Die inhaltsanalytische Auseinandersetzung mit den Daten und ihre thematische Kodierung generierte eine Fülle von Aspekten zum Erleben von Pflegefachpersonen, die eigene Angehörige pflegen. Nicht alles kann hier angemessen ausgeführt werden. Der Fokus bei der Verfertigung dieser Arbeit lag auf der Beantwortung der Forschungsfragen. Weitere Schätze, die noch im Material verborgen sind, müssen zu einem späteren Zeitpunkt gehoben werden. Die folgenden Ausführungen sind nicht unabhängig von der Sichtweise und dem Standort der Verfasserin zu betrachten, denn Kategorienbildung ist ein „aktiver Konstruktionsprozess“ (Kuckartz 2018, S. 72). Die Darstellung fokussiert zuerst die Ergebnisse zur Entstehungsgeschichte sowie den Entwicklungen und Erfahrungen der Interviewpartner*innen im Zeitverlauf. Als Resultat der fallbezogenen und fallübergreifenden Analyse ihrer Erzählungen mit Fokus auf den Episoden folgt dann die Beschreibung der Verhaltensmuster, die datengestützt ihre verschiedenen Positionierungen im Versorgungssetting verdeutlicht. Abschließend wird mit dem gebildeten paradigmatischen Modell die Doppelrolle von Pflegefachpersonen, die eigene Angehörige pflegen, im Gesamtzusammenhang der Gesundheitsversorgung verortet.

Es wurden insgesamt rund 22 ½ Stunden Interviewmaterial erhoben. Die einzelnen Gespräche dauerten zwischen 59 Minuten und 2 Stunden 50 Minuten. Transkribiert entsprach dies 704 Seiten Text. Abbildung 4.1 zeigt einen Überblick über die Hauptkategorien des entwickelten Kategorien- oder Codesystems. Dieses System wird auch ‚Codebaum‘ genannt, weil es mit Subcodes immer weiter verzweigt, d. h. ausdifferenziert werden kann. Wie diese Möglichkeit im Rahmen der Codierung und Analyse genutzt wurde, wird im elektronischen Zusatzmaterial ersichtlich (Anhang H Datenanalyse: Kategoriensystem / Codebaum).

Abb. 4.1
figure 1

Kategoriensystem (Darstellung in MAXQDA 2020)

In den weiteren Spalten der Abbildung 4.1 sind zudem die Icons der zugehörigen Memos zu sehen (L steht für Leitlinie zur Codierung) sowie die jeweilige Anzahl an codierten Textstellen. Insgesamt wurden 1695 Codierungen vorgenommen. Appelle an die Interviewerin, bestimmte Themen aufzunehmen, wurden separat kodiert, um diesem Anliegen entsprechen zu können.

4.1 Charakteristika des Samples

Die Ergebnisse stützen sich auf eine Datengrundlage, die im Bestreben erhoben wurde, ein möglichst heterogenes Sample von Pflegefachpersonen, die eigene Angehörige pflegen, zusammenzustellen (siehe 3.7 Rekrutierungsstrategie). Insgesamt 15 Pflegefachpersonen aus verschiedenen beruflichen Tätigkeitsfeldern und in unterschiedlichen Sorgesituationen wurden zwischen November 2020 und Mai 2021 interviewt. Mit einer 16. Person waren mehrere Termine vereinbart, das Interview kam jedoch seitens der Interviewpartner*in aus gesundheitlichen Gründen nicht zustande.

Alle Interviewpartner*innen erhielten ein Pseudonym. Im Rahmen der Fallanalysen wurde das Typische der jeweiligen Situation herausgearbeitet, ihre Rolle als Angehörige sowie als Fachperson, Kernthemen und ihre Selbsteinschätzungen. Die Fallzusammenfassungen sind in einer Übersicht im elektronischen Zusatzmaterial gebündelt (siehe Anhang H Datenanalyse: Fallzusammenfassungen).

Die meisten Interviews wurden in Baden-Württemberg geführt sowie vier Interviews in der Deutschschweiz. Für zwei Interviewpartner*innen war es bereits das dritte Interview zum Thema, da sie 2016/17 im Rahmen des Careum Forschungsprojekts befragt worden waren. Bei einer Person hatte sich die damalige Pflegesituation erheblich verschlechtert. Bei der anderen Person war die damals gepflegte Person in der Zwischenzeit gestorben, doch nun war sie in die Pflege einer anderen Person involviert. Aus dem Careum Projekt konnten aus verschiedenen Gründen keine weiteren Personen eingeschlossen werden.

Alle Interviews wurden am Ort der Wahl der Interviewpartner*innen geführt, und zwar bei ihnen zu Hause (7), an ihrem Arbeitsort (6) oder bei mir (2). Das Alter der Teilnehmenden reichte von Mitte 20 bis Anfang 60, bis auf 3 Personen waren alle über 50 Jahre alt. Es wurden 12 Frauen und 3 Männer befragt.

Alle Interviewpartner*innen hatten mindestens eine dreijährige Krankenpflegeausbildung absolviert, viele hatten Zusatzqualifikationen sowie korrespondierend mit ihrem Alter eine lange Berufserfahrung. Sie arbeiteten zum Großteil in der stationären Gesundheitsversorgung (6) und Langzeitpflege (1), aber auch im ambulanten Pflegedienst (2), in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Pflege (3) oder im Management (3). Einige kombinierten mehrere Tätigkeitsbereiche, z. B. Pflegepraxis und Lehre. Viele waren Vollzeit (8) oder in vollzeitnaher Teilzeit (3) beschäftigt. Vier Befragte waren 50 – 65 % in Teilzeit angestellt. Zwei davon reduzierten ihren Beschäftigungsumfang aufgrund der privaten Pflegesituation.

Die Interviewpartner*innen waren als Angehörige hauptsächlich Tochter (8) oder Sohn (2) der unterstützten Person, aber auch Schwiegertochter (2), Partner*in (2) oder Enkelkind (1). Die Spannweite der Gesamtstunden für private Betreuungs- und Pflegeaufgaben in den letzten vier Wochen war groß, sie lag zwischen 4 und 150 Stunden. Dies illustriert die enormen Unterschiede von Pflegesituationen und damit verbundene Anforderungen an die Angehörigen. Als Hauptpflegeperson bezeichneten sich 8 der Befragten, für eine Person war dies schwierig zu beantworten, doch offiziell sei sie es nicht. Parallel für mehrere Personen sorgten zum aktuellen Zeitpunkt 7 Interviewpartner*innen.

Abbildung 4.2 zeigt weitere Charakteristika des Samples im Überblick. In Klammern ist die jeweilige Anzahl von Interviewpartner*innen angegeben, die dieses Merkmal aufwiesen.

Abb. 4.2
figure 2

Samplebeschreibung

Im Laufe mehrerer Interviews kamen emotional nahegehende Situationen und aufwühlende Erinnerungen bei der Angehörigenpflege zur Sprache, insbesondere beim Erzählen von der Begleitung und Pflege am Lebensende und vom Sterben der nahestehenden Person, von Abschied und Trauer. Einige Interviewpartner*innen waren sichtlich erschüttert, manche weinten. Dies waren auch für die Interviewerin schwierige und berührende Momente. In solchen Situationen wurde proaktiv eine Pause bzw. auch der Interviewabbruch angeboten. Doch ausnahmslos alle Teilnehmenden wollten das Gespräch gerne weiterführen. Weil damit gerechnet wurde, dass durch das Interview Belastungen ausgelöst werden können, waren vorbereitend vor jedem Interview Informationen zu ortsnahen (sozial-)psychologischen Hilfsangeboten von Beratung bis hin zur Krisenintervention sowie seelsorgerliche Anlaufstellen ausfindig gemacht worden, um für den Notfall ein Spektrum von Hinweisen zu möglichen Unterstützungsangeboten parat zu haben. Dies wurde jedoch nicht in Anspruch genommen.

4.2 Entstehungsgeschichte

Die jeweiligen Entstehungsgeschichten umfassten retrospektiv, wie es überhaupt dazu kam, dass die Interviewpartner*innen die Rolle von pflegenden Angehörigen übernahmen bzw. sich im Klaren wurden, dass sie dazu geworden sind. Bei der Art und Weise der Rollenübernahme zeigten sich zwei grundlegend unterschiedlichen Formen: entweder entwickelte sich dies langsam und schleichend im Sinne einer zunehmenden Zahl von Aufgaben und Tätigkeiten infolge steigender Unterstützungserfordernisse oder dies erfolgte plötzlich und oft krisenhaft, meist in der Folge einer akuten Erkrankung oder Verschlechterung. Im Gegensatz zum definierten Zeitpunkt eines akut einsetzenden Geschehens, wie z. B. ein Sturz, Schlaganfall oder Herzinfarkt, fiel es den Interviewpartner*innen bei einer schleichend zunehmenden Beeinträchtigung schwer, den Beginn ihres Engagements als pflegende Angehörige genau zu datieren. Für die Übernahme bzw. Anerkennung der Angehörigenrolle ist demnach der Kontext der Unterstützungsbedürftigkeit von Bedeutung. Dies wird im Folgenden ausgeführt, ebenso wie die damit verbundenen Erwartungen der Beteiligten sowie die Beweggründe der Befragten.

4.2.1 Kontext der Unterstützungsbedürftigkeit

Für die Hilfe, die durch die Interviewpartner*innen geleistet wurde, waren Gesundheitszustand und Unterstützungsbedarf der gepflegten Person maßgeblich. Je nach Ursache und Behandlung unterschieden sich sowohl die Auswirkungen auf die betroffene Person als auch die Anforderungen an das Unterstützungssystem, in dem die Befragten unterschiedliche Rollen und Aufgaben übernahmen. Viele der pflegebedürftigen Personen litten unter altersbedingten Beeinträchtigungen, z. B. der Sinnesorgane wie Schwerhörigkeit und Verschlechterung der Sehkraft oder an einer eingeschränkten Beweglichkeit. Kognitive Einschränkungen bis manifeste Demenz, Depressionen, Krebs und Herzerkrankungen wurden als häufigste Gründe für Unterstützungsbedarf genannt, meist lag eine Kombination von mehreren Erkrankungen mit oftmals chronischem Verlauf und damit Multimorbidität vor. Die meisten der unterstützten Personen lebten in der Häuslichkeit, mussten jedoch immer wieder auch stationär behandelt werden. Einige waren in Einrichtungen der Langzeitpflege bzw. auf einer Palliativstation oder im Hospiz.

In der Häuslichkeit erlebten die Interviewpartner*innen insbesondere die Begleitung am Lebensende sowie die Pflege von Menschen mit Demenz als komplex und anspruchsvoll. Mit verschiedenen Strategien, wie z. B. mit professionellen Pflegediensten und anderen Dienstleistenden, versuchten sie ein Pflegesetting zu schaffen, das einerseits den Präferenzen und andererseits den Erfordernissen durch die Beeinträchtigung insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit der gepflegten Person entsprach. Damit waren zum Teil erhebliche Koordinationsanstrengungen verbunden, die mit dem Verweis auf ihre Fach- und Systemkenntnisse oftmals im Zuständigkeitsbereich der Interviewpartner*innen lagen. Und obwohl sie durchweg ihr pflegerisches Fachwissen als wertvoll für die Unterstützung der pflegebedürftigen Nächsten einschätzten, schilderten sie Zweifel und Entscheidungsschwierigkeiten hinsichtlich der richtigen Vorgehensweise, wie bspw. Martina SchumacherFootnote 1, deren Mutter mit einer Demenzerkrankung in ihrer eigenen Wohnung mit Unterstützung einer Care Migrantin gepflegt wurde:

„Ja und dann als Kind macht man sich ja trotzdem unheimlich viele Fantasien: Tut ihr das jetzt gut? Oder macht man irgendwie gerade das Falsche mit diesen ganzen Medikamenten? […] Also, das sind alles so Dinge, die einen immer VÖLLIG in Zweifel ziehen. Wo man da ganz als Angehörige da ist und auch so die Not wahrnimmt.

Und andererseits denkt man: Also, das musst du jetzt abklären. SO müsste es eigentlich gehen, SO könntest du sie vielleicht unterstützen, oder SO könntest du ihr Hilfe geben.“ (210326_AJ_DBP15: 8)Footnote 2

Hier zeigte sich bereits das Spannungsfeld, in dem sich Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige bewegen, weil sie sowohl die professionelle als auch die persönliche Sichtweise kennen.

In der Entstehungsgeschichte der Pflegebeziehung waren neben dem Erkrankungskontext die familiäre Situation und Konstellation von entscheidender Bedeutung. Drei Argumente standen dabei im Vordergrund: das Fehlen von anderen nahestehenden Personen, die geographische Nähe und die professionelle Pflegekompetenz. Die beiden ersten Punkten treffen vermutlich in ähnlicher Weise auch auf pflegende Angehörige ohne Pflegeberuf zu. Für Einzelkinder gibt es keine Möglichkeit, die Zuständigkeiten für die Versorgung von gebrechlichen Eltern mit Geschwistern auszuhandeln. Sie sind gezwungen, Alternativen zu finden. Räumliche Nähe, so wurde oft pragmatisch argumentiert, kann Wegezeiten sparen, es war für viele Befragte und ihre Familien deshalb naheliegend zu erwarten, dass sich die am nächsten wohnende Person als hauptsächlich zuständig zeigen würde. Doch durch die professionelle Pflegekompetenz unterscheiden sich die Interviewpartner*innen von anderen Familienangehörigen. Viele der Befragten waren die Einzigen innerhalb der Familie, die im Gesundheitswesen arbeiteten und über entsprechendes Know-how verfügten. Als logische Konsequenz wurden sie als prädestiniert für die Übernahme einer Hauptrolle angesehen bzw. schätzten dies auch selbst so ein. Alle Interviewpartner*innen hatten faktisch die Rolle der pflegenden Angehörigen übernommen, in vielen Fällen sogar für mehrere Personen. Welche Konsequenzen mit einer Verweigerung verbunden wären, ist also in dieser Untersuchung nicht festzustellen. Es kann jedoch vermutet werden, dass der soziale Druck, diese maßgeschneidert erscheinende Rolle zu übernehmen, erheblich ist.

Viele Interviewpartner*innen pflegten mehrere Personen, manchmal parallel, meist jedoch nacheinander. Häufig waren dies beide Elternteile und ggf. zudem die Schwiegereltern oder andere Verwandte und Bekannte. Die Interviewpartner*innen beschrieben, wie herausfordernd es sein konnte, den verschiedenen Anspruchshaltungen ihrer Familien zu begegnen und auszuhandeln, wer bei der Unterstützung für was zuständig sein sollte. Gerade auch unter Geschwistern waren z. T. alte Rivalitäten und Konflikte bis in die Gegenwart hinein wirksam und bestimmten die Qualität von Kommunikation und Kooperation untereinander. Andererseits gab es auch geschwisterliche „Dream-Teams“, wie Martina Schumacher es ausdrückte, die sich offen austauschten, arbeitsteilig abstimmten und so perfekt ergänzten bei der Pflege der älteren Generation.

4.2.2 Große Erwartungen

Die Interviewpartner*innen sahen sich einer Vielzahl unterschiedlicher und z. T. konkurrierender Erwartungen ausgesetzt. Sie kamen von Seiten der pflegebedürftigen Person, von anderen Familienmitgliedern, von involvierten professionellen Gesundheitsfachpersonen und nicht zuletzt auch von ihnen selbst. Übereinstimmend war allen Akteur*innen fraglos und klar: die Pflegefachperson ist in einer Hauptrolle bei der Angehörigenpflege vorgesehen, von ihr wurde Hilfestellung in gesundheitlichen Fragen und Unterstützung mit Rat und Tat erwartet, wie exemplarisch die Aussage von Petra Rückert zeigt:

„Wenn irgendwas war, dann war für alle ganz klar: ich bin die Ansprechpartnerin – aufgrund meines gesundheitlichen Backgrounds.“ (201121_AJ_DBE5: 4)

Doch das Ausmaß der an sie gestellten Erwartungen und die Details variierten je nach Kontext stark.

Pflegebedürftige Personen baten insbesondere um verständliche Erklärungen, weiterführende Information, Beratung und Hilfestellung für Entscheidungen. Zudem sollten sie die Interviewpartner*innen als Ansprech- und Vertrauensperson begleiten zu ärztlichen Konsultationen oder zu anderen Untersuchungen, um ihnen zur Seite zu stehen und ihre Interessen zu wahren. Manche hatten auch den Anspruch, dass die häusliche Pflege von den Befragten übernommen werden solle.

