Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit, deren theoretisches Fundament sich auf Bausteine aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen und Forschungsrichtungen stützt. Grundlegend ist die Perspektive einer sinnverstehenden Soziologie, v. a. Symbolischer Interaktionismus sowie Sozialkonstruktivismus. Zudem wurden professionstheoretische Aspekte berücksichtigt. Im Verlauf des Forschungsprozesses haben sich die erkenntnisbildenden Perspektiven erweitert und verschoben. Im Rahmen der Datenanalyse wurde insbesondere die Pflege- und Krankheitsverlaufskurve nach Corbin und Strauss (1998) als Hintergrund für die verschiedenen Phasen einer chronischen Erkrankung und dem damit verbundenen Unterstützungsbedarf wichtig. Dies wird im Rahmen der empirischen Ergebnisse ausgeführt (Abschn. 4.3.1).

Im Folgenden werden zunächst die theoretischen Grundpositionen der Untersuchung skizziert, bevor der Forschungsstand zu Double Duty Caregiving zusammengefasst wird. Für die ausführliche und kommentierte Darstellung der Literaturbearbeitung sei auf das elektronische Zusatzmaterial (Anhang A: Ergebnisse der Literaturanalyse) verwiesen.

2.1 Theoretische Grundlagen

Leitend waren die handlungstheoretischen Überlegungen von Goffman zur Interaktion im Alltag (Goffman 2008) sowie seine Konzeption von Identität (Goffman 1992). Seine Idee, die soziale Welt und die Menschen, die darin miteinander interagieren, als eine Vielzahl verschiedener Vorder- und Hinterbühnen aufzufassen, bei denen der Zugang des jeweiligen Publikums kontrolliert wird, damit sie nicht hinter die Bühne schauen können (Goffman 2008, S. 217), ist vielleicht etwas einfach, aber so unmittelbar einleuchtend, wenn z. B. der Besuch von pflegenden Angehörigen im Krankenhaus vergegenwärtigt wird, denen zulässige Besuchszeiten zugeteilt und bestimmte Bereiche wie das Stationszimmer verwehrt sind. Für die Untersuchung ist dies deshalb interessant, weil pflegende Angehörige, die Pflegefachpersonen sind, die Hinterbühne eines Krankenhauses evtl. sehr gut als berufliche Insider kennen, in ihrer Eigenschaft als Angehörige jedoch zum Publikum zählen und damit zu Outsidern werden. Dieses Spannungsfeld muss dann nochmals speziell ausgehandelt werden, wenn die pflegebedürftige Person im eigenen Krankenhaus der Pflegefachperson stationär aufgenommen wird. Im Verlauf der Arbeit verdichteten sich die Hinweise, dass die pflegenden Angehörigen und zugleich Pflegefachpersonen durch ihr Insider-Wissen die „normale“ Interaktionsordnung zwischen professionellen Pflegefachpersonen und Angehörigen gefährden und sie deshalb in den Begegnungen neu ausgehandelt werden muss.

Seine Identitätskonzeption mit der Unterscheidung in soziale, persönliche und Ich-Identität (Goffman 1992, S. 132) sowie die weitere Differenzierung in eine virtuale und eine aktuale soziale Identität (Goffman 1992, S. 10) ermöglicht, Ausgrenzungsprozesse als Stigmatisierung genauer zu betrachten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die „Visibilität“, also ob ein diskreditierendes Merkmal des Individuums sichtbar oder erkennbar für andere ist (Goffman 1992, S. 64 ff.). Im Verlauf der Untersuchung wurde deutlich, dass die Zugehörigkeit zum Pflegeberuf als diskreditierendes Merkmal aufgefasst werden kann, das meist nicht auf Anhieb sichtbar war, aber im Verlauf der Interaktion zum Vorschein kommen konnte, sei es indirekt durch die Verwendung von Fachsprache, sei es direkt als „Outing“ durch die pflegenden Angehörigen selbst oder durch die Patient*innen.

Zudem waren die Ausführungen von Berger und Luckmann zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und zur Wissenssoziologie grundlegend (Berger und Luckmann 1989).

