Die vorliegende Untersuchung hatte ein sequenzielles Forschungsdesign, bei dem verschiedene Methoden der Datenerhebung und -analyse kombiniert wurden. Abbildung 3.1 zeigt im Überblick, wie dies konzipiert war sowie die zeitliche Umsetzung.

Abb. 3.1
figure 1

Untersuchungsplanung und -durchführung

Im Folgenden werden die einzelnen methodischen Schritte konkretisiert.

3.1 Ziele, Forschungsfragen und Forschungsdesign

Ziel dieser Untersuchung war es, die Entstehungsgeschichten, Entwicklungen und Erfahrungen von Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige zu explorieren. Ihr Erleben in der Doppelrolle wurde rekonstruiert aus der Perspektive von „Betroffenen“, d. h. aus dem Blickwinkel von beruflich Pflegenden, die selbst auch pflegende und betreuende Angehörige sind bzw. waren.

Im Zentrum standen die Entwicklungsprozesse von beruflich Pflegenden, wie sie zu pflegenden Angehörigen wurden, und ihre damit verbundenen Auseinandersetzungen an den Schnittstellen zur Gesundheitsversorgung sowie mit ihren eigenen professionellen Überzeugungen. Dies wurde untersucht, um herauszufinden, wie sie sich in ihrer Doppelrolle als Nahestehende einer pflegebedürftigen Person UND Pflegefachperson innerhalb der Gesundheitsversorgung positionieren, um zu zeigen, wie sich der Perspektivwechsel und die damit verbundenen Erfahrungen auf ihr berufliches Selbstverständnis und ihre Haltung auswirken.

Für die Untersuchung waren vier Forschungsfragen leitend:

  1. 1.

    Was kennzeichnet Angehörigenpflege und professionelle Pflege aus der Perspektive von Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige? Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Wo Unterschiede?

  2. 2.

    Wie positionieren sich Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige im Gesundheitsversorgungssystem insbesondere gegenüber Profis?

  3. 3.

    Welche Muster zeichnen sich ab?

  4. 4.

    Welche Veränderungsprozesse durchlaufen beruflich Pflegende in unterschiedlichen privaten Pflege- und Sorgearrangements sowie Versorgungssettings im Zeitverlauf?

Zu Beginn der Untersuchung im Herbst 2017 war im deutschsprachigen Raum nur wenig über das Phänomen „Double Duty Caregiving“ bekannt, wie die Auswertung der initialen Literaturrecherche zeigte. Um mit der Datenerhebung ein möglichst breites Spektrum an Erfahrungen von Pflegefachpersonen zu explorieren, die ihre Angehörigen pflegen, wurde ein qualitatives Forschungsdesign gewählt. Weil zudem qualitative Interviewdaten aus einem Ende 2017 abgeschlossenen Projekt der Careum Stiftung Zürich verwendet werden durften (detaillierte Informationen dazu finden sich im elektronischen Zusatzmaterial in Anhang B Datengrundlage: Factsheet Forschungsprojekt „Double Duty Caregiving“), wurde die Untersuchung sequenziell ausgerichtet. Dabei wurden die Interviewtranskripte als Ausgangsmaterial genutzt und durch die Erhebung von zusätzlichen Perspektiven mit episodischen Interviews erweitert. Ergänzend dazu wurden soziodemographische Angaben der Interviewpartner*innen erhoben. Obwohl es sich also vorrangig um Momentaufnahmen handelt, wurde mit den episodischen Interviews gezielt die Erzählung von individuellen Entwicklungsverläufen angeregt.

3.2 Ausgangsmaterial: Sekundäranalyse von Interviewtranskripten

Als Material für die Sekundäranalyse standen Transkripte von leitfadengestützten Interviews mit Fachpersonen verschiedener Gesundheitsberufe, die im Privatleben für ihre Angehörigen sorgten, zur Verfügung. Aus Gründen des Datenschutzes waren diese Transkripte anonymisiert und sensible Daten wie Namen, Personen, Orte, Zeitangaben, etc. maskiert. Eine wesentliche Herausforderung von Sekundäranalysen ist der fehlende Zugang zu Kontextinformationen (Medjedović 2014, 226 f.). Beim gewählten Fokus und Ziel der vorliegenden Sekundäranalyse war dies m. E. jedoch unproblematisch. Durch die Mitarbeit waren mir die Kontextbedingungen des Projektes vertraut und die Qualität der Daten bekannt. Die für die Sekundäranalyse relevanten Fallcharakteristika zum Kontext der Sorgesituation sowie zu Haltung und Selbstverständnis der interviewten Person konnten aus den Selbstaussagen im Interview erschlossen werden. Darüber hinaus wurde angenommen, dass für den Zweck einer thematischen Analyse die Beispielgeschichten als abgeschlossene Narrationen für sich stehen können.

Die Interviews waren zwischen 2015 und 2017 in der Deutschschweiz und in Deutschland geführt worden.Footnote 1 Sie stammen aus zwei Erhebungszeiträumen mit Erstinterviews und Wiederholungsinterviews und zielten u. a. darauf ab, die rasche Veränderlichkeit von Pflegesituationen und mögliche Auswirkungen auf die Befragten abzubilden. Die Interviews waren mit einem detaillierten Transkriptionssystem verschriftlicht, das parasprachliche Phänomene ebenso wie gleichzeitiges Sprechen oder Pausenlängen abbildete. Aus dieser Datengrundlage wurden die Interviews mit Pflegefachpersonen ausgewählt und gezielt durchsucht im Hinblick auf erzählte Beispielgeschichten, die bedeutsam für ihr pflegerisches Handeln erschienen. Dahinter stand die Idee von Flick, dass in Episoden wesentliche Bestandteile des Alltagswissens als episodisch-narratives Wissen sichtbar werden (Flick 2011, 273 f.).

Für die Sekundäranalyse galt als Beispielgeschichte eine zusammenhängende längere Erzählpassage, die eingeführt wurde (z. B. „Ich erzähl mal, was da genau passiert ist …“), die also einen Anfang hatte und mit einem Spannungsbogen erzählt wurde, an dessen Abschluss oft ein Fazit gezogen bzw. eine Lehre abgeleitet wurde. Beim Lesen solcher Passagen entstand vielfach der Eindruck, dass die Interviewpartner*innen diese Geschichte nicht zum ersten Mal erzählten. Auf diese Weise wurden in 17 Erstinterviews und 6 Wiederholungsinterviews insgesamt 33 Beispielgeschichten identifiziert. Die Übersicht mit Fallcharakteristika ist im elektronischen Zusatzmaterial zu finden (Anhang C Sekundäranalyse: Interviewübersicht und Episoden).

