Die Interviewpartner*innen als Pflegefachpersonen und zugleich pflegende Angehörige machten nachdrücklich klar: Pflege ist ein Prozess, der gemeinsam mit der gepflegten Person gestaltet wird, sozusagen in Ko-Produktion. Angehörig-sein denkt immer ein Gegenüber mit und ist charakterisiert durch ein wechselseitig aufeinander bezogenes Verhältnis. Die Rolle der pflegenden Angehörigen hat so zwar individuell gestaltbaren Spielraum und wird gleichwohl durch das Gegenüber – die gepflegten Angehörigen – ermöglicht, mitbestimmt, erweitert oder begrenzt.

Die vorliegende Untersuchung zeigte, dass als Pflegefachperson und als Angehörige pflegen, nicht nur zwei Paar Schuhe sind. Dazwischen gibt es zahllose Möglichkeiten der Ausgestaltung mit der pflegebedürftigen Person und Vertreter*innen der Gesundheitsversorgung. Berufliche Qualifikation und Kompetenzen in der Pflege eröffneten den Befragten eine Vielzahl von unterschiedlichen Handlungsoptionen, die sie miteinander situativ und flexibel kombinierten im Sinne eines Repertoires, das ihnen als eine Erweiterung des Handlungsspektrums zur Verfügung stand. Und obwohl sie über diese Expertise verfügten und berufliche Strategien zur Bewältigung von anspruchsvollen Pflegesituationen gelernt hatten, waren sie als pflegende Angehörige vielfach belastet, ratlos und angestrengt, v. a. bei der Pflege von Menschen mit Demenz und in der Auseinandersetzung an den Schnittstellen zur Gesundheitsversorgung mit ihren Defiziten. Deshalb ist ihr Standpunkt einzigartig und besonders wertvoll: um die Gesundheitsversorgung in ihrer Qualität und ihren Härten aus einer Insider-Perspektive zu sehen und zu bewerten. Wenn diese Erfahrungen ernst genommen werden, könnten sie maßgeblich zur Qualitätsverbesserung beitragen. Im Kleinen haben dies die Interviewpartner*innen schon vorgemacht: der Perspektivwechsel und ihre Einsichten in die Angehörigenrolle haben vielfach zu Veränderungen ihrer beruflichen Praxis geführt und damit zu Übertragungs-Effekten, weil sie fortan Angehörige bewusster wahrnahmen und einbezogen. Sie gehen z. T. proaktiver auf sie zu und versuchen, sich auf sie einzulassen und sie dort abzuholen, wo sie stehen. Damit sind sie zu Fürsprecher*innen für die Belange von Angehörigen im beruflichen Kontext geworden. Dies darf jedoch nicht vergessen lassen, dass sie ihre Expertise aus der einen wie der anderen Rolle unbezahlt einbringen im Interesse der Verbesserung der Lebenssituation von Menschen. Sie inspirieren die berufliche Pflege, sich entgegen den einschränkenden Rahmenbedingungen stärker auf den Kern der Pflege als Beziehungsarbeit zu besinnen, und sich dem jeweiligen Gegenüber und seiner oder ihrer Welt zu öffnen und statt verrichtungsorientiert und routiniert Standards abzuspulen und sich professionell abzugrenzen, sich auf eine professionelle Nähe und Präsenz einzulassen und der Person zuzuwenden. Damit würde der Dialog von Pflegefachperson und Patient*in erweitert zum „Trialog“, bei dem die Angehörigen als wichtige Akteur*innen selbstverständlich ein Mitspracherecht haben (Jähnke et al. 2019).

Dorothee Maier stellte bezogen auf die Fehler, die sie in der Versorgung ihrer Eltern gerade noch rechtzeitig verhindern konnte, die grundsätzliche Frage:

„Was machen nur Menschen ohne Angehörige?“ (201207_AJ_DBF6: P)

Angesichts der demographischen Entwicklungen mit den Veränderungen der Familienstrukturen weisen die Zunahme von Singlehaushalten und Kinderlosigkeit darauf hin, dass dies zukünftig viele Menschen betreffen könnte. Und diese Menschen möchten häufig – wie die Eltern und Schwiegereltern der Interviewpartner*innen – lieber zuhause leben bis zum Tod als in einem Heim. Damit wird die Bedeutung von Wahlverwandten und Nachbarschaft weiter zunehmen, die als Bürger*innen aufgerufen sind, an einer „neuen Kultur des Helfens mitzuwirken“ (Dörner 2015, S. 220). Dieses bürgerschaftliche Engagement ist als Teil eines Hilfe-Mix-Systems zu verstehen, lebensweltlich verankert und partizipativ, dabei gleichwohl darauf ausgerichtet, die professionelle Expertise zu integrieren (Schulz-Nieswandt 2015, S. 149).