Zum einen waren sie leitend als Rahmung, dass Gesellschaft sowohl als objektive wie auch subjektive Wirklichkeit zu verstehen ist und damit immer sozialen Charakter hat. Im Rahmen der primären Sozialisation werden Menschen in die objektive Welt der Gesellschaft eingeführt, die zunächst den signifikanten Anderen ausmacht und mit zunehmendem Bewusstsein auch den generalisierten Anderen erkennen (Berger und Luckmann 1989, S. 140 ff.). Im Rahmen der sekundären Sozialisation wird rollenspezifisches Wissen der arbeitsteilig institutionalisierten Welt erworben und beinhaltet „das Sich-zu-eigen-Machen eines jeweils rollenspezifischen Vokabulars“ (Berger und Luckmann 1989, S. 149). Dazu zählt eben auch die pflegerisch-medizinisch-gesundheitsbezogene Fachsprache, die sich Pflegefachpersonen im Lauf ihrer beruflichen Sozialisation aneignen, außerdem berufsspezifische Werte und Normen. Durch dieses Spezialwissen unterscheiden sich nicht nur Pflege-, sondern alle Gesundheitsfachpersonen von anderen Angehörigen. Da laut Berger und Luckmann Sozialisation nie abgeschlossen ist, können die Entwicklungsgeschichten der Interviewpartner*innen als sekundäre Sozialisation in die Angehörigenrolle gelesen werden.

Zum anderen waren ihre Ausführungen leitend, um den Tod als Grenzerfahrung des Menschen schlechthin zu verstehen, dass aber das „Grauen vor dem eigenen Tode“ durch die Verleihung von Sinnhaftigkeit (in Form von „symbolischen Sinnwelten“) den Menschen nicht dauerhaft in seinem Alltagshandeln paralysiert, denn „der Mensch muss auch nach dem Tode signifikanter Anderer weiterleben können“ (Berger und Luckmann 1989, S. 108). Dies diente als Hintergrund zum Verstehen der intensiven Sterbebegleitung durch die Interviewpartner*innen.

Weitere Grundlage der Untersuchung war die professionelle Handlungsorientierung der Pflege. Auf die seit vielen Jahren geführte Auseinandersetzung zur Professionalisierung der Pflege sei mit einschlägiger Literatur verwiesen (exemplarisch Weidner 1995; Cassier-Woidasky 2007 und Schaeffer 2011). Für die Untersuchung zentral war die Perspektive auf das professionelle Handeln selbst, wie es in Anlehnung an Oevermann verstanden werden kann (Oevermann 1996). Demnach wird insbesondere in Krisensituationen deutlich, dass professionelles Handeln im Sinne der helfenden Unterstützung dann eintritt, wenn die individuellen Kompetenzen zur Bewältigung an ihre Grenzen kommen und nicht mehr ausreichen. Als Kern des professionellen Handelns gelten einerseits „Erklären“ im Sinne der Beobachtung und kognitiven Deutung von Problemen und ihren Lösungen und andererseits „Fallverstehen“ im Sinne der persönlichen Zuwendung, die an den autonomen Möglichkeiten der Person und ihrer „Eigenkräfte“ ansetzt (Oevermann 1996, S. 126 f.). Damit wird Nähe nicht als unprofessionell gedacht, sondern als notwendige Voraussetzung, um fallbezogen die individuelle Person in ihren existenziellen Herausforderungen angemessen und professionell bei der Bewältigung unterstützen zu können.

2.2 Forschungsstand zu „Double Duty Caregiving“

Ziel der breit angelegten Literatursuche war, einen möglichst umfassenden Blick auf die internationale Forschungsliteratur zum Thema ‚Double Duty Caregiving‘ zu gewinnen.

2.2.1 Vorgehensweise bei der Literaturrecherche und -aufbereitung

Die initiale Datenbank-Recherche erfolgte im Herbst 2017 mit den Schlagworten „double“ UND „duty“ UND jeweils „caregiving“, „care“, „caring“, „care-giver“, „carer“ UND „nurses“, „nursing“ in PubMed, CINAHL und Google Scholar. Die so gefundene Literatur bildete die Ausgangsbasis für die Konzeption des Forschungsvorhabens. Im weiteren Verlauf wurden die Literaturverzeichnisse der gefundenen Studien ausgewertet, ein Google Alert eingerichtet sowie Hinweise von Kolleg*innen aufgenommen. Die Literatur wurde bis 01/2022 fortlaufend ergänzt mit neuen Publikationen.