Diese Geschichten wurden fortan als Episoden betrachtet und aus den Transkripten extrahiert, um einzuordnen,

  • WAS (z. B. welche Erlebnisse, Aktionen und Situationen),

  • WANN (z. B. in welchem Zeitraum, zu welchen Zeitpunkten),

  • WO (z. B. in welchem Setting),

  • ÜBER WEN (z. B. mit welchen Beteiligten) erzählt wurde.

Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, wurden alle parasprachlichen Äußerungen und Annotationen entfernt. Die Grammatik wurde dem besseren Verständnis angepasst und Dialekt ins Hochdeutsche übersetzt. So wurden die Texte geglättet und an einfache Transkriptionsregeln angeglichen, wie sie von Dresing und Pehl (2018) vorgeschlagen wurden.

Die folgende Episode zeigt dies beispielhaft am Dilemma der Positionierung der Pflegefachperson als Angehörige, die ihre Mutter nach einer OP unterstützte:

Beispiel einer Episode (Interview AK10)

«Vom Fach? Vom Fach!» – Das Dilemma der eigenen Positionierung

„Dort auf der ICU [Intensive Care Unit = Intensivstation] hatte ich ein spezielles Erlebnis. Ich hatte meinem Vater immer wieder gesagt: „Hör zu, wir müssen einfach immer die Hände gut desinfizieren, wenn wir reinkommen. Wir kommen von der Stadt.“ Und dann sind wir zur Tür reingekommen, und dann habe ich den Desinfektionsspender gesucht. Der war dann HINTER der Türe in der ECKE des Waschtischs neben dem Waschbecken gewesen. Und der Hebel hat GEKLEMMT! Also, man musste wirklich ein bisschen draufschlagen, dass da was rausgekommen ist. Und dann habe ich mich gefragt: „Wie macht das wohl das Pflegepersonal?“ Also, da hatte es keine Desinfektionsspender beim Bett oder sonst irgendwo gehabt. Das war DER Spender für vier Patienten auf dieser Seite. Und dann habe ich mir gedacht: „Ja gut, jetzt beobachte ich das einmal.“

Und an diesem Morgen ist dann die Pflegende auch gekommen und hat dann etliche i.v.-Medikamente [intravenöse Arzneimittel, werden in die Vene gespritzt] vorbereitet und hat dann den zentralen Venenkatheter geöffnet. OHNE Händedesinfektion. Und der ist dann auch noch auf die Bettdecke runtergefallen. Und dann hat sie den wieder hochgehoben und dann das Verabreichen der Medikamente angefangen. Ich war entsetzt. Und dachte: „Was mache ich jetzt?“ Sie spritzte dann das und machte dann wieder den Deckel drauf, denselben natürlich! Ja! Das war dann sehr … auch HEUTE ist dies für mich noch nicht vorbei, diese Situation. Ich dachte dann: „Das darf jetzt ECHT NICHT WAHR sein!“ Ich habe genau gewusst, ich darf jetzt nichts sagen. Das wäre meiner Mutter nicht recht. Ich habe aber auch gewusst, dass die Infektionsgefahr jetzt wirklich erhöht ist damit. Ja. Ich habe es dann einfach sein lassen. Ich habe NICHTS gemacht. […]

Es ist halt immer das Abwägen, wieviel sagt man. Denn man weiß ja genau, wie das ist: das ist diese Tochter, die vom Fach ist, und das kann unterstützend sein. Aber es kann eben auch dem Patienten wirklich schaden. Wenn sie [vom Personal] dann merken, das ist jetzt wieder die Mühsame, die kommt und sich einmischt. Das kann auch in Beziehungen etwas zerstören. Ich finde, es kommt da ganz auf die Person drauf an.

Auf jeden Fall ist meine Mutter dann nach sieben Tagen verlegt worden nach F-Stadt. Und in F-Stadt ging es ihr dann rapid immer schlechter. Sie hat dann immer mehr Wasser eingelagert und hat schlussendlich einen Infekt gehabt. Und ich war grad am Arbeiten, da hat meine Schwester angerufen und hat gesagt, meine Mutter müsse jetzt notfallmässig operiert werden. Das war dann wirklich Stress. Ich bin dann sofort nach Hause. Wirklich, zum Glück ist das möglich gewesen. Also ich bin wirklich grad auf der Stelle gegangen. Ich konnte nicht mehr arbeiten. Und ich bin dann sofort mit dem Nachtzug nach C-Stadt.

Und dann muss ich sagen, ist es gut gelaufen. Also die haben wirklich gut nach ihr geschaut, ich bin auch informiert worden. Ich habe dann auch gemerkt, ich bin jetzt nicht mehr so zurückhaltend, sondern ich positioniere mich sehr direkt. Und zwar mit allen Details. Weil das Eindruck macht. Das stellt mich eher auf Augenhöhe. Ich habe das vorher nicht so gemacht. Und ich möchte nicht protzen, aber ich habe dann wirklich von Anfang an gesagt: „Ich bin Pflegeexpertin“. Und wenn jemand gefragt hat, dann habe ich gesagt: „Ich habe Pflegewissenschaft studiert.“ Das ist zwar noch nicht ganz fertig gewesen damals, aber ich habe gefunden, ich stelle mich nun einfach auf Augenhöhe. Dass nichts mehr schiefläuft. Und das habe ich gemerkt, das hat gewirkt. Also die haben anders diskutiert dann. Vor allem, wenn man auch sagt, man studiert. Ich habe natürlich auch gesagt: „Ich bin noch nicht fertig.“

Also von daher, ich habe einfach gemerkt, ich komme auf eine andere Position. Vor allem bei den Ärzten und dort ist es dann wirklich besser gelaufen. Ich glaube, man hat mich eher wahrgenommen jetzt, als Angehörige, die es genau wissen will, die BESCHEID wissen will. Und die nach dieser Komplikation jetzt einfach will, dass es gut läuft. Also die haben gemerkt, jetzt haben wir einfach den Finger drauf! Und die Klinik dort ist auch SEHR modern. Und es ist dort so, eben auch die Händedesinfektion, alles ist dort, das hat man gemerkt, das ist ein Unterschied! Wirklich.“

In der Auseinandersetzung mit den Interviewtranskripten wurde offenkundig, wie sehr sich die Erzählweise von Interviewpartner*innen unterscheidet. Denn während die einen sehr anschaulich sprachen und ihr Erzählen von sich aus mit Geschichten aus dem Leben illustrierten, wie die Beispielepisode verdeutlicht, waren solche Geschichten bei anderen Interviewpartner*innen nicht oder kaum zu finden. Diese Erkenntnis hatte eine methodische Entscheidung zur Folge: zur weiteren Datenerhebung sollte das episodische Interview nach Flick (2011) zum Einsatz kommen.