Dabei tauchten teilweise auch genderspezifische Erwartungen auf, die sich mit der Fachlichkeit überlagerten:

„Das Mädchen, die Tochter, ist verantwortlich und hat sich zu kümmern.“ (201230_AJ_DBH8: 8)

Doch es zeigte sich auch, dass einige pflegebedürftige Personen ihren Hilfebedarf bagatellisierten und sich eher gegen Unterstützungsangebote sträubten, verbunden mit der Erwartung, dass sie dann in Ruhe gelassen werden. Dem konnten die Interviewpartner*innen oftmals nicht entsprechen, wenn sie fachlich davon überzeugt waren, dass etwas unternommen werden muss.

Erwartungen wurden nicht immer offen ausgesprochen, sondern es wurde gelegentlich stillschweigend vorausgesetzt, dass sie als Nahestehende und Fachperson schon spüren würden, was von ihnen erwartet wird, wie Elisabeth Keller berichtete:

„Ich hätte es sehen müssen. Aber er hat in meinen Augen nicht wirklich um Hilfe gebeten.“ (201118_AJ_CHAA1: 22)

Der Umgang mit unausgesprochenen Erwartungen war für die Befragten schwierig und konfliktträchtig, weil daraus oft Missverständnisse und Enttäuschungen resultierten, die das Miteinander belasteten.

Vielfach wurde auch Frustration bei den Befragten spürbar z. B., wenn die betreute Person zwar um Ratschläge zum richtigen gesundheitlichen Verhalten bat, diese Tipps aber dann entweder überhaupt nicht umsetzte oder sich nicht dauerhaft an sie hielt.

Die Erwartungen der weiteren Familie zielten ebenfalls auf Information und Erklärung der Hintergründe sowie die fachlich fundierte Einschätzung der Situation und Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise. Gesundheitliche Fragen rund um die Behandlung und Pflege fielen eindeutig in das Ressort der Befragten. In Familien mit mehreren Pflegefachpersonen konnte bei konträrer Einschätzung der richtigen Vorgehensweise die Abstimmung und Festlegung auch mit Konflikten verbunden sein.

In den Augen der Interviewpartner*innen erwarteten die professionellen Gesundheitsfachpersonen, die in die Pflegesituation involviert waren, je nach Setting und Person ganz Unterschiedliches von ihnen. Sie bemerkten generell verschiedene Betriebskulturen in den Institutionen im Umgang mit Angehörigen z. B. daran, ob sie sich als Angehörige wahrgenommen und in Prozesse eingebunden fühlten, machten dies aber auch an den Verhaltensweisen von Einzelpersonen fest. Wichtig war für sie das jeweilige Auftreten der Akteur*innen in der direkten Interaktion und ob „die Chemie stimmte“. Je nachdem, ob die Profis von ihrer beruflichen Qualifikation wussten, sollten und durften sie Informationen zur pflegebedürftigen Person bereitstellen, kollegial und arbeitsteilig zusammenarbeiten oder aber möglichst wenig bemerkbar sein und die betrieblichen Abläufe nicht stören. Das Spektrum reichte von der willkommenen partnerschaftlichen Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ (Markus Schnegg) bis hin zum Eindruck, als Angehörige nicht nur nicht wahrgenommen, sondern aktiv ignoriert und ausgegrenzt zu werden.

Im Zentrum der Erwartungen der Interviewpartner*innen an sich selbst stand das Thema ‚Verantwortung übernehmen‘. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, sich um die pflegebedürftige Person zu kümmern und für deren bestmögliche Lebensqualität und Sicherheit zu sorgen. Dies beinhaltete das angemessene Einschätzen der häuslichen Situation, das Initiieren und Einleiten von notwendig erachteten Maßnahmen ebenso wie die Begleitung im Sterbeprozess. Hinzu kam das sichere Navigieren durch die Gesundheitsversorgung mit dem Ziel, die pflegebedürftige Person vor Schaden zu bewahren. Einige betonten ihre grundlegende Verantwortung zur Selbstsorge, um nachhaltig sowohl privat als auch beruflich pflegen zu können.

4.2.3 Beweggründe für die Pflegeübernahme

Die geschilderten Erwartungen hingen eng mit den Beweggründen der Interviewpartner*innen zusammen, sich in der Pflege ihrer Nächsten zu engagieren. Zusätzlich zur bereits angesprochenen Verantwortlichkeit als Einzelkind, wurden zwei Hauptgründe für die Pflegeübernahme identifiziert: zum einen der tiefe persönliche Wunsch, diese Aufgabe aus Liebe bzw. als Liebesdienst für die nahestehende Person zu übernehmen. Für die Befragten war dies völlig selbstverständlich und normal. Speziell bei der Pflege von Eltern und Großeltern wurde das Prinzip der Reziprozität betont: sie wollten gerne etwas von dem zurückgeben, was sie vormals von der nun bedürftigen Person erhalten hatten.

Zum anderen war das Gefühl einer persönlichen Verpflichtung als Hauptgrund für die Pflegeübernahme auszumachen. Bezugspunkte waren zum einen religiöse Überzeugungen wie das 4. Gebot sowie in der Vergangenheit gegebene Versprechen:

„Ich hatte ihr [der Mutter] vor vielen Jahren versprochen, dass sie nicht ins Pflegeheim muss. Und immer wieder gedacht: Hast du dich da nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt?

Ich habe dann [als sie krank wurde] zu ihr gesagt: ‚Du, das kriegen wir irgendwie hin.‘“ (210216_AJ_DBJ9: 64)

Hier klangen zwar Zweifel an, ob dieses früher gegebene Versprechen tatsächlich gehalten werden kann, und doch war es stärkste Motivation, sich aller Widrigkeiten zum Trotz für die Versorgung der Mutter in der Häuslichkeit einzusetzen.

In den meisten Fällen übernahmen die Interviewpartner*innen die Pflege der nahestehenden Person fraglos und aus eigenem Antrieb, weil sie sich dafür zuständig fühlten. Dies lässt auf eine hohe intrinsische Motivation schließen. Gezielte Anfragen der betroffenen Person selbst oder von Familienmitgliedern verstärkten diese grundlegende Bereitschaft positiv.

Die Auseinandersetzung mit den Entstehungsgeschichten verdeutlichte die Komplexität der Einflussfaktoren, denen sich die Interviewpartner*innen gegenübersahen und die ihre Entscheidung, die Pflege der Angehörigen zu übernehmen, rahmten. Wie die weiteren Entwicklungen in der Angehörigenrolle verliefen, wird im Folgenden ausgeführt.

4.3 Entwicklungsgeschichte

Im Kontext ihrer Entwicklungsgeschichte als pflegende Angehörige und Fachperson beschrieben die Interviewpartner*innen zahlreiche Veränderungen im Zeitverlauf. Diese bezogen sich zum einen auf den Wandel der Pflegesituation bei chronisch-progredienter Erkrankung und mit zunehmendem Alter, womit einherging, dass sich auch ihre Aufgaben in der Angehörigenrolle veränderten und angepasst werden mussten. Um diese Veränderungen sinnvoll zu strukturieren, wurde im Prozess der Auseinandersetzung mit den Daten entschieden, außerplanmäßig die Pflege- und Krankheitsverlaufskurve nach Corbin und Strauss (1993; 1998) als weiteren theoretischen Bezugsrahmen zu verwenden. Dieses Modell wurde dann als Heuristik zur Systematisierung herangezogen, wie sich das Aufgabenspektrum als pflegende Angehörige entwickelte. Im Fokus der Analyse stand dabei die Frage, welche Aufgaben und Pflegetätigkeiten von den Befragten in welcher Krankheitsphase übernommen bzw. abgegeben wurden (Abschnitt 4.3.1).

Zum anderen bezogen sich die Veränderungen auf ihre eigene Weiterentwicklung und damit auf die Frage, wie sie sich in ihren Augen im Laufe der Angehörigenpflege selbst verändert haben (Abschnitt 4.3.2).

4.3.1 Aufgaben der Interviewpartner*innen im Krankheitsverlauf

Corbin und Strauss entwickelten 1988 mit der Krankheitsverlaufskurve ein Modell für die wechselhafte Verlaufsdynamik von chronischen Krankheiten (Corbin und Strauss 1993). Chronisch Kranke durchlaufen demnach verschiedenen Phasen, bei denen sie immer neue Beeinträchtigungen bewältigen müssen. Langfristig führt die Krankheitsverlaufskurve abwärts bis hin zum Lebensende (siehe Abb. 4.3). Acht verschiedene Phasen oder Stadien werden unterschieden (Corbin und Strauss 1998, S. 13), die zur Orientierung bei der Datenanalyse dienten. Denn dieser Phasenverlauf hat auch Folgen für die Angehörigen, weil sie ihre Pflege und Betreuung immer wieder aufs Neue anpassen und ausrichten müssen (Schaeffer und Haslbeck 2016, S. 245).

Nils Strindberg bringt diese Veränderlichkeit auf den Punkt:

„Es ist nicht immer GLEICH anstrengend, sondern wechselnd, manches wird einem erst retrospektiv klar. Es ist eben ein Auf und Ab, und dass es Phasen gibt, die eine sehr große Stabilität haben auch und wo das Leben quasi normal laufen kann. Das ist ja auch gut so. Und dann manchmal geht’s halt wieder anders, aber so ist halt eben das Leben. Es gibt halt Aufs und Abs.“ (201120_AJ_CHBD4: 79)

Abbildung 4.3 zeigt dieses Auf und Ab der Krankheitsverlaufskurve. Sie verdeutlicht darüber hinaus, dass es in den Erzählungen der Interviewpartner*innen v. a. um zwei Aspekte ging: die aktuelle Lebenssituation, d. h. ihre Unterstützungsleistungen als Angehörige beim Leben bzw. Langzeit-Überleben der gepflegten Person(en) mit chronischer Krankheit sowie ihre zurückliegenden Erfahrungen (retrospektiv) als Angehörige am Lebensende der gepflegten Person(en).

Abb. 4.3
figure 3

Krankheitsverlaufskurve ausgehend von Corbin und Strauss (1998)

Die sog. Pflege- und Krankheitsverlaufskurve (Corbin und Strauss 1998) mit ihren acht Phasen wurde aufgrund der Möglichkeit gewählt, in der Analyse unterschiedlichste Verläufe sowie Auf- und Abwärtsentwicklungen zu differenzieren. Die Phasen der Pflege- und Krankheitsverlaufskurve nach Corbin und Strauss (1998, S. 13) starten mit der Zeit vor dem Eintreten der Krankheit (1), gefolgt vom Beginn von Symptomen (2), Krise (3), akut (4), stabil (5), instabil (6), Verfall (7) und schließlich Sterben (8). Dies ist nicht linear gedacht, sondern auch innerhalb der Phasen kann es zu gegenteiligen Veränderungen, zu Hochpunkten, Tiefpunkten, Aufwärtsentwicklungen und Rückschlägen kommen (Corbin und Strauss 1998, S. 12 ff.).

Die jeweiligen Aktivitäten der Interviewpartner*innen als pflegende Angehörige werden nun schlaglichtartig bezogen auf diese Phasen dargestellt, insbesondere ihre Rolle bei der Diagnosestellung und am Lebensende, denn hier lagen die Schwerpunkte der Befragten. Doch unabhängig von diesem Phasenverlauf gab es auch Aufgaben der Interviewpartner*innen, die sie über alle Phasen hinweg übernahmen. Dies stand im Zusammenhang mit dem Versorgungssetting, in dem sich die pflegebedürftige Person befand, d. h. insbesondere in der häuslichen Pflege übernahmen die Interviewpartner*innen weitaus mehr Aufgaben als im stationären Setting. Sie steuerten und koordinierten den Versorgungsprozess, verantworteten vielfach das gesamte Medikamentenmanagement, instruierten andere involvierte Personen (Laien und Fachpersonen gleichermaßen) und agierten als Kommunikationszentrale für die Familie und die Profis. Diese Aspekte werden im Abschnitt 4.6 vertieft.

Phase 1: Zeit vor dem Beginn der Krankheit

Die erste Phase steht vor dem Auftreten der Erkrankung. Hier weisen noch keine Anzeichen oder Symptome auf eine Krankheit hin bzw. werden noch nicht zur Kenntnis genommen (Corbin und Strauss 1993, S. 20 f.).

Schon im Vorfeld einer Gesundheitsbeeinträchtigung waren die Interviewpartner*innen innerhalb der Familie zuständig für Krankheits- und Gesundheitsfragen:

„Eigentlich war das schon immer so, ich bin ja schon dreißig Jahre im Beruf, dass alles, was den medizinischen Bereich betroffen hat, da war es ganz natürlich so, dass die Fragen an mich gegangen sind.“ (210420_AJ_DBK10: 4)

Anstöße, um über Gesundheit zu sprechen, kamen von verschiedenen Seiten. Einerseits wurden sie um ihren Rat gebeten, bspw. ob es notwendig sei, mit einer Auffälligkeit professionelle Hilfe zu aufzusuchen. Andererseits sprachen die Interviewpartner*innen manchmal ihre Nächsten auch von sich aus direkt auf gesundheitsschädigendes Verhalten wie z. B. Rauchen an, mit dem Ziel, auf eine Verhaltensänderung hinzuwirken. So bemühten sie sich aktiv um Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung in ihren Familien. Das Ergebnis war für sie jedoch oft frustran. Die Befragten charakterisierten sich dennoch übereinstimmend als Informationsquelle.

Phase 2: Auftreten von Symptomen, Erkrankungsbeginn

In der zweiten Phase deuten erste Zeichen bereits darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass sich etwas grundlegend verändert hat, entweder durch eine Erkrankung oder zunehmende Hinfälligkeit und Einschränkung in der selbstständigen Lebensführung. Es ist jedoch noch unklar, um was es sich genau handelt, bis in dieser Phase die Diagnose gestellt wird (Corbin und Strauss 1993, S. 25 f.).

Viele Interviewpartner*innen berichteten, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Personen erste Hinweise frühzeitig erkannten, selbst wenn keine Beschwerden vorlagen oder geäußert wurden. Sie spielten bei der Diagnostik eine maßgebliche Rolle, denn sie bestanden nachdrücklich auf Abklärung, selbst wenn die zuständigen Mediziner*innen keinen Anlass dazu sah.

Eindrückliches Beispiel war die Diagnosestellung beim Vater von Maria Borges Held, die beim Anschauen seiner Laborbefunde stutzig wurde:

„Dann habe ich meinem Vater gesagt: ‚Gut, du hast hier so einen Wert, Hämoglobin [= roter Blutfarbstoff], das ist nicht ganz normal. Also da muss man schon gucken, was da los ist. Hast du einen Eisenmangel, oder was? Also, ein Mann ist normalerweise nicht einfach anämisch. Das gibt es nicht so bei einem Mann. Eine Frau, vielleicht. Aber ein Mann nicht.‘“ (210531_AJ_DBL11: 104)

Die anschließenden Abklärungen ergaben ein Magenkarzinom in einem frühen Stadium, das aufgrund der frühzeitigen Diagnosestellung gut zu behandeln war. Dieses Resultat war für sie eine Bestätigung, dass es richtig war, auf die weitere Abklärung zu drängen.

Weil sie wussten, auf welche Symptome es ankommt, hakten einige Interviewpartner*innen bei ihren Nächsten nochmals genau nach, schickten sie dann zurück und gaben die richtigen Stichworte für die ärztliche Konsultation mit auf den Weg, so wie Petra Rückert ihrem Vater:

„‚Ich möchte, dass du SOFORT nochmal zu dem Arzt hingehst, und ich MÖCHTE, dass du ihm sagst, dass dir schwindlig geworden ist, und dass du aufgrund von SCHWINDEL vom Fahrrad gefallen bist. Das MUSS der wissen.‘ [Vater:] ‚Der hat mich nicht danach gefragt.‘ [Ich:] ‚Du sollst es ihm trotzdem sagen.‘“ (201121_AJ_DBE5: 26)

Mit diesen fachlich wichtigen Informationen ausgestattet, konnten dann im zweiten Anlauf die richtigen Weichenstellungen durch den Hausarzt erfolgen. In seinem Fall wurde eine Herzrhythmusstörung erkannt und die gezielte Behandlung eingeleitet. Doch primär entscheidend war das biographische Wissen, dass der Vater nicht einfach so stürzt, sondern dass hierfür eine Ursache vorliegen muss, die möglicherweise schwerwiegend ist.

