6.1 Zusammenfassung und Ausblick: Das polyseme Fundament der Wirklichkeit

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, das Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative auf die darin propagierten Vorstellungen von deutscher Nation hin zu untersuchen, sowie auf etwaige damit einhergehende Nationalismen, welche die öffentliche, massenmedial vermittelte Debatte maßgeblich dominieren. Das Thema Einbürgerung wurde hierfür als Aufhänger gewählt, weil es in besonderer Weise die Grenzen der Nation und des Staates, des Eigenen und des Fremden, des Einschlusses und des Ausschlusses zutage treten lässt. Am Beispiel der Hamburger Einbürgerungsinitiative und der sich an ihr entzündenden diskursiven Auseinandersetzung sollten Folk Concepts von Nation, Identität, Integration und Kultur analysiert und nach ihrer jeweiligen Bedeutung für die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit befragt werden. Dabei war u. a. auch das Verhältnis dieser populären Konzeptionen zu ihren wissenschaftlichen (und insbesondere ethnologischen) Gegenstücken von Interesse. Des Weiteren lagen der Untersuchung eine Reihe von Thesen zugrunde. So wurde angenommen, dass die oben genannten Folk Concepts wesentliche Bestandteile der Phänomenstruktur sind, auf welche die nationalistischen Diskurse ihre divergenten Narrationen stützen. Weiterhin wurde angenommen, dass diese Narrationen ihren spezifischen Einfluss aus der diskurseigenen Wechselwirkung von Macht, Wissen und Emotion entfalten und dass diese Dynamik der kulturellen Wirklichkeitsproduktion inhärent vielstimmig und daher auch inhärent konflikthaft ist. Vor diesem Hintergrund ist es das primäre Forschungsziel dieser Arbeit gewesen, das zu untersuchende Diskursfeld möglichst holistisch zu erfassen und, wenn nicht alle, so doch wenigstens alle dominanten Strömungen zu untersuchen, welche die gesellschaftliche Sinnwelt im Themenfeld Einbürgerung strukturieren. Die Notwendigkeit eines solchen Ansatzes ergab sich nicht allein aus der eingangs formulierten Feststellung, dass ethnologische Studien ‚der eigenen Gesellschaft‘ (auch und gerade im europäischen Kontext) häufig eine problematische Tendenz zur perspektivischen Verengung auf (ethnische/migrantische) Minderheiten im Verhältnis zum sie dominierenden Staat aufweisen. Der Ansatz gründete überdies auch und v. a. auf einem soliden diskurstheoretischen Fundament, welches verschiedene ethnologische Zugänge mit Zugängen der interdisziplinären Diskursforschung, der Luckman’schen Wissenssoziologie sowie mit den Überlegungen Bourdieus, Halls und Goffmans zu einer Definition von Kultur als Diskurs verbindet. Der systematische Entwurf einer diskursethnologischen Theorie und Methode diente dabei nicht bloß als Fundament der hier vorliegenden Untersuchung. Er sollte außerdem (und in erster Linie) für die allgemeine ethnologische Forschung erschlossen und weiterführend nutzbar gemacht werden. Der umfangreiche theoretische Aspekt der Arbeit ist in erster Linie deshalb zentral, weil – wie die einleitende Vorbemerkung zeigen konnte – es ethnologischen Diskursanalysen in der Vergangenheit vielfach an Fundierung, Transparenz und Systematik mangelte.

Die in den vorangegangenen Kapiteln der Arbeit erschlossenen Untersuchungsergebnisse sollen an dieser Stelle noch einmal in unmittelbaren Bezug zu den Forschungszielen und Thesen gebracht werden, wie sie oben zusammenfassend beschrieben wurden. Dieser abschließende Überblick gliedert sich in vier Abschnitte:

Erstens sollen die verschiedenen Definitionen von deutscher Nation rekapituliert werden, welche die Debatte und deren dominante Diskurse jeweils anleiten. Dabei wird auch auf die Brubaker’sche Dichotomie von ‚Staatsnation‘ und ‚Kulturnation‘ einzugehen sein, die in der Einführung zu dieser Arbeit einen wesentlichen (und durchaus nicht unumstrittenen) theoretischen Ausgangspunkt für die weitere Analyse bildete.

Zweitens müssen die Konzepte Nation, Identität, Integration und Kultur als zentrale Bestandteile der interdiskursiven Phänomenstruktur Berücksichtigung finden. Angesichts einer hochgradig problematischen Beziehung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Ausformungen dieser Begriffe muss außerdem die diesbezügliche Verantwortung der Ethnologie in besonderer Weise beleuchtet werden.

Drittens müssen die Strategien und Effekte der Diskursproduktion zusammengefasst und zu der eigendynamischen Spirale aus Macht, Wissen und Emotion in Bezug gesetzt werden, die ihrerseits Produkt und Triebfeder der diskursiven Inszenierung ist. Diskursive Antagonismen und Allianzen, die unweigerlich aus dem polysemen Fundament der Wirklichkeit erwachsen, sind dabei von zentraler Relevanz.

Viertens und letztens muss der paradigmatische Zugang der vorliegenden Arbeit evaluiert werden. Er muss auf seine forschungspraktischen Implikationen und auf seinen Wert für die untersuchte Fragestellung hin überprüft werden. Außerdem muss seine Relevanz im weiteren gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und ethnologischen Kontext Beachtung finden. Potenzial und Verantwortung der Ethnologie werden in diesem Zusammenhang abermals von Bedeutung sein.

Die janusköpfige Nation

In der Einführung zu dieser Arbeit wurde Rogers Brubakers These, dass Deutschland – wenigstens im Selbstverständnis seiner Bürger_innen – ein ethnonational verfasster Staat sei, zum Ausgangspunkt genommen, um nach dominanten Vorstellungen von deutscher Nation zu fragen, wie sie sich in der öffentlichen, massenmedial vermittelten Debatte um die Hamburger Einbürgerungsinitiative entfalten. Dabei wurde in Bezug auf Brubaker – wie auch in Bezug auf einige seiner Kritiker_innenFootnote 1 – festgestellt, dass deren Analyse mehr oder minder ausschließlich auf die Betrachtung gesellschaftlicher und (v. a.) politischer Eliten fokussiert und insofern zwangsläufig unvollständig ist. Anhand der ethnologischen Erhebung Forsythes konnte demonstriert werden, dass das deutsche Identitätsempfinden in der Tat deutlich komplexer strukturiert ist, als Brubaker es mit seiner simplen Dichotomie von Staats- und Kulturnation impliziert.Footnote 2 Nichtsdestoweniger hat die historische Betrachtung offenbart, dass ethnonationale Narrationen in der deutschen Vergangenheit immer wieder zu erheblichem Einfluss gelangt sind, während staatsnationale Gegenentwürfe nicht im selben Maß Erfolge zeitigen konnten.

Vor diesem Hintergrund hat die diskursanalytische Untersuchung des öffentlichen Diskursfeldes um die Hamburger Einbürgerungsinitiative zwei dominante Nationalismen zu Tage gefördert, deren Diskurse nicht nur gänzlich gegenläufige Logiken ausformulieren, sondern überdies auch in diametral verschiedenen Konzeptionen von deutscher Nation münden. So formuliert der offizielle Hamburger Einbürgerungsdiskurs eine staatsnationale Vision von ‚Deutsch-Sein‘, welche demokratische Rechte und kulturelle Pluralität betont. Demgegenüber steht der dominante Gegendiskurs mit seiner ethnonationalen Narration von der quasi-natürlichen (ethnisch-)deutschen ‚Volksgemeinschaft‘.

Es konnte gezeigt werden, dass diese beiden zentralen Diskurse jeweils andere Publika bedienen und (zumindest in der Hauptsache) von anderen Sprecher_innen produziert werden. Der staatsnationale Diskurs wird in erster Linie durch politische und zivilgesellschaftliche Eliten propagiert. Er ist ein fremdadressierter ‚Werbediskurs‘ der sich v. a. an Migrant_innen bzw. potenzielle Einbürgerungskandidat_innen, potenzielle Wähler_innen und (in besonderer Weise) an Hamburger_innen richtet. Ganz im Gegensatz dazu handelt es sich beim ethnonationalen Diskurs um eine selbstadressierte Erzählung, die in den virtuellen Räumen einer diffusen Zivilgesellschaft verankert ist, in welchen die Rollen von Sprecher_innen und Adressat_innen mehr oder minder umfassend zur Deckung kommen. Dabei akkumulieren beide Diskurse auf unterschiedliche Weise symbolisches Kapital – der staatsnationale Diskurs durch seine autoritativen Sprecher_innen und durch sein mächtiges Hamburger Einbürgerungsdispositiv, der ethnonationale Diskurs durch den Mangel an Widerspruch in den von ihm dominierten Arenen sowie auch und gerade durch seine kontinuierliche historische Präsenz und dem damit zwangsläufig einhergehenden Faktor der ‚Gewöhnung‘.

Des Weiteren muss betont werden, dass beide Diskurse zwar sehr wohl schlüssige Narrationen entwickeln, dass diese jedoch nicht die Gestalt stringenter Linien annehmen und dass sie außerdem auch nicht frei von Inkonsistenzen sind. In Anbetracht dessen müssen sie vielmehr als inhomogene Diskursströmungen mit verschiedensten Seitenarmen gelten. Diese Strömungen bilden radikale Pole aus, zwischen denen das gesamte Diskursfeld oszilliert. Einzelne Sprecher_innen mögen eher der einen oder der anderen Seite zuneigen, das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch gegenläufige Deutungen in ihre subjektive Sinnwelt inkorporieren und entsprechend externalisieren können. Überdies sind die beiden dominanten Nationalismen auch nicht hermetisch von anderen Diskursen abgeriegelt. Tatsächlich sehen sie sich durchaus mit abweichenden (z. B. postnationalistischen, transnationalistischen, fremdnationalistischen oder subnationalistischen) Deutungen konfrontiert. Diese Deutungen müssen jedoch als bloße Randerscheinungen gelten, in Anbetracht des erheblichen Einflusses, den die beiden populären Massendiskurse generieren. Eine namhafte Ausnahme bildet hier lediglich der – überaus dominante – lokalpatriotische Hamburg-Mythos, der in enger Symbiose mit dem staatsnationalen Diskurs existiert und in erheblichem Maße zu dessen Machtentfaltung beiträgt.

Da die Wirklichkeitskonstruktionen der beiden dominanten Nationalismen einander zwangsweise ausschließen, werden ihre Rezipient_innen unweigerlich vor die Wahl gestellt. Wie die Untersuchung zeigen konnte, fiel diese Wahl in der Geschichte oft und mehrheitlich zu Gunsten des ethnonationalen Diskurses aus. Aktuell scheint die Waage jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung auszuschlagen. Die staatsnationale Narration gewinnt aufgrund ihrer prestigeträchtigen Sprecher_innen und ihrer machtvollen Verankerung im politischen Dispositiv enorm an Einfluss. Verschiedene politische und gesellschaftliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit demonstrieren indes, dass diese Tendenz nicht unumkehrbar ist. Welches Janusgesicht der deutschen Nation (temporär) die Oberhand gewinnt, scheint dabei von mehreren Faktoren abhängig zu sein. Einige dieser Faktoren sind in der vorliegenden Arbeit überaus prägnant hervorgetreten und sollen im Folgenden nochmals Erwähnung finden. Vorerst muss jedoch resümiert werden, dass Brubakers eindimensionaler Blickwinkel der Komplexität des deutschen Selbstverständnisses durchaus nicht gerecht werden kann. Hieran zeigt sich, wie problematisch es ist, seinen Blick vorschnell auf einzelne Gruppen von Sprecher_innen auszurichten. Diskurse sind nicht an (bestimmte) Sprecher_innen gebunden und umgekehrt werden Adressat_innen auch nicht eins zu eins durch (bestimmte) Diskurse determiniert (das hat Abschnitt 5.1 trotz seiner eingeschränkten Datenbasis anschaulich zeigen können). Das Wechselverhältnis zwischen Diskurs und Diskursproduzent_in (respektive -rezipient_in) ist komplex und bedarf einer kritischen Analyse. Diesem Umstand wird weiter unten noch in angemessener Weise Rechnung getragen werden.

Das polyseme Fundament der Wirklichkeit

Als zentrale Vorbedingung für die diskursive Konstitution von Macht und Wissen wurde das polyseme Fundament der Wirklichkeit identifiziert, welches dem Prozess der intersubjektiven Sinngebung elementar zugrunde liegt. So können die beiden dominanten Nationalismen ihre divergenten Narrationen nur deshalb entfalten und deren Implikationen machtvoll in Köpfe und Körper ihrer Rezipient_innen einschreiben, weil sie sich aus dem kollektiven Repertoire an konventionalisierten Grundbegriffen bedienen, die in der intersubjektiv geteilten Alltagswelt allgemein zur Verfügung stehen. Im Falle der beiden hier untersuchten Diskurse sind dies v. a. die Begriffe Nation, Identität, Integration und Kultur. Da diese Begriffe institutionalisiert sind, das heißt gemeinhin akzeptiert, erwecken sie den Eindruck von natürlich und unproblematisch gegebener Realität. Da die Begriffe andererseits aber auch ihrer Natur nach polysem sind, lassen sie – je nach diskursiver Einflusssphäre – unterschiedliche symbolische Aufladungen zu. Die Begriffe ‚verbergen‘ ihre Polysemie hinter ihrer (vermeintlichen) Standardisierung. Auf diese Weise (und nur auf diese Weise) ist es möglich, dass jeder Diskurs die Begriffe auf eine ihm eigene Art appropriiert und mit Bedeutung versieht. Anhand dieser spezifischen Phänomenstruktur können die Diskurse nicht nur kohärente Erzählungen entwickeln, sie können einander auch den Status der Wirklichkeit, der Wahrheit und der Moral abstreiten, indem sie jeweils die alleinige Deutungshoheit über ihre gemeinsamen Grundbegriffe beanspruchen. So entwirft der staatsnationale Diskurs einen subjektivistischen Nationenbegriff, einen konstruktivistischen Begriff von Kultur und Identität sowie einen demokratischen Begriff von Integration. Ganz im Gegensatz dazu gründet der ethnonationale Diskurs in einem objektivistischen Nationenbegriff, einem essentialistischen (respektive kulturfundamentalistischen und/oder biologistisch-rassistischen) Begriff von Kultur und Identität sowie einem (kultur)assimilativen Begriff von Integration. Beide Diskurslogiken schließen einander exklusiv aus. Vermittlung zwischen ihnen scheint zwar auf individueller Ebene möglich (das zeigt das ‚Diffundieren‘ von Deutungsmustern über Diskursgrenzen und Specher_innen- bzw. Adressat_innenkreise hinweg) auf kollektiver Ebene stehen die Diskurse einander jedoch unversöhnlich gegenüber.