In dessen Interviewverlauf wird mit gezielten Impulsen das Erzählen von Situationen angeregt, um episodisches Wissen zu generieren (ausführlicher zur Erhebungsmethode siehe Abschn. 3.6).

Die für die Sekundäranalyse extrahierten Episoden wurden mit Unterstützung der Analysesoftware MAXQDA 2018 bzw. MAXQDA 2020 inhaltsanalytisch ausgewertet. Dies erfolgte in Anlehnung an die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse nach Kuckartz (Kuckartz 2014, S. 77 ff.). Alle Episoden bekamen einen sprechenden Titel. Die Übersicht dazu ist einsehbar im elektronischen Zusatzmaterial unter Anhang C Sekundäranalyse: Liste der extrahierten Episoden.

Die geschilderten Ereignisse wurden thematisch codiert, gruppiert, gebündelt und zu elf Kernthemen verdichtet, die Abbildung 3.2 zeigt. Wie sich diese im Einzelnen begründen, wird durch die Anhänge im elektronischen Zusatzmaterial nachvollziehbar (siehe Anhänge C Sekundäranalyse: Kernthemen der Episoden I, II und III).

Abb. 3.2
figure 2

Kernthemen der Episoden der Sekundäranalyse

Die Kernthemen zeigten eine große Bandbreite. Manche wie ‚Emotionen‘ und ‚Familienbande & Beziehungen‘ waren dicht am individuellen Erleben der Person, andere Themen wie ‚Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege‘ oder ‚Umgang mit Zeit‘ waren stärker auf organisatorische Belange ausgerichtet.

Diesem breiten Themenspektrum sollte der zu entwickelnde Leitfaden für die anschließenden episodischen Interviews Rechnung tragen.

3.3 Ablauf weiterführende Datenerhebung

An die Sekundäranalyse schloss die weitere Datenerhebung an, mit der vertiefte Erkenntnisse zur Situation von Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige generiert werden sollten. Um geeignete Interviewpartner*innen zu gewinnen, wurde das Informationsschreiben zum Vorhaben breit gestreut über Netzwerke und persönliche Kontakte zu Schlüsselpersonen in verschiedenen Institutionen, wie Krankenhäuser mit unterschiedlichen Struktur- und Leistungsdaten und ambulante Dienste. Mitarbeitende der Pflege wurden damit eingeladen, sich per Mail oder Telefon bei mir zu melden. Das Informationsschreiben für potenzielle Teilnehmende ist im elektronischen Zusatzmaterial zu finden (Anhang E Datenerhebung: Informationsschreiben). Bevor die Auswahl zum Interview erfolgte, wurden sie in einem telefonischen oder persönlichen Vorgespräch nochmals umfassend über das Vorhaben informiert und über ihre aktuelle Sorgesituation sowie zu ihrer beruflichen Situation befragt. Diese Angaben wurden protokolliert (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang E Datenerhebung: Protokoll Erstgespräch). Im Vorgespräch konnten Interessierte bereits eventuelle Fragen adressieren. Eine ausreichende Bedenkzeit von mindestens 3 Tagen wurde für ihre Entscheidung ermöglicht. Die Informationen dienten zudem zur begründeten Auswahl von Gesprächspartner*innen mit dem Ziel, eine breite Abdeckung des Untersuchungsfeldes sicherzustellen, um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Als Grundlage für die Auswahl wurde eine Rekrutierungsstrategie entwickelt (ausführlich dazu Abschn. 3.7). Die leitfadengestützten episodischen Interviews wurden erst geführt, nachdem die Interviewpartner*innen ihre informierte Zustimmung schriftlich erteilt hatten. (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang E Datenerhebung: Einwilligungserklärung).

Im Anschluss an das Interview erhielten die Befragten einen standardisierten Fragebogen zu sozial-statistischen Merkmalen zur Person und Sorgesituation (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang E Datenerhebung: Fragebogen Soziodemographische Daten). Der Fragebogen erhob soziodemographische Daten, die als Kontextfaktoren wesentlich die Situation von Pflegefachpersonen, die eigene Angehörige pflegen, mitbestimmen. Die Auswahl der Variablen stützte sich auf den zum Entwicklungszeitpunkt verfügbaren Stand der Forschung. Alle Angaben erfolgten freiwillig. Die Interviewpartner*innen hatten je nach Präferenz die Möglichkeit, den Fragebogen gleich vor Ort auszufüllen oder in einem frankierten Rückumschlag zurückzusenden. Möglichst unmittelbar im Anschluss an die Interviews wurde von der Interviewerin ein Gedächtnisprotokoll zum Interviewverlauf angefertigt (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang E Datenerhebung: Interviewprotokoll). Dies diente zur Reflexion und als Hintergrundinformation für die Datenanalyse.

3.4 Forschungsethik

Auf den ersten Blick scheinen die potenziellen Teilnehmenden wenig vulnerabel, denn Pflegefachpersonen mit unterstützungsbedürftigen Angehörigen sind weder aufgrund ihres Alters noch aufgrund eingeschränkter geistiger Fähigkeiten außerstande, eine informierte Zustimmung geben zu können. Da aber auch Menschen als vulnerabel zu betrachten sind, die aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation durch die Teilnahme an einem Forschungsprojekt in erheblichem Maße belastet werden könnten, war die Belastung und Belastbarkeit gemeinsam mit den Teilnehmer*innen sorgfältig zu prüfen und abzuwägen. Da die Forschungsliteratur zu Double Duty Caregiving eindeutig zeigte, dass ihre Doppelrolle mit Belastungserleben und Stress verbunden sein kann, wurde im Vorgespräch und vor dem Interview nochmals explizit darauf hingewiesen, dass zusätzlicher Stress durch ihre Teilnahme so gering wie möglich gehalten werden soll und dass sie jederzeit zurücktreten können, wenn es ihnen zu viel wird. Sie hatten die Freiheit, Ort, Zeitpunkt und Dauer des Interviews so zu bestimmen, wie es für sie am besten passte und den wenigsten Aufwand und Stress verursachte. Ihre Persönlichkeitsrechte wurden in jeder Phase des Forschungsprozesses sorgsam geschützt.

In verschiedenen Phasen der Planung und Konkretisierung des Promotionsvorhabens wurden reflektierende Diskussionen im Promotionskolloquium sowie in meiner „Promo“-Arbeitsgruppe geführt im Sinne der kollegialen Unterstützung. In diesen kritisch-konstruktiven Diskussionen konnten bei der geplanten Vorgehensweise keine Gefahren identifiziert werden, die einen Abbruch des Gesamtprojekts erforderlich machen würden im Sinne der bspw. von Beauchamp und Childress (2013, S. 13) formulierten ethischen Prinzipien Selbstbestimmung / Autonomie, Nichtschaden, Fürsorge und Gerechtigkeit. Insgesamt schienen die potenziellen Risiken durch ein Interview eher gering.