Die Phase der Diagnosestellung war oftmals nicht einfach für die Befragten. Denn obwohl bereits klar war, dass etwas nicht stimmte, war oftmals nicht klar, was genau. Der komplexe Prozess des reflektierenden Denkens, Abwägens und Entscheidens in der Pflege wird als „Clinical Reasoning“ bezeichnet und nutzt Kognition, Metakognition und fachspezifisches Wissen, um Patienteninformationen zu sammeln und zu analysieren, ihre Bedeutung zu bewerten und Handlungsalternativen abzuwägen (Simmons 2010). Trotz ihrer fachlichen Expertise konnten die Interviewpartner*innen die vorliegenden Zeichen nicht immer richtig deuten, was sie dem hohen Druck und Stress zuschrieben, unter dem sie in dieser Zeit standen:

„Da bin ich dann selbst nicht draufgekommen. Also, es gibt so Situationen. Da bin ich so gestresst gewesen. Und zwischen zuhause und dort und hin und her…“ (201230_AJ_DBH8: 16)

Sie haderten dann teilweise mit sich selbst, weil sie zwar diesen Anspruch hatten, aber aus den vielen Puzzleteilen das Gesamtbild nicht zusammensetzen konnten, wie es ein*e Interviewpartner*in im Nachgespräch beschrieb. Es scheint, als ob sie bei der Beurteilung der Situation ihrer Familienmitglieder manchmal nicht auf das – aus professioneller Sicht – Naheliegende kommen konnten.

Außerdem hatten die Interviewpartner*innen bisweilen Mühe, ihre Nächsten davon zu überzeugen, dass weitere Schritte notwendig wären. Es scheint ein schwieriger Prozess zu sein, bis Unterstützungsbedarf von allen Seiten anerkannt wird. Hier ging es insbesondere um das Anerkennen und Akzeptieren von Bedürftigkeit, das Annehmen von Hilfe und das Verabschieden von einem Selbstbild der Eigenständigkeit und Stärke. Manchmal half dann die Einschätzung einer Person, die nicht notwendigerweise eine Fachperson sein musste, aber außerhalb des eigenen Familiensystems stand, und der mehr Gehör geschenkt wurde, weil sie die Lage unvoreingenommener beurteilte als das eigene Kind.

Wenn eine Diagnose eröffnet wurde, waren die Interviewpartner*innen häufig auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Nächsten mit dabei. Einige Befragte traf die Diagnoseeröffnung völlig unerwartet, andere hatten es geahnt oder bereits damit gerechnet. Die Diagnosegespräche wurden von den Interviewpartner*innen sehr unterschiedlich erlebt im Hinblick auf die Empathie und Verständlichkeit von Mediziner*innen in der Gesprächsführung. Die Anwesenheit der Befragten wurde von den Erkrankten sehr geschätzt, sie gab ihnen Halt und Sicherheit. Anschließend baten sie als medizinische Laien oftmals um Erklärungen, und so agierten die Befragten als Dolmetscher*innen und Ansprechperson für weiterführende Information.

Wenn die Mediziner*innen Bescheid wussten, dass die Interviewpartner*innen einen pflegefachlichen Hintergrund haben, wurde mitunter versucht, dies zu nutzen. Bspw. erfuhr Petra Rückert schon vor ihrem Vater von seiner Krebsdiagnose und wurde von der Ärztin gebeten, sie solle ihren Vater „schon mal darauf vorbereiten“ (201121_AJ_DBE5: 26). Dadurch kam sie in einen tiefgreifenden Rollenkonflikt als Tochter und gleichzeitig Fachperson, was sie tun oder besser vielleicht nicht tun sollte. Nach inneren Kämpfen widersetzte sie sich der Anfrage, weil sie dies nicht als ihre Aufgabe als Tochter bewertete, sondern die Aufgabe der Profis ansah. Der Vater hatte später dennoch gemerkt, dass sie von der Diagnose wusste, und war empört, dass sie es ihm nicht gesagt hatte. Dies war ein Paradebeispiel für die schwierigen Aushandlungsprozesse der Befragten zwischen ihrer Rolle als Angehörige und ihrer Rolle als Pflegefachperson. Es zeigte die damit verbundenen Loyalitätskonflikte und wie sie ihren Weg fand, damit umzugehen.

Nachdem eine Diagnose kommuniziert war, reagierten die meisten Interviewpartner*innen ähnlich. Viele antizipierten den zukünftigen progredienten Verlauf und überlegten im Voraus, was zu tun ist, wie optimal unterstützt und die Versorgung gewährleistet werden kann. Die meisten Befragten bewegten sich auf vertrautem Terrain und hatten Handlungssicherheit. Dafür nutzten sie ihr Fachwissen und ihre Systemkenntnisse. Sie überprüften z. B. die jeweilige Patientenverfügung und Betreuungsvollmacht oder initiierten deren Anfertigung, um für den Notfall gerüstet zu sein.

Phase 3: Krise

Die dritte Phase umfasst lebensbedrohliche Situationen (Corbin und Strauss 1998, S. 13).

Viele Interviewpartner*innen berichteten von Krisen, und zwar sowohl im häuslichen Bereich als auch im Krankenhaus oder Pflegeheim. Sie hatten eine entscheidenden Anteil an der Wahrnehmung von lebensbedrohlichen Situationen und ihrer anschließenden Bewältigung. Dies war eindeutig auf ihr Fachwissen zurückzuführen, aber auch auf das genaue Zuhören und Ernstnehmen, was die pflegebedürftige Person an Beschwerden äußerte. Aus einer Vielzahl sollen zwei Beispiele stellvertretend zeigen, wie die Befragten sich und ihre Kompetenzen einsetzten.

Im häuslichen Setting, als alle anderen Familienmitglieder noch der Ansicht waren, dass alles in Ordnung sei, unterschied sich Petra Rückert durch ihre geschulte und umfassende Wahrnehmung und langjährige Erfahrung als Intensiv-Pflegefachfrau, die sie intuitiv auch ohne einen eindeutigen Anlass stutzig werden ließen. Damit erkannte sie die sich anbahnende krisenhafte Entwicklung vor allen anderen:

„Das ist meine Intensivweiterbildung, und zwar ist es mehr eine Intuition, also, es ist weniger so durchdacht, sondern ich sehe DAS, und da kommt eine Schwingung rüber, und ich merke sofort: ‚Jetzt, alle Achtung, jetzt aufpassen, da stimmt was nicht.‘“ (201121_AJ_DBE5: 10)

Auch Rebecca Winkler erkannte die lebensbedrohliche Situation ihrer Großmutter sofort, die nach einer Tumor-Operation im Bauchraum in der Klinik lag. Nachdem sie schon am Morgen telefoniert hatten, war sie beim Besuch erschrocken über ihren schlechten Zustand. Nachdem die professionell Pflegenden zunächst keine Anstalten machten, etwas zu unternehmen, drängte sie darauf, dass ein Arzt oder eine Ärztin kommt und die Großmutter untersucht:

„Das war nochmal eine Notfallsituation, in der erst mal keiner so richtig gehandelt hat. Also, sie hat keine Schmerzmedikamente gekriegt. Und ich bin dann zu den Pflegekräften, habe die darauf angesprochen. Die haben gesagt: ‚Ja, aber sie hat ja Tabletten drin.‘ Ich sagte: ‚Sie hat aber solche Bauchschmerzen, sie hat seit heute morgen KEINE Tablette genommen, ist alles noch im Schieber.‘ Hm. Das hat dann sehr lange gebraucht. Dann ist durch mein Drängen auch mal ein Arzt gekommen. Ja, und die haben dann schnell gehandelt. Der Darm oder die Naht war perforiert. Und sie musste dann nochmal in den OP. Also da hat von der Pflege keiner so richtig geschaut.“ (210318_AJ_DBN13: 22)

Obwohl Rebecca Winkler zu dem Zeitpunkt noch wenig Berufserfahrung hatte, erkannte sie die Situation als bedrohlich, auch weil sie wusste, dass ihre Großmutter normalerweise nicht klagt. Im Gegensatz zum Pflegepersonal der Klinik hat sie die Beschwerden ernstgenommen und ist dem nachgegangen.

Beide Pflegefachpersonen nahmen in ihrer Angehörigenrolle die Veränderungen der nahestehenden Person nicht nur wahr, sondern ernst und zogen daraus entsprechende Konsequenzen, indem sie Abklärungen und Maßnahmen einleiteten bzw. veranlassten.

Einige Befragte berichteten, wie herausfordernd sie es empfanden, in Krisen- und Entscheidungssituationen weitgehend auf sich allein gestellt zu sein. Es gab Stimmen, die im häuslichen Setting ihr gewohntes Team von Fachpersonen vermissten, mit dem sie Eindrücke reflektieren und mögliche Vorgehensweisen diskutieren konnten, v. a., weil die Situationen oft mehrdeutig waren.

Phase 4 : Akuter Krankheitszustand, Krankenhausaufenthalt nötig

In der dritten Phase wird durch eine akute Verschlechterung oder Komplikation ein Krankenhausaufenthalt nötig (Corbin und Strauss 1998, S. 13).

Auch bei einer stationären Einweisung waren die Interviewpartner*innen als wichtige Informations- und Entscheidungsträger*innen involviert. Sie veranlassten die ärztliche Untersuchung, leisteten Überzeugungsarbeit bei der gepflegten Person, übernahmen teilweise auch die notwendigen Vorbereitungen einer Einweisung wie das Kofferpacken, Zusammenstellen von Informationen und Hilfsmitteln. In mehreren Fällen versuchten sie zu steuern, in welches Krankenhaus die nahestehende Person transportiert wird. Dabei zeigten sie sich durchsetzungsstark, wenn es darum ging, die pflegebedürftige Person in die eigene Klinik einweisen zu lassen. Vorteilhaft daran war, dass sie die gepflegte Person in ihrer unmittelbaren beruflichen Nähe hatten und so allfällige Besucherregelungen für Angehörige oft umgangen werden konnten. Am Beispiel von Barbara Büchi klingt an, wie sie steuerte und dazu wohl auch ihre beruflichen Kontakte im Hintergrund nutzte:

„Die Schwiegermutter hatte so eine Angst, dass er [der Schwiegervater] plötzlich sterben würde und dass sie da allein wäre mit ihn, dass man in dem Moment für Sicherheit hat sorgen müssen, und darum habe ich ihn dann über die Notaufnahme einliefern lassen. Und ich habe ihn dann zu uns auf die Akutgeriatrie genommen.“ (201119_AJ_CHBC3: 20)

Mehrere der Befragten berichteten, wie ihr Vertrauen in die Gesundheitsversorgung im Rahmen einer Krankenhauseinweisung erschüttert wurde. Sie berichteten vom verzweifelten Suchen nach ihrer gepflegten Person mit Demenz, die kurzerhand und ohne Information der Angehörigen in ein anderes Krankenhaus umdisponiert wurde, vom Verlust der sorgsam zusammengestellten persönlichen Patientenunterlagen in der Klinik, von Informationsdefiziten und erschreckendem Desinteresse beim Personal. Besonders in Zeiten der COVID-19-Pandemie mit den sehr eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten für Angehörige war dies für sie emotional herausfordernd und schwer zu ertragen.

Obwohl Corbin und Strauss die Verbesserung des Gesundheitszustands einer chronisch kranken Person ausdrücklich mitdachten (1998, S. 12), ist die Entlassung aus dem Krankenhaus in die Häuslichkeit nicht explizit einer Phase zugeordnet. Sie forderte jedoch die Interviewpartner*innen z. T. extrem, weil sie – wie alle anderen Angehörigen in dieser Situation auch – entsprechende Vorbereitungen treffen mussten. Auch hierbei nutzten sie ihr Fachwissen, wie das folgende Beispiel von Tina Aldinger illustriert, die für die nahtlose Weiterführung der Schmerztherapie ihrer Mutter vorausschauend eine Betäubungsmittel-Verordnung einforderte:

„Meine Mutter wurde mit Betäubungsmitteln entlassen. Freitags. Dann habe ich gesagt: ‚Also, ich brauche die Verordnung dann bitte schon drei Tage vorher, weil unser Hausarzt hat keine BTM-Rezepte.‘ – ‚Ja, ähm, ja.‘ Also, wenn du nicht vom Fach bist, also, was wir Angehörigen manchmal ZUMUTEN ist echt ohne Worte. Ohne Worte. […] Am Freitag Entlassung, okay. Am Montag kriegst du das Rezept, dann hast du vielleicht mal mit Glück am Dienstag dann die Medikamente. Also da ist echt im beruflichen Handeln andere Weitsicht gefragt.“ (210503_AJ_DBQ16: 70–74)

Betäubungsmittel (BTM) zu besorgen ist in Deutschland nicht einfach, weil dies nicht jeder Arzt oder jede Ärztin verschreiben darf, nicht jede Apotheke vorrätig hat und so einige Hürden bestehen, deren Überwindung Zeit kostet. Im Beispiel half dieses spezialisierte professionelle Wissen, um im Interesse der Patientin und Mutter, drohende Lücken in der Schmerztherapie im Zuge der Entlassung vorsorglich zu verhindern.

Phase 5: stabil, Symptome unter Kontrolle

Die fünfte Phase zeichnet sich durch eine relative Kontinuität aus, in der die Symptome weitgehend kontrolliert sind (Corbin und Strauss 1998, S. 13). Von kleinen Schwankungen abgesehen, kann in dieser Phase das Leben mit der gesundheitlichen Einschränkung renormalisiert weitergeführt werden (Corbin und Strauss 1998, S. 39 f.).

In den Erzählungen der Interviewpartner*innen nahm diese Phase wenig Raum ein. Dies ist vermutlich den Interviewfragen geschuldet, die stark auf Veränderung abzielten. Denn obwohl diese stabilen Phasen bei den Befragten über einen längeren Zeitraum bis manchmal Jahre andauerten, gab es aufgrund ihrer relativen Gleichförmigkeit im Verlauf wenig Erzählenswertes.

Dennoch ist festzuhalten, dass sich in den stabilen Phasen Routinen des regelmäßigen Kontakts entwickelten, die oft in späteren Phasen intensiviert wurden, wie das Vorbeischauen und / oder Telefonieren zu bestimmten Zeiten. Wenn die pflegebedürftige Person nicht im gleichen Haushalt oder in unmittelbarer Nähe wohnte, sondern in geographischer Distanz, wurden diese Rituale besonders geschätzt, auch damit trotz der räumlichen Entfernung Veränderungen frühzeitig erkannt werden konnten.

Phase 6 : instabil, Symptome nicht kontrollierbar

In der sechsten Phase gelingt nach Corbin und Strauss (1993, S. 179 ff.) die Kontrolle der Symptome durch therapeutische und pflegerische Interventionen immer weniger. Aber es ist noch kein Klinikaufenthalt erforderlich, die pflegebedürftige Person kann noch zuhause sein.

Diese Situation war für die Interviewpartner*innen speziell bei kognitiv eingeschränkten Angehörigen mit Sorge und großen Unsicherheiten verbunden, zugleich waren sie sich der diversen Gefahren bewusst, die mit dem Aufenthalt zuhause verbunden sind. Elke Brendle wägte bspw. die Risiken aber auch die Vorteile der Häuslichkeit bei der Pflege ihres Schwiegervaters ab und griff dazu auf ihre beruflichen Erfahrungen im ambulanten Bereich zurück, die sie für ihre Pflegesituation nutzte:

„Und ich hab’s natürlich draußen gesehen, in meinen zehn Jahren ambulante Pflege. Da weiß man, was es heißt, wenn die alten Menschen allein daheim wohnen, und man weiß, was alles passieren KANN. Und das bestmöglich so zu gestalten, dass es für ihn nicht allzu schlimm ist, und dass es trotzdem von der Verantwortung her tragbar ist, auch, solange er dort allein ist.“ (210208_AJ_DBM12: 108)

In den Interviews wurde sehr deutlich, wie unbeständig diese Situationen und unwägbar mögliche Entwicklungen waren. Die Befragten waren in ständiger Anspannung, rechneten jederzeit mit einer Krise bzw. Veränderung zum Schlechteren. Für Heike Tritschler war diese Sorge ganz präsent:

„Aber das geht nicht mehr lang, das geht NICHT mehr lang gut, ehrlich.“ (210420_AJ_DBK10: 249)

Deshalb wurden zur Stabilisierung und möglichst sicheren Gestaltung der häuslichen Situation zusätzlich zum eigenen Engagement und in Abstimmung mit der pflegebedürftigen Person u. a. Pflegedienste, Notrufeinrichtungen, tagesklinische Angebote oder eine 24-h-Betreuung durch Care MigrantinnenFootnote 3 eingesetzt.

Phase 7 : Verfall, fortschreitende Verschlechterung

Die siebte Phase ist nach Corbin und Strauss (1998) gekennzeichnet von der fortschreitenden Verschlechterung des geistigen und körperlichen Zustands mit vermehrtem oder verstärktem Auftreten von Krankheitssymptomen und zunehmender Einschränkung der Aktivitäten.