Nach der Lektüre der Abstracts wurden nicht relevante Publikationen aussortiert. Sie sind im Folgenden nicht berücksichtigt. Die Volltexte der verbliebenen Veröffentlichungen wurden geprüft, passend erscheinende Studien inhaltlich ausgewertet und ihre Relevanz für die Fragestellungen des Promotionsprojekts beurteilt als:

***

höchst relevant

 = expliziter Fokus auf Double Duty Caregiving

**

relevant

 = impliziter Verweis auf Double Duty Caregiving

*

weniger relevant

 = Kontext bedeutsam für Double Duty Caregiving

Alle bearbeiteten Volltexte wurden nach den folgenden Kriterien zusammengefasst:

  • Relevanz *, ** oder ***, Kurztitel: Land (Quellenangabe)

  • Design und Methode

  • Sample

  • Forschungsfrage(n)

  • Hauptresultate und Schlussfolgerungen

  • Kommentar, insbesondere auch, wofür mir die Publikation im Promotionsvorhaben brauchbar scheint

Diese Struktur liegt der detaillierten Ergebnisdarstellung zugrunde, die im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar ist (siehe Anhang A: Ergebnisse der Literaturanalyse). Entsprechend der Relevanz für das Promotionsprojekt wurden die analysierten Publikationen in drei Gruppen (1. höchst relevant, 2. relevant und 3. weniger relevant) eingeteilt und jeweils alphabetisch nach Erstautor*in sortiert. Die in den Ausführungen wichtigsten Stichworte bzw. Themen für das Promotionsvorhaben sind zudem fett unterlegt hervorgehoben.

2.2.2 Ergebnisse der Literaturanalyse

Die initiale Datenbankrecherche brachte sehr viele Treffer, die sich bei näherer Betrachtung als nicht relevant für das Promotionsprojekt erwiesen. Insgesamt wurden mehr als 250 Publikationen geprüft.

Über den gesamten Promotionszeitraum wurden bis 01/2022 letztendlich 74 Volltexte nach den o. g. Kriterien ausgewertet (höchst relevant = 52; relevant = 8; weniger relevant = 14). Die Autor*innen hatten unterschiedliche Erkenntnisinteressen, thematische Schwerpunkte und methodische Herangehensweisen. Die Vielfalt der Perspektiven der Publikationen, die als höchst relevant bewertet wurden (n = 52), wird im Folgenden kondensiert zusammengefasst. Ihre Anzahl ist seit 2001 kontinuierlich gestiegen, wie Abbildung 2.1 zeigt.

Abb. 2.1
figure 1

Anzahl höchst relevanter Publikationen im Zeitverlauf (n = 52)

Das Interesse am Thema scheint offensichtlich zuzunehmen. Die Artikel kommen schwerpunktmäßig aus den USA (n = 14), Kanada (n = 11) und Deutschland (n = 7), aber auch aus Australien, Großbritannien, Neuseeland, Schweden, Niederlande, Österreich und der Schweiz. Mehrere Autor*innen offenbarten, dass sie selbst pflegende Angehörige sind oder waren (n = 9).

Thematische Schwerpunkte lagen auf den Erfahrungen als pflegende Angehörige (n = 25), Belastung / Stress (n = 12), Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Angehörigenpflege (n = 11) sowie Einzelthemen wie Gender oder Patientensicherheit (n = 4). Doch die Themen überschneiden sich z. T. auch. Häufig sind es Forschungsteams, die sich mit einem bestimmten Themengebiet befassen und wiederholt Ergebnisse dazu publizieren.

Viele Publikationen betonen v. a. hohe Erwartungen an die Betroffenen verbunden mit großen Belastungen, u. a. durch Spannungen und Konflikte. Dies sind insbesondere Anjos et al. (2012); Benner (2011); Boyle (2017); Brindley (2018); Cicchelli und McLeod (2012); Fromme et al. (2008) Giles und Hall (2014); Giles und Williamson (2015); Jones (2020); Jones et al. (2021); Kaiser und Kaiser (2017); Kjorven (2019); Lee (2009); McClunie-Trust (2010); McNamara (2007); Mills und Aubeeluck (2006); Quinney et al. (2018b); Ross et al. (1994); Ruppert (2017); Salmond (2011); Taverner et al. (2016); Thümmler et al. (2020); Ward-Griffin (2004); Ward-Griffin et al. (2005) und Ward-Griffin et al. (2015).

Einige Studien fokussierten v. a. auf die Beeinträchtigungen der Gesundheit durch Stress, körperliche und psychische Belastung, insbesondere DePasquale et al. (2016a); DePasquale et al. (2016b); DePasquale et al. (2017); DePasquale et al. (2018a); DePasquale et al. (2019); DePasquale et al. (2018b); Dichter et al. (2012); Häusler et al. (2017); Scott et al. (2006) und Ward-Griffin et al. (2011).

