Angehörige sind wir alle. Wie wir diese Rolle jedoch mit Leben füllen, kann individuell bemerkenswert verschieden sein. Wie Angehörige generell, so sind auch die sogenannten „pflegenden Angehörigen“ keine homogene Gruppe, sondern sie übernehmen diese Rolle aufgrund von unterschiedlichen Umständen, haben unterschiedliche Persönlichkeiten und Kompetenzen, und sie sorgen für ihre Nächsten in unterschiedlicher Intensität für unterschiedlich lange Zeit auf unterschiedliche Art und Weise.

1.1 Relevanz des Themas und terminologische Klärungen

Im vorliegenden Promotionsprojekt wurde mit Pflegefachpersonen, die ihre eigenen Nächsten pflegen, eine spezielle Untergruppe der pflegenden Angehörigen in den Blick genommen. Ihre Situation wird international auch als „Double Duty Caregiving“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde von Ward-Griffin (2004, S. 92) geprägt und drückt aus, dass die Betroffenen beruflich wie privat für pflegebedürftige Personen sorgen. Weil sie in den beiden Lebensbereichen Berufs- und Privatleben pflegen, haben sie eine doppelte Verpflichtung („Double Duty“). Um es gleich vorwegzunehmen: der Begriff „Double Duty Caregiving“ wurde zwar zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema und für die initiale Literaturrecherche genutzt. Diese Arbeit verwendet jedoch die Umschreibungen ‚Pflegefachperson und zugleich pflegende Angehörige‘ bzw. ‚pflegende Angehörige und zugleich Pflegefachperson‘, um die Rhetorik von Pflicht und Verpflichtung zu vermeiden.

Viele Berufstätige müssen Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege vereinbaren. Dies kann vor große Herausforderungen stellen (Keck 2012). Berufstätige Pflegefachpersonen, die ihre Angehörigen pflegen, sind durch ihre Doppelrolle in der Pflege zusätzlichen Belastungen ausgesetzt, die zu vermehrtem Stress und Erschöpfung führen können (Boumans und Dorant 2014). Insbesondere, wenn sie darüber hinaus noch als „Triple-Duty Caregivers“ für Kinder sorgen, sind diese Belastungen sehr hoch (DePasquale et al. 2016b).

Bisherige Forschungsergebnisse zeigten, dass Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige mit ihrem Fachwissen und ihren Systemkenntnissen zentrale Ansprechpersonen im persönlichen Unterstützungsnetz ihrer Nächsten sind (vgl. Abschn. 2.2). Sie übernehmen u. a. Übersetzungs- und Steuerungsfunktionen, und es scheint, als ob sie sich als Pflegefachpersonen in besonderem Maß und auf typische Art und Weise verantwortlich fühlen, sich in einer privaten Sorgesituation zu engagieren. Wie viele Pflegefachpersonen in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz genau betroffen sind, ist unklar, weil repräsentative Daten fehlen. Die bisherige Datenlage lässt jedoch vermuten, dass es sich nicht um ein Randphänomen handelt. Allerdings sind große Unterschiede bei den Angaben der jeweils untersuchten Populationen festzustellen. Sie variieren zwischen 7,7 % der Pflegefachpersonen, die zum Erhebungszeitpunkt Angehörigenpflege leisteten in Deutschland (Dichter et al. 2012, S. 339), 43 % der Pflegefachpersonen in Schweizer Betriebsbefragungen, die Erfahrungen in der Angehörigenpflege haben (Bischofberger et al. 2021, S. 384) und Schätzungen von bis zu 50 % der erwerbstätigen Gesundheitsfachpersonen in Kanada, die ältere Verwandte pflegen (Ward-Griffin et al. 2009, S. 109). Dies ist sowohl auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Länder zurückzuführen als auch auf unterschiedliche methodische Vorgehensweisen sowie Definitionen von Angehörigenpflege und Pflegebedürftigkeit, die den Studien jeweils zugrunde gelegt waren. Trotz dieser Unsicherheit, wie viele Personen privat und beruflich pflegen, ist es ein Thema, das die Betroffenen bewegt und beschäftigt, wie in der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein wird.