Durch die diskursive Verfasstheit der öffentlichen Debatte tritt deren polysemes Fundament umso mehr in den Hintergrund. Die individuellen Sprecher_innen sind zwar aktiv und (mehr oder minder) bewusst an der Diskursproduktion beteiligt, da Diskurse jedoch ein kollektives Produkt sind, das im intersubjektiven Raum zwischenmenschlicher Interaktion entsteht, fällt es den einzelnen Akteur_innen schwer, die gesamte Narration sowie all ihre Implikationen und Grundbegriffe gleichermaßen zu überschauen. Die institutionalisierte Gestalt und die diskursive Verselbstständigung der Erzählung wehren ihrer kritischen Dekonstruktion. Ihre Begrifflichkeiten bewegen sich im Bereich des Selbstverständlichen und werden in der Debatte deshalb kaum hinterfragt oder auch nur explizit ausdefiniert. Diese Beobachtung korrespondiert nicht nur mit den Annahmen der Luckmann’schen Wissenssoziologie, sondern durchaus auch mit den Überlegungen Bourdieus, Goffmans oder Clifford Geertz‘.Footnote 3

Die verborgene Polysemie der gesellschaftlichen Grundbegriffe bildet die Basis für zwei essentielle Dynamiken, die wiederholt und an prominenter Stelle im Diskursfeld beobachtet werden konnten und die letztlich beide mit der Ausübung von Macht auf potenzielle Adressat_innenkreise zu tun haben. Namentlich handelt es sich hierbei um den konstitutiven Antagonismus zwischen staatsnationalem und ethnonationalem Diskurs einerseits sowie um die konstitutive Symbiose von staatsnationalem Diskurs und Hamburg-Mythos andererseits. Insbesondere der konstitutive Prozess der antagonistischen Abgrenzung zwischen den beiden dominanten Nationalismen ist als zentrales Untersuchungsergebnis hervorgetreten. Dabei wurde offenbar, dass die beiden Diskurse einander nicht bloß die Deutungshoheit über Wahrheit, Wirklichkeit und Moral ihrer jeweiligen Realitätskonstruktionen absprechen. Überdies ist auch deutlich geworden, dass die Diskurse ihren wechselseitigen Antagonismus zwingend brauchen. Er ist, so kann man sagen, ihre ureigene Existenzbedingung.

Die Diskurse stehen sodann vor einem unvermeidlichen Paradox: Um Macht zu entfalten, müssen sie Publika für sich gewinnen. Dies können sie nur tun, indem sie ihre Wirklichkeit jeweils gegen die anderslautende Wahrheit des gegnerischen Diskurses abschirmen und dessen Wirklichkeitsanspruch nachhaltig diskreditieren. Gleichzeitig benötigen sie jedoch den gegnerischen Diskurs als konstitutives Außen, um anhand von konstitutiver Unwahrheit bzw. konstitutiver Unmoral ihre eigene Narration zu legitimieren und sie gegenüber dem ‚schlechten‘ Gegenangebot überlegen erscheinen zu lassen. Vor diesem Hintergrund muss jeder Diskurs seinen Gegendiskurs zwangsweise immer ein Stück weit reproduzieren, um ihn schließlich zu seinen Gunsten umdeuten zu können und ihm einen geringeren Platz in der symbolischen Sinnwelt zuzuweisen – als unwahres und/oder unmoralisches Gegenstück zur eigenen, einzig wahren Wirklichkeit.

Ganz entgegen diesem inhärent konflikthaften Verhältnis zwischen staatsnationaler und enthnonationaler Strömung konnte gezeigt werden, dass Diskurse nicht nur Macht aus interdiskursiven Antagonismen entfalten, sondern sehr wohl auch aus interdiskursiven Allianzen. Im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative profitieren staatsnationaler Diskurs und lokalpatriotischer Hamburg-Mythos maßgeblich von ihrer engen symbolischen Symbiose. Ähnlich wie im Falle der beiden dominanten Nationalismen teilen auch staatsnationaler und lokalpatriotischer Diskurs wesentliche Elemente ihrer Phänomenstruktur miteinander – so zuvorderst zentrale Teilaspekte der Begriffe Identität, Kultur und Nation (respektive Gesellschaft). Anders als im Rahmen des oben beschriebenen nationalistischen Dualismus formulieren sie diese Begriffe jedoch nicht in unterschiedlicher, sondern vielmehr in gleicher Weise aus. Ihre wichtigsten Deutungsbausteine sind in hohem Maße kompatibel und – mehr noch – sie perpetuieren sich gegenseitig. Beide Diskurse profitieren von der Machtentfaltung des jeweils anderen, weil sie ihre Storylines wechselseitig aufeinander abstimmen können. Sie müssen einander keine Publika streitig machen, stattdessen können sie expandierend auf die Adressat_innenkreise ihres jeweiligen ‚Kooperationspartners‘ übergreifen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diskursive Macht – wenigstens im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative – weniger aus den einzelnen Diskursen selbst heraus entsteht als vielmehr aus dem Prozess ihrer interdiskursiven Wechselwirkung – entweder in antagonistischer oder in symbiotischer Form. Gerade im Hinblick auf die beiden widerstreitenden Nationalismen ist klar geworden, dass die Diskurse ihr wechselseitiges Gegengewicht benötigen, um jeder für sich existieren zu können. Das polyseme Fundament der Wirklichkeit erlaubt nicht nur, dass verschiedene Wirklichkeiten konstituiert und untereinander hierarchisiert werden, es macht den Prozess dieser Hierarchisierung sogar zwingend erforderlich. Der Akt der Sinngebung verlangt demnach immer auch nach einem Gegenüber, nach einem ‚Unsinn‘, an dem der ‚Sinn‘ sich messen lassen kann.

Vor dem Hintergrund, dass Diskurse – um Macht zu generieren – also immer und zwangsweise miteinander interagieren müssen, ist es erstaunlich, dass öffentliche Debatte und wissenschaftliche Debatte sich im Hinblick auf ihre gemeinsamen Grundbegriffe in weiten Teilen entkoppelt zu haben scheinen. Die Untersuchung hat offenbart, dass beide dominanten Nationalismen auf Folk Concepts gründen, die in engem Zusammenhang mit der (ethnologischen) Wissenschaftsgeschichte stehen. Während der staatsnationale Diskurs sich eines radikalen Konstruktivismus bedient, Kultur als Hyperkultur denkt und im Zuge eines überbordenden Individualismus die kollektiven (Macht)Aspekte von Kultur und Identität nahezu vollständig ausblendet, ist der ethnonationale Diskurs einem problematischen Essentialismus verhaftet, der nicht nur eine starke Tendenz zur Rassifizierung aufweist, sondern außerdem auch evolutionistischen und diffusionistischen Ideologien einer überkommenen frühethnologischen Epoche nachhängt. Die rezente ethnologische Forschung hat sich von beiden Denkrichtungen mehr oder weniger weit entfernt (sehr weit von der ethnonationalen, weniger weit von der staatsnationalen). Öffentliche und wissenschaftliche Diskurse teilen dieselben Grundbegriffe und gestalten sie (zum Teil diametral) verschieden aus. Trotzdem kommt es diesbezüglich kaum zu einer interdiskursiven Auseinandersetzung. So melden sich im gesamten Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative – zumindest im hier untersuchten Zeitraum – keine ethnologischen Stimmen zu Wort und auch darüber hinaus sind ethnologische Beiträge in der öffentlichen, massenmedial vermittelten Sphäre rar gesät.Footnote 4 Das liegt sicherlich v. a. daran, dass die Adressat_innenkreise der beiden Diskurssphären sich mehr oder weniger vollständig voneinander abgespalten haben. Die Diskurse müssen nicht miteinander in Konkurrenz treten, weil sie nicht um dieselben Publika buhlen und einander ihren jeweiligen Machtanspruch daher auch nicht streitig machen – so scheint es jedenfalls.

Als etablierte Wissenschaft, die als solche erhebliches symbolisches Kapital akkumuliert, muss sich die Ethnologie zwar nicht von anonymen Diskussionen in disparaten Online-Foren bedroht fühlen, die weiter oben angesprochenen politischen Entwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart erinnern jedoch daran, dass Diskurse – wie bereits betont wurde – nicht an ihre Sprecher_innen gebunden sind und daher sehr wohl (mehr oder minder ‚unvermittelt‘) auf andere Klientele übergreifen können. Verschiebungen im Kräfteverhältnis der Diskursfelder sind möglich und – angesichts der bisherigen historischen Entwicklung – sogar wahrscheinlich. Dabei ist zu bedenken, dass nicht nur Diskurse miteinander verkoppelt sind. Auch verschiedene (öffentliche sowie wissenschaftliche) Diskursfelder stehen unweigerlich in (expliziter oder impliziter) Relation zueinander. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass die Ethnologie – wie in Abschnitt 2.3 festgestellt wurde – es bislang versäumt hat, ihre Diskurse in stärkerem Maße aus der angestammten Arena heraus und an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Suche vieler Ethnolog_innen nach neuen Wegen der interdiskursiven Verständigung ist diesbezüglich nicht nur ein gutes Zeichen, sie ist außerdem auch zwingend erforderlich.

Erforderlich ist überdies auch eine verstärkte Auseinandersetzung (auch und gerade von Seiten der Ethnologie) mit den Mechanismen der diskursiven Wirklichkeitskonstruktion. Mit Reiner Keller wurde in Abschnitt 2.4 festgestellt, dass Diskursanalysen wichtige Instrumente der gesellschaftlichen Aufklärung sein können. Sie können dabei helfen, das polyseme Fundament der Wirklichkeit offenzulegen sowie die Machteffekte zu dekonstruieren, die diesen polysemen Charakter verschleiern. Die vorliegende Arbeit hat anschaulich demonstriert, wie ein solcher Ansatz ausgestaltet sein kann. Wenn demokratietheoretische Überlegungen wie diejenigen Benhabibs oder Habermas’ fruchten sollen, dann ist ein kritisches Bewusstsein für Wirkung und Konsequenzen von diskursiver Macht dafür eine unabdingbare Voraussetzung.Footnote 5 In dieser Hinsicht kann Diskursanalyse bzw. Diskursethnologie – als theoretisch-methodisches Paradigma – zu mehr Transparenz in der öffentlichen Debatte und – im Sinne einer ‚aufgeklärten Öffentlichkeit‘ – auch zum Funktionieren des demokratischen Systems als solchem beitragen.Footnote 6 Dies mag ein normativer Anspruch sein – wenigstens insofern man Demokratie als politisches Ideal und nicht als beschreibbare Form der politischen (Selbst)Verwaltung begreift. Da die freie WissenschaftFootnote 7 – und damit auch die heutige Ethnologie – jedoch letztlich inhärenter Teil und (zumindest in ihrer modernen Gestalt) Produkt der Demokratie ist, liegt deren Erhaltung (und Förderung) in ihrem ureigenen Interesse.

Das affektive Fundament der Wirklichkeit

Das polyseme Fundament der Wirklichkeit bildet die grundlegende Vorbedingung für die Entstehung von diskursiver Macht aus interdiskursiver Interaktion. Das affektive Fundament der Wirklichkeit determiniert demgegenüber die spezifische Form, welche diese Machtdynamik annimmt. Es konnte gezeigt werden, dass die dominanten Diskurse im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative Macht v. a. in Gestalt von Emotionen generieren. Um Adressat_innen für sich zu gewinnen, unterbreiten sie ihnen affektive Identitätsangebote. Das heißt, sie entwerfen Subjektpositionen, denen sie spezifische emotionale Qualitäten sowie (moralisch) angemessenes Verhalten zuordnen. Diese Subjektpositionen stiften Sinn, indem sie dem Individuum einen besonderen Platz in der diskursiven Wirklichkeitsordnung zuweisen. Sie sind insofern für die Adressat_innen attraktiv.

Im Anschluss an Laclau und MouffeFootnote 8 sowie auch im Anschluss an Barth und EriksenFootnote 9 wurde festgestellt, dass sich die diskursiven Identitätsangebote maßgeblich im Akt der Abgrenzung von ihrem antagonistischen Gegenüber konstituieren. Die Diskurse entwickeln demnach nicht nur (positive) Selbstzuschreibungen von Identität für ihre eigene Klientel, sondern überdies immer auch (negative) Fremdzuschreibungen gegenüber Außenstehenden. Gerade auch anhand dieses konstitutiven Außen instituieren sie ihr (überlegenes) Selbstbild. Der inhärente Antagonismus zwischen ethnonationalem und staatsnationalem Diskurs macht die positiven Identitätskategorien der beiden Narrationen umso attraktiver, weil diese ihrerseits dazu geeignet sind, die negativen Identitätszuschreibungen der jeweiligen Gegenseite auszugleichen und etwaigen ‚emotionalen Schaden‘ effektiv abzuwenden. Beide Diskurse ziehen demnach ihre Macht aus einem Gefühl der Deprivation, welches der jeweils andere Diskurs ihren Adressat_innen vermittelt. Indem sie den Rezipient_innen ermöglichen, eben dieses Gefühl der Deprivation zu überwinden oder wettzumachen, gelangen sie zu Dominanz.

Die spezifischen historischen Vorbedingungen – also die interdiskursiven Konstellationen der Vergangenheit – sind maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass die Diskurse unterschiedliche Identitätspantheons und – im Zusammenhang damit – unterschiedliche Strategien der Emotionalisierung ausbilden. Während der ethnonationale Diskurs auf die Verteidigung seines historisch dominanten Wirklichkeitsanspruches ausgerichtet ist und sich daher einer steten Notwendigkeit zur Exklusion neuer und anderer Wahrheiten ausgesetzt sieht, befindet sich der staatsnationale Diskurs in der Rolle des Angreifers. Er muss seinerseits erst noch Publika erschließen, also neue Adressat_innenkreise von seiner Wirklichkeit überzeugen, und bedient sich vor diesem Hintergrund einer Rhetorik der Inklusion und der positiv-emotionalen Vergemeinschaftung.