Einige Studien befassen sich vorrangig mit der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit im Gesundheitswesen und Angehörigenpflege sowie Unterstützungsangeboten für betroffene Mitarbeitende auf betrieblicher Ebene. Dies sind v. a. Clasen et al. (2020); Clendon und Walker (2017); Detaille et al. (2020); Heitink et al. (2017); Reichert (2020) und Thümmler et al. (2021).

Zunehmend stärker wurden die Ambivalenzen der Doppelrolle in den Fokus gerückt, die zwar Nachteile aber auch Vorteile bzw. positive Effekte für die Betroffenen haben. Dies sind insbesondere Boumans und Dorant (2014); Carlsson et al. (2016); Dorant und Boumans (2016); Jähnke und Bischofberger (2018); Liebert-Keller et al. (2018); Quinney et al. (2018a); St-Amant et al. (2014); Tesh und Kautz (2017) und Wohlgemuth et al. (2015).

Die untersuchten Populationen gehörten unterschiedlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen an v. a. mit Fokus auf Pflegefachpersonen und Ärztinnen/Ärzte. Darüber hinaus wurden in manchen der Studien auch weitere Berufe wie z. B. Sozialarbeiter*innen oder Hilfspersonal wie Nursing Assistants berücksichtigt.

Die pflegebedürftigen Personen waren vielfach aus der älteren Generation. In den Studien gab es krankheits- und settingspezifische Unterschiede. Oftmals lag der Fokus auf pflegebedürftigen Menschen in einer palliativen Situation. Als Setting war in vielen Studien das Krankenhaus gewählt.

Die als höchst relevant bewerteten Studien hatten verschiedene Forschungsdesigns mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf dem Einsatz von qualitativen Methoden (siehe Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Forschungsdesigns der als höchst relevant bewerteten Studien (n = 52)

Die Rubrik „Anderes“ wurde genutzt, um Texte zu bündeln, die keine Forschungsberichte darstellen, gleichwohl inhaltlich von Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind, wie z. B. Editorials und Stellungnahmen.

2.2.3 Erkenntnisse aus der Literaturanalyse

Aus der Vorgehensweise bei der Literaturrecherche zum Forschungsstand resultierten Erkenntnisse, die für die Bewertung der dargestellten Ergebnisse relevant sind. Kurz umrissen hier die beiden Wichtigsten:

  • Problematik von Terminologie und Verschlagwortung: was nicht als „Double Duty Caregiving“ benannt war, wurde zunächst bei der Recherche nicht gefunden. Erst über die Auswertung der Literaturverzeichnisse und Quellenangaben mit dem Schneeballsystem wurde weitere Literatur entdeckt, die sich als beachtenswert erwies. Dies unterstreicht die entscheidende Bedeutung der Suchbegriffe, die passend zum Ziel einer Recherche für den jeweiligen Themenbereich angemessen auszuwählen sind. Notabene: dies ist am Anfang eines Forschungsprojekts manchmal noch schwer einzuschätzen. Doch im Verlauf wurde klarer, dass sich der Begriff „Double Duty Caregiving“, den Ward-Griffin (2004, S. 92) geprägt hatte, nicht überall als Terminus technicus durchgesetzt hat, selbst nicht in allen englischsprachigen Ländern.Footnote 1

  • Problematik der Wissenschaftssprache Englisch: die deutschsprachigen Quellen sind über Datenbanken wie z. B. PubMed / MEDLINE häufig nicht zu finden, weil sie größtenteils nicht indexiert bzw. nicht englisch verschlagwortet sind. Dies gilt selbstredend für alle anderen Sprachen auch, was jedoch nicht heißt, dass dort nicht auch zum Thema geforscht werden würde. Auffällig ist, dass zum Promotionsthema im Gegensatz zu vielen anderen Forschungsthemen der Pflege, wie bspw. zum Symptommanagement in der onkologischen Pflege, fast keine Publikationen aus den asiatischen Ländern zu finden waren. Doch auch dies ist möglicherweise der initialen Suchstrategie mit Fokus auf „Double Duty Caregiving“ geschuldet.

Die wiederholte Literatursuche und die zunehmende Vertrautheit im Feld ergänzte die initiale Literaturrecherche um die vormals nicht gefundenen relevanten Publikationen bis 2017 (n = 10) und um jene ab 2018 (n = 17).

Die Erkenntnisse aus der Literaturrecherche sind im elektronischen Zusatzmaterial ausführlich dargestellt (siehe Anhang A: Ergebnisse der Literaturanalyse).