Heike Tritschler betonte das Ausgeliefertseins der Patient*innen und ihrer Angehörigen als Laien in einem für sie nur in Ansätzen verständlichen Gesundheitssystem und welche Hilfe die Pflegefachpersonen und pflegenden Angehörigen in ihrer Rolle als Dolmetscher*innen und Mediator*innen bieten, die ihnen beim Finden von Wegen behilflich sein können:

„Ich denke oft, was machen Angehörige, die KEINE Ahnung haben? Patienten, die NIEMAND haben, der für sie spricht? Das frage ich mich oft. Ich finde, da profitiert schon die Familie davon. Und auch der Freundeskreis, wenn man ehrlich ist.“ (210420_AJ_DBK10: 332)

Das zeigt: Angehörige zu haben, ist wertvoll. Wenn die sich auskennen, umso besser. Doch ein Gesundheitssystem, das eine sichere Versorgung für alle bietet, ist als sozial- und gesundheitspolitische Aufgabe für die Gesellschaft essenziell. Pflegefachpersonen sind nicht nur in der Angehörigenpflege im privaten Umfeld wertvoll, sondern auch in ihrem Beruf. Deshalb sind Rahmenbedingungen entscheidend, die für gute Pflege, gute Pflegequalität und gute Arbeitsbedingungen sorgen, die einen Verbleib im Pflegeberuf attraktiv machen und bis zur Rente ermöglichen. D. h. die gesellschaftlichen Leitbilder der Pflege sind zu diskutieren und die Pflegepolitik und -finanzierung auf den Prüfstand zu stellen. Das „familienbasierte Pflegesystem“ in Deutschland gibt der Pflege durch Angehörige Vorrang vor der professionellen Pflege (Heintze 2015, S. 15). Gleichzeitig werden die pflegenden Angehörigen vernutzt als billiger Pflegedienst, dessen Kosten die Betroffenen privat tragen (Heintze 2015, S. 70). Heinze kontrastiert die skandinavischen Ländern, die mit ihren „servicebasierten Pflegesystemen“ auf der „Highroad“ sind, mit Deutschland, das sich in einer „Negativspirale der Lowroad“ befindet (Heintze 2015, S. 71). Wenn nun Pflegefachpersonen ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Angehörigenpflege reduzieren oder aufgeben, um unentgeltlich zu pflegen, hat dies zusätzlichen Zündstoff, weil sie ja über die beruflichen Kompetenzen zur Pflege verfügen, die im Anstellungsverhältnis viel mehr Menschen zugutekommen würden und darüber hinaus entlohnt werden und in der Angehörigenpflege üblicherweise nicht. Die Datenbasis der vorliegenden Untersuchung lässt vermuten, dass für diese Auswahl von Interviewpartner*innen monetäre Gründe eher sekundär waren und dass sie insbesondere die Pflege am Lebensende als bereichernd für sich als Person und ihre persönliche Reifung erlebten. Nichtsdestotrotz sind die Rahmenbedingungen für die Angehörigenpflege kritisch zu prüfen, auch im Hinblick auf eine angemessene Kompensation eines Verdienstausfalls oder die Unterstützung von Pflege aus der Distanz mit wochenweiser Anwesenheit.

Als Fazit ist festzuhalten: Pflegefachperson und pflegende Angehörige sein sind zwei verschiedene Perspektiven auf das Phänomen Pflege. Dies ist auch deshalb so wertvoll, weil erst das Sehen mit einem rechten und einem linken Auge bzw. aus zwei verschiedenen Blickwinkeln ein räumliches Bild ergibt und somit Tiefe.