Die Diskurse ziehen einen Großteil ihrer Macht aus dem Wechselspiel von Rationalisierung und Emotionalisierung, das sie beide in gleicher Intensität wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise inszenieren. Der staatsnationale Diskurs erzeugt eine positive Grundstimmung – durch ein idealisierendes, kosmopolitisches Menschenbild, durch Anknüpfung an eine historisch tradierte (wenn auch inhaltlich hochgradig opportunistische) Hamburg-Identität sowie auch und v. a. durch die positive Ansprache und qualitative Aufwertung der Zielgruppe. Er rationalisiert diese Grundstimmung vermittels ausschnitthafter Fakten, Bezugnahme auf Vorbilder und positive Fallbeispiele sowie vermittels eines hochgradig selektiven Blicks auf die (hamburgische / deutsche) Geschichte. Dementgegen nimmt der ethnonationale Diskurs seinen Ausgangspunkt in einem omnipräsenten Gefühl der Bedrohung und des nahenden Untergangs durch ‚Feinde innen und außen‘. Er rationalisiert dieses Gefühl vermittels ausschnitthafter Fakten, durch die selektive Auswahl negativer Fallbeispiele und außerdem durch die rhetorische Implikation von ‚gesundem Menschenverstand‘ als unhinterfragbarem Maßstab für Wahrheit und Moral.

In beiden Fällen wird die emotional begründete Ordnung der Dinge rational ausgekleidet. In beiden Fällen wird überdies die rationale Ordnung durch emotionale Schutz- und Abwehrmechanismen gegen gegenläufige Wahrheiten abgeschirmt. Treffen Anhänger_innen der einen Seite auf Anhänger_innen der anderen Seite mündet dies im Diskursfeld für gewöhnlich im ‚mundtot-Machen‘ des jeweiligen Gegenübers. Sprecher_innen versuchen die intellektuelle und moralische Überlegenheit ihres eigenen Standpunktes zu etablieren, indem sie der Gegenseite deren intellektuelle und moralische Kompetenzen absprechen. Durch die enge Verzahnung von Rationalität und Emotionalität ist es den Akteur_innen nicht möglich den gegnerischen Anspruch auf Wirklichkeit, Wahrheit und Moral gleichberechtigt gelten zu lassen, oder sich auch nur intensiv mit dessen Vorbedingungen auseinanderzusetzen – denn dies würde zwangsläufig bedeuten die Basis der eigenen Existenz und der eigenen Sinnhaftigkeit zu hinterfragen und immer auch (wenigstens partiell) zu beschränken.

Zusammengefasst lässt sich mit Foucault feststellen, dass Macht eine produktive Kraft ist, die untrennbar in Verbindung steht mit der Herstellung von Wissen.Footnote 10 Diskurse müssen Wissen (Deutungsmuster, Subjektpositionen, Klassifikationen) generieren, um Macht auf ihre Adressat_innen auswirken zu können – um sie also von ihrer Wirklichkeitskonstruktion und deren Überlegenheitsanspruch zu überzeugen. Dieses Wissen ist – im Anschluss an Berger und Luckmann sowie auch im Anschluss an die Bourdieu’schen Konzepte von Habitus und körperlicher Hexis – jedoch keinesfalls rein kognitivistisch gefasst, sondern schließt die affektive Dimension des Menschseins gleichermaßen mit ein. Es gibt – um mit Röttger-Rössler zu sprechen – kein vom Denken unabhängiges Fühlen und überdies auch umgekehrt kein vom Fühlen unabhängiges Denken.Footnote 11 Die Diskurse entwerfen eine emotionale Logik, deren selbstverstärkende Machtdynamik maßgeblich dazu beiträgt, dass die polysemen Grundbegriffe der Debatte nicht als solche offenbar werden. Der diskursive Mechanismus erhält sich fortlaufend selbst.

Diskurse sind, das hat die Analyse gezeigt, v. a. dann besonders mächtig, wenn es ihnen gelingt, emotionale Betroffenheit zu erzeugen, bzw. die emotionale Betroffenheit der Adressat_innen zu ihren Gunsten auszunutzen (so etwa im Falle der wechselseitig empfundenen Deprivation). Dies gelingt ihnen in erster Linie in Kontexten, deren Inszenierungsregeln sie weitestgehend selbst bestimmen können und in denen sie keinen oder kaum Widerspruch ihrer Gegner_innen fürchten müssen. Beide Diskurse schaffen sich solche mehr oder minder autarken Räume, in denen sie ihre Narrationen frei entfalten, die korrigierenden Diskurskonstellationen der intersubjektiven Alltagswelt ausblenden und das ‚feindliche Außen‘ in konstitutiven Dosen gezielt und selektiv zulassen können. Im staatsnationalen Fall sind hier v. a. die Hamburger Einbürgerungsfeiern zu nennen, die als institutionalisiertes Ritual eine perfekte Bühne bieten für die Inszenierung der eigenen Wirklichkeit und die subtile Zuschreibung sozial erwünschter Rollenbilder. Im ethnonationalen Fall erfüllen virtuelle Räume – zumeist in Form von Online-Kommentarforen – dieselbe Funktion.

Bemerkenswert ist, dass in beiden Fällen Widerspruch nicht per se ausgeschlossen ist. So können die Diskurse letztlich nicht verhindern, dass sich Vertreter_innen der gegnerischen Wirklichkeit Zugang zu ihren jeweiligen Räumen verschaffen. Es wäre durchaus möglich, die Inszenierung der Einbürgerungsfeiern durch offenen Protest zu stören. Es wäre überdies auch möglich, sich als gegnerische Stimme in ethnonational dominierten Online-Foren zu behaupten. Gerade Letzteres geschieht z. T. auch tatsächlich, allerdings beschränkt sich dieser ‚Widerstand‘ zumeist auf einige wenige Sprecher_innen. Im Allgemeinen bleiben die Wirklichkeiten in ihren diskursiven Domänen unangefochten. Warum das so ist, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Angesichts der obigen Ergebnisse liegt jedoch der Schluss nahe, dass es für die Akteur_innen (emotional) problematisch sein kann, sich aktiv mit anderen Wirklichkeiten auseinanderzusetzen, wenn sie sich dabei mit ihrer eigen Wirklichkeitsdefinition an den Rand des Kollektivs gedrängt sehen. Durch die (situativ bedingte) breite Akzeptanz einer diskursiven Wahrheit wird Widerspruch gegen diese nicht nur schwierig, er wird auch persönlich unattraktiv, weil man aufgrund des eigenen ‚Outings‘ als Außenstehende/r erhebliche Gegenwehr und Angriffe auf die eigene Identität fürchten müsste. Um das positive Selbstbild nicht durch negative (emotionale) Erfahrungen zu gefährden, wird die Konfrontation gemieden. Die Goffman’sche Vorstellung von facework bekommt hier eine völlig neue Stoßrichtung.Footnote 12 Denn folgt man diesem Gedankengang, so ist die Akzeptanz der jeweiligen diskursiven Situationsbestimmungen nicht nur eine Folge gemeinsamer kultureller Konventionen, sie kann – im Gegenteil – auch aus dem Divergieren kultureller Realitäten entstehen und aus der Angst davor, die eigene Realität (und die besondere persönliche Stellung darin) durch einen offenen Konflikt mit der Gegenseite ins Wanken zu bringen. Das Gesicht muss gewahrt werden. Nicht nur vor den anderen, sondern auch und v. a. vor sich selbst.

Um die obige These zu überprüfen sind weitergehende (v. a. auch ethnographische) Studien erforderlich. Sie kann daher hier nicht eindeutig belegt werden. Zumindest jedoch würde ein solcher Mechanismus erklären, warum die ‚autarken Räume‘ der Diskurse (die ja letztlich gar nicht autark sind) in erster Linie Befürworter_innen der jeweiligen Deutungslinie anziehen, und warum Gegner_innen diese Räume kaum nutzen, obwohl der Zugang zu ihnen (wenigstens in den meisten Fällen) nicht offiziell beschränkt ist. Für die Individuen ist es einfacher (und sicherer!) sich in den ‚eigenen‘ Diskursräumen zu bewegen. Solange diese Räume das eigene Bedürfnis nach Sinn und emotionalem Wohlbefinden ausreichend befriedigen, besteht keine Notwenigkeit in gegnerische Räume einzudringen oder diese gar zu ‚erobern‘. Das heißt nicht, dass ein Übergreifen von Diskursen auf fremde Diskursdomänen unmöglich wäre. Zumindest jedoch ist anzunehmen, dass dem ein gewisser (emotionaler) Impuls vorausgehen muss.

Anhand der historischen Darstellung in Abschnitt 2.5 kann nachverfolgt werden, dass Ereignisse, die in besonderem Maße dazu angetan sind, emotionale Reaktionen zu provozieren, in der Geschichte immer wieder dazu geführt haben, dass sich interdiskursive Konstellationen verschieben und Diskurse neue Räume für sich erschließen. Kriegen sowie großflächigen Migrationsbewegungen (der Emigration ebenso wie der Immigration) scheint diesbezüglich eine herausragende Rolle zuzufallen. So resultierte der Aufstieg des deutschen Nationalismus zur staatlichen Legitimationsideologie aus dem militärischen Sieg über Frankreich und die damit in Verbindung stehende Gründung des Deutschen Kaiserreichs (das ja verfassungsrechtlich gerade kein Nationalstaat war). Die wachsende Dominanz sowie auch die weitergehende Radikalisierung der ethnonationalen Perspektive folgten des Weiteren aus den großen Wanderungsbewegungen von und nach ‚Deutschland‘. Zu einem Höhepunkt gelangten sie schließlich im Zuge des Ersten Weltkriegs, der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs und der Pflicht zur Abtretung weiter Territorien im Rahmen der Weimarer Republik. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Untergang des nationalsozialistischen Regimes führte dann wiederum zu einer interdiskursiven Verschiebung und verhalf der staatsnationalen Ideologie zu wachsender Prominenz. Wenn man so will, war auch die Verschärfung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2019 – deren Wortlaut mit einigen radikalen Forderungen der ethnonationalen Strömung korrespondiert – letztlich die Konsequenz eines Krieges unter deutscher Beteiligung, auch wenn er nicht auf deutschem, sondern vielmehr auf syrischem Boden stattfand.

Diese Zusammenfassung der geschichtlichen Fakten ist ausschnitthaft und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll lediglich den Verdacht untermauern, dass emotionalisierende Ereignisse in besonderem Maße dazu angetan sind, das diskursive Machtgefälle neu zu ordnen. Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass Vorstellungen von (deutscher) Nation immer und unweigerlich auch eine emotionale Dimension aufweisen. Wenn Diskurse Macht in allererster Linie aus Emotionen generieren, dann entscheidet die ‚emotionale Verfasstheit‘ der Gesellschaft maßgeblich darüber, welches Gesicht die janusköpfige Nation jeweils offenbart. In diesem Sinne ist ein kritisches Bewusstsein für die emotionalen Aspekte der rationalen Ordnung eine unabdingbare Grundvoraussetzung für die diskursanalytische Nationalismusforschung innerhalb und außerhalb der Ethnologie.

Der diskursanalytischen Theorie und Methode kommt in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Bedeutung zu. Wenn man Diskursanalysen – wie weiter oben diskutiert – als Aufklärungsprojekt begreift, dann darf sich dieser Anspruch nicht allein auf die Dekonstruktion kognitiv gefasster gesellschaftlicher Wissensverhältnisse beziehen. Er muss sich v. a. auch auf die emotionalen Dynamiken und Machteffekte beziehen, die der Ausgestaltung dieser Wissensverhältnisse zugrunde liegen bzw. deren Logiken perpetuieren. Der Blick darf dabei keinesfalls in eine einseitige Machtperspektive abgleiten, welche Macht – wie etwa im Rahmen der Kritischen Diskursforschung (die ihrerseits auch in ethnologischen Kreisen beliebt ist) – als Herrschaft (fehl)interpretiert. Macht kann unzweifelhaft Herrschaft bedeuten, doch keine Herrschaft ist jemals absolut. Folgt man der obigen Argumentationslinie, kann sie dies schon allein deshalb nicht sein, weil sie immer ein gewisses Maß an Gegenmacht braucht, um sich selbst zu konstituieren. Überdies besteht jedes Diskursfeld aus heterogenen Diskurs- und Machtkonstellationen, deren spezifisches Zusammenwirken – wie weiter oben gezeigt werden konnte – für das Verständnis von Macht, Wissen und Diskurs essentiell ist. Die Verengung des Machtbegriffs auf Formen der Herrschaft schränkt demnach immer und zwangsweise den Blick dafür ein, was als relevanter Machtaspekt erscheint und was nicht. Er führt – wie auch in vielen ethnologischen Studien erkennbarFootnote 13 – zu einer vorschnellen Dichotomisierung von Unterdrückten und Unterdrückenden.