Dennoch wurde am 31.03.2020 ein Antrag auf ethische Begutachtung des Forschungsvorhabens bei der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. eingereicht. Die Reflexion der ethischen Aspekte orientierte sich dabei an den Hinweisen zur Antragsstellung insbesondere den dort formulierten Fragen (https://dg-pflegewissenschaft.de/ethikkommission/antragstellung/).

Die Ethikkommission hatte wenige Nachfragen, die bearbeitet und geklärt werden konnten. Das ethische Clearing wurde am 18. Juni 2020 erteilt (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang D Ethikvotum: Ethisches Clearing DGP).

Für die gesamte Untersuchung waren die Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur guten wissenschaftlichen Praxis grundlegend (DFG 2013, S. 15).

3.5 Gütekriterien

Welche Gütekriterien für die qualitative Sozialforschung als „die Richtigen“ gelten, ist Gegenstand kontroverser professioneller Diskussionen (exemplarisch Strübing et al. 2018). Ausgehend von Flick (2021, S. 487 ff.) und Kuckartz (2018, S. 204 f.) legte die vorliegende Untersuchung größtmöglichen Wert auf Transparenz, Regelgeleitetheit und intersubjektive Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritten im Forschungsprozess, insbesondere auch für das Zustandekommen der Erkenntnisse und Schlussfolgerungen.

Wichtige Entscheidungen sowie Herausforderungen wurden kontinuierlich reflektiert und notiert. Das zudem zur Unterstützung der Datenanalyse eingesetzte Programm MAXQDA 2020 (VERBI Software 2019) stellt mit dem Logbuch ein brauchbares Hilfsmittel zur Verfügung, um diesen Prozess fortlaufend zu dokumentieren. Alle Einträge sind mit Zeitmarken sortiert, der aktuelle Eintrag steht an oberster Stelle. Die Dokumentation des Analyseprozesses ist im elektronischen Zusatzmaterial zu finden (siehe Anhang G Dokumentation Analyseprozess: Logbuch MAXQDA). Ferner wurden Sitzungen wie das Promotionskolloquium oder die wöchentliche „Promo“-Arbeitsgruppe im Sinne einer kritisch-konstruktiven Reflexion genutzt, hauptsächlich zur Diskussion der Analyse, einzelner Codierungen und Codes, der Logik der Kategorienbildung und Interpretation. Nicht zuletzt wurden dort Schwierigkeiten, die im Verlauf auftauchten, und mögliche Lösungsansätze besprochen.

Es wurde ein „Member-Check“ (Flick 2021, S. 500) der Analyseergebnisse und Schlussfolgerungen im Sinne einer kommunikativen Validierung durch die Befragten durchgeführt. Dazu wurden alle Interviewpartner*innen individuell anfragt und vor der Publikation um ihr Feedback zum Manuskript gebeten. Gemäß ihren Rückmeldungen waren nur wenige Korrekturen bei den Fallzusammenfassungen erforderlich (siehe elektronisches Zusatzmaterial Anhang H Datenanalyse: Fallzusammenfassungen).

3.6 Erhebungsmethode Episodisches Interview

Nach Abschluss der Sekundärauswertung folgten die Planung, Durchführung und Dokumentation der episodischen Interviews nach Flick (1996; 1998; 2011; 2021). Dieser Interviewmethode liegt die Annahme zugrunde, dass Erfahrungen in zwei Wissensformen gespeichert und wieder erinnert werden: erstens als narrativ-episodisches Wissen, das konkret und erfahrungsnah mit Situationen verbunden ist, und zweitens als semantisches Wissen, das abstrakt, argumentativ, regelorientiert und eher verallgemeinert ist (Flick 1996, S. 147 ff.; Flick 1998, S. 19 f.; Flick 2011, S. 273 f.; Flick 2021, S. 238 ff.).

Das episodische Interview wurde als Methode gewählt, weil es auf Alltagserfahrung abzielt und Erzählungen stimuliert, dies jedoch mit gezielter Befragung nach Begründungen verknüpft. Damit werden zwei methodische Zugangsweisen kombiniert, was Flick als Beispiel für „methodeninterne Triangulation“ wertet (Flick 2011, S. 273). Im Vergleich zu anderen Interviewformen zeigen episodische Interviews Erfahrungen und ihren Entstehungskontext unmittelbarer, geben dabei Raum für situationsbezogene umgrenzte Erzählungen und sind einer natürlichen Erzählweise mit kürzeren Erzählabschnitten und Nachfragen ähnlicher als bspw. narrative Interviews (Flick 2021, S. 239). D. h., das episodische Interview bietet sowohl Raum für situative Narrationen als auch Leitplanken, innerhalb derer Narrationen ermöglicht und begrenzt werden.

Im Hinblick auf die Zielgruppe der Untersuchung erschien diese Verknüpfung von situativen Erzählungen mit konkreten Fragen besonders wertvoll, um sowohl ihre subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen als auch ihr Fachwissen festhalten zu können. Also wurde in den Interviews angestrebt, sowohl das narrativ-episodische Wissen (konkret und situativ) der Interviewpartner*innen als auch ihr semantisches Wissen (abstrakt und verallgemeinert) zu ihrer Situation als Pflegefachperson, die Angehörige pflegt, zu gewinnen.

Dazu wurde ein Interviewleitfaden entwickelt. Dies war ein komplexes und langwieriges Unterfangen, das sich am S2PS2-Verfahren von Kruse (2015) orientierte, welches er ausgehend von den Überlegungen von Helfferich weiterentwickelt hatte (S. 227 ff.). Die einzelnen Schritte umfassten das „Sammeln, Sortieren, Prüfen, Streichen und Subsumieren“ (Kruse 2015, S. 232) von Fragen und Ideen. In die Entwicklung flossen sowohl die Erkenntnisse aus der Literatur als auch aus der Sekundäranalyse ein.

Der Leitfadenentwurf wurde im Promotionskolloquium und in der Doktorandenkonferenz diskutiert und viele Anregungen aufgenommen. Nach sprachlichen Vereinfachungen wurde ein Probeinterview gemacht, um die Handhabbarkeit im Feld zu prüfen.

Der Leitfaden war untergliedert in die drei Hauptthemen Entstehung, Entwicklung und Erfahrung sowie die Fragen nach subjektiven Definitionen und abstrakteren Zusammenhänge. Die einzelnen Fragenkomplexe standen gleichwertig nebeneinander.