Die Phase umschreibt demnach eine palliative Situation. Nicht alle Interviewpartner*innen erlebten dies bislang bei ihren pflegebedürftigen Nächsten. Palliativversorgung umfasst gemäß der aktuellen S3-Leitlinie Palliativmedizin die Verbesserung oder den Erhalt der Lebensqualität von Patient*innen mit einer lebensbedrohenden Erkrankung sowie ihren Angehörigen. Dieses Ziel wird verfolgt durch „Prävention und Linderung von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen und Behandeln von Problemen im physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Bereich“ (Leitlinienprogramm Onkologie 2020, S. 37).

Die Interviewpartner*innen erzählten zu dieser Phase, wie alle involvierten Personen auf unterschiedliche Weise betroffen und gefordert waren. Nicht zuletzt war es für sie selbst auch emotional anspruchsvoll, den Verfall mitzuerleben, die palliative Situation anzuerkennen und sich auf den bevorstehenden Tod der gepflegten Person einzustellen. Darüber hinaus waren sie für die anderen Familienmitgliedern einschließlich der pflegebedürftigen Person wiederum diejenigen, die nach ihrer Einschätzung gefragt wurden und oftmals keine eindeutigen Antworten geben konnten. Zentrale Frage dabei war, wie lange „es“ denn noch ungefähr dauern würde.

V.a. im häuslichen Umfeld übernahmen die Interviewpartner*innen viele organisatorische Aufgaben. In einigen Fällen stellten sie mit der Unterstützung von anderen Familienmitgliedern, Bekannten, Nachbar*innen und Freund*innen und professionellen Diensten eine umfassende häusliche Palliativversorgung bis zum Tod sicher. Markus Schnegg machte deutlich, welch akribische Planung dies bei seiner Mutter umfasste:

„Das war für mich jetzt ein ganz neuer Erfahrungswert, das mal so zu planen, wer, wen, so dass immer alle zwei Stunden jemand da war für eine gewisse Zeit. Also ich war immer der Erste, vor meinem Frühdienst bin ich zu ihr und habe schon mal den Anus Präter [= künstlicher Darmausgang] gemacht, so dass das alles schon mal erledigt war. Und so war der ganze Tag eigentlich durchgetaktet.“ (210216_AJ_DBJ9: 80)

Außerdem wurden stationäre Dienstleitungen wie Palliativstation oder Hospiz organisiert, wobei sich hier wiederum die Fach- und Systemkenntnisse sowie die persönliche Vernetzung der Interviewpartner*innen mit Institutionen und Fachpersonen bemerkbar machten. Einige berichteten, wie sie auch aus geographischer Distanz ihre Beziehungen nutzten, um ihre nahestehende Person zeitnah und bestmöglich stationär versorgt zu wissen.

Die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen beschäftigte die Interview-partner*innen in dieser Phase besonders. Und so übernahmen sie teilweise die vorausschauende Kommunikation und Planung des bevorstehenden Lebensendes mit der gepflegten Person sowie ggf. dem engen Umfeld. Denn es war ihnen ein Anliegen, die Pflege, Behandlung und Begleitung nach deren Bedürfnissen auszurichten und in deren Sinn umzusetzen. Dass diese klare Kommunikation ungewöhnlich ist, aber auch geschätzt wurde, zeigt das Beispiel von Ralf Mögle und seiner Mutter:

„Sie ist sehr dankbar, dass ich so klar mit ihr kommuniziere. Weil es eiern alle so rum. Ich habe zu ihr gesagt: ‚Ja, die Zeit IST begrenzt. Aber uns ist wichtig, dass du noch Lebensqualität hast. Indem du schlafen kannst. Indem du keine Schmerzen hast. Indem du keine solche Atemnot hast. Uns noch hast. Und Dinge klären kannst mit Gesprächen. Meinen Vater sehen kannst. Uns sehen kannst.‘“ (210506_AJ_DBO14: 77)

Dies ist ein Hinweis, wie manche Interviewpartner*innen ihre beruflichen Kenntnisse bspw. zum Konzept Advance Care Planning (Leitlinienprogramm Onkologie 2020, S. 130), d. h. zur gesundheitlichen oder vorausschauenden Versorgungsplanung in einer palliativen Lage, für ihre eigene private Situation nutzbringend einsetzen konnten.

Dass eine stationäre Unterbringung bei Verschlechterung jedoch auch konflikthafte Aspekte hat, offenbarte die Erfahrung von Michaela Ahlers mit ihrem Vater:

„Also es waren die letzten Monate – er war vier Wochen zur Kurzzeitpflege, das war schon ein Drama, weil es das Schlimmste war, was ich meinen Eltern habe antun können. Und dann war er noch sieben Tage im Hospiz. Aber das war für uns einfach genial, weil – also ICH hätte es gar nicht anders GESCHAFFT, die Versorgung wäre auch unmöglich gewesen, es waren alle Organe befallen, also er war multimorbid.“ (201230_AJ_DBH8: 4)

Die Unterbringung des schwerkranken Vaters in der Kurzzeitpflege zeigt beispielhaft, dass Erwartungen an die Interviewpartner*innen gestellt wurden, deren Nichterfüllung zu Konflikten führten. Zudem wird klar, dass der sorgsame Umgang mit sich selbst und was selbst geleistet werden kann, mit den anderen involvierten Personen aushandelt werden muss und immer wieder zur Diskussion stehen kann.

Phase 8 : Sterben und Lebensende

Die letzte Phase umfasst nach Corbin und Strauss (1998) Sterben und Lebensende. Pflege und Begleitung in der letzten Lebensphase bis zum Tod können sich über Wochen erstrecken (Corbin und Strauss 1993, S. 194 ff.).

Für die Interviewpartner*innen war die Pflege am Lebensende einerseits schwer, weil emotional fordernd, und andererseits wertvoll, weil sie trotz allem Leid, diese Phase für die sterbende Person, sich selbst und ihre Nächsten gut gestalten konnten. Alle blickten zwar traurig, aber mit großer Dankbarkeit darauf zurück. Dies war unabhängig davon, ob die pflegebedürftige Person zuhause oder in einer stationären Einrichtung starb. Sie schilderten, wie sie durch die intensive Sterbebegleitung die Gelegenheit hatten, offene Dinge zu bereinigen und wichtige existenzielle Fragen wie Schuld, Versöhnung und Vergebung mit der gepflegten Person zu besprechen. Allerdings lag in allen Situationen, die erzählt wurden, ein „offener Bewusstheitskontext“ (Glaser und Strauss 1995, S. 24) vor, d. h. sowohl die sterbende Person als auch alle unmittelbar Beteiligten wussten, dass sie sterben wird, und gestanden sich dies gegenseitig ein. Der manchmal schwierige Weg bis hin zur offenen Bewusstheit wurde nicht thematisiert. Ob dies dem retrospektiven Erzählen oder den Kompetenzen der Befragten in der Palliativpflege geschuldet war, muss offenbleiben, doch hier gab es keine Variation im Sample.

Manche Interviewpartner*innen übernahmen wiederum die Aufgabe der Kommunikation, d. h. mit anderen Familienmitgliedern über den unausweichlich bevorstehenden Tod zu sprechen. Obwohl dies für sie auch schwer war, bemühten sie sich um Offenheit und versuchten, Täuschung zu vermeiden, um so auch anderen einen guten Abschied zu ermöglichen. Dabei war ihnen oftmals hilfreich, dass sie die Zeichen des nahenden Todes richtig deuten konnten, wie Anita Fischer beim Sterben ihrer Schwiegermutter beschreibt:

„Ich habe gesagt, ich denke, es ist wirklich an dem Punkt, dass sie uns bald verlässt, und ja, da hast du absolut das Gespür dafür. Wir haben dann mit unserem Sohn gesprochen. Ich habe ihm gesagt: ‚Wenn du die Oma nochmal sehen willst, dann solltest du sie bald besuchen gehen.‘ Wir sind dann zusammen gegangen mit dem Sohn. Und da hat sie einen völlig klaren Moment gehabt. Da hat sie äußern können, wie schön es ist, dass wir noch mal als Familie da sind. Und das hat er dann für sich mitnehmen können.“ (210219_AJ_CHAB2: 64)

Die Interviewpartner*innen stellten primär das Selbstbestimmungsrecht der pflegebedürftigen Person in der Mittelpunkt ihrer Bemühungen um ein würdevolles Lebensende. Die häusliche Sterbebegleitung ermöglichte dabei viel Gestaltungsfreiheit, indem die sterbende Person selbstverständlich an Aktivitäten teilhaben konnte, wenn der Rest der Familie im Schlafzimmer Kaffee und Kuchen nahm oder vor dem offenen Schlafzimmerfenster gemeinsam Bier trank.

Die Befragten versuchten im Rahmen ihrer Möglichkeiten, in der Sterbebegleitung zu einem möglichst gelingenden Abschied bei optimaler Symptomkontrolle beizutragen. Hierfür leisteten ihnen ihr Fachwissen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten oftmals wertvolle Dienste. Personenbezogen entwickelten sie darüber hinaus teilweise unkonventionelle Lösungen, wie z. B. Markus Schnegg, der die schwierige Stomaversorgung der Mutter optimierte oder die Mundpflege mit kühlem Bier weitaus angenehmer für sie machte. Aus tiefer Überzeugung, dass Fachpersonen nicht nur Verantwortung für die sterbende Person, sondern auch für die anderen haben, die beim Sterben dabei sind, gestaltete Petra Rückert den Abschied zum Zeitpunkt des Todes ihres Vaters bewusst mit einer symbolischen Handlung („Triade“), in die sie Vater, Mutter und sich selbst gezielt einbezog.

Der Sterbeprozess konnte sehr lange dauern, verbunden mit der Unsicherheit, wann es so weit sein wird. Michaela Ahlers verglich das Sterben ihres Vaters mit einem Marathonlauf, bei dem die Metapher impliziert, dass die letzten Schritte bis ins Ziel vielleicht die schwersten sind. Trotz aller Expertise gelang es nicht immer, das Sterben zu erleichtern, was für die Befragten schwer auszuhalten war, wie Martina Schumacher beschreibt:

„Es war kein schönes Sterben. Es war ein anstrengendes Sterben. Anstrengend. Auch da war es nicht leicht.“ (210326_AJ_DBP15: 184)

Die Analyse machte deutlich, dass die Befragten Vorstellungen davon hatten, was ein „gutes Sterben“ oder einen „guten Tod“ ausmacht im Sinne eines Sterbeideals. Ohne dies im Detail ausführen zu können, waren mit dem Sterbeideal möglichst wenig Leiden, gelingende Symptomkontrolle und Versöhnt-Sein verbunden. Dafür setzten sie sich mit ihrer Sterbebegleitung ein, wohlwissend, dass der Sterbeprozess immer auch unterschiedliche Seiten hat:

„Es gibt keine optimale Situation. Es gibt immer auch so Schnittstellen, wo es stressig ist. Und trotzdem haben wir für uns alle das Gefühl gehabt, wir haben DAS gemacht, was wir machen KONNTEN.“ (201121_AJ_DBE5: 83)

Darüber hinaus nahmen manche aus der privaten Situation Impulse für ihre Berufstätigkeit mit, was sich z. B. darin ausdrückte, dass sie den Angehörigen ihrer Patient*innen, die im Sterben lagen, noch gezielter als zuvor ihre Aufmerksamkeit schenkten.

Die Pflege- und Krankheitsverlaufskurve nach Corbin und Strauss (1998) ist nur retrospektiv vollständig abzubilden. Deshalb waren die Erzählungen über das Sterben und den Tod einer pflegebedürftigen Person besonders wertvoll.
Doch mit ihrem Tod endet diese Verlaufskurve. Und für die Angehörigen geht das Leben weiter. Die intensiven Erfahrungen bei der Sterbebegleitung, die sie maßgeblich mitgestalten konnten, halfen ihnen, mit ihrer Trauer umzugehen und sie zu bewältigen. Oder wie es Tina Aldinger formulierte:

„Für mich war es einfach wichtig, sie in dieser Krankheitsphase zu begleiten, weil MIR klar war, ich trauere da anders. DAS ist meine Trauerphase.“ (210503_AJ_DBQ16: 92)

Die intensive Sterbebegleitung und das Abschiednehmen gaben den Befragten Trost. Sie schätzten im Rückblick diese Zeit als sehr wertvoll für sich persönlich als Mensch und ihre Weiterentwicklung.

4.3.2 Persönliche Entwicklungen der Interviewpartner*innen

Die Perspektive der Interviewpartner*innen zu ihren persönlichen Entwicklungen umfasste häufig sowohl den (selbst-)kritischen Rückblick als auch einen Ausblick auf die Zukunft. Dabei wurden mögliche Handlungsoptionen überlegt und Lehren aus dem Erlebten gezogen. Zuerst wird im Folgenden auf die emotionalen Veränderungen, die sie bei sich wahrnahmen, mit dem Fokus auf ihr Belastungserleben eingegangen. Dann werden einige Lerneffekte und Lehren skizziert, die sie daraus ableiteten.

Emotionale Veränderungen und Belastungen

Insbesondere in den Episoden der Befragten wurde eindrücklich klar, welche Vielzahl unterschiedlicher Gründe es gab, die sich auf ihre Emotionen auswirkten, und wie breit das Spektrum der Reaktionsmöglichkeiten war. Sie erzählten v. a. von Frustration, Ohnmacht, Schuld, Scham, Ärger und Wut, aber auch von Dankbarkeit, Mitgefühl, Freude, Liebe und Glück. Wahrscheinlich machen viele Angehörige ähnliche Erfahrungen. Diese Emotionen bezogen sich auf alle Mitbeteiligten, d. h. auf die pflegebedürftige Person, die anderen Familienmitglieder nah und fern, Freund*innen und Bekannte, die professionellen Gesundheitsdienstleistenden inklusive Krankenkassen etc. und einschließlich auf sich selbst. Die komplexen psychologischen Hintergründe und Theorien zu Emotionen müssen hier unbearbeitet bleiben. Dennoch wird kurz umrissen, wie sehr die Befragten in ihrer speziellen Konstellation als Pflegefachperson und gleichzeitig pflegende Angehörige herausgefordert waren. Zwei typische Situationen tauchten immer wieder in den Daten auf: zum einen, dass sie mit ihrem Fachwissen bei ihrer pflegebedürftigen Person kein Gehör fanden und zum anderen, dass sie im Versorgungskontext auf Pflegefachpersonen trafen, deren Pflege sie als gefährlich einschätzten, dies aber nicht ändern konnten. Beide Situationen resultierten zuweilen in Frustration, Ärger und Wut sowie Gefühlen von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht.

Die Frustration, weil sich die pflegebedürftige Person nicht an ihren Rat hielt, hing auch damit zusammen, dass die Befragten das Beste für sie wollten und ihre Beratung entsprechend ausrichteten, sich jedoch in ihrer Fachkompetenz nicht ernstgenommen und wertgeschätzt fühlten. Eingespielte asymmetrische Familienrollen Eltern – Kind trugen dazu bei, dass pflegebedürftige Personen fachlich gestützte Beratung nicht annehmen oder umsetzen konnten, wie bei Maria Borges Held, die sogar ausgewiesene Pflegeexpertin im Fachgebiet der Erkrankung ihres Vaters war:

„Das ist extrem schwierig, weil mein Vater betrachtet mich als seine Tochter. Und ich habe ihm grundsätzlich nichts zu sagen. Und in diesem Fall hat man aber doch viel zu sagen.“ (210531_AJ_DBL11: 122)

Anita Fischer betonte zudem die Ambivalenz im Verhalten ihrer Eltern:

„Sie wollen immer meine Meinung wissen, und doch ist es manchmal schwierig für sie zu akzeptieren, wenn ich eine andere habe.“ (210219_AJ_CHAB2: 12)

Familiäre Verhaltensweisen trugen zur zusätzlichen Belastung oder Entlastung bei. Außerordentlich hilfreich war vielfach ein offenes Ohr und die erfahrene soziale Unterstützung, die sie nicht nur aus dem Familien- und Freundeskreis, sondern z. T. auch von ihren Berufskolleg*innen erhielten. Dies diente auch als Ventil bzw. zur Psychohygiene, um über Frustration, Ärger und Belastungen zu sprechen.