Das diskursive Fundament der Wirklichkeit

Die vorliegende Arbeit basiert auf einem umfassenden theoretischen Diskursbegriff, welcher das Kulturelle mit dem Diskursiven in eins setzt. Die obige Zusammenfassung der Ergebnisse demonstriert, welche (forschungs)praktischen Konsequenzen solch ein Ansatz nach sich zieht – und welche Bedeutung seinem umfangreichen theoretischen Fundament dabei zukommt. Ein Blick auf Kultur – bzw. auf Kulturen im Plural – als diskursives Wissen (das seinerseits sowohl kognitiv als auch affektiv verfasst ist und sich in heterogener sozialer Praxis ausdrückt) lässt selbige unweigerlich als komplexe Konstellation unterschiedlichster sozial konstruierter Wirklichkeiten erscheinen. Diese Wirklichkeiten befinden sich nicht nur in ständiger (und zwingender) Interaktion miteinander (konflikthaft oder nicht), sie befinden sich überdies auch – um mit James Clifford zu sprechen – ständig im Fluss.Footnote 14

Diskurse sind ein intersubjektives Produkt, an dessen Erzeugung die individuellen Akteur_innen zwar beteiligt sind, welches jedoch gerade aufgrund dieser intersubjektiven Verfasstheit sowie aufgrund der ihm inhärenten Wechselwirkung von Rationalisierung und Emotionalisierung eigendynamisch Macht entfaltet und sich (wenigstens im Regelfall) dem einzelnen Bewusstsein entzieht. Das heißt nicht, dass die individuellen Akteur_innen ihrerseits machtlos wären. Vielmehr sind sie Produzent_innen und Ressource der Macht, insofern Diskurse nur durch kollektive Akzeptanz zu Geltung gelangen. Individuen können Prozesse der Diskursproduktion anstoßen und/oder maßgeblich prägen (wie z. B. im Falle von Olaf Scholz, der als Wortführer der staatsnationalen Narration fungiert). Sie können Diskurse überdies auf kreative Art dekodieren und höchst unterschiedliche Diskurslinien zu neuartigen Narrationen zusammenbringen (wie z. B. im Falle des in Abschn. 5.1 zitierten Mitarbeiters der Hamburger Einbürgerungsabteilung). Menschen deshalb als freie und rationale Charaktere zu inszenieren (wie etwa der staatsnationale Diskurs es tut) wäre jedoch verfehlt. Menschen sind das Produkt von diskursiven Konstellationen, die jeweils für ihre individuellen Lebensverhältnisse spezifisch sind. Diese Definition der Mensch-Kultur-Relation ähnelt dem Prinzip des Bourdieu’schen Habitus, verankert die ‚strukturierten und strukturierenden Strukturen‘ jedoch weniger im Bereich des Materiellen als vielmehr im (gleichermaßen kognitiven wie affektiven) Bereich intersubjektiv erzeugter Wirklichkeit(en).Footnote 15

Vor diesem Hintergrund ist der Machtbegriff – wie er im vorigen Abschnitt erläutert wurde – von zentraler Bedeutung. Die Analyse von Kultur als Diskurs setzt immer ein Bewusstsein für Macht im Foucault’schen Sinne voraus. Sie erfordert überdies einen sehr spezifischen Zugang, insoweit nicht vorschnell von Kultur auf kulturelle Gruppe geschlossen werden kann (oder umgekehrt). Tatsächlich zeichnen sich hier starke Parallelen zur ethnologischen Ethnizitätsforschung nach Barth und Eriksen ab.Footnote 16 Dabei ist jedoch festzuhalten, dass Identitäten – zumindest insoweit man es anhand der vorliegenden Untersuchung beurteilen kann – weniger im Kontakt zwischen Gruppen als vielmehr im Kontakt zwischen Wirklichkeitsordnungen entstehen. Identitäten sind demnach ein interkulturelles Produkt. Das setzt voraus, dass es eine gewisse Relation zwischen kulturellen und identitären Grenzlinien geben muss, allerdings bewegt diese Relation sich nicht im Bereich eines simplen Eins-zu-Eins-Verhältnisses.

Kulturelle Wirklichkeiten stecken den Rahmen dafür ab, wie Identität vom Individuum empfunden werden kann. Die spezifische Art und Weise dieser Erfahrung hängt von der jeweiligen multikulturellen Konstellation ab, innerhalb derer sich dieses Individuum bewegt. Identitäten entstehen im Prozess des interkulturellen Zusammenpralls, der wechselseitigen Abgrenzung und der unvermeidlichen Hierarchisierung unterschiedlicher kultureller Wirklichkeiten. Diese Wirklichkeiten sind höchstens lose mit einzelnen sozialen Gruppen von Sprecher_innen respektive Adressat_innen assoziiert – etwa der Gruppe der Eingebürgerten, der Gruppe der Behördenmitarbeitenden, der Gruppe der TGH-Ehrenamtlichen oder der Gruppe der Online-Forennutzer_innen. Diese Gruppen entstehen an und für sich nicht im Zuge ihrer identitären Abgrenzung, sondern zunächst aus sozialen und/oder materiellen Vorbedingungen. Da die Aneignung von Identität (und von Wirklichkeit) ein individueller und ein kreativer Akt ist, erfolgt eben diese Aneignung auf heterogene Weise – innerhalb der Gruppen und über deren Grenzen hinaus. Damit ist kein hyperkultureller Prozess der ‚freiwilligen‘ Konsumption von mehr oder minder beliebigen Kultur- bzw. Identitätsfragmenten gemeint. In der Tat vollzieht sich der individuelle Akt der Aneignung in einem komplexen Gefüge eigendynamischer Machstrukturen. Er wird sehr wohl von diesen Machstrukturen determiniert – da Macht jedoch nicht Herrschaft, sondern Einfluss (oder vielmehr Einflüsse im Plural) bedeutet, ist diese Determination nicht eindimensional und begründet auch keine Kongruenz von sozialen, identitären und/oder kulturellen Grenzen. Dem Herder’schen Commonsense vieler intuitiver und wissenschaftlicher Denkmodelle muss vor diesem Hintergrund eine mehr als deutliche Absage erteilt werden.Footnote 17

Die Feststellung, dass Kultur, Identität und soziale Gruppenbildung separate Phänomene sind, die zwar untereinander in Wechselwirkung stehen, einander jedoch nicht zwangsläufig determinieren, bringt erhebliche Konsequenzen für die inner- und außerethnologische Forschungspraxis mit sich. Folgt man dem obigen Gedankengang so können weder Kulturen noch Identitäten unproblematisch aus abgrenzbaren sozialen Gruppen erschlossen werden. Die Erforschung von Kultur und Identität muss vielmehr im diskursiven Raum zwischen Gruppen stattfinden. Kulturelle Wirklichkeiten müssen aus sich selbst, sowie aus ihrer interkulturellen Wechselwirkung heraus verstanden werden. Die Untersuchung kultureller Wirklichkeitskonstellationen muss der Untersuchung von Identität zwingend vorausgehen, da Identitäten nur auf Grundlage ihres inhärent polysemen und inhärent affektiven Fundaments – sowie anhand der spezifischen (inter)kulturellen Ausgestaltung dieses Fundaments – vollständig erfassbar sind. Die Frage danach, wie Identitäten und Kulturen durch einzelne soziale Gruppen angeeignet und / oder produziert werden, lässt sich außerdem erst dann sinnvoll beantworten, wenn ihre diskursive Natur umfassend entschlüsselt worden ist.

Kurzum: Wenn eine Untersuchung (wie die hier vorliegende) sich mit dem nationalen Selbstbild einer nationalstaatlich verfassten (und in hohem Maße von den Gesetzmäßigkeiten massenmedialer Aussageproduktion dominierten) Gesellschaft befasst, dann darf sie ihren Ausgangspunkt nicht in partikularen Räumen oder Gruppen nehmen. Sie sollte sich nach Möglichkeit auch nicht auf die Analyse (vermeintlich) separater Diskurslinien beschränken. Die Entschlüsselung der diskursiven Wirklichkeitsverhältnisse erfordert vielmehr einen offenen Blick auf gesamte Diskursfelder. Deren Abgrenzung muss unbedingt thematisch erfolgen und nicht anhand vorgefasster Meinungen über mögliche identitäre Trenn- oder kulturelle Deutungslinien. Jede andere Herangehensweise hat unweigerlich eine vorschnelle Verengung des Blickwinkels zur Folge, wie sie in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit bereits ausführlich problematisiert wurde.

Natürlich ist es demgegenüber durchaus möglich, den Fokus auf nationalistische ‚Mikrodiskurse‘ zu richten, die sich ihrerseits innerhalb bestimmter (subgesellschaftlicher) Gruppen entfalten und deshalb für diese Gruppen spezifisch sind. Für diese Mikro- oder Mesoebene gelten dann jedoch dieselben theoretischen Vorbedingungen, die auch für die gesamtgesellschaftliche Makroebene gelten müssen: Diskurse sollten immer möglichst offen aus ihren jeweiligen Diskursfeldern heraus erschlossen werden. Ansonsten läuft man zwangsläufig Gefahr, die Gruppen auf unzulässige Art und Weise zu homogenisieren und / oder zu dichotomisieren. Überdies muss darauf hingewiesen werden, dass die Untersuchung gruppenspezifischer Mikrodiskurse nur sehr wenig Aussagekraft hat für etwaige korrespondierende Diskurse auf der Makroebene. Gleiches gilt selbstverständlich auch für den Vergleich von unterschiedlichen Diskursfeldern. So ist zu betonen, dass ethnonationaler und staatsnationaler Diskurs hier exemplarisch am Beispiel des Diskursfelds der Hamburger Einbürgerungsinitiative untersucht wurden. Ergebnisse dieser Untersuchung sind nur bedingt übertragbar auf andere Diskursfelder. Es ist sehr wohl möglich, dass der konstitutive Antagonismus zwischen den Diskursen sich im Rahmen eines anderen thematischen Kontextes verändert oder sogar auflöst – etwa, wenn die Diskurse sich (gemeinschaftlich) gegen eine starke postnationalistische Perspektive verteidigen müssen, oder wenn (z. B. im Rahmen von Fußballspielen der deutschen Nationalmannschaft) die zentralen Identitätskategorien der Diskurse zu Gunsten anderer Kategorien in den Hintergrund treten. Genauso ist es denkbar, dass sich die enge Symbiose von staatsnationalem Diskurs und Hamburg-Mythos unter veränderten Bedingungen in einen wechselseitigen Antagonismus verwandelt, wenn es z. B. im Rahmen politischer Debatten um die Abgrenzung zwischen der Freien und Hansestadt auf der einen und der übergreifenden Bundesebene auf der anderen Seite geht.

Kulturelle Wirklichkeiten – das muss noch einmal wiederholt werden – sind ständig im Fluss und Identitätskonstellationen sind ihrerseits grundsätzlich situativ. Das zeigt sich nicht zuletzt auch an den wechselnden ‚Feindbildern‘, welche deutsche Nationalismen in der Vergangenheit etabliert haben (von ‚Ostjuden/-jüdinnen‘ über ‚Katholik_innen‘, bis hin zu ‚kosmopolitischen Eliten‘). Insofern bietet die vorliegende Analyse nur einen ersten und zwangsläufig partiellen Einblick in das komplexe und stetig changierende Bild der deutschen Nation. Weitere Studien in dieser Richtung wären nicht nur wünschenswert, sondern sind – angesichts der oben aufgezeigten Dynamiken – sogar absolut notwendig. Die Ethnologie – mit ihrer Expertise im Bereich Kultur, Identität und Ethnizität – kann hier einen unschätzbaren Beitrag leisten. Ein diskursanalytischer Blick ist dafür in hohem Maße zu empfehlen, da er den (Macht)Dynamiken der kulturellen Wirklichkeitskonstitution in besonderer Weise Rechnung trägt. Das gilt umso mehr in Anbetracht der wachsenden Bedeutung von Massenmedien wie etwa des Internets, die in herausragender Form zur kulturellen Wissensproduktion beitragen und deren Regelmäßigkeiten umfassend mitbestimmen. Das gilt überdies auch in Anbetracht der Prävalenz von (aus wissenschaftlicher Sicht) hochproblematischen Folk Concepts, die nicht nur rational in den Köpfen sondern auch und gerade emotional in den Körpern der Diskursproduzent_innen verankert sind. Wo Diskurse ihr polysemes Fundament verschleiern, kann Diskursethnologie zu mehr Transparenz verhelfen und den emotionalen Abwehrmechanismen damit ein Stück weit ihre Grundlage entziehen. Das Bedeutet jedoch nicht, dass Emotionen aus der Debatte ‚ferngehalten‘ werden könnten. Sie sind ein integraler Teil derselben. Es bedeutet viel eher, dass die Ethnologie mit diskursanalytischen Mitteln dazu beitragen kann, Adressat_innen die Vielgestalt der Wirklichkeit sowie ihre eigene emotionale Positioniertheit darin vor Augen zu führen und damit neue Wege der Dekodierung – und der Enkodierung – von kultureller Bedeutung zu ermöglichen. Ob diese neuen Wege der interdiskursiven Auseinandersetzung langfristig dazu führen, dass alte Antagonismen abgebaut und neue Möglichkeiten der Verständigung erschlossen werden, wird sich zeigen müssen. In jedem Fall ist jedoch davon auszugehen, dass ein kritisches Bewusstsein für die diskursive Natur der Wirklichkeit dem politischen Ideal einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft in stärkerer Weise gerecht werden kann. Ob die Ethnologie aktiv auf ein solch normatives Ziel hinarbeiten sollte, ist sicherlich eine wissenschaftsphilosophische Frage. Ich persönlich beantworte sie – aus dem individuellen Blickwinkel meiner subjektiven Sinnwelt – an dieser Stelle mit einem klaren: Ja.

6.2 Nachbemerkung: Zur Objektivierung der Perspektive

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2020 an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg im Promotionsfach Ethnologie als Dissertation eingereicht. Im Rahmen der anschließenden Disputation sind einige weiterführende Fragen aufgetreten, die im Folgenden näher erörtert werden sollen. Diese Fragen sind insbesondere auf einen etwaigen Anwendungsbezug der hier vorgelegten Untersuchung ausgerichtet. Ihre Beantwortung dient nicht nur einer umfassenderen Einordnung der Dissertation in ihren weiteren fachlichen Kontext, sie objektiviert überdies den (durchaus persönlichen) Kontext ihrer Entstehung und Zielsetzung. Größtmögliche Offenheit und Genauigkeit liegen nicht nur allgemein im Interesse intersubjektiver Kontrolle und wissenschaftlicher Objektivität. Sie sind im vorliegenden Fall auch deshalb in besonderem Maße gefordert, weil die hier präsentierte Arbeit zentrale Diskurse ihrer Mutterdisziplin in Frage stellt und Ansprüche an die zukünftige Entwicklung des Faches richtet. Die Konfrontation von Wirklichkeit – das lehrt die vorliegende Untersuchung – verlangt nicht bloß nach einer soliden inhaltlichen Begründung. Sie verlangt überdies und in besonderem Maße nach Transparenz bezüglich ihres referentiellen Rahmens. Die zugrundeliegenden Impulse, Vorannahmen und Absichten der Arbeit müssen offengelegt werden, um Missverständnissen vorzubeugen und in der interdiskursiven Auseinandersetzung Legitimität beanspruchen zu können. In diesem Sinne sollen im Folgenden drei zusätzliche Aspekte erörtert werden, die in dieser Form nicht Teil der ursprünglichen Dissertation waren. Im ersten Teil dieser Nachbemerkung soll zunächst die problematische Ver- wie Entkopplung von wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen weiterführend beleuchtet und in ihren Implikationen exemplarisch veranschaulicht werden. Im zweiten Teil schließt sich die Vorstellung der sogenannten Angewandten bzw. Praktizierten Ethnologie an, innerhalb deren Spektrum ich mich als Wissenschaftlerin verorte und deren heterogene Spielarten überdies in besonderer Weise dazu angetan sind, die wissenschaftliche mit der öffentlichen Sphäre in Dialog zu bringen. Im dritten und letzten Teil wird schließlich ein praktisches Beispiel aus meinem persönlichen Arbeitsfeld außerhalb der akademisch institutionalisierten Ethnologie dazu herangezogen, das Potenzial der (Diskurs)Ethnologie auch und gerade in anwendungsorientierten Kontexten zu veranschaulichen.