Zur Entstehungsgeschichte wurden folgende Fragen gestellt:

  • „Sie sind Pflegefachkraft und sorgen im Privatleben für Ihre/n ……….. [an Vorwissen zu Pflegeempfänger*in anknüpfen]. Können Sie mir mal erzählen, wie es dazu gekommen ist?“

  • „Wenn Sie sich an diese Anfangszeit zurückerinnern: wie war das damals für Sie (als jemand 'vom Fach')?“

  • „Können Sie mir mal eine Situation erzählen, die für Sie in dieser Anfangszeit typisch war?“

Zur Entwicklungsgeschichte wurden folgende Fragen gestellt:

  • „Wie geht es Ihnen aktuell bei der Unterstützung Ihrer/s ……… [Pflegeempfänger*in]?“

  • „Was hat sich denn im Laufe der Zeit verändert? Bei Ihnen? Bei den anderen Beteiligten? Haben Sie dazu vielleicht ein Beispiel?“

  • „Wenn Sie sich nochmal zurückerinnern: wie haben Sie denn mit den beteiligten Gesundheitsfachpersonen ('Profis') zusammengearbeitet?“

  • „Würden Sie aus Ihrer heutigen Sicht etwas anders machen?“

Zur Erfahrungsgeschichte wurden folgende Fragen gestellt:

  • „Was läuft besonders gut bei der Versorgung Ihrer/s ……….. [Pflegeempfänger*in]? Können Sie mir eine Situation schildern, die für Sie besonders gelungen war? Oder gerade nicht?“

  • „Können Sie mir mal schildern, was für Sie als jemand „vom Fach“ die größten Herausforderungen bei der Pflege und Betreuung Ihrer/s ……….. [Pflegeempfänger*in] sind? Was haben Sie dann jeweils gemacht?“

  • „Insgesamt: was war für Sie Ihre eindrücklichste Situation als pflegende Angehörige? Was war Ihr schönstes Erlebnis? Was war Ihr schlimmstes Erlebnis?“

Folgende Fragen zielten auf subjektive Definitionen und abstraktere Zusammenhänge ab:

  • „Was ist Ihnen bei der Pflege Ihrer/s ……….. [Pflegeempfänger*in] besonders wichtig? Was ist Ihnen nicht ganz so wichtig? Beispiele?“

  • „Was glauben Sie: was unterscheidet Sie als Fachperson von anderen pflegenden Angehörigen? Was machen Sie anders? Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten?“

  • „Woran zeigt sich Ihre spezielle Erfahrung oder Ihre spezifischen Kompetenzen? Spannungsfelder? Grenzen? Haben Sie ein Beispiel dazu?“

  • „Haben Sie einen Ratschlag, den Sie anderen in Ihrer Situation gern geben würden? Pflegenden Angehörigen allgemein? Oder Ihren Berufskolleg*innen?“

Zum Abschluss wurde gefragt:

  • „Wenn Sie Ihre momentane Situation mit einem Bild beschreiben sollten, welches Bild würden Sie wählen?“

  • „Gibt es noch etwas, was wir noch nicht besprochen haben / etwas, das Ihnen noch wichtig ist / etwas, das Sie ergänzen möchten?“

Der Leitfaden war in Form einer Mindmap in die Ablaufskizze des Interviews eingebettet, wie Abbildung 3.3: Interviewführung und Leitfaden zeigt. Dies ermöglichte seinen flexiblen Einsatz im Interviewverlauf.

Abb. 3.3
figure 3

Interviewführung und Leitfaden

Die Interviewführung verlief in drei Phasen:

  1. 1.

    Einstieg mit Vorinformation, Fragenklärung und Einverständniserklärung,

  2. 2.

    Interviewphase,

  3. 3.

    Abschluss und Erhebung soziodemographischer Daten.

Die Ablaufskizze mit den Leitfragen für das episodische Interview lag als einseitiger Ausdruck im Format A3 während des Interviews im Sichtfeld der Interviewerin (z. B. auf einem Tisch) und stellte sicher, dass keine wichtigen Aspekte vergessen wurden.

Zu Beginn wurde den Interviewpartner*innen als Besonderheit des episodischen Interviews erklärt, dass sie wiederholt um Situationen und Beispiele gebeten werden.

Die Interviewführung begann mit der Entstehungsgeschichte, folgte dann aber weitestgehend den Relevanzsetzungen der Interviewpartner*innen. Durch offene Fragen mit Erzählanregungen erhielten die Teilnehmenden die Gelegenheit, ihre erlebte(n) Geschichte(n) zu erzählen und Anliegen bzw. ihnen Wichtiges selbstgesteuert mitzuteilen. Die Interviewerin ermöglichte selbstläufige Redefreiheit und griff möglichst wenig in den Erzählfluss ein. Ihre Haltung war gekennzeichnet durch Offenheit und aufmerksames Zuhören. Nachfragen wurden zunächst immanent und dann, falls erforderlich, auch exmanent auf der Grundlage des Leitfadens gestellt. Die Fragen nach subjektiven Definitionen und abstrakteren Zusammenhängen wurden an einer passenden Stelle in den Gesprächsverlauf eingeflochten. Wenn dies nicht gelang, wurden sie am Schluss des Gesprächs gestellt.

Zum Abschluss jedes Interviews wurde u. a. nach einem Bild für ihre Situation als Pflegefachperson mit pflegebedürftigen Angehörigen gefragt. Dies eröffnete den Interviewpartner*innen die Möglichkeit, symbolisch auszudrücken, was mit rein kognitiven sprachlichen Mitteln oftmals nicht so einfach zu formulieren ist.

Alle Interviews wurden mit schriftlicher Einwilligung der Interviewpartner*in digital aufgezeichnet und vollständig transkribiert.

3.7 Rekrutierungsstrategie und Sampling

Auf der Grundlage des Vorgesprächsprotokolls wurden für ein Interview in Frage kommende Personen begründet ausgewählt, u. a. nach den Prinzipien der bewussten kontrastierenden Fallauswahl (Kruse 2015, S. 240 ff.). Dies geschah in der Absicht, aus der Heterogenität des Untersuchungsfeldes eine qualitative Repräsentation auf Subjektebene zu erreichen und damit idealerweise auch eine Vielfalt auf der Ebene sozialer Sinnstrukturen zu erhalten.

Als Hintergrund der theoretisch begründeten Auswahl dienten am Anfang der Erhebung die soziodemographischen Daten zu Person, Ort / Raum und Zeit, wie bspw. Alter, Berufsposition, soziales Verhältnis zur gepflegten Person (Familie, Wahlverwandtschaft, Generationsabstand etc.). Abbildung 3.4 präzisiert die einzelnen Aspekte der Rekrutierungsstrategie.