Einige Interviewpartner*innen erzählten, wie nervenaufreibend manche Begegnungen mit Fachpersonen waren, wie ohnmächtig und ausgeliefert sie sich selbst als Pflegefachperson gegenüber dem Gesundheitssystem erlebten, wenn die pflegebedürftige Person in stationärer Behandlung war. Dies hatte in manchen Fällen zur Folge, dass sie emotional reagierten und Seiten an sich entdeckten, die sie vorher so nicht kannten. Diese Erfahrung brachte Michaela Ahlers pointiert zum Ausdruck:

„Ich verstehe das erste Mal, dass man als Angehöriger zur Furie wird. Ich KANNTE das gar nicht, die Furie in mir. Aber diese Stroke Unit hat mich das echt erleben lassen. Mein Vater war schlecht gelagert, der hing da im Bett, hat ganz schlecht Luft bekommen, und dann fragt man: ‚Könnten Sie da helfen? Ich mache auch mit.‘ Und man muss warten, warten, warten. Und dann ist halt eine halbe Stunde echt lang.“ (201230_AJ_DBH8: 16)

Erfahrungen wie diese sensibilisierten die Interviewpartner*innen, sich noch stärker für die Belange und Bedürfnisse von Angehörigen in der Gesundheitsversorgung einzusetzen. So lernten sie daraus für ihre eigene berufliche Tätigkeit und nutzten z. T. ihre Erfahrungen als Fallbeispiele für die Lehre in der Pflege.

Lerneffekte und Lehren

Die Interviewpartner*innen berichteten von zahlreichen Ereignissen und Erfahrungen in der Angehörigenrolle, die sich auf ihr weiteres Verhalten auswirkten. Der Perspektivenwechsel veränderte ihre eigene Denkweise, aber auch ihren Umgang mit der pflegebedürftigen Person und/oder mit anderen Fachpersonen grundlegend. Viele schärften im Zeitverlauf ihr eigenes Profil als pflegende Angehörige und als Fachperson, positionierten sich zunehmend stärker als Angehörige „vom Fach“ (siehe auch Abschn. 3.2 Beispielepisode) und forderten ihre Rechte ein, wie z. B. Information und Zugang. Je nach Selbstverständnis und Kontext betonten sie eher die eine oder die andere Seite: als Pflegefachperson, die zugleich pflegende Angehörige ist oder als pflegende Angehörige, die zugleich Fachperson ist, wie Abbildung 4.4 illustriert.

Abb. 4.4
figure 4

Selbstverständnis der Befragten

Viele berichteten von grundlegenden Einstellungsänderungen, z. B. in Form einer größeren Bereitschaft, genauer hinzuhören und sich auf eine echte Beziehung mit dem Gegenüber einzulassen, statt sich stärker abzugrenzen. Diese Veränderung von Einstellung und Haltung betraf ihre ganze Person und galt sowohl für die private als auch die berufliche Pflege. Dabei waren das Erkennen und Ausloten der eigenen Grenzen und Belastbarkeit wiederkehrende Themen, die kontinuierlich und situativ Aufmerksamkeit erfordern sowie Strategien der Selbstsorge, die umsetzbar sind, und der kluge Einsatz von Ressourcen.

Eine weitere bedeutende Erkenntnis für die Befragten war das Akzeptieren von Grenzen der eigenen Einflussnahme. Dazu gehörte, dass im häuslichen Bereich nicht alles kontrolliert, jedes Ereignis vermieden oder jede Krise verhindert werden kann. Dies kann im Gegenteil sogar dazu führen, dass sich eine Pflegesituation zum Besseren entwickelt, oder mit den Worten von Markus Schnegg:

„Wenn man meint, es geht nicht mehr weiter, dann gilt der Spruch: ‚Es muss manchmal etwas passieren, damit etwas passiert.‘ Und wenn es ein Oberschenkelhalsbruch ist. Und erst DANN kommt etwas in Gang und vorher nicht, bevor das nicht passiert ist.“ (210216_AJ_DBJ9: 58)

Die Veränderungen im Umgang mit der pflegebedürftigen Person betrafen v. a. die Kommunikation. Dabei ging es einerseits darum, wie der eigene Wissensvorsprung durch die fachliche Qualifikation und Beherrschung der Fachsprache offen und ehrlich in eine verstehbare Sprache übersetzt werden konnte, gleichzeitig abgestimmt auf die Wünsche und Möglichkeiten der pflegebedürftigen Person. Dennoch wurde die Vorstellung, dass ihre Wünsche immer Priorität haben, auch relativiert:

„Wir versuchen immer, alle Wünsche zu erfüllen. Jeder hat es im Kopf, alle Wünsche, der Sterbende oder der Schwerkranke, ALLE Wünsche erfüllen, nicht wahr? Und das hab’ ich auch gelernt: man KANN nicht alle Wünsche erfüllen.“ (201121_AJ_DBE5: 76)

Andererseits mussten die Befragten lernen zu akzeptieren, dass ihre Bemühungen, die pflegebedürftige Person zu erreichen z. B., um sie von einer sinnvollen Maßnahme im Rahmen der Behandlung und Pflege zu überzeugen, nicht immer von Erfolg gekrönt waren. Dies war für sie besonders anspruchsvoll, weil sie sich mit der Zurückweisung und Kränkung auseinandersetzen mussten, die damit für sie verbunden war.

Die Begegnungen mit den Fachpersonen und insbesondere mit der eigenen Berufsgruppe Pflege hatten die augenfälligsten Verhaltensänderungen zur Folge. Die Befragten nannten dabei ursächlich drei zentrale Themen: schlechte Versorgungsqualität, die Gefährdung der Sicherheit der pflegebedürftigen Person und das Machtgefälle v. a. im stationären Setting zwischen Fachpersonen auf der einen und Patient*innen mit ihren Angehörigen auf der anderen Seite. Das war für sie schwer auszuhalten, weil sie durch ihren beruflichen Hintergrund Insiderwissen mit einer klaren Vorstellung von Qualität in der Pflege hatten:

„Du siehst das System mit seinen Härten und wenn du nicht privilegiert bist und dir finanziell nicht noch etwas leisten kannst, bist du AUSGELIEFERT, und das finde ich ziemlich krass. Meine Mutter ist in den letzten 4 Wochen wirklich jeden Tag bei ihm gewesen, um ihm noch ein bisschen Essen zu geben. Und wenn sie das nicht gemacht hätte, er hätte nichts gegessen, weil sich keiner die ZEIT dafür GENOMMEN hätte. Und können wir uns darauf verlassen, dass er gut versorgt ist? Nein, das kann man NICHT.“ (201230_AJ_DBH8: 14)

Sie lernten daraus, mit Fehlern zu rechnen, wachsam zu sein und trotzdem auf das Beste zu hoffen, ihre Erwartungen zu relativieren und dennoch klar zu kommunizieren und sich schützend an die Seite der als vulnerabel wahrgenommenen pflegebedürftigen Person zu stellen im Sinne einer protektiven Versorgung, die Sicherheit bietet:

„Es ist das Vertrauen, das kaputt geht in Pflegekräfte, wo ich jetzt halt doch nochmal hinterfrage: ‚Warum ist das so und macht das Sinn?‘ Ich bin jetzt ein bisschen wachsamer, muss man einfach so sagen.“ (210318_AJ_DBN13: 37)

Wenn es in ihren Augen nötig wurde, positionierten sie sich als Fürsprecher*innen für die pflegebedürftige Person und forderten deren Rechte ein. Der Perspektivenwechsel einerseits Pflegefachperson und andererseits pflegende Angehörige hatte somit Auswirkungen auf ihre Positionierung im Versorgungssetting (vgl. Abschnitt 4.6 und 4.7). Sie wurden sowohl nachsichtiger als auch entschiedener in ihrer Haltung gegenüber den anderen Akteur*innen.

4.4 Erfahrungsgeschichte

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Codes 3. Erfahrungsgeschichte: Erleben in der Doppelrolle mit seinen Untercodes, 4a. Selbstreflexion der eigenen Rolle und 5. FF: Kennzeichen von Angehörigenpflege und professioneller Pflege.

In den vorangegangenen Kapiteln wurden bereits einige Erfahrungen der Interviewpartner*innen als pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachpersonen evident. Sie sind heterogen und zeigen zusammengenommen ein facettenreiches Bild dieser Situation. Nun werden in der Gegenüberstellung von typischen Beispielen ausdrücklich schlechter und ausdrücklich guter Erfahrungen jeweils die Hauptcharakteristika der Bewertung aus der Perspektive der Interviewpartner*innen gezeigt. Diese Polarisierung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Erfahrungen der Befragten wesentlich differenzierter sind und sowohl positive als auch negative Aspekte beinhalten. Zunächst stehen die Begegnungen mit Fachpersonen an den Schnittstellen zur Gesundheitsversorgung im Mittelpunkt. Dann wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in der Interaktion mit der pflegebedürftigen Person am Beispiel Nähe und Distanz behandelt.

4.4.1 Explizit als schlecht wahrgenommene Erfahrungen

Erfahrungen, die als schlecht wahrgenommen wurden, bezogen sich auf alle Involvierten einschließlich sie selbst, die pflegebedürftige Person und alle Akteursgruppen der Gesundheitsversorgung. Im Zentrum standen schlechte Erfahrungen mit den Mitarbeitenden von Pflege und Medizin speziell bezogen auf Information und Kommunikation, Qualität der Versorgung und Organisation von Abläufen. Anhand von drei Themenfeldern wird dies nun veranschaulicht:

Themenfeld 1: Kritik an Routinen und 08/15-Vorgehen

Die Interviewpartner*innen erlebten den Umgang mit der pflegebedürftigen Person häufig als an Routinen orientiert, nach ‚Schema F‘ und wenig auf die gepflegte Person bezogen. Sie versuchten zwar, sich dies mit den Kontextbedingungen der Gesundheitsversorgung zu erklären, waren aber gleichwohl auch erschreckt, wie wenig auf die individuelle Person eingegangen wurde im Krankenhausalltag. Elisabeth Keller beschrieb folgendes Erlebnis bei einem Klinikaufenthalt ihrer nahestehenden Person, die komplexe gesundheitliche Probleme im Rahmen von Multimorbidität hatte:

„Und dann habe ich auch noch einmal nachgefragt: „Was ist jetzt mit diesen Medikamenten?“ Dann ist rausgekommen, R [= die pflegebedürftige Person] hat es nicht bekommen, aber hätte es als Bedarfsanordnung in der Reserve gehabt. Aber es hat einfach niemand gegeben. Ich gehe doch nicht noch kontrollieren, was da für Medikamente im Krankenhaus verordnet sind! Da habe ich gemerkt, hier sind meine professionellen Grenzen. (…) Zu zweit haben wir das gesagt. Wir hatten BEIDE bei der Aufnahme hingewiesen, dass es das braucht. Und wenn es in der Reserve landet und niemand bringt es, dann fragst du dich schon, wo ist die Versorgung bei Leuten, die nicht Null-Acht-Fünfzehn sind? Wenn du da mit einer Extrasituation kommst, habe ich den Eindruck, die sind wirklich unterversorgt.“ (201118_AJ_CHAA1: 137–141)

Dieses Beispiel hat mehrere Aspekte. Im Vordergrund steht die unzureichende Umsetzung von erhaltenen Informationen in angemessene Handlungen auf Seiten der professionellen Fachpersonen, d. h., dass die pflegebedürftige Person ein benötigtes Medikament auch dann erhält, wenn es nicht fest, sondern als Bedarfsmedikation verordnet ist. Dies bringt die Befragte als pflegende Angehörige an ihre Grenzen, denn sie fragt sich, wo Kontrolle nötig und möglich ist und wo ihre Verantwortung endet. Darüber hinaus ist eine grundlegende Sorge angedeutet: wie werden Institutionen einer komplexen Situation gerecht, wenn sie so wenig auf den einzelnen Fall, seine individuellen Erfordernisse und Besonderheiten achten? Sie befürchtet, dass dies nicht geleistet wird und folglich zu einer schlechten Versorgung führt.

Themenfeld 2 : Kritik an Desinteresse und Vernachlässigung von Pflichten im Dienst

Es wurden etliche Situationen geschildert, in denen die Interviewpartner*innen mangelnde Aufmerksamkeit und fehlendes Interesse der Fachpersonen am schlechten Zustand der pflegebedürftigen Person erlebten. Dies hatte zur Folge, dass die Befragten selbst aktiv wurden und im Interesse der pflegebedürftigen Person Maßnahmen einforderten. Rebecca Winkler erlebte dies besonders drastisch auf einer chirurgischen Station nach der Operation ihrer Großmutter:

„Zuerst war ich bei meiner Oma im Zimmer und habe schon schnell gemerkt, was los ist, die Bauchdecke war auch hart und alles, und da dachte ich, jetzt MUSS was passieren. Dann bin ich zum Stationszimmer und habe die Pflegekraft dasitzen sehen und am Handy spielen. Und dann bin ich gefühlt explodiert. Also da war ich echt richtig sauer. Ich habe die jetzt nicht angeschrien, aber ich habe ihr schon sehr deutlich gesagt, dass sie jetzt das Handy weglegen soll, dass sie den Arzt informieren soll, dass meine Oma ein Schmerzmedikament braucht, und zwar irgendwas Intravenöses und keine Tabletten. (…)

Du bist ja selbst in der Rolle, du kennst das. Das ist viel los auf Station, und es ist stressig, und ich hätte, glaube ich, ALLES verstehen können, aber dass die dann da saß mit dem Handy, das war irgendwie- das ging gar nicht!“ (210318_AJ_DBN13: 29)

Diese Situation macht exemplarisch deutlich, wie die Pflegefachperson im Dienst ihre Aufgabe der postoperativen Krankenbeobachtung vernachlässigte und so die ohnehin bereits bestehende Anspannung, die Sorge und den Stress der Angehörigen noch verstärkte. Sie macht auch klar, dass es Gründe für Verzögerungen geben kann, die für die befragte Person verständlich wären. Das Spielen am Handy gehört nicht dazu.

Themenfeld 3 : Kritik am Umgang mit Verantwortung und Macht

Viele schlechte Erfahrungen kreisten um den nachlässigen Umgang mit Informationen und der übertragenen Verantwortung. Für Dorothee Maier war die wiederholte Erfahrung von Fehlern bei der Informationsweitergabe ein Anlass, genauer hinzuschauen:

„Es sind immer wieder so Ketten entstanden an Informationsdefiziten, also wäre ich jetzt nicht Fachkraft, wäre mir das völlig durchgegangen. Das wäre GAR nicht aufgefallen, dass da irgendwelche falschen Pläne und falsche Medikamente übermittelt werden. Und ich habe mich dann als Regulativ eingeschaltet und gesagt: „Das hier, DA stimmt etwas nicht!“ Aber auch das mit dem Zuhören, dass das irgend jemand WISSEN will, das hat da nicht stattgefunden.“ (201207_AJ_DBF6: 63)

Sie machte die Erfahrung, dass Angehörige z. T. weder als Informationsquelle genutzt wurden noch, dass der Umgang der Fachpersonen mit den anvertrauten Informationen sorgfältig war. Dies ließ sie wachsam werden und z. B. die Medikation verstärkt kontrollieren, insbesondere bei Wechsel der pflegebedürftigen Person von einem Versorgungsbereich in einen anderen. Doch selbst wenn sie auf einen Fehler aufmerksam machte, wurde sie teilweise nicht gehört. Daraus resultierte einerseits ein Gefühl von Ohnmacht als Angehörige (die zugleich Pflegefachperson ist) und andererseits die Überzeugung als Pflegefachperson (die zugleich Angehörige ist), dass v. a. bei einer Verlegung der pflegebedürftigen Person, die korrekte Medikation aktiv nachzuverfolgen ist.

Die folgende Erfahrung zeigt, wie Verantwortung und Macht der zuständigen Pflegefachperson auch bei körperbezogenen Pflegemaßnahmen erlebt wurden. Michaela Ahlers berichtete von einem Besuch in der Klinik:

„Ich war dann bei ihm im Zimmer, und auf einmal stöhnt er. Und dann sage ich: „P, was ist denn los?“ Dann sagt er: „Ich muss jetzt Wasser lassen. Und ich muss das jetzt in die Windel machen, weil die mir gesagt haben, dass sie mich nicht auf den Topf setzen.“ Und das war für mich BRUTAL. Einen erwachsenen Mann in die WINDEL urinieren zu lassen, der noch bei Verstand ist. Ich finde, wenn er bewusstlos ist, das ist eine GANZ andere Geschichte. Und ich habe gedacht, wie ENTWÜRDIGEND ist das. Und das fand ich TOTAL krass.“ (201230_AJ_DBH8: 14)

In den gewählten Beispielen zeigen sich schlechte Versorgungsqualität, Missstände, Sicherheitsmängel und das Machtgefälle zwischen Fachpersonen auf der einen und pflegebedürftiger Person mit ihren Angehörigen auf der anderen Seite. Diese Innensichten könnten für die Gesundheitsversorgung wertvoll werden, um Ansatzmöglichkeiten für Verbesserungen zu erkennen.