Der Parallelismus von Wissenschaft und Öffentlichkeit

Die vorliegende Arbeit stellt – im Sinne einer wissenschaftlichen Verantwortung gegenüber öffentlichen Diskursen – zwei zentrale Forderungen an die Ethnologie. In beiden geht es letztlich um die Herstellung von Transparenz – zum einen die Polysemie kollektiver Grundbegriffe betreffend, zum anderen die eigendynamischen Machttechniken betreffend, welche die öffentliche Debatte (sowie die Prozesse ihrer Enkodierung und Dekodierung) maßgeblich strukturieren. Im Angesicht mächtiger und hochgradig emotionalisierter Deutungslinien, die einander in der öffentlichen Arena unversöhnlich bekriegen, kann die Ethnologie – auch und gerade in Gestalt von Diskursethnologie – als aufklärerisches Projekt begriffen werden, welches die Mechanismen diskursiver Sinnstiftung (und damit gleichsam die Dynamiken der demokratischen Meinungsbildung) offenlegt und einer kritischen Analyse unterzieht. Eine solche (diskurs)ethnologische Aufklärungsarbeit ist auf zwei verschiedene Arten möglich – oder vielmehr umfasst sie zwei verschiedene Dimensionen, die im besten Falle nahtlos ineinandergreifen:

Erstens kann die Ethnologie ihrer Verantwortung innerhalb der wissenschaftlichen Sphäre gerecht werden, indem sie – insbesondere anhand diskursanalytischer Studien wie der hier vorliegenden – Diskurse, Diskursfelder, Dispositive, Publika und Diskursproduzierende auf deren Grundbegriffe und Dynamiken hin untersucht und dabei stets sensibel ist, für die interdiskursiven Querverbindungen zwischen öffentlicher und wissenschaftlicher Arena. Dabei muss sie sich vor allem auch ein kritisches Bewusstsein für ihre eigenen Diskurse, ihre innerfachlichen Glaubenssätze bewahren, um nicht a priori die Perspektive auf Vertrautes (oder vielmehr ‚Fremdes‘) zu verengen. In Anbetracht ihrer bewegten Fachgeschichte, die wie kaum eine andere von schonungslos selbstkritischen Paradigmenwechseln gekennzeichnet ist, sind die Voraussetzungen hierfür mehr als gut.

Zweitens kann und sollte die Ethnologie mit ihren eigenen Diskursen stärker in die Öffentlichkeit treten, sich einbringen in die vielstimmige Debatte des massenmedial vermittelten Raumes. Der Parallelismus von wissenschaftlicher und sozialer Wirklichkeit führt aktuell dazu, dass gesellschaftliche Grundbegriffe einseitig aus dem wissenschaftlichen Vokabular entliehen und dabei nach Belieben von ihrem Ursprungskontext entkoppelt werden. Auf diese Weise befördert er die Polysemie der öffentlichen Diskurslandschaft und bereitet den nationalistischen Wirklichkeitsordnungen, die im Verlauf der hier vorgelegten Untersuchung nachgezeichnet wurden, fruchtbaren Boden.

Die Entfremdung von Wissenschaft und Öffentlichkeit beschneidet jedoch nicht nur die Potenziale der gesellschaftlichen Wissensproduktion, insofern sie den diskursiven Prozessen der kollektiven Konstitution von Wirklichkeit gewisse Impulse vorenthält und andere wiederum unkommentiert walten lässt – mit anderen Worten also die Möglichkeiten der Sinnstiftung (und demokratischen Willensbildung) durch Unterlassung einschränkt. Sie schadet genauso auch der akademischen Debatte, wenn sie z. B. umgekehrt dazu führt, dass wissenschaftliche Diskurse ihre Bodenhaftung verlieren und sich von der sozialen Realität der sie umgebenden Gesellschaft ablösen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Konzept der kulturellen Fremdheit, wie es in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit erörtert wurde und wie es im Kontext nationalistischer Ideologien zu existenzieller Bedeutung gelangt.

Innerhalb der Ethnologie ist man sich der Tatsache allzu bewusst, dass die populäre Kategorisierung von Eigenem und Fremdem überaus problematische Konnotationen birgt. Man muss einem/einer Ethnolog_in (wenigstens heutzutage) nicht erklären, dass ein Hijab (welcher Form und Ausführung auch immer) keinerlei Aussagekraft in Bezug auf den Charakter der Person hat, die ihn trägt, dass Hautfarbe kein Indikator für Herkunft ist oder dass ein buddhistischer Tempel genauso gut in Bangkok wie in Leipzig beheimatet sein kann. Der breiten Bevölkerung sind diese Fakten hingegen weit weniger geläufig. Pagoden, Buddhastatuen, ‚Kopftücher‘ und ‚Schwarze Haut‘ bleiben für die meisten Menschen in Deutschland (aller Globalisierung zum Trotz) unzweifelhafte Marker von Fremdheit – ganz gleich, ob sie nun als Bedrohung diskreditiert oder als Exotik klischeehaft überhöht werden. Vor diesem Hintergrund mutet es – im eigentlichen Sinne des Wortes – befremdlich an, wenn ethnologische Institutionen im deutschsprachigen Raum ihre Online-Präsenzen (immer noch) mehrheitlich mit Bildern illustrieren, die für den weit überwiegenden Teil der deutschsprachigen Bevölkerung Fremdheit repräsentieren. Wie der Screenshot einer schnellen Google-Bilder-Suche in Abb. 6.1 sehr anschaulich zu demonstrieren vermag, ist das Schlagwort Ethnologie im World Wide Web untrennbar mit der Darstellung von ‚Exotik‘ verknüpft. Zwar kann man berechtigterweise argumentieren, dass sowohl ‚Exotik‘ als auch ‚Fremdheit‘ im Auge der Betrachtenden liegen und die gezeigten Personen, Orte oder kulturellen Praktiken auf den zweiten Blick nicht im Mindesten so ‚fremd‘ sind, wie sie auf den Ersten vielleicht erscheinen. Man mag sogar anführen, dass es eine zentrale Aufgabe der Ethnologie ist, Vielfalt sichtbar zu machen, dem Eurozentrismus der dominanten gesellschaftlichen (wie auch wissenschaftlichen) Perspektive korrigierende Einblicke aus anderen Regionen, Lebenswelten, Wirklichkeiten entgegenzustellen. Überdies lässt sich legitimerweise auf die Tatsache verweisen, dass Ethnolog_innen in ihren Arbeiten wahrgenommene Fremdheit zumeist nur präsentieren, um sie anschließend zu dekonstruieren und hinter der Fassade vermeintlicher Exotik universelle Aspekte des Menschseins aufzudecken. NICHTS davon geschieht jedoch im Rahmen von Websites, die Bachelor- oder Masterstudiengänge bewerben, das Interesse an einem Institut wecken sollen, Berufsberatung für Studierende anbieten oder auf die Verfügbarkeit von Stipendien aufmerksam machen. Hier muss man ernsthaft die Frage stellen, nach welcher Maßgabe die Bilder ausgewählt wurden und was sie konkret illustrieren sollen. Weiterhin muss man sich die Frage gefallen lassen, warum auf diesen Bildern keine Menschen in Anzug und Krawatte zu sehen sind, keine gläsernen Wolkenkratzer, keine sterilen Großraumbüros oder modern ausgestattete Krankenhauszimmer – und warum die Inszenierung der Bilder weiße Personen überwiegend in der Rolle von Forschenden und Studierenden zeigt, nicht-weiße Menschen dagegen weit überproportional in der Rolle von Studienobjekten.Footnote 18

Abb. 6.1
figure 1

Screenshot einer Google-Bilder-Suche nach dem Schlagwort ‚Ethnologie‘ vom 21.06.2021

Ethnolog_innen (egal welcher Herkunft und Hautfarbe) erforschen Kultur und Identität an den unterschiedlichsten Orten und innerhalb der unterschiedlichsten Gruppen von Menschen. Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit, dass natürlich auch weiße Personen, Anzugträger_innen, Wirtschaftsunternehmen und medizinische Einrichtungen unter das ethnologische Erkenntnisinteresse fallen und insofern genauso Teil der modernen Forschungsrealität sind wie Lehmhütten, Ritualtänze und bunte Trachten. Nichtsdestoweniger sind nicht sie es, welche zur Darstellung des Faches in der Öffentlichkeit herangezogen werden. Die Bilder zeigen gewisse Aspekte dessen, was Ethnologie bedeutet, andere (für eine holistische Darstellung durchaus sehr wichtige) Aspekte bleiben hingegen unsichtbar. Man kann nach Belieben darüber spekulieren, welche Ursachen diesem Bias zugrunde liegen – Fakt ist jedoch, dass die Ethnologie in ihrer Selbstrepräsentation (bewusst oder unbewusst) öffentliche Diskurse von Fremdheit und Exotik reproduziert (und in Teilen sogar von ihnen profitiert, da das Anknüpfen an exotisierende Topoi ihr erfahrungsgemäß die Aufmerksamkeit potenzieller Studieninteressierter einbringt). Weil die Ethnologie fachintern ganz andere Diskurse zu Fragen der kulturellen Differenz produziert (die jedoch ihrerseits wiederum der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich sind) und viele Ethnolog_innen deshalb in den gezeigten Bildern gerade keine Fremdheit erkennen können oder wollen, führt die Polysemie der gewählten Symbolik auch in diesem Fall dazu, dass zwei unabhängige Wirklichkeitssphären einander wechselseitig perpetuieren. Eine solche Entkoppelung von der Lebensrealität der breiten Masse einerseits und die simultane Befeuerung problematischer Diskurse andererseits, können nicht im Interesse unseres Faches liegen. Die Ethnologie muss sich, über den Prozess der innerfachlichen Selbstkritik hinaus, stärker mit ihrer Rolle in der Öffentlichkeit befassen – sowohl was ihre inhaltliche Zugänglichkeit anbelangt als auch was ihre Selbstdarstellung nach außen hin betrifft. Die analytische Auseinandersetzung mit (populären und akademischen) Diskursen zum Zweck der Herstellung von Transparenz über Polysemie und Machtdynamik der kollektiven Sinnstiftung ist demnach nur der erste Schritt. Zwingend folgen muss ihr ein systematisches Aufbrechen des beiderseits schädlichen Parallelismus von wissenschaftlicher und öffentlicher Sphäre, im Sinne eines wechselseitig befruchtenden, interdiskursiven Dialoges sowie (und vor allem) einer breiteren Verfügbarkeit von ethnologischer Expertise über den Radius der wissenschaftlichen Peergroup hinaus.

Während die vorliegende Arbeit den ersten dieser beiden Schritte geht, steht der Zweite noch aus. Es tut sich also die berechtigte Frage auf, wie er wohl konkret gestaltet sein könnte. Um eine diesbezügliche Vision zu entwerfen, ist es zunächst sinnvoll, einen Blick auf den Ursprung der hier vorgebrachten Ansprüche zu werfen – denn die Forderung nach einer stärkeren Präsenz der Ethnologie in der Öffentlichkeit, auch und gerade im Kontext eines kritischen Umgangs mit massenmedial geführten Debatten, ergibt sich nicht allein aus den Ergebnissen dieser Untersuchung als solcher. Er gründet darüber hinaus in der spezifischen soziokulturellen Positioniertheit der Autorin, die es im Folgenden zu objektivieren gilt.

Die Ethnologie als angewandte Wissenschaft

Der kritische Blick auf dominante (populäre wie akademische) Diskurse im Themenfeld Kultur und kulturelle Differenz sowie Identität und Nationalismus ist mir insofern ein Anliegen, als er eng mit dem Berufsfeld korrespondiert, in welchem ich selbst tätig bin. Als Trainerin für Interkulturalität und Anti-Rassismus besteht eine meiner wichtigsten Aufgaben darin, hegemoniale Ideologien zu erkennen und sichtbar zu machen sowie die kritische Dekonstruktion – im Sinne einer konstruktiven Selbstreflexion – dieser Ideologien im Seminarkontext anzuleiten. Innerhalb der Ethnologie gehöre ich damit einem Sektor an, der, auf die akademische Disziplin bezogen, in Deutschland randständig erscheint, gesamtgesellschaftlich gesehen jedoch zu wachsender Bedeutung gelangt. Gemeint ist jener Seitenarm des Faches, der gemeinhin als Angewandte Ethnologie bezeichnet wird – wobei dieser Begriff so umfassend ist, dass er von Unternehmensentwicklung über Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu frühkindlicher Entwicklungsförderung nahezu alles umfassen kann.Footnote 19 In ihrem Text Angewandte Ethnologie – Zwischen anwendungsorientierter Wissenschaft und wissenschaftsorientierter Praxis definiert Sabine Klocke-Daffa:

„Angewandte Ethnologie beinhaltet die Bereitstellung und Nutzung ethnologischer Theorien, Methoden und wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Lösung praktischer Probleme und Anliegen. Das impliziert zweierlei: zum einen, dass die Allgemeine Ethnologie als Wissenschaft einen praktischen Anwendungsbezug haben kann, und zum anderen, dass Angewandte Ethnologie nicht grundsätzlich mit ethnologischer Praxis gleichzusetzen ist. Diese Definition folgt somit nicht der einfachen Dichotomie von Allgemeiner und Praktischer Ethnologie. Die Angewandte Ethnologie wird vielmehr als eigenständiger Bereich auf einem Kontinuum zwischen akademisch-theoretischer Ethnologie auf der einen Seite und praktizierter Ethnologie auf der anderen Seite positioniert. Durch diese Zwischenstellung nimmt sie auch eine Funktion als Mittler ein, die sich inhaltlich und strukturell von den beiden Polen abhebt.“Footnote 20