Abb. 3.4
figure 4

Rekrutierungsstrategie

Geplant war, fünf Teilnehmer*innen aus dem vorangegangenen Careum Forschungsprojekt „Double Duty Caregiving“ nochmals für ein Gespräch zu gewinnen sowie mindestens zehn zusätzliche Personen zu rekrutieren. Weitere Auswahlkriterien waren nicht vorab festgelegt, sondern wurden im Verlauf von Datenerhebung und -analyse fortlaufend bestimmt. Bis zum 6. Interview folgte die Samplingstrategie den vorab festgelegten Kriterien. Ab dem 6. Interview wurden Interviewpartner*innen auch datengestützt nach den Prinzipien des ‚Theoretical Sampling‘ der Grounded Theory Methodologie (Strauss und Corbin 1996) wiederum mit Fokus auf minimal und maximal kontrastierende Fällen gesucht. Die Interviews sollten face-to-face erfolgen aufgrund der erfahrungsgemäß umfassenderen und dichteren Datengewinnung im Vergleich zu Telefon- oder Video-Interviews. Dies konnte trotz COVID-19-Pandemie und Kontaktbeschränkungen bis zum Abschluss der Datenerhebung durchgehalten werden. Allerdings musste der ursprünglich dafür vorgesehene Zeitraum um 5 Monate verlängert werden.

Die Rekrutierung erfolgte über verschiedene offizielle und informelle Kanäle wie z. B. Gatekeeper unterschiedlicher Institutionen der Gesundheitsversorgung, Netzwerke, Kolleg*innen und Mundpropaganda. Opportunitäten, um Kontakte herzustellen und Interviewpartner*innen zu gewinnen, wurden genutzt wie bspw. Gespräche im Anschluss an Vorträge. Einige der interviewten Pflegefachpersonen waren mir bereits vorab aus anderen Kontexten bekannt. In der Regel war jedoch die Pflege ihrer Angehörigen bis dato kein Gesprächsthema zwischen uns. Besonders in dieser Konstellation war unabdingbar, die Freiwilligkeit der Teilnahme zu unterstreichen und die Rolle der Interviewerin kritisch zu reflektieren, u. a. mit einem Reflexionsprotokoll nach jedem Interview, in Feedbackgesprächen mit den Transkribierenden und in Analysesitzungen. Das Reflexionsprotokoll ist im elektronischen Zusatzmaterial zu finden.

Als Einschlusskriterien galten die berufliche Qualifikation in der Kranken- und Gesundheitspflege, mindestens eine aktuell bestehende private Pflegesituation, aktuelle berufliche Tätigkeit in der Pflege in Deutschland oder der Deutschschweiz und hinreichende Deutschkenntnisse, um sich verständlich ausdrücken zu können. Angesichts der soziokulturellen Vielfalt von Menschen in Pflegeberufen schien es wichtig, auch gezielt Pflegefachpersonen als Angehörige mit Migrationshintergrund einzubeziehen. Lediglich ungenügende Deutschkenntnisse waren ein Ausschlusskriterium. Fremdsprachige Interviews wurden nicht geführt.

Erklärtes Ziel im Vorfeld war, mindestens ein Gesamtsample von 15 Personen mit unterschiedlichsten Konstellationen zu erreichen, um trotz begrenzter zeitlicher Ressourcen der Heterogenität des Untersuchungsfeldes möglichst gerecht zu werden.

3.8 Datenaufbereitung und Transkription

Alle Interviews wurden digital aufgezeichnet. Für ihre Verschriftlichung wurden zwei mit dem Transkribieren vertraute und bewährte Studierende engagiert, die jeweils die deutschen respektive schweizerdeutschen Interviews transkribierten. Beide erhielten die erforderliche Transkriptionssoftware zur Verfügung gestellt. Die Daten wurden verschlüsselt und passwortgeschützt transferiert.

Die Transkription der Audiofiles erfolgte nach Regeln, die im Sinne einer erweiterten inhaltlich-semantischen Transkription eine angemessene Grundlage für die spätere Beschäftigung mit den Daten bieten sollte (siehe Anhang F Datenaufbereitung: Transkriptionsregeln).

Die Art der Transkription sollte über die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gesprochenen auch eine vertiefte Analyse der verwendeten Sprache und Begriffe ermöglichen. Deshalb wurden diese Regeln 2019 auf der Grundlage verschiedener Transkriptionsempfehlungen erstellt (Dresing und Pehl 2018, S. 20 ff.; Kruse 2015, S. 350 ff.; Legewie und Paetzold-Teske 1996; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 162 ff.).

Im Zuge der Transkription wurden Namen, Orten, Institutionen etc. nach genauen Vorgaben maskiert und anonymisiert. Der zugehörige Schlüssel wurde jeweils parallel als separates Dokument geführt (siehe Anhang F Datenaufbereitung: Anonymisierungsschlüssel). Die Pseudonymisierung durch Zuteilung von erdachten Namen erfolgte erst im Rahmen der Kontrolle des Transkripts durch mich, wobei angestrebt wurde, den kulturellen Kontext der Interviewpartner*in möglichst beizubehalten.

Die beiden Transkribierenden bekamen die Transkriptionsregeln mit den Informationen zur Anonymisierung schriftlich ausgehändigt und wurden über ihre Schweigepflicht informiert. Beide Dokumente wurden vorab genau durchgesprochen, alle Fragen geklärt und die Zusicherung zur Einhaltung des Datenschutzes eingeholt.

Jedes Transkript wurde durch sorgfältiges Kontrollhören von mir geprüft und allfällige Fehler oder Unverständliches soweit möglich korrigiert. Nach jedem fertiggestellten Transkript wurde ein Feedback-Gespräch angestrebt. Das Feedback erfolgte wechselseitig entlang der Themen Interviewführung, Eindrücke zum Verlauf, zu Schwierigkeiten und Gelungenem sowie zur Güte des Transkripts. Nach der Korrektur des Transkripts wurde die Textdatei in das Analyseprogramm MAXQDA 2020 eingelesen, der zugehörige Schlüssel sicher verwahrt und die Tondatei gelöscht.

3.9 Auswertungsverfahren

Die Datenauswertung wurde bereits parallel zur Datenerhebung begonnen. Sie orientierte sich in einem ersten Schritt am Ablaufschema der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2014, S. 77 ff.). Dann wurde in einem zweiten Schritt das gesamte Material nochmals thematisch codiert, wie Flick dies für die Auswertung episodischer Interviews vorschlägt (Flick 1996, S. 160 ff.). Zur Orientierung der Analyse wurde, ebenfalls angelehnt an seine Vorgehensweise (Flick 1996, S. 162) das Kodierparadigma von Strauss zugrunde gelegt, jedoch in der weiterentwickelten Version von Strauss und Corbin (1996).

Diese Kombination verschiedener qualitativer Auswertungsverfahren sollte durch ihre strukturierte Vorgehensweise eine gleichermaßen umfassende wie sorgfältige Durchdringung des Materials ermöglichen.

Die einzelnen Schritte werden nachfolgend präzisiert.