Der aktuelle Fachkräftemangel in Deutschland gefährdet die Qualität der Gesundheitsversorgung, verschlechtert durch Personalausfälle die Arbeitsbedingungen in der professionellen Pflege und verschärft die Situation der pflegenden Angehörigen. Vor diesem Hintergrund rückte die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse Pflegefachpersonen und zugleich pflegende Angehörige mit ihrem Insider-Wissen beisteuern können, diese Situation sichtbar zu machen.

In den deutschsprachigen Ländern gelten die Angehörigen als unverzichtbar für die Gesundheitsversorgung (exemplarisch Wetzstein et al. 2015; https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitspolitik/foerderprogramme-der-fachkraefteinitiative-plus/foerderprogramme-entlastung-angehoerige.html; https://www.oesterreich.gv.at/themen/soziales/pflege/5.html). Dies ist übereinstimmend als der Ausdruck eines „familienbasierten Pflegesystems“ zu interpretieren, das der Pflege durch Angehörige Vorrang vor der professionellen Pflege gibt (Heintze 2015, S. 15).

Doch in Wissenschaft, Forschung und Gesundheitsversorgung gibt es keine einheitliche Definition, wer überhaupt zur Gruppe der pflegenden Angehörigen zählt. Zum Teil wird eine wöchentliche Mindestzeit für Pflegetätigkeiten zugrunde gelegt, um bspw. leistungsberechtigt im Sinne der Pflegeversicherung zu sein (Bundesgesundheitsministerium 2021, S. 13). Ebenso gibt es keinen Konsens im Hinblick auf Aufgabenspektrum oder das Verhältnis zur pflegebedürftigen Personen (DEGAM S3-Leitlinie 2018, S. 10). Je nach Breite der zugrunde gelegten Definition schwanken die resultierenden Angaben beträchtlich. Auch die Begrifflichkeiten werden nicht einheitlich verwendet. Die Bezeichnungen pflegende, betreuende oder sorgende Angehörige sind genauso zu finden wie informell Pflegende, Laienpflegende oder An- und Zugehörige. Die vorliegende Arbeit verwendet den Ausdruck pflegende Angehörige. Sie ging bei der Datenerhebung davon aus, dass sich die in Frage kommenden Personen selbst als pflegende Angehörige einschätzen, ohne dies auf eine Mindeststundenanzahl, ein Verwandtschaftsverhältnis oder ein bestimmtes Aufgabenspektrum zu begrenzen. Es wird also von einem weiten Begriff von Pflege ausgegangen, der mehr als rein körperbezogene Pflegetätigkeiten umfasst und bspw. die Organisation von Gesundheitsdienstleistungen einschließt. Zudem gilt jemand als angehörig, wer sich angehörig fühlt. Damit stützt sich die Arbeit auf das sog. Thomas-Theorem, das besagt, dass die Handlungen einer Person von ihrer Einschätzung und Festlegung einer Situation abhängen: „if men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas und Thomas 1928, zitiert nach Merton 1995, S. 380).

Auch für die professionelle Pflege gelten Angehörige als wertvoll. Bereits in der sogenannten „Juchli“, dem ersten umfassenden deutschsprachigen Lehrbuch für die Krankenpflege und weitverbreiteten Standardwerk, wurden sie als Teil des therapeutischen Teams betrachtet und zum nahen Beziehungskreis der Kranken gezählt (Juchli 1983, S. 316 f.). Die Autorin positionierte sie bereits damals unter dem Stichwort „Selbst- und Laienhilfe“ als „die wichtigsten Partner [sic], sowohl in der krankenhausexternen als auch -internen Pflege“ (Juchli 1983, S. 60). Heutzutage spielen Angehörige insbesondere in der häuslichen Pflege eine tragende Rolle und galten bereits vor zehn Jahren als „der größte Pflegedienst Deutschlands“ (Schumann 2012, S. 31). Schumann beschreibt die Angehörigen als eine Ressource, die von den Pflegefachpersonen unterschätzt und damit zu wenig einbezogen wird (Schumann 2012, S. 32). Erfahrungsgemäß werden sie im Stationsalltag v. a. als Informationsquelle für die Pflegeanamnese genutzt. Doch in der häuslichen Versorgung pflegen fast 70 % der Angehörigen ohne Unterstützung durch einen Pflegedienst (Schumann 2012, S. 32). Sind die pflegenden Angehörigen zugleich Pflegefachpersonen und damit beruflich für die Pflege qualifiziert, ist dies unter Umständen eine andere Situation. Mit diesem Spannungsfeld beschäftigt sich die vorliegende Arbeit.

Vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie waren nicht-übertragbare Erkrankungen (Non-communicable Diseases, NCD) wie z. B. Krebs, Diabetes, Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen weltweit die Haupttodesursache (https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/noncommunicable-diseases). Die Relevanz der NCD, die gleichbedeutend mit den sog. chronischen Erkrankungen sind, ist auch in Deutschland groß. Sie sind mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen verbunden, die z. T. erhebliche Auswirkungen auf den Unterstützungsbedarf und die Lebensqualität der Erkrankten haben und verschiedene Bewältigungsstrategien erfordern (Güthlin et al. 2020). Dies betrifft auch ihr unmittelbares soziales Umfeld, d. h. ihre Angehörigen.

1.2 Erkenntnisinteresse und Absicht

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Untersuchung der Entwicklungsprozesse von beruflich Pflegenden, wie sie zu pflegenden Angehörigen wurden, und ihre damit verbundenen Auseinandersetzungen an den Schnittstellen zur Gesundheitsversorgung sowie mit ihren eigenen professionellen Überzeugungen. Dies wurde untersucht, um herauszufinden, wie sie sich in ihrer Doppelrolle als Nahestehende einer pflegebedürftigen Person UND Pflegefachperson innerhalb der Gesundheitsversorgung positionieren, um zu zeigen, ob sich der Perspektivwechsel und die damit verbundenen Erfahrungen auf ihr berufliches Selbstverständnis und ihre Haltung auswirken.

Forschungsthemen sind oftmals eng mit der Person der Forschenden verknüpft. Meine Motivation, die Rolle von Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige in den Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit zu stellen, fußt auf eigener Erfahrung. Diese persönliche Nähe zum Thema will ich offenlegen: seit Beginn meiner Berufstätigkeit in der Pflege war ich in verschiedene Sorgesituationen mit Nahestehenden involviert und bin es bis heute. Im Rückblick hat sich sowohl mein Selbstverständnis und Verhalten als pflegende Angehörige als auch mein Berufsverständnis und Handeln als Pflegefachperson verändert. Aus der Angehörigenrolle kamen im Zeitverlauf verschiedentlich Anstöße, den Blickwinkel zu wechseln und meinen Horizont als Pflegefachperson im professionellen Pflegealltag zu erweitern. Mein Promotionsvorhaben beschäftigte sich nun gezielt mit der Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden von privater Fürsorge und professioneller Pflege im Lichte von theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnissen zum Erleben und den Erfahrungen von Pflegefachpersonen als pflegende Angehörige. Um diese persönliche Nähe zum Thema gezielt zu reflektieren, wurden über den gesamten Forschungsprozess verschiedene Ansätze genutzt, wie z. B. ein Forschungstagebuch, verschiedene Analysewerkstätten sowie kollegiale Beratung und Begleitung.