Angewandte Ethnologie – oder Applied Anthropology wie sie auf internationaler Ebene heißt – hat in vielen europäischen Staaten und insbesondere in den USA, aber auch in Ländern Lateinamerikas oder Asiens (z. B. Indien, Japan) ihren festen Platz innerhalb des akademischen Faches. Ganze Schriftenreihen und Studiengänge widmen sich der anwendungsorientierten Perspektive im Kontext unterschiedlichster Themenfelder (etwa Medizinethnologie, Organisationsethnologie oder Entwicklungsethnologie). Demgegenüber ist die Angewandte Ethnologie in Deutschland unterrepräsentiert.Footnote 21 Anwendungsorientierte Perspektiven finden zwar insofern Verbreitung, als, wie Klocke-Daffa schreibt, „Institutsmitarbeitende auf vielfältige Weise (und nicht nur nebenberuflich) in außeruniversitäre Projekte eingebunden sind und ihre Erfahrungen in Lehre und Forschung einbringen, als Consultants tätig oder in lokalen, regionalen und nationalen Gremien von Städten und Gemeinden, gemeinnützigen Organisationen, Verbänden und Vereinen aktiv sind“.Footnote 22 Während jedoch in den USA „anwendungsorientiert arbeitende Ethnolog*innen […] Position zu gesellschaftlich relevanten Themen – auch ihrer eigenen Gesellschaft – […] beziehen und […] (vor allem deshalb) in der Öffentlichkeit wahrgenommen“ werden, ist die angewandte Ethnologie in Deutschland weit weniger sichtbar (man denke nur an die oben problematisierte Bildersuche), geschweige denn im selben Maße universitär verankert.Footnote 23

Die Zurückhaltung vieler deutscher Ethnolog_innen hinsichtlich eines stärkeren Anwendungsbezuges ihrer Disziplin lässt sich u. a. mit dessen durchaus problematischer Vorgeschichte erklären. Gemeint ist hier etwa die Erhebung und Nutzung ethnographischer Daten sowie die Verpflichtung ethnologischen Fachpersonals zum Zweck der imperialen Beherrschung kolonialisierter Bevölkerungen.Footnote 24 Des Weiteren sei außerdem die Tätigkeit insbesondere US-amerikanischer Ethnolog_innen „für Militär und Geheimdienste im und nach dem Zweiten Weltkrieg“ angesprochen, die international zu einem erheblichen Prestigeverlust der Ethnologie als angewandter Wissenschaft führte.Footnote 25 Nicht vergessen werden darf überdies die „Anbiederung von Ethnolog*innen bei den von den Nationalsozialisten begründeten Forschungen zu Rassenhygiene und Ariertum“, deren graduelle Aufdeckung nach dem zweiten Weltkrieg besonders in Deutschland dazu führte, dass sich „die universitäre Ethnologie hier vollends auf die akademisch-theoretische Forschung und Lehre“ zurückzog.Footnote 26

Die historischen Altlasten der (Angewandten) Ethnologie können in der Tat als Menetekel gelten, wenn es um die Frage der Verbindung von Wissenschaft und politischen Interessen geht. Sie sollten indes nicht zu der irrigen Annahme verleiten, dass Problem sei der Anwendungsbezug als solcher – und die Antwort wohlmöglich gar eine Wissenschaft, die losgelöst von ihrem (unzweifelhaft immer vorhandenen) politischen Kontext quasi autark und selbstreferentiell vor sich hin existiert. Wenn die Wirklichkeitssphären von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik sich voneinander entkoppeln, dann tut das – wie im vorigen Abschnitt gezeigt werden konnte – keiner Seite gut. Ethnologisches Wissen wird, wie Klocke-Daffa ganz richtig feststellt, dringend gebraucht – „in Schulen wie im Gesundheitswesen, im Journalismus und in der Entwicklungszusammenarbeit, in Sozialprojekten für Jugendliche und in der Erwachsenenbildung, in Stadtverwaltungen, im Polizeiapparat und in der Bundeswehr. Selbst große Firmen, Banken, Versicherungen, Werbeagenturen und Internetfirmen beschäftigen Ethnolog*innen“.Footnote 27 All diesen gesellschaftlichen Handlungsfeldern die ethnologische Expertise vorzuenthalten, aus Angst davor, sie könnte falsch verstanden oder gar missbraucht werden, kann nicht die Lösung sein – allein schon deshalb nicht, weil, wie die vorliegende Arbeit zu demonstrieren vermocht hat, ethnologisches Fachwissen ohnehin tagtäglich aus seinem Kontext gerissen und in der öffentlichen Debatte zur Legitimation unterschiedlichster politischer Interessen herangezogen wird. Die Augen vor dieser Tatsache zu verschließen, hilft nicht weiter. Was also hilft dann? Wie können gerade auch Institutionen der universitär verankerten Ethnologie ihrer Verantwortung gerecht werden und sich stärker gesellschaftlich einbringen?

Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, zunächst auf den Status Quo des Verhältnisses von Ethnologie und Öffentlichkeit zu schauen und dabei anhand vorhandener Problemstellungen und Ansätze Vorschläge für das weitere Vorgehen zu entwickeln. Die Auswahl der zu betrachtenden Handlungsfelder ist dabei keinesfalls umfassend. Sie knüpft vielmehr thematisch an die zentralen Erkenntnisse und Forderungen der vorliegenden Arbeit an und sucht nach gelungenen Wegen des interdiskursiven Austausches zwischen Ethnologie und Gesellschaft – ganz im Sinne einer erkenntnisorientierten, selbstreflexiven und vielstimmigen demokratischen Öffentlichkeit:

1.) Rückeroberung von Debatten und Begriffen:

Am Bespiel der in dieser Arbeit vorgestellten Untersuchung ist überaus deutlich geworden, dass ethnologische Stimmen – ihrer breit angelegten Expertise zum Trotz – in der massenmedial vermittelten Debatte (in Deutschland) kaum repräsentiert sind. In einem Korpus, der fast zehn Jahre und hunderte von Pressetexten umfasst, gibt es nicht einen einzigen (in welcher Form auch immer öffentlichkeitswirksamen) ethnologischen Beitrag – und das obwohl in der Debatte um die Hamburger Einbürgerungsinitiative mit Begriffen wie Kultur, Identität, Nation, Migration, Integration, etc. Kernbereiche der ethnologischen Fachkompetenz angesprochen sind. In ihrem Text Anschreiben gegen das Klischee: Ethnologische Themen in den Medien beklagen auch die beiden Journalistinnen Simone Salden und Inka Schmelling die mangelnde Präsenz von Ethnolog_innen in der deutschen Medienlandschaft. Sie schildern Interviewanfragen an Vertreter_innen des Faches, die abgelehnt wurden, weil man sich nicht auf die – für Wissenschaftler_innen ungewohnten – Erfordernisse der journalistischen Arbeitsweise einlassen wollte. Aus Angst davor, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verkürzen, sie aus dem Kontext zu reißen oder grob zu simplifizieren, halten viele Ethnolog_innen sich lieber ganz aus der öffentlichen Debatte heraus.Footnote 28 Diese Zurückhaltung ist angesichts der unterschiedlichen Herangehensweisen und Interessenlagen von Wissenschaft und Journalismus durchaus nachvollziehbar. Sie ist – für ein Fach, das seine eigene Relevanz nicht unterminieren will – jedoch auch insofern fatal, als sich, wie Salden und Schmelling richtig anführen, „in den Talkshows und Tageszeitungen, in Radiobeiträgen oder Magazin-Interviews […] in einer Demokratie die öffentliche Meinung“ bildet oder – um es im Soziolekt der Ethnologie auszudrücken – kulturelles Wissen produziert und kulturelle Wirklichkeit konstituiert wird.Footnote 29 Für eine Disziplin, die an die Bedeutsamkeit ihrer eigenen Arbeit glaubt, ist ein Heraushalten aus diesen Prozessen nicht zu rechtfertigen – auch und erstrecht nicht in Anbetracht der erwähnten historischen Altlasten, derer sie sich bis heute verantworten muss.

In der Tat bemühen sich ethnologische Institutionen zunehmend darum, neue und zeitgemäße Wege der massenmedialen Selbstrepräsentation für sich zu erschließen. Zu nennen wären hier etwa Angebote wie die Blog-Reihe Debating Anthropology – Streitbare Ethnologie der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, welche Fragen der ethnologischen Gesellschaftsrelevanz adressiert,Footnote 30 oder auch der monatliche Podcast des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung mit dem themenspezifischen Titel Anthropology of Political AssemblyFootnote 31. Mediale Auftritte wie diese gibt es in ähnlicher Form an verschiedenen ethnologischen Instituten. Sie adressieren jedoch in aller Regel Ethnolog_innen oder ggf. darüber hinaus auch Wissenschaftler_innen verwandter Disziplinen, nicht jedoch die allgemeine Öffentlichkeit. Dagegen wäre es seitens ethnologischer Institutionen ebenso möglich, regelmäßige Blogs, Vlogs oder Podcasts zu unterhalten, um die Grenzen der wissenschaftlichen Sphäre zu transzendieren und sich explizit an ein nicht-ethnologisches, gerne auch nicht-akademisches Publikum zu wenden. So könnten sie z. B. niedrigschwellig (ggf. in Kooperation mit Studierenden) Stellung zu aktuellen Medienereignissen beziehen oder ihrerseits fachliche Themen allgemeinverständlich aufarbeiten. Ein gutes Beispiel dafür, wie solche Blogreihen gestaltet sein könnten, gibt der Artikel Kulturkreis von Eric Anton Heuser, der am 11. November 2016 als Gastbeitrag in der Kolumne Hasswort des medienkritischen Online-Magazins Übermedien veröffentlicht wurde. Heuser dekonstruiert in seinem Beitrag – wie es der Titel schon vermuten lässt – den Begriff des Kulturkreises, der sich (aus seinem ethnologischen Ursprungskontext gerissen) in der massenmedial vermittelten Debatte großer Beliebtheit erfreut und auch in der vorliegenden Arbeit bereits zum Thema geworden ist. Der Text ist dabei explizit an Medienschaffende gerichtet und nimmt diese in die Verantwortung, sich kritisch mit den wissenschaftlichen Konzepten zu befassen, derer sie sich im Rahmen ihrer Tätigkeit bedienen, mit den historischen Kontexten, aus denen sie jeweils entliehen sind, und mit den Konnotationen, die ihnen immer und unweigerlich anhaften. Umgekehrt wird Heuser hier allerdings auch einer ureigenen ethnologischen Verantwortung gerecht, indem er einen polysemen Grundbegriff der diskursiven Wirklichkeitskonstitution problematisiert, der in seinem Ursprung aus einer noch jungen und in vielerlei Hinsicht unreifen Ethnologie hervorgegangen ist, sich diskursiv verselbstständigt hat und in den öffentlichen Sphären der kollektiven Wissensproduktion seither unkontrolliert Schaden anrichtet.Footnote 32 Nach Heusers Vorbild könnten die ethnologischen Institute in Deutschland – etwa im Sinne eines Glossars zentraler Begrifflichkeiten (wie z. B. Amnesty InternationalFootnote 33 oder die Neuen Deutschen Medienmacher*innenFootnote 34 ihn für diskriminierungssensible Sprache anbieten) Stück für Stück Begriffe und Debatten zurückerobern, die sich eigendynamisch von ihrem Ursprungskontext entkoppelt haben – und das in diesem Fall sogar ohne sich den mit Skepsis betrachteten Regeln eines institutionalisierten Journalismus beugen zu müssen.

Die Welt der Medien ist schnelllebig, zuweilen reißerisch und kann sich nicht an wissenschaftlichen Standards messen lassen. Ethnolog_innen, die sich dazu aufschwingen, für ein nicht ethnologisches Publikum zu schreiben, respektive sich als Expert_innen oder Interviewpartner_innen für Journalist_innen zur Verfügung zu stellen, müssen nicht nur lernen, mit den Anforderungen dieses neuen Betätigungsfeldes zurecht zu kommen, sie müssen vor allem auch dazu in der Lage sein, komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge allgemeinverständlich herunterzubrechen, ohne sie dabei unzulässig zu vereinfachen. Die gute Nachricht ist: Journalismus lebt (ebenso wie jedes interkulturelle Kompetenztraining) von Beispielen – und an solchen sind die meisten Ethnolog_innen aufgrund ihrer vielfältigen ethnographischen Erfahrungen mehr als reich. Es ist durchaus möglich, eine Brücke zwischen den Sphären zu schlagen. Beide Seiten müssen jedoch auch die Kraft und v. a. den Willen aufbringen, sich auf diese Herausforderung einzulassen. Fortbildungen im Bereich Medienkompetenz sind in dieser Hinsicht absolut empfehlenswert, gerade auch für das ethnologische Fachpersonal an deutschen Universitäten, das – mit all seinem symbolischen Kapital – unsere Disziplin an vorderster Front repräsentiert und somit auch als erstes in die Pflicht genommen werden muss, wenn es darum geht, die Ethnologie stärker in die massenmedial vermittelte Öffentlichkeit zu tragen.Footnote 35

2.) Ethnologische Bildungsarbeit:

Ethnologische Kompetenzen nützen, wie mit Klocke-Daffa weiter oben festgestellt wurde, nicht nur Ethnolog_innen. Wenn man davon ausgeht, dass eine ethnologische Perspektive wesentlich dazu beitragen kann, den Grad der kritischen Sensibilisierung im Umgang mit essentialisierenden, rassifizierenden, diskriminierenden oder etwa auch nationalistischen Diskursen zu erhöhen, ist es wünschenswert, Aspekte ethnologischer Bildung (über den relativ engen Kontext ihres primären akademischen Anwendungsfeldes hinaus) einem breiteren Adressat_innenkreis zugänglich zu machen – so etwa im Rahmen der außeruniversitären Erwachsenenbildung aber durchaus auch im Rahmen schulischer wie außerschulischer Kinder- und Jugendbildung.

