote 5

Die beschriebenen Grundlagen der therapeutischen Beratung auf die Ausbildung im Vorbereitungsdienst zu übertragen scheint allerdings voraussetzungsreicher zu sein, als es die Nennung gewisser Schlüsselbegriffe ahnen lässt. Sowohl die Auswertung der Gruppendiskussion als auch die der nachträglichen Kommentierung der UNB konnten zeigen, dass die Referendar:innen eigene Vorstellungen von ihrer Ausbildung und damit auch von der Art haben, wie Ausbildungsgespräche zu führen sind. Die Idee, dass sie sich in dieser Ausbildungssituation möglichst selbst regulieren (vgl. Rogers 2012: 37), dass es vor allem auf ihre eigenen Erfahrungen beim Unterrichten ankommt, diese zu akzeptieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu einem kongruenten Verhalten zu kommen, gehört nicht zu den Vorstellungen der LAA.

In der zitierten Langzeituntersuchung geht Košinár von einem deutlich schwächeren Autonomiebegriff aus. Die Autorin stellt die aktive Einflussnahme und damit die „autonome Gestaltung des eigenen Professionalisierungsprozesses“ (2014: 283) als wesentliche Bedingung für die erfolgreiche Lehrer:innenausbildung dar. Unter der autonomen Gestaltung versteht die Autorin solche Aktivitäten wie die erfolgreiche Suche nach einem eigenen Arbeitsplatz in der Schule oder auch der Wahl der Ausbildungsschule, um die eigene Ausbildung möglichst förderlich zu gestalten. Hier wird nicht vom selbstständigen Lernen oder von der aktiven Gestaltung des eigenen Lern- und Ausbildungsprozesses gesprochen, es sei denn, die günstige Gestaltung der äußeren Lernbedingungen würden schon dazu gezählt. Ein merkmalsärmerer Begriff von Autonomie wie hier nähme mehr Aktivitäten der Referendar:innen während ihrer Ausbildung in den Blick.

Bei aller sinnvollen Unterstützung durch Beratungsvorschläge, Vorlagen für strukturierte Beratungsabläufe und allen Appellen an eine wertschätzende Haltung seitens der Ausbilder:innen kann nicht ausgeblendet bleiben, dass die Ausgangssituation der Referendar:innen im Hinblick auf ihre Lernautonomie differenzierter und kritischer gelten muss, als es die bisherige Ausbildungsdidaktik berücksichtigt.

Es ist deutlich geworden, dass das Eintreten in den VD für Referendar:innen nicht bedeutet, dass mit diesem Eintreten „eine einfache Übernahme des Diskurses“ (Wrana ebd.: 93) für die LAA möglich ist.

11.4.2 Die Bedeutung der Noten

Referendar:innen, so konnte ich zeigen, wünschen in ihrer Ausbildung Anleitung und Orientierung. Sie unterstellen ihren Ausbilder:innen die dafür notwendige Expertise. Sie trauen sich zwar auch ein eigenes Urteil (als Reflexion zur gezeigten Unterrichtsstunde) zu, wissen allerdings, dass dieses auch bewertet wird. Im Falle eines divergierenden Urteils wäre dies ein Nachteil, der sich auch in der Note des Unterrichtsbesuchs niederschlagen könnte. Deshalb, so der Vorschlag aus der Gruppendiskussion, wünschen sich die Referendar:innen einen „geschützten Rahmen“, in dem sie unbenotet ihre ersten eigenen Eindrücke und Ideen vertreten können. So wäre eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fachleitungen zu den eigenen Planungsentscheidungen möglich, ohne dabei schon unter dem Eindruck der Leistungsperformanz zu stehen.

Die LAA scheinen mit dem Wegfall der benoteten Reflexion schon die Möglichkeit für eine sachliche Auseinandersetzung eigener Ideen zu ihrem Unterricht zu sehen. Inwieweit allerdings mögliche Entscheidungen zu Planung und Durchführung des Unterrichts zwischen den Beteiligten wirklich ausgehandelt werden können, wenn doch weiterhin die Benotung des UB ansteht, scheint bei der Ablehnung der benoteten Reflexion noch nicht mitgedacht zu werden. Das Dilemma der Benotung greift auf den gesamten Gesprächsverlauf der UNB.

11.4.3 Gesprächsführung und kritische Rückmeldungen

Die Art der Gesprächsführung und damit auch die Art der Rückmeldung kritischer Aspekte des gezeigten Unterrichts gelten als wichtige Ausbildungselemente, die die Auszubildenden bewegt und beschäftigt. Insofern ist es folgerichtig, dass sich die Ausbilder:innen auf die Gesprächsführung als wesentliches Moment der Ausbildungsdidaktik konzentrieren.