4.4.2 Explizit als gut wahrgenommene Erfahrungen

Erfahrungen, die ausdrücklich als gut wahrgenommen wurden, wurden seltener berichtet. Sie bezogen sich v. a. auf Situationen mit der pflegebedürftigen Person und dem familiären Umfeld sowie auf alle Akteursgruppen der Gesundheitsversorgung. Im Zentrum standen die Qualität der Versorgung, die Fachlichkeit sowie die Kooperation. Anhand von wiederum drei Themenfeldern wird dies nun veranschaulicht:

Themenfeld 1 : Lob von individuell abgestimmter Kommunikation

Die Interviewpartner*innen erzählten von verschiedenen Kommunikationssituationen, die sie als gelungen erlebten, oftmals im Zusammenhang mit der Überbringung von schlechten Nachrichten, z. B. bei der Mitteilung der Diagnose, wenn sich die jeweilige Fachperson durch Einfühlungsvermögen und Mitgefühl auszeichnete. Markus Schnegg berichtete zudem von einem Hausbesuch des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) bei der pflegebedürftigen Person. Er beurteilte diesen Hausbesuch als ausgesprochen gelungen im Hinblick auf das gemeinsame Ziel der angemessenen Beurteilung des Pflegebedarfs und den wertschätzenden Umgang mit der betroffenen Person:

„Es war eine schöne Gesprächsatmosphäre, wo die Ethik eindeutig im Vordergrund stand. Aus Scham wollte meine Schwiegermutter über bestimmte Dinge nicht reden. Und ich habe das dann doch angesprochen, denn sonst wäre es untergegangen. Und das war elementar, gerade was die Inkontinenz angeht, an der sie leidet. Sie hat das halt schambehaftet eher runtergespielt. Ich habe aber das dann eben so medizinisch verpackt rübergebracht, dass sie es jetzt nicht so hart gehört hat, was ich gesagt habe, aber der MDK hat das sofort dementsprechend einstuft. So dass sie auch geschützt war. Der MDK hat es sofort erkannt und hat gesagt: „JA, dieses Thema ist immer schambehaftet.“ Und hat sie dann auch so einfach umfangen. Das war schön.“ (210216_AJ_DBJ9: 16 f.)

Im Gespräch mit dem MDK erlebte er sich als hilfreich in seiner Dolmetscherfunktion, denn er konnte die für die Beurteilung des Pflegebedarfs erforderlichen Informationen von Fachperson zu Fachperson und dennoch mit der nötigen Feinfühligkeit ansprechen. Gegenüber dem MDK verwendete er dazu gezielt Fachsprache, damit sich die pflegebedürftige Person nicht schämen muss wegen ihrer Inkontinenz, die sie üblicherweise versuchte, vor ihrem gesamten Umfeld zu verbergen. Dieses Gespräch wurde von allen Beteiligten als gute Erfahrung wahrgenommen.

Themenfeld 2 : Lob von Expertise und Engagement

Fachliche Expertise und Engagement aus eigenem Antrieb wurde von der Interviewpartner*innen sehr positiv bewertet. Elke Brendle berichtete über die Erfahrungen mit dem ambulanten Pflegedienst, dessen Fachkräfte in unterschiedlichster Qualität für die pflegebedürftige Person mit kognitiver Beeinträchtigung sorgten:

„Die Pflegekräfte wechseln. Und da gibt es solche und solche, wie immer. Ich kenne aber auch die Not der fehlenden Fachkräfte oder der fehlenden EMPATHISCHEN Fachkräfte. Also, das ist für mich jetzt nicht schwierig, weil ich einfach beide Seiten kenne. (…)

Und jetzt habe ich gerade vor zwei Tagen einen Neuen kennengelernt, der sich wirklich die Mühe gemacht hat, bei S [= pflegebedürftige Person mit kognitiver Beeinträchtigung] hinzustehen und nett zu sagen: ‚Bitte trinken Sie das Glas leer.‘ Und er wusste nicht, dass ich da bin. Da war ich Ohrenzeugin. Bei dem hab’ ich gedacht, wie schön, es gibt auch Gute.“ (210208_AJ_DBM12: 187f.)

Zwischen den Zeilen klingt durch, dass sie der Anwesenheit von Angehörigen im Setting möglicherweise einen positiven Effekt auf das Engagement und die Qualität der geleisteten Pflege durch den Pflegedienst zuschreibt. Umso bemerkenswerter, wenn gute Pflege auch aus eigenem Antrieb der Pflegefachperson erfolgt, gegründet auf dem aktuellen Wissensstand und ihrer fachlichen Expertise. Obwohl bekannt war, dass S nicht ausreichend trinkt, wurde dies offenkundig nicht von allen umgesetzt.

Themenfeld 3 : Lob dem kooperativen Miteinander

Rebecca Winkler erfuhr bei der Behandlung ihrer Großmutter, dass es innerhalb eines Krankenhauses große Unterschiede in Bezug auf die Qualität der Pflege und Betreuung geben kann:

„Auf der Intensivstation war es echt gut mit den Pflegekräften. Das war auch echt schön. Es gab eine Situation, in der ich gefragt habe, ob ich meiner Oma die Haare waschen kann. Und dann kam die Pflegekraft dazu, und dann haben wir ihr zusammen die Haare gewaschen. Also das waren auch schöne Situationen, ich hätte es bestimmt auch alleine können, die Pflegekraft hätte das auch alleine können, aber es war einfach zu zweit, und das war dann eine gute Ergänzung irgendwie. (…)

Da war eine andere Atmosphäre als auf der Normalstation. Klar haben die einen besseren Schlüssel, aber ich glaube, das war auch etwas Persönliches. Da kam ich mit den Leuten besser klar, und die haben mich auch so eingebunden und waren vielleicht einfach ein bisschen empathischer und einfühlsamer.“ (210318_AJ_DBN13: 43-45)

Diese gute Erfahrung eines kooperativen Miteinanders half ihr, die schlechten Erfahrungen (Pflegefachperson am Handy) etwas zu relativieren. Sie schrieb dies verschiedenen Faktoren wie dem Personalschlüssel, dem persönlichen Verstehen (oder „Nasenfaktor“, wie dies von Elisabeth Keller genannt wurde) und der Empathie und Einfühlsamkeit der Fachperson zu. Sie thematisierte damit auch die Art der Beziehung, die für eine gelingende Kooperation grundlegend war.

Viele der positiven Erfahrungen zeichnete eine besondere Qualität aus, die von den Interviewpartner*innen als außerhalb des Gewöhnlichen wahrgenommen wurde. Es könnte in einem weiteren Schritt erhellend sein, sie als Resonanz (Rosa 2018) versuchen zu verstehen und tiefergehend zu analysieren.

4.4.3 Was heißt hier ‚schlecht‘ und was ‚gut‘?

In zahlreichen Fallbeispielen erzählten die Interviewpartner*innen von ihren schlechten und guten Erfahrungen an den Schnittstellen zur Gesundheitsversorgung und verwendeten zahlreiche Attribute, was sie unter schlecht bzw. gut verstehen. Diese Charakterisierungen wurden gesammelt und gruppiert zu den Themenbereichen Wissen / Kompetenzen, Kommunikation, Interaktion / Kooperation, Zeit, Organisationsablauf und Termintreue. Sie sind in Abbildung 4.5 zusammenfassend gegenübergestellt.

Abb. 4.5
figure 5

Charakteristika von schlechten und guten Erfahrungen

Die Gegenüberstellung zeigt, dass die Interviewpartner*innen sehr klare Vorstellungen haben, was für sie als ‚gut‘ und was als ‚schlecht‘ zu bewerten ist. Dabei wurde unverkennbar, dass nicht nur individuelle Persönlichkeitsmerkmale, Haltung, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Fachpersonen, sondern insbesondere auch die Arbeits- und Rahmenbedingungen, unter denen Pflege und Behandlung erfolgt, entscheidenden Einfluss nehmen, wie z. B. Unterbesetzung, Zeitdruck, und Fachkräftemangel.

Seit einiger Zeit wird ein Wandel in der Gesundheitsversorgung in Richtung Partizipation von Patient*innen ‚auf Augenhöhe‘ gefordert (exemplarisch http://www.patient-als-partner.de/). Davon war in den Erzählungen der Interviewpartner*innen zu ihren Erfahrungen in der Angehörigenrolle und Beschreibung der alltäglichen Interaktion mit Fachpersonen wenig zu entdecken. Wie bereits angeklungen, könnten speziell die negativen Erfahrungen als Anstöße für Qualitätsverbesserungen in der Gesundheitsversorgung dienen.

4.4.4 Erfahrungen zu Nähe und Distanz

Zur Beschreibung ihrer Erfahrungen verwendeten die Interviewpartner*innen häufig Gegensatzpaare wie gut versus schlecht, privat versus beruflich oder Freude versus Leid. Doch keines war so allgegenwärtig wie Nähe versus Distanz. Deshalb wird dies hier vertieft.

Die Befragten verwendeten die Begriffe Nähe und Distanz in drei unterschiedlichen Bedeutungen: um eine geographische, eine körperliche und eine emotionale Entfernung auszuführen. Diese sind zwar miteinander verwoben, aber keinesfalls identisch, wie die Daten zeigten.

Geographische Entfernung

Wie in der Beschreibung des Samples (siehe Abschn. 4.1) deutlich wird, lebten zwei Interviewpartner*innen mit der pflegebedürftigen Person in einem Haushalt. Dies waren jeweils die Lebenspartner*innen. Alle anderen lebten in unterschiedlich großer geographisch-räumlicher Entfernung: vier am selben Wohnort und neun weiter weg, z. T. mehrere hundert bis zu tausende Kilometer entfernt und in verschiedenen Ländern. In allen Fällen waren die Befragten migriert, was auf ihre Mobilität hinweist.

Wenn eine Pflegebedürftigkeit eintrat, wurden verschiedene Strategien eingesetzt, um die räumliche Distanz zu überwinden und um emotionale Nähe herzustellen. Allen datenschutzrechtlichen Bedenken zum Trotz wurden von vielen Interviewpartner*innen Messenger-Dienste wie WhatsApp im privaten Umfeld der Sorgesituation genutzt. Besonders betont wurde, wie nützlich eigens eingerichtete Familiengruppen waren, die intensiv genutzt wurden, um über die neusten Entwicklungen, Anliegen oder anstehende Aufgaben in gleicher Art und Weise an alle Beteiligten gleichzeitig zu kommunizieren. Manche verwendeten Videotelefonie mit der pflegebedürftigen Person, aber am häufigsten diente das klassische Telefon zur Kommunikation. Dies mag den Technikkompetenzen der involvierten Personen, individuellen Präferenzen oder der Habitualisierung geschuldet sein. Die Befragten berichteten von ihren Routinen und Ritualen in der Kommunikation mit der pflegebedürftigen Person, die auch ihrem Sicherheitsbedürfnis dienten, wie z. B. tägliche Anrufe zur gleichen Uhrzeit, deren Ausbleiben eine Kaskade weiterer Maßnahmen zur Folge haben konnte, wie z. B. dann den Bruder oder die Nachbarin anzurufen, um prüfen zu lassen, ob vor Ort alles in Ordnung ist.

Allem Technikeinsatz zum Trotz berichteten die Befragten, dass in verschiedenen Situationen ihre Anwesenheit vor Ort für sie unabdingbar war, wie z. B., um den Unterstützungsbedarf einzuschätzen oder im Umfeld von Operationen. Sie begleiteten dabei nicht nur die pflegebedürftige Person, sondern unterstützten auch die Familienangehörigen vor Ort. War die eigene Anwesenheit – den Umständen geschuldet – unmöglich, dann dienten andere Menschen als ihre Augen und Ohren, wie Maria Borges Held am Beispiel ihrer Mutter verdeutlicht:

„Natürlich hatte ich einen Spion. Das war meine gute Pflegekollegin E, die in diesem Krankenhaus gearbeitet hat. Und sie hat meine Mutter auch besucht und sich erkundigt (…). Ich habe E dann angerufen und gefragt: „Wie ist die Lage? Wie geht’s ihr?“ Und sie hat es mir natürlich auch berichtet. Und sie war ein wichtiger Faktor für meine Mutter. Sie hat sich durch ihren Besuch in einer Weise unterstützt gefühlt im Sinne von ‚Ich werde nicht vergessen.‘“ (210531_AJ_DBL11: 96)

Dieser strategische Einbezug von unterstützenden Personen war unabhängig von der messbaren Entfernung zu beobachten. Er erfolgte sowohl über Ländergrenzen hinweg als auch in der gleichen Stadt, wenn ein eigener Besuch, z. B. aufgrund beruflicher Verpflichtungen, nicht möglich war.

Die Erfahrungen der Interviewpartner*innen offenbarten eine deutliche Diskrepanz ihrer Situationseinschätzung, je nachdem, ob sie vor Ort oder telefonisch erfolgte, und sie registrierten eindeutig die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten. Sie schätzten das Vorbeischauen, um sich ihr eigenes Bild von der Situation zu machen, als viel zuverlässiger ein zur tatsächlichen Lagebeurteilung als das Telefonieren. Beim Telefonat konnten für sie wichtige fachliche Informationen unbeachtet bleiben, sei es, weil die Gesprächspartner*in selbst die Situation tatsächlich nicht einschätzen konnte oder weil sie bewusst verhindern wollte, dass sich jemand Sorgen macht.

Nichtsdestotrotz war die geographisch-räumliche Entfernung eine wichtige Ursache für große Sorgen der Befragten, weil sie im Notfall nicht schnell dort sein konnten und sich teilweise fragten, ob, wie und wann sie von einer krisenhaften Zuspitzung erfahren würden. Sie fürchteten bei kognitiven Einschränkungen häufig um die Sicherheit der pflegebedürftigen Person. Insbesondere wenn keine Familienangehörigen vor Ort waren, wurde versucht, passende Unterstützung zu organisieren, oftmals durch die Kombination verschiedener Angebote von ambulanten und stationären Diensten sowie Freiwilligenorganisationen. Organisatorisches übernahmen die Interviewpartner*innen häufig auch aus der Distanz. In manchen Fällen bewährte sich eine jahrelange Eingebundenheit in das Wohnumfeld und ein soziales Netz, wo dann die Nachbarschaft, Freund*innen und Bekannte Unterstützung boten. Zudem wurde gelegentlich gemeinsam über einen Umzug in räumliche Nähe bzw. in betreutes Wohnen oder ein Pflegeheim nachgedacht.

Insgesamt nutzten die Interviewpartner*innen verschiedene Strategien, um die geographisch-räumliche Distanz zu überwinden. Sie waren gleichwohl manchmal froh, dass sie dadurch eine gewisse Entfernung aufrechterhalten konnten, die sie legitimierte, manche Aufgaben zu delegieren und es ihnen ermöglichte, Abstand zu gewinnen.

Körperliche Entfernung

Bereits das seit vielen Jahren gebräuchliche Modell der sog. Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) nach Juchli mit Rückgriff auf Henderson und Roper (1983, S. 65 f.) zeigt, wie körperbezogen Pflege ist. Dies kommt besonders zum Ausdruck bei den ATL ‚Sich waschen und kleiden‘, ‚Ausscheiden‘ und ‚Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten‘, die mit Nacktheit und Intimsphäre verbunden sind. Für manche Interviewpartner*innen war das Austarieren von körperlicher Nähe und Distanz problematisch. Dies wurde insbesondere deutlich an der Frage, bei welcher Aktivität sie unterstützen wollen, welche Aufgaben sie übernehmen können und v. a. welche nicht. Körperlichkeit ist vielfach mit Scham und manches wie Ausscheidungen zudem mit Ekel verbunden. Als Pflegefachperson hatten sie sich mit ihrer beruflichen Qualifikation die entsprechenden Fähigkeiten und Fertigkeiten angeeignet, bei körperbezogenen Tätigkeiten zu unterstützen und dabei mit Scham angemessen und respektvoll umzugehen. Als pflegende Angehörige konnten sie dies bei der Unterstützung der älteren Generation des anderen Geschlechts oftmals nicht einsetzen, denn es berührte für sie eine Grenze, die sie nicht überschreiten konnten oder wollten. In dieser Situation waren sie froh um einfühlsame Fachpersonen, die diese Grenze fraglos akzeptierten, so wie es Martina Schumacher erlebte:

„Mein Vater hatte auch eine Prostatageschichte gehabt und vielleicht auch einen Harninfekt. Da habe ich gesagt: „Also, ich kann bei meinem Vater keinen Katheter legen.“ Dann haben die von der SAPV gesagt: „Selbstverständlich! Sie sind das Kind.“ Und das war für mich echt gut.“ (210326_AJ_DBP15: 132 f.)