Mit ethnologischer Bildungsarbeit ist hier nach Verena Schneeweiß „die Nutzung ethnologischer Theorien und Erkenntnisse [gemeint], insbesondere des ethnologischen Blicks und der damit verbundenen Haltung wie Perspektivwechsel und Selbstreflexion. Grundsätzlich gilt bei Ansätzen Ethnologischer Bildung Ethnologie als Grundlagenwissen für orientierte Lebensgestaltung und bildet somit die Ausgangsposition für zukünftiges, informiertes Handeln“.Footnote 36 Darin ist eine „Aktionsorientierung“, etwa bezogen auf den Umgang mit Vorurteilen oder Fragen des globalen Machtgefälles, explizit miteingeschlossen.Footnote 37 Eine solche Zielsetzung macht es einerseits erforderlich, „‚wissenschaftliche Objektivität‘ zu wahren, und andererseits […] Stellung zu beziehen“.Footnote 38 Sie knüpft damit an die oben geforderte Rückeroberung von Debatten und Begriffen an, geht jedoch noch einen Schritt weiter.

Im Kontext von ethnologischer Bildungsarbeit kommt Angeboten der Interkulturellen Bildung ein besonderer Stellenwert zu. Der Bereich der außeruniversitären interkulturellen Bildung ist allerdings überaus weit gesteckt und wird beileibe (!) nicht von Ethnolog_innen dominiert. Dies ist insofern ungünstig, als Ethnolog_innen mit Fug und Recht als Expert_innen des Interkulturellen gelten können, sie das Feld aber dennoch mehrheitlich jenen überlassen, die inhaltlich weit weniger qualifiziert sind.Footnote 39

Die einzige Institution in Deutschland (von freiberuflich tätigen Einzelpersonen wie mir selbst einmal abgesehen), die aus explizit ethnologischer Perspektive interkulturelle Bildungsformate für den außeruniversitären Kontext entwickelt, ist der Verein Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung e. V., oder kurz: ESE. Der Verein steht in enger Kooperation mit dem ethnologischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, ist jedoch von diesem unabhängig. Sein Engagement gestaltet sich äußerst heterogen und reicht von der regelmäßigen Ausrichtung der akademischen Summer School European Campus of Intercultural Perspectives über klassische interkulturelle Trainings bis hin zu Schulprojekten etwa im Bereich Interkulturelle Mediation oder Globales Lernen. ESE publiziert des Weiteren Fach- und Sachliteratur mit ethnologischem Anwendungsbezug und bildet im Rahmen seines spezifisch ethnologischen Ansatzes interkulturelle Trainer_innen aus, von denen viele – wenn auch längst nicht alle – ihrerseits Ethnolog_innen sind. Der Verein trägt auf diese Weise nicht nur dazu bei, einem breiten nicht-ethnlogischen Publikum ethnologisches Fachwissen zur Verfügung zu stellen. Er ermöglicht durch seine praxisorientierten Publikationen und sein in Deutschland einzigartiges Fortbildungsprogramm außerdem auch einer wachsenden Zahl von Ethnolog_innen (so u. a. mir selbst) sich anwendungsorientiert im Sinne interkultureller Vermittlung und Aufklärung in diversen gesellschaftlichen Handlungsfeldern einzubringen.Footnote 40

Die Bildungskonzepte, die ESE (u. a. in Kooperation mit der Westfälischen Wilhelms-Universität) entwirft und die ihrerseits wissenschaftliche Fundierung mit handlungspraktischer Orientierung verbinden, haben Vorbildcharakter. Im Rahmen einer stärkeren Öffnung des akademischen Sektors könnten vergleichbare Veranstaltungen auch vermehrt von Institutionen der universitären Ethnologie ausgerichtet werden. Universitäre Angebote, die – niedrigschwellig, auf Augenhöhe und (idealerweise) auf wechselseitigen Dialog ausgerichtet – ein außeruniversitäres Publikum adressieren, könnten nicht nur die Reichweite ethnologischer Diskurse erhöhen, den Austausch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit befördern und einer Entkopplung der kulturellen Wirklichkeiten (wenigstens graduell) entgegenwirken. Sie könnten darüber hinaus auch Fachpersonal sowie Studierende für anwendungsbezogene Fragestellungen sensibilisieren, den Blick auf neue Handlungsfelder eröffnen und als Impulsgeber für die empirische Forschung dienen. Die akademische Institutionalisierung einer offenen und inklusiven ethnologischen Bildungsarbeit würde außerakademische Wirklichkeiten, Diskurse und Probleme unweigerlich und in viel stärkerem Maße an das ethnologische Fachpersonal herantragen und so das akademische Bewusstsein für Anwendungsbezogenheit, soziale Relevanz und wissenschaftliche Verantwortung nachhaltig schärfen.

Natürlich gibt es bereits Ansätze, die in die hier vorgeschlagene Richtung gehen (wobei diese jedoch häufig einseitig auf die Vermittlung ethnologischer Kompetenzen an Außenstehende ausgerichtet sind und weniger auf einen kontinuierlichen Prozess der wechselseitigen Befruchtung unterschiedlicher Sphären). Zu nennen wäre etwa das vom Denkwerk-Programm der Robert-Bosch-Stiftung geförderte und im Jahr 2010 abgeschlossene Projekt Familien in der Diaspora der Universität Hamburg, welches Schüler_innen unter wissenschaftlicher Anleitung dazu befähigt hat, innerhalb ihres Stadtteils eigene kleine Feldforschungen zu den Themen Familie und Verwandtschaft durchzuführen, anhand derer kulturelle Diversität sowie die Relativität der eigenen Prägung unmittelbar erfahrbar gemacht werden konnten.Footnote 41 Was die vielfältigen Möglichkeiten einer dialogischen Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit anbelangt, ist das Potenzial deutscher ethnologischer Institutionen jedoch noch lange nicht ausgeschöpft. Zukünftige Kooperationen und Schwerpunktsetzungen könnten hier noch deutlich mehr wagen.

3.) Institutionelle Verankerung:

Sowohl der Aspekt der öffentlichen Präsenz als auch derjenige einer niedrigschwelligen Öffnung der Ethnologie deuten letztlich auf das dringende Erfordernis einer institutionellen Verankerung der anwendungsbezogenen Perspektive auf universitärer Ebene. Wenn Einzelpersonen ohne institutionelle Anbindung auf dem freien Markt ihre Kompetenzen als Referent_innen, Trainer_innen, Coaches etc. feilbieten, Blogs und Podcasts ins Leben rufen oder ihre Expertise an etablierte Medien herantragen, ist das zwar ein Schritt in die richtige Richtung, nützt im Hinblick auf Ansehen und Rolle der Ethnologie in der Öffentlichkeit allerdings nur wenig. Das Image einer Disziplin kann nicht allein durch jene ‚aufpoliert‘ werden, die ihrerseits – gerade aufgrund ihrer Anwendungs- bzw. Praxisorientierung – an den äußersten Rand der innerfachlichen Debatte gedrängt sind und fachintern nicht selten sogar für ihren ‚populärwissenschaftlichen‘ Zugang in der Kritik stehen.Footnote 42 Wenn die Ethnologie ihr Verhältnis zur nicht-ethnologischen Öffentlichkeit nachhaltig reformieren will, so müssen die Universitäten hier Vorreiter sein. Durch einen stärkeren sowie institutionell verstetigten Wechselbezug zwischen akademischen und außerakademischen Spielarten ethnologischer Arbeit, könnten Reputation, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Relevanz der (Angewandten) Ethnologie maßgeblich gesteigert werden:

„Nicht nur wäre durch die institutionelle Einbindung das standing der Angewandten Ethnologie ein anderes als im außerakademischen Umfeld. Auch ihr gesellschaftlicher Nutzen ist potenziell größer, da sich eine wissenschaftlich angebundene Angewandte Ethnologie mehr Gehör verschaffen könnte. Dieses Potenzial zu nutzen ist umso erfolgversprechender, je stärker sich die Ethnologie auch der ethnologischen Forschung im eigenen Land öffnet und damit zu aktuellen Problemen, Fragen und Anliegen Stellung beziehen und Lösungsvorschläge ausarbeiten kann.“Footnote 43

Auch wenn die Angewandte Ethnologie bislang nur am ethnologischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen als eigenständiges Schwerpunktgebiet etabliert werden konnte,Footnote 44 ist sie doch, wie Klocke-Daffa anführt, „an vielen ethnologischen Instituten bereits in der einen oder anderen Form vertreten, wenn auch meist unter einem anderen Label“:Footnote 45 So bieten zahlreiche „ethnologische Institute […] spezifische Anwendungsbereiche oder praxisrelevante Themen im Rahmen ihrer Module in den BA-/MA-Studiengängen an und führen problem- und / oder anwendungsbezogene Forschungen durch. Vertreten sind etwa die praxisorientierte Ethnomedizin (Universität Münster, Heidelberg), die Entwicklungsethnologie (Universität Frankfurt/Main, Mainz, Trier), die Migrationsethnologie und Transnationalismusforschung (Universität Bremen, FU Berlin und Frankfurt/Oder), die Visuelle Anthropologie (Universität Berlin, München), die Museumsethnologie (Universität Leipzig) und die Umweltethnologie (Universität Köln) – um nur einige zu nennen“.Footnote 46 Von einer echten Institutionalisierung der anwendungsbezogenen Perspektive kann an deutschen Universitäten indes noch keine Rede sein. In den meisten Fällen „erfolgt die Verbindung von Theorie und Praxis lediglich über Vorträge und Lehraufträge, die zwar die Studienangebote ergänzen, aber nicht strukturell eingebunden sind. Sie können kurzfristig anberaumt und wieder abgesetzt werden und sind prinzipiell nicht auf Nachhaltigkeit von Forschung, Lehre und Anwendung ausgelegt“.Footnote 47 Klocke-Daffa schlägt hier ein deutlich inklusiveres Modell vor, das akademisch-theoretische und Angewandte Ethnologie ebenso miteinschließt wie die (außerakademische) ethnologische Praxis. Es folgt damit in etwa dem Vorbild der deutschen medizinischen Fakultäten, welche von Forschung über Lehre bis hin zur Anwendung alle wissenschaftlichen Handlungsfelder unter einem Dach vereinen.Footnote 48

Eine solche Vision scheint momentan (noch) in weite Ferne gerückt. Nichtsdestoweniger kann schon ein stärkerer Austausch zwischen akademischer und praktizierter Ethnologie (z. B. durch gemeinsame bzw. dialogisch angelegte Forschungsprojekte, Seminarkonzepte, Fortbildungsprogramme oder Publikationen) im Sinne einer fortschreitenden Ver- und Anbindung der Handlungs- und Diskursfelder wesentlich dazu beitragen, dass verschiedene kulturelle Wirklichkeiten sich nicht eigendynamisch voneinander entkoppeln.Footnote 49 Die wechselseitige Auseinandersetzung, die sich idealerweise aus der interdiskursiven Interaktion ergibt (zwischen akademischer und außerakademischer Ethnologie einerseits sowie zwischen ethnologischer und außerethnologischer Öffentlichkeit andererseits), wird kaum konfliktfrei verlaufen und gewiss werden dabei auch Fehler gemacht werden. Sie ist dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – unverzichtbar, um beiderseitige Lernprozesse anzustoßen, von denen Gesellschaft und Wissenschaft langfristig profitieren können.

Wissenschaft für alle

Voneinander lernen und einen Perspektivwechsel im ethnologischen Sinne vollziehen, können wir – ganz gleich in welchem Kontext – nur dann, wenn die Grundbegriffe und Deutungslinien der interdiskursiven Interaktion für alle Beteiligten transparent sind. Dieses Ideal gilt es auch im hier geforderten Austausch zwischen Ethnologie und Öffentlichkeit anzustreben. Momentan wird jedoch von vielen Ethnolog_innen bezweifelt, dass komplexe ethnologische Konzepte Nicht-Ethnolog_innen und insbesondere Nicht-Akademiker_innen ausreichend verständlich gemacht werden könnten, um nicht letztlich doch Gefahr zu laufen, enteignet und missbraucht zu werden. Praktiker_innen der Ethnologie schlägt das diesbezügliche Misstrauen immer wieder prominent entgegen, wie u. a. Christiana Lütkes im Zusammenhang mit dem ESE-Projekt Ethnologie in der Schule (verkürzter Titel) berichtet.Footnote 50 Als praktisch arbeitende Ethnologin möchte ich an dieser Stelle Mut machen: Meiner Erfahrung nach ist es durchaus möglich, selbst schwierigste Konstrukte wie Kultur oder Identität soweit zu veranschaulichen, dass Außenstehende zu einem kompetenten Umgang mit diesen Begriffen im alltäglichen Gebrauch wie auch in der massenmedial vermittelten Debatte befähigt werden. Um diese These zu untermauern und die vielfältigen Möglichkeiten eines niedrigschwelligen, dialogischen Zugangs zu demonstrieren, schließe ich die vorliegende Nachbemerkung mit einigen praktischen Einblicken aus der außerakademischen ethnologischen Bildungsarbeit ab. Diese Einblicke dienen überdies auch der weitergehenden Objektivierung meiner Person in der Funktion als Autorin der hier vorgelegten akademischen Untersuchung.