3.9.1 Inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2014)

Kuckartz (2014; 2018) positioniert seine Vorgehensweise der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse u. a. als Weiterentwicklung von Mayring, den er im Hinblick auf Kategorienbildung und Datenanalyse kritisiert und daher erweitert (Kuckartz 2018, S. 77 f.). Er nimmt mit den sieben Schritten seines Ablaufschemas das Wie der Auseinandersetzung mit den Daten und Analysearbeit in den Blick. Immer im Zentrum steht dabei die Forschungsfrage. Abbildung 3.5 zeigt die mit meinen Ergänzungen zur Umsetzung versehene Version, die bei Beginn der Datenanalyse verwendet wurde (Kuckartz 2014, S. 78). Die neu bearbeitete Auflage 2018 unterscheidet sich im siebten Schritt, der nun „7) Einfache und komplexe Analysen, Visualisierungen“ heißt (Kuckartz 2018, S. 100).

Abb. 3.5
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Kommentiertes Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2014, S. 78)

Die initiierende Textarbeit wurde als erster Schritt jeweils traditionell am korrigierten und ausgedruckten Transkript mit Stift und farbigen Textmarkern durchgeführt. Wichtige Passagen, Fragen und erste Ideen zum Text wurden so schriftlich festgehalten, bevor dies mit etwas zeitlichem Abstand nochmals in MAXQDA 2020 erfolgte.

Die Auseinandersetzung mit den Daten war begleitet vom Schreiben von Memos. Diese Memos bezogen sich auf unterschiedliche Aspekte des Materials und wurden entsprechend gekennzeichnet. Sie dienten z. B. als Zusammenfassungen für die Textdokumente („Dokument-Memos“), als Leitlinie für das Codieren („Code-Memos“), bezogen sich auf theoretische Ideen („Theoretische Memos“) oder methodische Vorgehensweisen („Methodische Memos“). Sie waren wertvolle Gedankenstützen und Reflexionsmittel im gesamten Arbeitsprozess.

Die Entwicklung des Kategoriensystems erfolgte zunächst durch die Bildung von „A-priori-Kategorien“ (Kuckartz 2018, S. 63 ff.), die deduktiv aus der Literatur, den Erkenntnissen der vorangegangenen Sekundäranalyse von Episoden, den theoretischen Vorannahmen bzw. den Forschungsfragen abgeleitet wurden. Die so gebildeten Kategorien wurden dann am Datenmaterial verfeinert, konkretisiert, ausdifferenziert, angepasst, verändert und mit neuen Aspekten aus dem Material ergänzt.
Zusätzlich wurde noch thematisch offen codiert und so weitere Kategorien direkt am Material entwickelt (siehe auch Abschn. 3.9.2). Zur Unterscheidung wurden die a priori (deduktiv) gebildeten Kategorien sowie die am Material selbst (induktiv) gebildeten Kategorien mit unterschiedlichen Farben kenntlich gemacht.

Einzelne Schritte, insbesondere die Entwicklung der Hauptkategorien und das anschließende Codieren des Datenmaterials, wurden im Verlauf der analytischen Auseinandersetzung wiederholt durchlaufen.Footnote 2 Beim Codieren wurde sorgsam darauf geachtet, die Episoden nicht zu zerpflücken, sondern sie auch als Ganzes mit dem Code „Episoden“ zu schützen.

Da die Qualität der Inhaltsanalyse von der angemessenen Bildung von Kategorien abhängt, wurde diesem Schritt besondere Aufmerksamkeit gewidmet und dahinterstehende Überlegungen mehrfach zur Diskussion gestellt, z. B. in einer eigens durchgeführten Analysewerkstatt mit Mitgliedern des Promotionskolloquiums sowie Sitzungen der „Promo“-Arbeitsgruppe.

Dieser Prozess der Kategorienentwicklung ist zentral, denn mit der Kategorienbildung „steht und fällt die Analyse“ (Kuckartz 2018, S. 83). Insbesondere die drei Hauptkategorien ‚Entstehungs-‘, ‚Entwicklungs-‘ und ‚Erfahrungsgeschichte‘ waren im Codierprozess gründlich zu durchdenken und auszudifferenzieren. Dazu wurden verschiedene Leitfragen entwickelt, die an das Material gestellt wurden.

In Abbildung 3.6 sind diese Fragen analog zu den Hauptkategorien exemplarisch gebündelt.

Abb. 3.6
figure 6figure 6

Leitfragen zur Codierung der Hauptkategorien

Die Bildung des Kategoriensystems erforderte mehrere Iterationsschleifen: einerseits wurden zu breit angelegte Kategorien wie z. B. „Erfahrung“ ausdifferenziert, andererseits Codierungen mit Überschneidungen durch enge inhaltliche Nähe zusammengefasst.

Dieser Prozess wurde begleitet und inspiriert von der Auseinandersetzung mit theoretischen Überlegungen im Sinne von „sensitizing concepts“ der Grounded Theory Methodologie (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 193 f.; Strauss und Corbin 1996) mit denen die Daten in Beziehung gesetzt wurden. Ein wichtiges sensibilisierendes Konzept wurde bspw. die Krankheitsverlaufskurve bzw. Pflege- und Krankheitsverlaufskurve nach Corbin und Strauss (1993 und 1998), die in der ursprünglichen theoretischen Konzeption des Forschungsvorhabens nicht vorgesehen war (siehe Abschn. 4.3).

Das gesamte Material wurde von mir als Einzelperson codiert, d. h. nicht von einem Team unterschiedlicher Personen mit unterschiedlichen Perspektiven. Trotzdem wurden alle Definitionen zu Kategorien in Code-Memos hinterlegt, um die Vorgehensweise zu leiten. So wurde ausformuliert, wofür eine bestimmte Kategorie bzw. ein Code eingesetzt werden soll (und ggf. wofür nicht), erklärend meist mit einem Ankerbeispiel illustriert sowie im Verlauf der Analyse mit wesentlichen fallübergreifenden Erkenntnissen versehen. Diese Vorgehensweise wird beispielhaft am Code ‚Erwartungen‘ aus der Hauptkategorie ‚Entstehungsgeschichte‘ in Abbildung 3.7 gezeigt.

Abb. 3.7
figure 7

Beispiel für ein Code-Memo

Das ausdifferenzierte Kategoriensystem und die zugehörigen Codierungen dienten zusammen mit den theoretischen Memos als Grundlage der inhaltsanalytischen Auswertung. Das endgültige Kategoriensystem des Promotionsprojekts ist im Anhang zu finden (siehe Anhang H Datenanalyse: Kategoriensystem / Codebaum).