Einige Interviewpartner*innen übernahmen die gesamte Pflege einschließlich der körperbezogenen Pflegetätigkeiten selbst. Doch andere betrachteten die Übernahme nicht nur als Überschreitung der eigenen Grenzen und/oder derjenigen der pflegebedürftigen Person, sondern auch als die Aufgabe der Fachpersonen, komplementär zu ihrer Rolle als pflegende Angehörige, die ihnen die Möglichkeit gab, sich auf das für sie Wesentliche zu fokussieren. Obwohl sie dies im Notfall auch übernehmen würde, war z. B. für Petra Rückert damit auch eine klare Positionierung als Tochter verbunden, deren Aufgabe es ist, einfach für ihren Vater da zu sein und ihn zu begleiten:

„Für mich als pflegende Angehörige heute und als Krankenschwester ist die erste Priorität zu sagen: ‚Ich möchte nur so viel Pflege übernehmen, wie ich will – nur im Notfall DIREKT Hand anlegen, weil ich hab’ vorher meinen Vater nicht gepflegt, ich will das auch jetzt nicht. Ich will die Tochter sein. Ich will dasitzen und will die Hand halten, aber ich will nicht in so einen Pflegeaktionismus kommen.“ (201121_AJ_DBE5: 48)

Daraus resultiert ein Anspruch an die professionelle Pflege, die unterschiedlichen Präferenzen der pflegenden Angehörigen und zugleich Pflegefachpersonen wahrzunehmen, zu berücksichtigen und ihnen diesbezüglich Entscheidungsfreiheit zu gewähren.

Abschließend sei auf einige der in diesem Kontext verwendeten Metaphern hingewiesen, deren vertiefte Betrachtung wohl lohnend wäre. Die Interviewpartner*innen beschrieben sich und ihre Positionierung im Raum mit z. T. eindrücklichen Bildern: „an der Bettkante“ sitzend und die „Hand halten“ oder „vor dem Bett“ stehend und Anweisungen erteilen, „zwischen allen Stühlen“, sie vollbringen einen „Balanceakt“ und „jonglieren“ Aufgaben, und sie tragen als pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson „zwei Paar Schuhe“, die für die Angehörigenrolle und die Berufsrolle stehen.

Emotionale Entfernung

Auch die emotionale Entfernung zur pflegebedürftigen Person war immer wieder Veränderungen unterworfen und neu zu bestimmen. Die Interviewpartner*innen nutzten dafür zum Teil Strategien aus ihrem Berufsleben. In den Pflegeberufen sind Nähe und Distanz zu Patient*innen wesentliche Themen der Beziehungsgestaltung, die erlernt werden müssen (Schoßmaier 2018, S. 15). Im Rahmen der beruflichen Sozialisation in der Krankenpflege und daran anschließend im beruflichen Alltag werden Strategien angeeignet, um mit dem Leid und Leiden der kranken Menschen umgehen zu lernen, ohne selbst Schaden zu nehmen, wie bspw. Selbstreflexion, Selbsterfahrung, Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Dazu bieten z. B. betriebliche Supervisionsangebote einen institutionellen Rahmen. Für pflegende Angehörige gibt es z. T. Angehörigengruppen, die von den Befragten jedoch nicht genutzt wurden:

„Zum Aufarbeiten von Emotionen könnte ich natürlich in eine Selbsthilfegruppe. Also lustigerweise würde ich das allen anderen Leuten empfehlen. Ich bin selbst noch gar nie auf die Idee gekommen, dass ich das auch könnte. Obwohl bei anderen wäre es mir völlig klar, dass ich ihnen das empfehlen würde.“ (201120_AJ_CHBD4: 100 f.)

Die angesprochene Dissonanz – was für andere gilt und ihnen auch empfohlen wird, für die eigene Person nicht in den Sinn kommt – legt den Gedanken nahe, dass sie sich evtl. nicht als „normale“ Angehörige fühlen, sondern über eigene Bewältigungsmöglichkeiten verfügen. Denn die beruflich erworbenen Kompetenzen der Selbstfürsorge halfen manchen Interviewpartner*innen, ihre Emotionen zu reflektieren und eine tragfähige Pflegebeziehung aufzubauen, die eine gute Balance im Spannungsfeld von Sich-Einlassen und Sich-Abgrenzen ermöglichte, wie Elke Brendle betont, die klare Vorstellungen hatte, was gesund und gut für sie ist:

„Ich hab’ zu meinem Schwiegervater eigentlich eine sehr gute Distanz, obwohl er mir ans Herz gewachsen ist, ich mag ihn wirklich gerne. Aber ich hab eine sehr gesunde Distanz.“ (210208_AJ_DBM12: 128)

Für sie waren Zuneigung und Distanz kein Widerspruch, sondern passten gut zusammen. Doch etlichen Interviewpartner*innen gelang das Einsetzen ihrer professionellen Kompetenzen in der Angehörigenpflege nicht. Stellvertretend soll Barbara Büchi zu Wort kommen, die auch über ihren Schwiegervater spricht:

„Wir hatten ihn dann vier Tage bei uns, wo ich gemerkt habe, das geht nicht für mich. Er wird aggressiv, hat eingenässt, ist am Boden gelegen. Wo ich gemerkt habe, das übersteigt meine Kräfte. Und gleichzeitig denke ich: ‚Ich bin Pflegeexpertin und im Krankenhaus für die komplexen Situationen zuständig, aber zuhause, da funktioniert es nicht.‘ Das ist schwierig für mich.“ (201119_AJ_CHBC3: 6)

Abbildung 4.6 visualisiert, wie diese Dualität einerseits pflegende*r Angehörige*r und andererseits Pflegefachperson idealtypisch kontrastiert werden kann auf einer Achse zwischen den Polen von Nähe und Distanz.

Abb. 4.6
figure 6

Zwei Paar Schuhe?

Pflegende Angehörige sein war gleichbedeutend mit Nähe. Sie wurde von den Befragten mit einer engen emotionalen Bindung verknüpft, die sich durch biographisches Wissen und Alltagsnähe auszeichnet. Diese emotionale Bindung und eigene Betroffenheit führte zu Zweifeln, Unsicherheiten bezüglich der besten Vorgehensweise, Hemmungen, Fragen, Ängsten und Sorgen. Ihre Pflege war vorrangig ausgerichtet auf die individuelle Person.

Pflegefachperson sein war dagegen gleichbedeutend mit Distanz. Sie wurde von den Befragten mit Fachwissen und Kompetenz verknüpft, die sich durch Handlungssicherheit, Entscheidungsstärke und Problemlösung auszeichnet. Dies wurde legitimiert durch die berufliche Qualifikation, allgemein anerkannt und führte dazu, dass Vorschläge im besten Fall umgesetzt wurden. Ihre Pflege war vorrangig ausgerichtet auf den Pflegeprozess und problem-, maßnahmen- und zielorientiert.

Diese Kontrastierung darf den Blick darauf jedoch nicht verstellen, dass die Doppelrolle nicht dichotom schwarz-weiß zu verstehen ist, sondern changierend mit vielen Zwischentönen, symbolisiert durch den unterbrochenen Pfeil. Die Erfahrungen der Interviewpartner*innen machten deutlich, dass sich zwischen den beiden Polen ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten bietet. Ihre Flexibilität könnte umschrieben werden mit: so viel Nähe wie möglich und so viel Distanz wie nötig. Manche Interviewpartner*innen schienen zum Teil nahezu mühelos zwischen den beiden Seiten pflegende Angehörige und Pflegefachperson zu wechseln. Sie agierten und reagierten bezogen auf ihre Mitbeteiligten variabel und konnten teilweise ihr berufliches Wissen als Bewältigungsstrategie und Puffer gegen Belastungen einsetzen. Insbesondere die Fähigkeit zur Selbstsorge wurde als wesentlich erachtet, allerdings auch betont, dass hierzu entsprechende Möglichkeiten und Voraussetzungen gegeben sein müssen, z. B. durch Ablösungsalternativen oder Finanzierung.

Die Vertrautheit mit beiden Welten machte auch verschiedene Ambivalenzen deutlich, beispielhaft seien folgende herausgegriffen: Fachwissen konnte helfen, umfassend zu beraten, konnte aber gleichzeitig belasten, weil Prognose und Statistik zum weiteren Verlauf einer Erkrankung bekannt waren. Die Nähe zur pflegebedürftigen Person konnte blind für das unmittelbar bevorstehende Lebensende machen, doch die gemeinsame Zeit unbeschwerter verbringen lassen. Eine klare Ausrichtung auf umfassende palliative Versorgung / ACP gemeinsam mit der pflegebedürftigen Person kann anstehende Entscheidungen erleichtern, gleichzeitig für andere Familienmitglieder unverständlich und erklärungsbedürftig sein. Nah sein heißt nicht, die Person auch tatsächlich zu erreichen, dies kann u. U. mit Abstand eher gelingen.

In vielen Interviews klang an, dass die Pflegefachpersonen im Rahmen ihrer beruflichen Sozialisation gelernt hatten, ihr privates und ihr professionelles Leben auseinander zu halten, in dem Sinne, dass sie ihr Privatleben nicht in den beruflichen Kontext tragen und umgekehrt. Dies war u. a. mit der Notwendigkeit, sich abzugrenzen gemeint. In ihrer Situation als pflegende Angehörige war nun aber der berufliche Kontext in das Privatleben eingedrungen. Dies machte eine Abgrenzung in vielen Fällen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sondern erforderte ein Sich-Einlassen. Manche Interviewpartner*in formulierte ihre Zerrissenheit und die Enttäuschung, dass ihr Wissen und ihre Kompetenzen nicht so zum Einsatz kommen, wie sie sich wünschen:

„Egal wie mein Verhältnis zur Schwiegermutter war, sie hat mir immer vertraut und hat meine Professionalität in Anspruch genommen. Und das war schön. Ich konnte mich reingeben, konnte sie unterstützen. Und wenn es mir dann zu viel wurde, konnte ich mich auch herausnehmen, und sie hat es akzeptiert. Im Kontrast zu meinen Eltern. Das würde ich mir bei ihnen wünschen, weil die emotionale Nähe da ist. Aber da geht das nicht. Und das ist für mich schwierig, zu akzeptieren. Es ist WIRKLICH wie Tag und Nacht. Bei meinen Eltern ist es so, sie können das nicht annehmen. Und meine Schwiegermutter hat es einfach zugelassen.“ (210219_AJ_CHAB2: 60)

Hier wird deutlich, dass eine selbstreflexive Grundhaltung und bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle wichtige Bedingungen für eine gelingende Pflegebeziehung sind. Diese Beziehung wird jedoch immer auch durch das Gegenüber mitgestaltet, die sie ermöglicht oder begrenzt.

4.5 Das Selbst und die anderen: Bilder zur eigenen Situation

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den Code 4b. Bild für ihre Situation.

Getreu dem Sprichwort ‚ein Bild sagt mehr als tausend Worte‘ wurde gegen Ende jedes Interviews die Frage gestellt: „Wenn Sie Ihre momentane Situation mit einem Bild beschreiben sollten, welches Bild würden Sie wählen?“ Diese Frage zielte darauf ab, Bilder mit Symbolcharakter zu erhalten, die ihre Selbstwahrnehmung der Pflegesituation, ihr Selbstverständnis oder ihre Selbststilisierung auf eher metaphorische Weise einfach und treffend zusammenfassten. Die Frage war für viele Interviewpartner*innen weder einfach noch aus dem Stegreif zu beantworten. Manche artikulierten dies direkt im Anschluss an die Frage. Bei anderen zeigte es sich indirekt an einer langen Pause von bis zu 30 Sekunden, bevor sie ihre Antwort gaben. Die Übersicht in Abbildung 4.7 gibt einen Eindruck vom Facettenreichtum der Bilder, mit denen die Interviewpartner*innen ihre Situation auf den Punkt brachten. Etliche Vergleiche bezogen sich auf die Natur, einige aber auch auf Menschen, Dinge und eher Abstraktes wie Musik.

Zentrale Themen dieser Bilder waren die Dynamik, Wechselhaftigkeit und Unwägbarkeit als Charakteristika ihrer persönlichen Situation. Dies kommt sowohl in den Bootsmetaphern mit Sturm und Flaute, den Bildern von der Wanderung oder der Steilküste zum Ausdruck.

Auch das Fußball-Bild ist dynamisch, betont darüber hinaus jedoch – ebenso wie das Bild von der kurzen Leitung – die sofortige Bereitschaft, sich zu engagieren, wenn nötig.

Beim Teich, den Bäumen und der Frau, die wie eine Marionette an Fäden hängt, sind die Familienmitglieder mit im Bild. Die befragte Person steht hier nicht allein, sondern in ihrem sozialen Kontext und verweist damit zugleich auf ihre soziale Unterstützung.

Die Bilder vom Neuron und der Wand stellen die Verständigung ins Zentrum, wie wichtig Kommunikation ist und gleichwohl schwierig sie sich darstellen kann.

In den weiteren Zellen werden v. a. Selbstbild und Haltung skizziert. Die Bilder beinhalten einerseits ihre eigene Positionierung zur pflegebedürftigen Person. Andererseits transportieren sie die Einsicht, dass zum Leben auch Schweres gehört und daraus dennoch etwas Gutes erwachsen kann.

Meine momentane Situation ist wie …

Abb. 4.7
figure 7

Bilder für ihre momentane Situation

Alle Bilder zeigen eindrücklich, wie vielfältig die Befragten ihre Situation erleben und beschreiben. Die hier vorgenommene Betrachtung strich ihre Kernthemen aus meiner Perspektive heraus. Darüber hinaus könnten eine Deutung mit (tiefen-)psychologischen Kompetenzen und die Interpretation gemeinsam mit den Interviewpartner*innen zu weiteren und vertieften Erkenntnissen führen.

4.6 Handlungsoptionen als Ergebnis der thematischen Analyse

Die thematische Analyse fokussierte zunächst auf den Einzelfall und dann auf den Fallvergleich. Dabei wurden die verschiedenen Handlungsweisen und Aktivitäten der Interviewpartner*innen in ihrer Doppelrolle als Pflegefachperson und pflegende Angehörige identifiziert (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang H Datenanalyse: Fallzusammenfassungen). Diese wurden anschließend geordnet und verdichtet, so dass datengestützt fünf Handlungsoptionen unterschieden werden konnten, die Abbildung 4.8 zeigt.

Abb. 4.8
figure 8

Repertoire von Handlungsoptionen

Die Handlungsoptionen rund um die Pflege bilden unterschiedliche Aufgabenspektren und Positionierungen von Pflegefachpersonen ab, die zugleich pflegende Angehörige sind. Im Kern sind sie bezogen auf die pflegebedürftige Person und deren professionell pflegende und behandelnde Fachpersonen im Versorgungssetting. Sie sind jedoch nicht darauf beschränkt, sondern könnten z. B. auch für die weiteren Familienmitglieder gelten. Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich jedoch auf ihre Rolle zwischen der pflegebedürftigen Person und den Fachpersonen. Grundsätzlich schließen sich diese Handlungsoptionen nicht gegenseitig aus, sondern sind als Repertoire zu verstehen, das situativ variabel eingesetzt werden kann, also nicht als ‚entweder – oder‘, sondern im Sinne von ‚sowohl – als auch‘. Die Verbindungen und Pfeile deuten diesen wechselseitigen Bezug an.

Die verschiedenen Handlungsoptionen haben unterschiedliche Schwerpunkte und Ziele. Die Beobachter*in nimmt sich selbst am stärksten zurück, die Advokat*in bezieht am stärksten Stellung. Sowohl Dolmetscher*in als auch Mediator*in vermitteln zwischen beiden Seiten, die eine vermittelt Informationen, die andere schlichtet bei Konflikten. Die Case-Manager*in übernimmt die Steuerung der pflegebedürftigen Person durch die Versorgungslandschaft. Die verschiedenen Handlungsoptionen werden nachfolgend präzisiert.

Die Handlungsoption der Beobachter*in ist grundlegend wichtig, auch als Basis für weitere Aktivitäten. Sie ist auf beide Seiten ausgerichtet, d. h. sowohl die pflegebedürftige Person wird genau beobachtet als auch die involvierten Fachpersonen. Bei der pflegebedürftigen Person umfasst dies insbesondere die Krankenbeobachtung im Hinblick auf Krankheitszeichen und -symptome sowie ihr Bewältigungshandeln und Wohlbefinden. Daraus wird abgeleitet, ob und welche Unterstützung angeboten wird. Bei den Fachpersonen werden v. a. die regelkonforme und angemessene Durchführung von Maßnahmen beobachtet. Dies betrifft sowohl Pflege als auch Behandlung, wie z. B. die korrekte Verabreichung und Verordnung von Medikamenten. Außerdem wird darauf geachtet, wie sie den Umgang und die Kommunikation gestalten. Wenn Fehler auffallen, wird die Beobachtung intensiviert und evtl. weitere Maßnahmen ergriffen.

