5.1 Exkurs in die Diskursrezeption: Von der Enkodierung zur Dekodierung

Stuart Hall zufolge entsteht die Bedeutung einer Aussage im fortwährenden Wechselspiel von Enkodierung und Dekodierung.Footnote 1 Dies gilt für das Verhältnis von Massenmedien und Rezipient_innen, dies gilt letztlich jedoch auch für jede andere Form der diskursiven Wirklichkeitskonstitution. In Kapitel 4 dieser Arbeit wurden die enkodierten Storylines der beiden dominanten Hamburger Einbürgerungsdiskurse nachverfolgt. In diesem Zuge wurde offenbar, dass Diskurs und Sprecher_innen keine statische Einheit bilden. Subjektive Sinnwelten speisen sich aus dem steten Zusammenspiel bzw. aus dem steten Widerstreit verschiedenster diskursiver Deutungsangebote. Ihre rationale Ordnung entsteht im Prozess der Wahl zwischen sowie der Hierarchisierung von unterschiedlichen Perspektiven und Sinngehalten.Footnote 2 Aus diesem Grund soll nach der Enkodierung nun auch die Dekodierung der diskursiven Wissensverhältnisse genauer in den Blick genommen werden. Auf welche Art und Weise werden staatsnationaler und ethnonationaler Diskurs von ihrem Publikum ‚entschlüsselt‘? Inwiefern üben die diskursiven Wirklichkeitskonstruktionen Macht aus auf die subjektiven Sinnwelten ihrer Rezipient_innen? Wie wirkt sich die Polysemie der gesellschaftlichen Grundbegriffe auf der Mikroebene aus und welche Rolle spielt dabei die antagonistische Wechselwirkung, die im massenmedial verfassten Diskursfeld zu beobachten war?

Um einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, sollen im Folgenden die Expert_innen des TGH-Lotsenprojektes – ihres Zeichens Personal im Dispositiv der Hamburger Einbürgerungsinitiative – zur Rate gezogen werden. Durch ihre zentrale Schlüsselposition im Diskursfeld erlangen sie wertvolle Einblicke in verschiedene Bereiche der Bedeutungsdekodierung (und -enkodierung). In ihrer Rolle tragen sie nicht nur zur Reproduktion des offiziellen, staatsnationalen Diskurses bei, sie sind überdies auch Vermittler_innen zwischen Diskurs(en) und (in der Hauptsache migrantischer) Betroffenenperspektive. Die Betroffenenperspektive wird weitergehend durch die Ergebnisse der quantitativen Konsensanalyse beleuchtet werden, welche die Ausführungen im vorliegenden Teilkapitel ergänzen. Dabei stehen Personen im Fokus, die – wie in Abschnitt 3.4 erläutert wurde – als Grenzgänger_innen im Diskursfeld gelten können. Gemeint sind Eingebürgerte (welche die sozial konstruierte Grenzlinie nationaler Zugehörigkeit bereits überschritten haben), Einzubürgernde (die sich im Prozess der Einbürgerung befinden und insofern unmittelbar an der Grenzlinie stehen) und Einbürgernde (die ihrerseits den Grenzübertritt überwachen, oder ihn – im Rahmen der Einbürgerungsinitiative – unterstützen). Der diesbezügliche Datensatz wurde in Abschnitt 3.4 bereits vorgestellt, dies soll hier nicht noch einmal wiederholt werden. Zu beachten ist indes, dass von den insgesamt 47 Befragten 72,34 % eine Einbürgerung durchlaufen haben bzw. sich zum Zeitpunkt der Umfrage im Prozess der Einbürgerung befanden. Damit bilden Personen ohne eigene Einbürgerungserfahrung eine absolute Minderheit. Insgesamt erlauben Größe und Struktur des Samples keine systematischen oder gar repräsentativen Aussagen über einzelne Gruppen von Befragten (etwa entlang der Linien von Geschlecht, Alter oder (nationaler) Herkunft). In den Abschnitten 3.3 und 3.4 wurde überdies im Detail begründet, warum die vorliegende Arbeit biographische Daten (trotz ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die diskursethnologische Betrachtung) weitgehend vernachlässigt. Vor diesem Hintergrund wird sich die nachfolgende Analyse im Wesentlichen auf allgemeine Trends konzentrieren, die sich in der Gruppe der Umfrageteilnehmenden als Ganzes abzeichnen, und nur an ausgesuchter Stelle weiter ins Detail gehen. Die erhobenen Trends können dazu dienen, Tendenzen der Interviews besser einzuordnen und potenzielle Erklärungsansätze aufzuzeigen. Sie können indes nicht dazu herangezogen werden, abschließende Antworten zu geben. Im Sinne eines Exkurses dient das vorliegende Unterkapitel lediglich einem analytischen Ausblick auf das weitläufige Forschungsfeld der Diskursrezeption. Es vermittelt einen ersten Eindruck von den Mechanismen der Bedeutungsdekodierung, zeigt weiterführende Fragestellungen und etwaige methodische Ansatzpunkte auf. Dabei wird es durchaus auch Antworten anbieten, diese haben jedoch skizzenhaften und keinen definitiven Charakter.