3.9.2 Thematisches Kodieren nach Flick (1996)

Das thematische Kodieren wurde als ein mehrstufiges Verfahren eingesetzt, bei dem die Daten unter verschiedenen Blickwinkeln geordnet und zusammengefasst wurden für die weitere Analyse und Interpretation. Dabei galt die Grundregel, dass alles relevant Erscheinende, Auffällige, Unerwartete festgehalten und in das bereits aus der inhaltsanalytischen Auseinandersetzung mit den Daten entwickelte Kategoriensystem integriert wird. Wenn eine Kodierung keiner der bestehenden Kategorien zuzuordnen war, wurde zunächst die Kategorie ‚Blumen am Wegesrand‘Footnote 3 genutzt. Diese wurde regelmäßig überprüft, sortiert, ausdifferenziert und ggf. neue Kategorien gebildet.

Weil nach Flick (1996) Fallanalysen die Grundlage der Interpretation bilden, wurden für alle Interviewpartner*innen kondensierte Fallbeschreibungen angefertigt, in die auch Kontextfaktoren aus den Interviewprotokollen einflossen (siehe Anhang H Datenanalyse: Fallzusammenfassungen). Die thematische Analyse nach Flick zielt zum einen auf den einzelnen Fall und zum anderen auf einen Fallvergleich (Flick 1996, S. 160 ff.). Dabei wird der Fokus auf ggf. differierende Sichtweisen von einzelnen Interviewpartner*innen gelegt. Die Ergebnisse dieser fallbezogene Perspektive in Anlehnung an Flick werden in Abschnitt 4.6 ausgeführt.

3.9.3 Kodierparadigma nach Strauss und Corbin (1996)

Die beiden beschriebenen Vorgehensweisen der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2014 und 2018) sowie des thematischen Kodierens nach Flick (1996) führten zu einer Vielfalt und Vielzahl an Kategorien und Codes, die verschiedene Aspekte der Daten mit unterschiedlicher Reichweite und Bedeutung abbildeten. Damit stellte sich die Herausforderung, wie mit dieser Fülle an Daten umzugehen ist, um ihnen möglichst gerecht zu werden.

Flick selbst schlägt vor, das „Kodierparadigma als Orientierung“ (Flick 1996, S. 162) zu verwenden, das 1987 von Strauss publiziert wurde. Für die vorliegende Arbeit wurde das weiterentwickelte Kodierparadigma bzw. paradigmatische Modell von Strauss und Corbin (1996) zugrunde gelegt, das ursprünglich zur Systematisierung der Kodierarbeit in Grounded Theory-basierten Analysen gedacht war. In der Überzeugung, dass es als allgemeines Modell, Strukturhilfe und Denkfolie auch für andere qualitative thematische Analysen geeignet sei, wurde das Kodierparadigma leitend für die Systematisierung und Verdichtung des reichhaltigen Datenbestands.

Das Kodierparadigma wurde von Strauss und Corbin als Modell entwickelt, um ein zentrales Phänomen mithilfe einer Reihe weiterer Modellelemente auszudifferenzieren (Strauss und Corbin 1996, S. 78 ff.; Strübing 2004, S. 26 f.). Es verdeutlicht die Beziehungen zwischen einem Phänomen, dessen Ursachen und Kontext, den Handlungsstrategien der Akteur*innen sowie den Bedingungen, die darauf einwirken, und ihren Konsequenzen.

Dreh- und Angelpunkt dieses Modells ist ein Phänomen, das im Zentrum des Interesses steht. Bei dessen Bestimmung ist die Frage leitend, worum es denn in den Daten im Kern geht. Zudem werden die wesentlichen Ursachen identifiziert und dargestellt, die zu diesem Phänomen führen. Darüber hinaus ist das erkannte Phänomen durch seinen Kontext genauer zu bestimmen. Im untersuchten sozialen Feld gibt es intervenierende Bedingungen, die Einfluss auf die Handlungsstrategien der Akteur*innen haben, d. h. wie sie mit diesem Phänomen umgehen. Diese intervenierenden Bedingungen können sowohl fördernd als auch hemmend auf Handlungsstrategien einwirken. Die Handlungsstrategien der Akteur*innen haben verschiedene Konsequenzen. Diese können beabsichtigt wie unbeabsichtigt sein. Sie wirken wiederum zurück auf das untersuchte Phänomen, das sich dadurch verändern kann.

Die Zusammenhänge der einzelnen Elemente des Modells verdeutlicht Abbildung 3.8.

Abb. 3.8
figure 8

Kodierparadigma nach den Ausführungen von Strauss und Corbin (1996, S. 78 ff.), eigene, modifizierte und erweiterte Darstellung basierend auf dem Modell von Strübing (2004, S. 27)

Mit dem hier skizzierten allgemeinen Modell des Kodierparadigma nach Strauss und Corbin wurde die Datenfülle geordnet sowie die Kategorien und Codierungen nochmals systematisch durchgearbeitet und zueinander in Beziehung gesetzt (siehe Abschn. 4.7).

3.10 Datendokumentation

Der gesamte Forschungsprozess wurde sorgfältig dokumentiert. Von Beginn des Promotionsvorhabens an diente ein projektbezogenes Notizbuch zum ad hoc Festhalten von Ideen, Plänen, Schwierigkeiten, Unklarem und offenen Fragen als Grundlage für Entscheidungen. Das elektronische Zusatzmaterial beinhaltet die verwendeten Hilfsmittel zur Datendokumentation.

Alle Unterlagen für die Datenerhebung lagen in schriftlicher Form vor (im elektronischen Zusatzmaterial siehe Anhänge E Datenerhebung). Sie wurden handschriftlich ausgefüllt und nach den Vorgaben des Datenschutzes verschlossen und sicher verwahrt.

Die soziodemographischen Daten wurden als Dokumentvariablen zu den anonymisierten Transkripten in das Analyseprojekt in MAXQDA 2020 eingepflegt. Die Dokumentation der jeweiligen Interviewsituation diente ergänzend zu den Aussagen im Interview und den soziodemographischen Daten als Grundlage für die Erstellung der Fallzusammenfassungen (siehe Anhang H Datenanalyse: Fallzusammenfassungen).

Im Rahmen der Datenanalyse wurden auf jeder Ebene kontinuierlich Memos geschrieben, Überlegungen und Kommentare festgehalten.

Zusätzlich wurde das Logbuch des Analyseprogramms MAXQDA genutzt, um das Fortschreiten der Analyse sowie die wegleitenden Entscheidungen auch elektronisch zu dokumentieren. Alle Einträge sind mit Zeitmarken sortiert, der aktuelle Eintrag steht an oberster Stelle (siehe Anhang G Dokumentation Analyseprozess: Logbuch MAXQDA).

Alle Dokumente mit sensiblen Daten wurden nach Abschluss des Promotionsverfahrens datenschutzkonform vernichtet.