Als Trainerin für Interkulturalität und Anti-Rassismus ist es meine Aufgabe, Begriffe wie Kultur oder Identität wissenschaftlich fundiert und zugleich allgemeinverständlich zu erklären, für ihre Bedeutung in der öffentlichen Debatte zu sensibilisieren sowie die Art und Weise zu veranschaulichen auf die nicht nur Kultur und Identität, sondern vor allem auch Vorstellungen über Kultur und Identität unser Denken und Handeln im Alltag anleiten. Die ethnologische Kulturtheorie und Ethnizitätsforschung bilden hierfür – anschaulich übersetzt – eine wesentliche Grundlage. Interdisziplinär bereichert werden sie durch andere wissenschaftliche Perspektiven (z. B. Critical Whiteness StudiesFootnote 51), aber auch aktivistische Zugänge wie etwa den diskriminierungs- und machtkritischen Anti-Bias-AnsatzFootnote 52. Im Vordergrund meiner Trainings steht des Weiteren – und vor allem – ein Ansatz der interkulturellen Medienkompetenz, der in Wechselwirkung mit der hier vorliegenden Arbeit entstanden ist und sich wesentlich an den Erkenntnissen der Diskursforschung orientiert, insofern er massenmedial vermittelte Deutungsmuster dekonstruiert und die machtdynamische Wechselwirkung von Emotionalisierung und Rationalisierung für die Rezipient_innen transparent zu machen sucht. Ziel ist es, ein Bewusstsein für die kulturelle Macht und Eigendynamik von Diskursen zu schaffen und die eigene – insbesondere durch den Konsum von Massenmedien geformte – kulturelle Prägung der Seminarteilnehmenden sichtbar werden zu lassen. Dies alles geschieht v. a. in Form praktischer Übungen. Statt die Teilnehmenden mit theoretischem Input zu überfrachten, wird theoretisches Wissen anhand von Beispielen, Anschauungsmaterialien und spielerischer Methoden persönlich erlebbar. Das Vorgehen folgt dabei drei einfachen Schritten (nicht immer notwendigerweise in derselben Reihenfolge), die im Folgenden knapp erläutert werden sollen:

1.) Diskursdynamiken erfahrbar machen:

Um die Problematiken diskursiver Macht-Wissen-Komplexe im Seminarkontext diskutieren zu können, ist es zunächst einmal nötig, diese dem/der Einzelnen persönlich bewusst werden zu lassen. Zu diesem Zweck eignen sich Aktivierungsübungen, die mit einzelnen Fragmenten massenmedial vermittelter Diskurse arbeiten. Ein solcher Einstieg kann auf vielfältige Weise gestaltet werden und benötigt in der Regel nicht viel Material. Besonders gut geeignet sind Assoziationsspiele. Den Teilnehmenden wird z. B. ein Bild, ein Textausschnitt oder ein kurzer Videoclip gezeigt, dann sollen sie spontane Assoziationen nennen oder schriftlich festhalten. Das gleiche Vorgehen funktioniert sogar ohne jedes Material, indem man einfach nur einen diskursiv aufgeladenen Begriff in die Runde wirft. Nennt man z. B. das Wort Afrika, so werden die Teilnehmenden Assoziationen äußern, die dem dominanten deutschen Mediendiskurs über Afrika einerseits und Flucht / Migration andererseits entspringen. Es ist kaum davon auszugehen, dass international erfolgreiche Kunst- und Kulturschaffende, Universitäten, (sprachliche, ethnische, religiöse, politische) Diversität oder etwa auch die prestigeträchtigen Kulturschätze des historischen Ägyptens unter den ersten Dingen sein werden, die ihnen einfallen. Meist überwiegen negative Assoziationen wie Armut, Krankheit, Gewalt oder (auf die Migration nach Deutschland bezogen) Überfremdung, bzw. Vorstellungen von Exotik in Form von unberührter Wildnis und Tierreichtum oder von als ‚traditionell‘ empfundener ‚fremder‘ Kultur. Führt man den Teilnehmenden ihre selektive Wahrnehmung vor Augen, indem man ihnen im Nachgang z. B. Bilder zeigt oder Fakten nennt, die ihrer Vorstellung widersprechen, ist die Überraschung meist groß. Wichtig ist dann, die sich anschließende Diskussion über Vorurteile und Stereotype weg von der individuellen und auf die kollektive Ebene zu heben. Die Teilnehmenden sollen verstehen, dass stereotype Vorstellungen und rassistische Denkmuster keine Frage von persönlicher Schuld oder Versagen sind, sondern vielmehr von kultureller Prägung, wie sie in erster Linie durch den Einfluss moderner Massenmedien bzw. durch massenmedial vermittelte Diskurse entsteht. Dabei ist es v. a. auch von Bedeutung, die emotionale Seite dieses Prozesses zuzulassen und offen zu thematisieren. Manche Teilnehmende fühlen sich durch Übungen, die ihre eigenen Bilder im Kopf offenlegen, ‚hinters Licht geführt‘. Sie reagieren mit emotionaler Abwehr, ganz im Sinne einer diskursiven Wirklichkeit, die sich selbst verteidigt. Viele (v. a. weiße Deutsche) verbinden mit Begriffen wie ‚Afrikaner‘, ‚Migrant‘, ‚Musilm‘ (ganz besonders in der männlichen Form) überdies diffuse Ängste, die ebenfalls ein Teil der diskursiven Dynamik sind und als solcher dekonstruiert werden müssen. Andersherum können sich natürlich auch Personen unter den Teilnehmenden befinden, die selbst (aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder auch nur ihres Aussehens) von negativen Rollenzuweisungen durch dominante Diskurse betroffen sind und mit der (wenn auch analytischen) Reproduktion dieser Diskriminierung im Seminarkontext zu kämpfen haben. Letztlich machen alle Teilnehmenden im Rahmen eines interkulturellen Trainings die Erfahrung (und das oft zum ersten Mal), dass ihr Denken, Fühlen und Handeln nicht objektiv und erstrecht nicht frei von äußeren Einflüssen ist. Die eigene kulturelle Prägung – und vor allem deren unangenehme Aspekte – vor Augen geführt zu bekommen, ist ein schwieriger emotionaler Prozess. Er muss als solcher ernstgenommen und sensibel begleitet werden.

2.) Grundbegriffe definieren:

Sich die eigene ‚Geprägtheit‘ bewusst zu machen ist ein wichtiger, wenn auch nur ein erster Schritt. Ihm folgen sollte unbedingt und unmittelbar die Herstellung von Transparenz über die polysemen Grundbegriffe der relevanten Diskurse. In Anbetracht des begrenzten Umfangs eines herkömmlichen Kompetenztrainings, muss diese notwendigerweise selektiv vorgehen und sich an den Schwerpunkten und Zielsetzungen der Veranstaltung sowie an den Bedürfnissen der Zielgruppe orientieren. Begriffe wie Rassismus, Identität, Migration, Integration und natürlich Kultur (u. a.) bieten sich an. Insbesondere der Kulturbegriff nimmt dabei in Veranstaltung der interkulturellen Bildungsarbeit eine hervorgehobene Stellung ein. Natürlich ist es nicht möglich, ein derart komplexes und bis heute selbst in Fachkreisen umstrittenes Konzept im Verlauf eines einzigen Tagesseminars abschließend zu definieren. Das ist jedoch auch gar nicht notwendig.

Wie Abschnitt 2.3 der vorliegenden Arbeit aufgezeigt hat, ist in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit eine plakative Container-Logik von Kultur dominant. Kulturen werden als in sich abgeschlossene Systeme begriffen, deren Mitglieder anhand äußerlicher wie innerlicher Merkmale klar zugeordnet bzw. voneinander abgegrenzt werden können. Die wichtigste Aufgabe ethnologischer Bildungsarbeit ist es, diesem Dogma – mit all seinen problematischen Implikationen – systematisch entgegenzutreten. Tatsächlich ist dies anhand von Alltagsbeispielen sehr leicht möglich. Wiederum sollte dabei die eigene Prägung der Teilnehmenden im Vordergrund stehen, denn vermittels der eigenen persönlichen Erfahrung und Biographie lässt sich schnell demonstrieren, dass Menschen im Verlauf ihres Lebens ganz unterschiedlichen – und z. T. gar widersprüchlichen – Referenzsystemen ausgesetzt sind. Spätestens die Frage Sind Sie typisch deutsch? Führt dabei rasch zu einer umfassenden Diskussion von unterschiedlichsten Formen und Merkmalen des Deutschseins und zu der unvermeidlichen Erkenntnis, dass es typisch deutsch gar nicht gibt – genauso wenig wie etwa typisch türkisch oder gar typisch afrikanisch.

Darauf aufbauend kann der Kulturbegriff theoretisch konkretisiert werden. Ziel ist keine umfassende Definition des Phänomens Kultur, sondern vielmehr die Feststellung, dass sich die kulturelle Prägung eines Menschen aus vielfältigen Quellen speist und sich dabei auch ständig in Bewegung befindet – dass Kultur also im einzelnen Individuum eine sehr spezifische (und in gewisser Hinsicht einzigartige) Ausprägung annimmt, die keinesfalls anhand von Äußerlichkeiten oder etwa anhand von Fragen der Herkunft / der Religion eindeutig und unproblematisch ‚abgelesen‘ werden kann. Damit ist selbstverständlich kein hyperkulturelles Rosinenpicken gemeint, sondern die mehrdimensionale Beeinflussung des Menschen durch verschiedene, wechselnde und unweigerlich eigendynamische Diskurskonstellationen.

3.) Zum Handeln befähigen:

Mit der Übertragung des Gelernten auf die Handlungsebene ist der anwendungsbezogene Teil eines jeden Trainings angesprochen, um dessentwillen sich viele Menschen überhaupt nur für die Teilnahme an einer solchen Bildungsveranstaltung entscheiden. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, warum es wichtig ist, sich seinen Bildern im Kopf zu stellen und massenmediale Diskurse kritisch zu hinterfragen, bzw. welchen praktischen Nutzen man letztlich selbst davon hat. Je nach Zielgruppe und Thema des Workshops kann (und muss) diese Frage natürlich ganz unterschiedlich beantwortet werden. Aus ethnologischer Perspektive ist es von übergeordneter Bedeutung die vielfältigen Probleme aufzuzeigen, die falsche Vorstellungen von Kultur und Identität sowohl strukturell als auch individuell im täglichen Miteinander verursachen – von der Belastung, Störung oder gar Verhinderung sozialer Interaktionen im persönlichen Umfeld bis hin zur strukturellen Diskriminierung ganzer Bevölkerungsteile und der eigendynamischen Verselbständigung folgenschwerer politischer Debatten. Des Weiteren sollten zielgruppenspezifische Handlungsoptionen aufgezeigt werden, die – je nach Kontext – von einer interkulturell kompetenten Dekodierung massenmedial vermittelter Diskurse bis hin zu Aspekten ihrer reflektierten Enkodierung reichen können. Hier ist vor allem der reflektierte Umgang mit gesellschaftlichen Grundbegriffen angesprochen sowie ein Bewusstsein für die soziale Konstruiertheit jeder Form von kollektiver Wirklichkeit und für die wechselseitigen diskursiven Dynamiken von Rationalisierung und Emotionalisierung, die diese Wirklichkeit verstetigen. Übersetzt bedeutet das eine intensive und anhaltende Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Prägung, welche für jede Form der interkulturellen Interaktion zwingend die Grundlage bilden muss. Ohne die Grundpfeiler der eigenen rationalen Ordnung zu verstehen und kritisch zu hinterfragen, können fremde Sinnwelten weder objektiv entschlüsselt werden, noch lässt es sich zielführend mit ihnen in Dialog treten. Der emischen Perspektive, wie die Ethnologie sie zum Grundprinzip ihrer Forschung erhoben hat, kommt somit eine dreifache Bedeutung zu. Erstens fordert der Ansatz der interkulturellen Medienkompetenz (man könnte auch allgemeiner von interdiskursiver Kompetenz sprechen) von den Teilnehmenden eine emische Entzifferung der gesellschaftlichen Diskurse, die ihre eigene kulturelle Prägung anleiten. Zweitens fordert sie das sich Hineindenken in ein neues, wissenschaftlich angeleitetes Referenzsystem, das seinerseits emisch durchdrungen werden muss und im besten Falle von den Teilnehmenden für die zukünftige Weltorientierung angeeignet wird. Drittens befähigen die dieserart erworbenen Kompetenzen zum Perspektivwechsel im Hinblick auf ‚fremde‘ kulturelle Sinnwelten (z. B. religiöse, ethnische, identitären, nationale oder ggf. auch rassistische Diskursordnungen), deren Eigenlogiken ihrerseits wiederum aus sich selbst heraus begriffen werden müssen um zu einer (idealerweise wechselseitigen) konstruktiven Auseinandersetzung zu gelangen.

Über die Anforderungen an die Teilnehmenden hinaus verlangt der hier vorgestellte Ansatz auch von der Person, die die jeweilige Veranstaltung leitet, ein emisches sich Hineinversetzen in die diskursiv geprägten Sinnwelten der Teilnehmenden bzw. ein tiefergehendes Verständnis ihrer heterogenen Dekodierungsstrategien. Damit ist nicht nur die individuelle Dekodierung der mehr oder minder dominanten Diskurse im öffentlichen Raum gemeint, sondern auch und gerade die außer-ethnologische Dekodierung des wissenschaftlich-ethnologischen Diskurses, wie er im Rahmen des Trainings vermittelt werden soll. Nicht allein den Teilnehmenden, sondern insbesondere auch mir als Leiterin wird somit unweigerlich ein hoher Grad der kulturellen Selbstreflexion abgerungen, der in entscheidender Weise dazu angetan ist, innerfachliche Konventionen sowie das Verhältnis zwischen Ethnologie und nicht-ethnologischer Öffentlichkeit kritisch zu hinterfragen. Das Ergebnis dieser Selbstreflexion, die ihrerseits unmittelbar aus dem Anwendungsbezug meines ethnologischen Arbeitens hervorgegangen ist, spiegelt sich in Form und Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung wider. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass die Ethnologie als (angewandte) Wissenschaft für die Lösung weltumspannender sozialer wie politischer Problemstellungen bedeutsam ist oder vielmehr bedeutsam sein kann. Es ist weiterhin meine Überzeugung, dass die deutsche Ethnologie einer genauso historischen wie aktuellen Verantwortung gerecht zu werden hat gegenüber der Gesellschaft deren Teil sie ist. Ich hätte an dieser Stelle gerne ‚integraler Teil‘ geschrieben, doch als einen solchen kann man sie hierzulande in der Tat im Augenblick nicht bezeichnen. Sie könnte und sollte im Hinblick auf die akute Relevanz unseres Faches jedoch zu einem solch integralen Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden. Mögliche Wege, dieses Ziel zu erreichen, gibt es zu Genüge. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit konnte gezeigt werden, dass gerade auch ein diskursethnologischer Zugang – als Ansatz für die empirische Forschung wie auch als Ansatz für die praktische ethnologische Bildungsarbeit – diesbezüglich einen wesentlichen Beitrag zu leisten vermag. Diskurse sind für die Ethnologie nicht bloß ein weiteres Studienobjekt. Das Verständnis ihrer Funktionsweisen, die kritische Auseinandersetzung mit ihnen und nicht zuletzt auch ihre kreative Nutzung im Prozess der kollektiven Konstitution von (gesamtgesellschaftlicher) Wirklichkeit sind der Schlüssel zu einer relevanten, zeitgemäßen und vielseitigen deutschen Ethnologie. Um mit Foucaults Worten zu schließen: „…der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist […] nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“.Footnote 53