Die Rückmeldungen, die die Fachleitungen während der UNB geben, orientieren sich an den Vorgaben des MSW und bewegen sich innerhalb einer Gemengelage von verschiedenen Anforderungen, die je Unterschiedliches in der Ausbildung der Referendar:innen in den Blick nehmen. Es handelt sich dabei, wie in Abschn. 3.1 dargestellt, um die Standards der Lehrerausbildung im Sinne der Wissenschaftsorientierung und um Prinzipien, die der Personenorientierung verpflichtet sind. Zwischen diesen grundlegenden Dimensionen bewegt sich die Ausbildung, deren konkrete Ausrichtung von den ZfsL selbst festzulegen ist.

Auf der Ebene der ZfsL steht die Beziehung der Ausbilder:innen zu den Referendar:innen im Vordergrund. Der Grund dafür liegt offenbar darin, dass hier in der direkten Interaktion zwischen Fachleitung und LAA Beratungsaspekte zur Sprache kommen, die für beide Seiten kommunikativ zu bewältigen sind. So konnte in der hier untersuchten UNB gezeigt werden, dass der Fachleiter seine Kritik besonders vorsichtig vorbrachte, indem er diese in Regiefragen oder durch andere semantische Herabstufungen sprachlich kleidete. Mit dieser Art der Gesprächsführung scheint der Fachleiter vor allem ein Ziel erreichen zu wollen – möglichst nicht im Widerspruch zum Anspruch der Wertschätzung zu gelangen, wie es die Konzepte der ZfsL vorsehen. Die hier nachgewiesenen (obschon förderlich intendierten) Unterstützungsstrategien erscheinen jedoch wie „negative Schwesterattribute“Footnote 6 einer empfohlenen Gesprächsführung, die eigentlich „Augenhöhe“Footnote 7 herstellen will, die aber in der Perspektive gerade leistungsstarker LAA paternalistisch wirken kann und damit Referendar:innen das Gefühl vermittelt, man könne ihnen eine sachliche Rückmeldung nicht zumuten.

Die praktizierte Form der Gesprächsführung während der UNB lässt die eigentliche Interessenlage der Auszubildenden unberücksichtigt. Die Bedarfslage der Referendar:innen ist je nach Stand der aktuellen Ausbildungssituation deutlich komplexer, als dies die Hinweise für die UNB (Abschn. 3.4) vermuten lassen.

Als Ergebnis zeigt sich, dass die MITNEHM-Metapher als zentrale Konzeptualisierung der Referendar:innen im deutlichen Widerspruch steht zu den Leitgedanken der unterstützenden Beratung, wie sie von den ZfsL formuliert werden, die wiederum als Konsequenz aus den Rahmenvorgaben des MSB abgeleitet werden.Footnote 8

Mit ihrer Forderung nach ORIENTIERUNG und klaren Rückmeldungen zu ihrem Unterricht positionieren sich die Referendar:innen als „NEHMER“ in ihrer Ausbildung. Sie möchten vor allem Anregungen und Hilfen aus der Beratung erhalten. Damit positionieren sie gleichzeitig ihre Fachleitungen als die „GEBER“ innerhalb der Beratungssituation. Sowohl die Referendarin in der analysierten UNB als auch die Referendar:innen des Kernseminars erwarten als Ergebnis der UNB konkrete Anregungen und Hilfen, die sie ihrem Ausbildungsziel näherbringen – dem erfolgreichen Abschluss des Vorbereitungsdienstes.

Es fehlt in der dargestellten Ausbildungssituation eine Reflexion der eigenen Haltung, die die Referendar:innen mit ihren Vorstellungen und Ansprüchen an die UNB besitzen. Die Auslagerung der Noten aus der UNB stellt noch keine befriedigende Lösung dar, da die Erwartung einer später erfolgenden Note das Gesprächsverhalten in jedem Fall beeinflussen wird.

Die Ausbildungsprinzipien beschreiben mit der Autonomie der LAA sehr voraussetzungsreiche Anforderungen, die weder einer theoretischen Begriffsklärung Stand halten noch in der gewünschten Weise in Ausbildungssituationen nachzuweisen oder zu realisieren sind. Eine weniger starke Fixierung auf die Autonomie der Auszubildenden könnte insgesamt die Ausbildungssituation für beide Seiten verändern.