Die Handlungsoption der Advokat*in ist ausgerichtet auf die Vertretung der Interessen beider Seiten. Als Fürsprecher*in der pflegebedürftigen Person betrifft dies v. a. die Sicherstellung einer angemessenen Versorgungsqualität und Verteidigung der Rechte auf eine würdige Pflege und Behandlung. Sie kann als Schutzschild für eine hilflose vulnerable Person und als ihre Vertretung dienen. Häufig wird dies mit Patientenverfügung und Vollmacht rechtlich abgesichert. Als Fürsprecher*in der Fachpersonen gegenüber der pflegebedürftigen Person steht insbesondere das Werben für Verständnis im Mittelpunkt, z. B. für die Notwendigkeit von bestimmten Vorgehensweisen oder um Nachsicht aufgrund der Arbeitssituation und Personalknappheit.

Die Handlungsoption der Dolmetscher*in ist verknüpft mit der Vermittlung von Informationen von beiden Seiten für beide Seiten. Dabei geht es im Kern darum, wechselseitiges Verstehen und Verständnis herzustellen, was weit mehr umfasst als die reine Übersetzung von Sprache. Weil dies immer auch einen gewissen Interpretationsspielraum beinhaltet, ist es eine anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe, zumal die Pflegefachperson gleichzeitig pflegende Angehörige und damit Teil des Versorgungssystems mit eigener Betroffenheit und Interessen ist.

Die Case-Manager*in steuert und koordiniert den Versorgungsprozess der pflegebedürftigen Person entsprechend ihrem Bedarf und ihren Präferenzen. Sie bezieht ggf. weitere Dienste und Hilfen mit ein. Grundlage sind die professionellen Systemkenntnisse sowie das Mandat der pflegebedürftigen Person.

Als Mediator*in steht die Pflegefachperson und pflegende Angehörige zwischen der pflegebedürftigen Person und den Fachpersonen und vermittelt im Fall von Konflikten. Dabei sucht sie idealerweise mit den Beteiligten nach einer konstruktive Lösung, die von allen akzeptiert werden kann. Im Gegensatz zur klassischen Mediation ist die Mediator*in hier jedoch keine neutrale Person. Zudem steht die pflegebedürftige Person in einer Abhängigkeit von den professionellen Fachpersonen. Dies hemmte zuweilen Interviewpartner*innen allzu klar Stellung zu beziehen, weil sie nicht wollten, dass die gepflegte Person Nachteile erfährt. Somit sind dies keine symmetrischen Beziehungen und diese Handlungsoption hat Grenzen, obwohl sie genutzt und von den Befragten als hilfreich wahrgenommen wurde.

Die hier ausgeführten Handlungsoptionen wurden als Handlungsstrategien in das nachfolgend beschriebene paradigmatische Modell aufgenommen.

4.7 Paradigmatisches Modell: Positionierung als pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson

Das in Abschnitt 3.9.3 beschriebene Kodierparadigma von Strauss und Corbin (1996, S. 78 ff.) wurde als Modell für die Synthese der Ergebnisse zugrunde gelegt. Es diente zur Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen dem zentralen Phänomen, dessen Ursachen und Kontext, den Handlungsstrategien der Akteur*innen sowie den Bedingungen, die darauf einwirken, und ihren Konsequenzen.

Auf Haftnotizen wurden Inhalte, einzelne Aspekte und Ideen festgehalten. Sie wurden ergänzt, verworfen, verändert, gruppiert, umgruppiert und schließlich kondensiert. Abbildung 4.9 gibt einen Eindruck von diesem Arbeitsprozess.

Abb. 4.9
figure 9

Arbeiten mit dem Kodierparadigma

Aus dieser Abbildung geht hervor, dass selbst die Formulierung des Phänomens, um das sich alle Daten im Kern drehen, kein einfacher Prozess war, sondern das Ergebnis intensiver Auseinandersetzungen. Dieses Ringen wurde in der „Promo“-Arbeitsgruppe im Ansatz diskutiert, doch ihre Vertrautheit mit den Daten war natürlich begrenzt.

Abbildung 4.10 zeigt die endgültige Version des paradigmatischen Modells.

Als Phänomen wurde letztendlich die Positionierung als pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson bestimmt. Damit wurde ins Zentrum gerückt, dass sich die Befragten in zwei Welten der Pflege auskennen bzw. aus der Innenperspektive die beiden Lebenswelten als Angehörige in der Pflege wie auch als Profi verstehen und in beiden zuhause sind. Zudem wird mit der Positionierung betont, dass dies als Aushandlungsprozess mit anderen Akteur*innen verstanden wird, der ein Spektrum an Handlungsmöglichkeiten beinhaltet, die auf andere abgestimmt eingesetzt werden. Gleichwohl liegt der Fokus auf den Betroffenen, die privat und beruflich pflegen. Als Beteiligte wechseln sie in ihrer Doppelrolle zwischen beiden Seiten hin und her. Diese sind nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern verschwimmen zuweilen. Demgegenüber beziehen sie mit einer ausdrücklichen Positionierung einen klaren Standpunkt.

Als wesentliche Ursachen oder ursächliche Bedingungen, die zum Phänomen der Positionierung führen, wurden einerseits die berufliche Qualifikation und Fachkompetenz in der Gesundheits- und Krankenpflege und andererseits Engagement und Verantwortung für eigene Angehörige, die Pflege benötigen, identifiziert. Qualifikation und Fachkompetenz zeigten sich primär in Fachwissen und Systemkenntnissen, aber auch in einer Vernetzung innerhalb der Gesundheitsversorgung, die verlässliche kollegiale Unterstützung bei Fragen und Anliegen bot. Als Hintergründe, sich in der Pflege der nahestehenden pflegebedürftigen Person zu engagieren, sich verantwortlich und zuständig zu fühlen, wurden v. a. Erwartungen, familiäre Normen und fachliche Kompetenz ausgemacht (vgl. Abschn. 4.2). Dabei hat die Übernahme der Pflege nicht notwendigerweise freiwillig zu erfolgen, sondern kann anderen Gründen geschuldet sein, wie z. B. der fehlenden Verfügbarkeit professioneller Dienstleistungen.

Um den Kontext zu bestimmen, der das Phänomen spezifiziert, wurden zusätzlich einschlägige Quellen zur Situation von pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen in Deutschland hinzugezogen (insbesondere (DEGAM S3-Leitlinie 2018; Güthlin et al. 2020; ZQP Themenreport 2016). Dies beleuchtete Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung sowie der Gesundheits- und Sozialpolitik als wesentliche Einflussfaktoren für die Positionierung der pflegenden Angehörigen und zugleich Pflegefachperson. Der Schwerpunkt zur Bestimmung des Kontexts lag jedoch auf dem erhobenen Datenmaterial. Als Kontextfaktoren wurden identifiziert:

  • sozial- und gesundheitspolitische Rahmenbedingungen, wie bspw. die finanzielle Absicherung von Gepflegten wie Pflegenden, die Reduzierung von Pflegekosten, der Ab- oder Ausbau von institutionellen Angeboten, Einschnitte bei subsidiären Angeboten, arbeitsmarktpolitische Entscheidungen etc.

  • die seit Jahren beobachtete Zunahme an chronischen Erkrankungen in Deutschland, die mit einem steigenden Bedarf an Pflegeleistungen einhergeht (Völz und Schnecke 2021, S. 3). Verschiedene sozialpolitische Entscheidungen wirken darauf hin, wie dieser Bedarf zukünftig gedeckt werden soll. Hier ist eine zunehmende Bedeutung der Angehörigenpflege einzuordnen, die auch die Pflegefachpersonen als Angehörige trifft.

  • ein steigender Bedarf an informeller Pflege, der für Deutschland prognostiziert wird (Wetzstein et al. 2015, S. 9), auch weil parallel der Fachkräftemangel in der Pflege das Angebot an professionellen Pflegeleistungen einschränkt. Beispielsweise wurde von drei Interviewpartner*innen berichtet, dass es erst nach vielen Telefonaten und langem Warten gelang, einen häuslichen Pflegedienst für ihre pflegebedürftige Person zu organisieren.

  • der Fachkräftemangel in der professionellen Pflege, der zwar bereits genannt wurde, sich aber zweifach auswirken kann und deshalb nochmals als eigener Punkt aufgeführt ist. Dazu ein Gedankenexperiment: wenn die Qualität der professionellen Dienstleistungen als inakzeptabel für die gepflegte Person empfunden wird und als Folge die pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson übernimmt, somit ihre berufliche Tätigkeit in der Pflege reduziert oder aufgibt, wird dies den Fachkräftemangel verschärfen. Dies ist zwar hypothetisch, doch nicht von der Hand zu weisen. Im Sample waren immerhin zwei Personen, die ihr Arbeitspensum aufgrund der Pflegeübernahme reduziert hatten.

  • die tragende Rolle von Angehörigen in der Gesundheitsversorgung sowie kulturelle Erwartungen, die mit gängigen Vorstellungen, wie z. B. geschlechterspezifischen Rollenkonzeptionen, Werten und Normen einhergehen, wer die Angehörigenpflege übernehmen soll. Wie bei den Ergebnissen beschrieben (insbesondere Abschn. 4.2), wurden die Pflegefachpersonen als prädestiniert dafür betrachtet.

Die genannten Kontextfaktoren zeigen schlaglichtartig, wie komplex das Umfeld ist, in dem die Angehörigenpflege durch Pflegefachpersonen verortet ist.

Um sich als pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson privat und im Versorgungssystem zu positionieren, brauchen die Akteur*innen geeignete Handlungsstrategien. Wie bereits im Abschnitt 4.6 ausgeführt, standen ihnen dazu verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung. Dies konnte als Beobachter*in, Advokat*in, Dolmetscher*in, Case-Manager*in oder Mediator*in geschehen. Dabei half ihnen ihr professionelles Insider-Wissen, v. a. die Beherrschung der Fachsprache und dass sie sich zumindest teilweise auf vertrautem Terrain bewegten. Oftmals wurde ein Repertoire von Handlungsstrategien flexibel eingesetzt und kombiniert.

Die Handlungsstrategien der Akteur*innen werden von intervenierenden Bedingungen beeinflusst. Diese können sowohl fördernd als auch hemmend wirken. Das Kondensieren der intervenierenden Bedingungen war anspruchsvoll und führte dazu, dass sie nun aufsteigend nach ihrer Bezugsebene abgebildet sind, zuerst mit dem Blick auf das Individuum, dann auf die soziale und schließlich auf die institutionelle Ebene:

  • Auf der individuellen Ebene wurden die persönlichen Kompetenzen, Pflegeverständnis und professionelle Haltung sowie Emotionen, Erfahrung und Vertrauen zusammengefasst. Selbsterklärend mag sein, dass persönliche Kompetenzen, wie bspw. Fachwissen oder Kommunikationsfähigkeiten, die Auswahlmöglichkeit von Handlungsstrategien beeinflussen, ebenso wie u. U. das Qualifikationsniveau. Dies kann ebenso für Emotionen und Erfahrung – gute wie schlechte – angenommen werden. Vertrauen ist gemeint im Sinne von, wieviel kann von den Beteiligten an andere Personen abgegeben werden bzw. wieviel muss kontrolliert werden. Pflegeverständnis und professionelle Haltung zielen insbesondere auf die Einstellung zum Erhalt bzw. der Förderung der Selbständigkeit der pflegebedürftigen Person, die Einstellung zu kooperativem Handeln und die Bereitschaft, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln.

  • Auf der sozialen Ebene wurden Ressourcen, soziale Unterstützung sowie wechselseitige Erwartungen und Beziehungsqualität zusammengefasst. Ressourcen könnten in mancherlei Hinsicht auch zur individuellen Ebene gezählt werden (z. B. finanzielle Möglichkeiten, Wissen und Fertigkeiten). Doch als Einflussfaktor für die Handlungsstrategien standen v. a. andere Personen, die mit Rat und Tat unterstützten, als Ressourcen im Zentrum.

  • Die institutionelle Ebene umfasste das Setting, in der die pflegebedürftige Person gepflegt wurde, und die Kommunikations- und Betriebskultur, z. B. einer Pflegeeinrichtung oder eines ambulanten Pflegedienstes. Die Daten zeigten einen bemerkenswerten Unterschied zwischen dem häuslichen und dem stationären Versorgungssetting, aber auch zwischen den unterschiedlichen Einrichtungen. Kommunikations- und Betriebskultur bezieht sich v. a. auf den Umgang mit ihnen als pflegende Angehörige und Fachperson, wie sie einbezogen wurden, wie mit ihnen kommuniziert wurde etc. Dies beeinflusste ihre jeweilige Wahl der Handlungsstrategie.

Unter dem Einfluss der intervenierenden Bedingungen wurden die Handlungsstrategien wie oben ausgeführt eingesetzt und führten zu Konsequenzen, die wiederum auf das Phänomen zurückwirken und es so verändern. Konsequenzen können beabsichtigt wie unbeabsichtigt entstehen.

  • Eine augenscheinliche Wirkung waren Loyalitätskonflikte gegenüber der pflegebedürftigen Person. Wenn sich die pflegende Angehörige und Pflegefachperson auf die Seite der Fachpersonen stellte und z. B. die Medikamenteneinnahme überwachte, konnte bei ihr der Eindruck entstehen, sich illoyal gegenüber der pflegebedürftigen Person zu verhalten. Dies wurde verstärkt durch deren Rückmeldung, auf welcher Seite sie eigentlich stehe. In den Daten sind Hinweise zu finden, dass die Befragten auch solidarisch mit den Fachpersonen handelten, wenn sie bei der pflegebedürftigen Person für Verständnis für bestimmte Vorgehensweisen oder Abläufe warben, die den Arbeitsbedingungen oder -organisation geschuldet waren. Loyalitätskonflikte gegenüber den Fachpersonen waren jedoch weit weniger ausgeprägt.

  • Das Positionieren mit den beschriebenen Handlungsoptionen konnte zu Frustration, Belastung und Stress bei den Akteur*innen führen, wenn z. B. die Advokat*in nicht gehört wurde, die gesammelten Unterlagen der Case-Manager*in verloren gingen oder die Beobachter*in zur Augenzeug*in von groben Verstößen gegen Hygienerichtlinien wurde. Die Positionierung konnte aber auch für die anderen involvierten Personen zu Frustration, Belastung und Stress führen.

  • Eigene Verhaltensänderung im Hinblick auf die Handlungsstrategien beinhaltet, dass die Akteur*innen aus der Erfahrung lernten, was funktioniert und was auch nicht, und dementsprechend umdisponierten oder sich neue Strategien aneigneten.

  • Die Sensibilisierung für die Bedarfe von pflegenden Angehörigen erfolgte auf vielerlei Arten: gerichtet an die Person in der unmittelbaren Interaktion, an Gruppen wie z. B. Pflegeteams, generell an Institutionen und ihr Management durch entsprechendes Feedback, durch Engagement als Angehörige in der Pflegeausbildung und Hochschullehre, Interessensvertretung in der breiten Öffentlichkeit oder bei politischen Gremien etc. Ein Grossteil der Interviewpartner*innen ist davon überzeugt, dass die Sensibilisierung der Gesundheitsversorgung für mehr Angehörigenfreundlichkeit notwendig und lohnend ist. Dies kommt in ihren AppellenFootnote 4 zum Ausdruck, in denen sie die wahrgenommenen Mängel und erforderliche Verbesserungen benennen: a) die unzureichende Finanzierung der Angehörigenpflege und fehlende Berücksichtigung ihrer vielfältigen Ausprägungen auch über geografische Distanz, b) die nicht auf die Person zugeschnittene, sondern an betrieblichen Abläufen orientierte Organisation und c) die mangelhafte hausärztliche Versorgung, die sie für unnötige Klinikaufenthalte verantwortlich sehen.

  • Veränderungs- und Lernbereitschaft einfordern richtete sich daran anschliessend an die Versorgungsangebote und Institutionen sowie an die politische Entscheidungsträger*innen und -gremien. Davon erhofften sie sich Verbesserungen für sich selbst sowohl privat als auch beruflich, für die pflegebedürftige Person und ihr Umfeld, für die Gesundheitsversorgung und insbesondere die professionelle Pflege mit ihren Rahmenbedingungen.

Diese Konsequenzen könnten dann wiederum auf das Phänomen der Positionierung zurückwirken und zu seiner Veränderung beitragen.

Das paradigmatische Modell wurde zum Phänomen ‚Positionierung als pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson‘ datengestützt entwickelt mit der Absicht, eine nachvollziehbare Synthese der Ergebnisse und ihre Verortung in einem Gesamtkontext zu erreichen. Abbildung 4.10 zeigt dieses Modell im Überblick.

Abb. 4.10
figure 10

Paradigmatisches Modell der Positionierung