Durch das Promotionsprojekt wurde ein Erkenntnisgewinn für den deutschsprachigen Raum erwartet, der einerseits direkt auf den Überlappungsbereich von professioneller Pflege im beruflichen Kontext und privater Pflege im persönlichen Nahbereich abzielte. Andererseits wurden nicht nur vertiefte Erkenntnisse zum Erleben von Pflegefachpersonen in der Angehörigenrolle anvisiert, sondern darüber hinaus Einsichten für die Gesundheitsversorgung zum Umgang mit Pflegefachpersonen als Angehörige erhofft, aus denen dann in einem weiteren Schritt konkrete Hilfestellungen ableitbar wären. Dies scheint von großer Relevanz sowohl für die Betroffenen als auch für die Pflegepraxis. Denn Pflegefachpersonen als Angehörige können einen wichtigen Beitrag zur Patientensicherheit leisten, vorausgesetzt, a) sie trauen sich, sich einzubringen und b) sie werden gehört (Jähnke et al. 2017). Mit datengestützten Empfehlungen könnte die betriebliche Praxis stärker für die Bedürfnisse von Angehörigen in der Gesundheitsversorgung sensibilisiert sowie entsprechende Impulse für Gesundheitsinstitutionen abgeleitet werden, ihre Angehörigenfreundlichkeit auf den Prüfstand zu stellen. Dadurch ist mit der Untersuchung ein Beitrag zur verbesserten Pflege von Patient*innen denkbar.

1.3 Empirische Ausgangsbasis

Als empirische Ausgangsbasis für das Promotionsvorhaben standen die Interviewdaten des Forschungsprojekts „Double Duty Caregiving – Gesundheitsfachpersonen im Spannungsfeld von Erwerbstätigkeit und privatem Engagement für erkrankte, behinderte oder ältere Angehörige“ zur Verfügung (Careum Forschung Zürich, Projektdauer 07/2015–12/2017). Detaillierte Projektinformationen sind im elektronischen Zusatzmaterial in Anhang B «Factsheet Careum Projekt Double Duty Caregiving» einsehbar sowie abzurufen unter https://www.kalaidos-fh.ch/de-CH/Forschung/Fachbereich-Gesundheit/Projekte/Abgeschlossene-Projekte/Double-Duty-Caregiving.

In einem ersten Schritt wurden die zur Verfügung gestellten anonymisierten Interviewtranskripte einer Sekundärauswertung unterzogen. Dazu wurden abgeschlossene Geschichten, die im Interviewverlauf von den befragten Pflegefachpersonen beispielhaft erzählt wurden, extrahiert und thematisch verdichtet. Die so gewonnenen Themen dienten als Grundlage für den nächsten Schritt der weiteren Datenerhebung. Sie zielte darauf ab, vertiefte Einblicke zum Erleben von Pflegefachpersonen in der Angehörigenrolle mit episodischen Interviews zu gewinnen und zusätzliche soziodemographische Daten zu erheben. Dazu konnten 15 Interviewpartner*innen gewonnen werden. Ihre Erfahrungen stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Die methodische Vorgehensweise wird in Kapitel 3 präzisiert.

1.4 Aufbau der Arbeit

In diesem Kapitel wurden Themenstellung und Ausgangslage der Arbeit skizziert. Anschließend werden nun im Kapitel 2 der theoretische Hintergrund und der aktuelle Stand der Forschung dargelegt. Für die Promotion wurde umfangreiches empirisches Material erhoben und bearbeitet. Das methodische Vorgehen dabei wird in Kapitel 3 veranschaulicht. Im darauffolgenden Kapitel 4 werden die Ergebnisse entlang von Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der privaten Pflegesituation sowie der Erfahrungsgeschichte der Interviewpartner*innen erörtert. Zur Synthese der Ergebnisse wurde ein paradigmatisches Modell in Anlehnung an Strauss und Corbin (1996, S. 78 ff.) entwickelt, das am Schluss von Kapitel 4 dargelegt wird. Anschließend werden in Kapitel 5 einige zentrale Erkenntnisse aus den Daten gebündelt und diskutiert, bevor die Stärken und Limitationen der Arbeit reflektiert werden. Abschließend wird in Kapitel 6 ein Fazit gezogen und ein Ausblick formuliert.

Im Laufe der Arbeit wird wiederholt auf Material verwiesen, das aus Gründen der Übersichtlichkeit und Stringenz der Argumentation in den Anhang genommen wurde. Es wird gleichwohl als wesentlich für die Nachvollziehbarkeit angesehen. Der Anhang ist im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar und detailliert entlang des Forschungsprozesses aufgebaut. Die jeweiligen Themenbereiche des Anhangs sind mit Buchstaben bezeichnet.