Im Rahmen der leitfadengestützten Expert_inneninterviews mit Leitung, Koordinator_innen und Lots_innen des TGH-Lotsenprojekts sowie auch im Rahmen der quantitativen Konsensanalyse wurden die in Abschnitt 4.3 dieser Arbeit erschlossenen Grundbegriffe der diskursiven Phänomenstruktur gezielt abgefragt und erörtert.Footnote 3 Eckpfeiler der Erhebung sind vor diesem Hintergrund die Themen Kultur, Identität, Nation, Integration und Einbürgerung (aufgespalten in die Aspekte Funktion, Gründe und Hürden) sowie die Bewertung der Hamburger Einbürgerungsinitiative als solche. Des Weiteren wurden im Rahmen der Expert_inneninterviews Fragen zum Verhältnis von Staatsangehörigkeit und Identität – das heißt zum Thema nationale Identifikation – und (ergänzend dazu) zum Thema Mehrstaatigkeit gestellt. Diese zehn Aspekte sollen daher in der folgenden Auswertung sowohl separat beleuchtet als auch wechselseitig zueinander in Bezug gesetzt werden. Die zu den einzelnen Aspekten angeführten Belegzitate wurden nach Maßgabe ihrer Typisierbarkeit aus den Antworten der Expert_innen ausgewählt und können als beispielhaft gelten für die Argumentation der Befragten.

Kultur

Es ist bemerkenswert, dass die Expert_innen hinsichtlich ihrer Definition von Kultur Elemente beider dominanter Diskurse aufgreifen. Sowohl konstruktivistische als auch essentialistische Auffassungen sind zu annähernd gleichen Teilen präsent. Wie die Beispiele in Tabelle 5.1 deutlich zeigen, werden beide Kulturmodelle z. T. sogar von denselben Personen innerhalb ein und desselben Interviews vertreten. Je nach Anlass und Thema tendieren die Befragten mal mehr zu einer konstruktivistischen, mal mehr zu einer essentialistischen Lesart. Insbesondere bei der Frage „Was bedeutet ‚deutsch Sein‘?“ werden in vielen Fällen gängige kulturelle Stereotype reproduziert (z. B. Ordnung / Pünktlichkeit). Die Frage „Was halten Sie von der Idee einer ‚deutschen Leitkultur‘?“ hat wiederum zumeist eher eine Betonung von Konstruktivismus, Heterogenität/Hybridität und vor allen Dingen Individualität zur Folge. Evolutionistische Tendenzen oder gar ein Huntington’scher Kulturantagonismus sind derweil nicht zu beobachten. Was die Frage nach der Gleichwertigkeit, respektive Hierarchisierung verschiedener Kulturen angeht, setzt sich hier eindeutig das staatsnationale Ideal eines Kulturrelativismus innerhalb transkulturell verbindlicher Grenzen durch:Footnote 4

Tabelle 5.1 Inkonsistenzen der Kulturbegriffe

In den obigen Zitaten zeichnet sich ein gewisses Muster ab. Tatsächlich scheint die Definition des Kulturbegriffs (konstruktivistisch vs. essentialistisch) von der Ebene abzuhängen, über die jeweils gesprochen wird. Geht es um Kultur auf kollektiver Ebene, wie u. a. bei der Frage „Was bedeutet ‚deutsch Sein‘?“, wird rasch auf ein vereinfachendes, homogenisierendes Modell zurückgegriffen (z. B.: ‚In Deutschland ist man pünktlich‘). Geht es jedoch um die individuelle Ebene – z. B., wenn mit der Frage nach einer ‚deutschen Leitkultur‘ oder einer gemeinsamen ‚deutschen Identität‘ die Anforderung gestellt wird, jeder einzelne Mensch müsse allgemeinverbindlichen Kulturstandards gerecht werden – verweisen die Befragten auf kulturelle Hybridität und Fluidität sowie auf den individuellen Lebensweg und den freien Willen jedes oder jeder Einzelnen. Der Kulturbegriff scheint hier in zwei verschiedene Dimensionen aufgespalten zu werden – eine kollektive und eine individuelle. Diese implizite Verschachtelung von Wirklichkeiten führt, wie am Beispiel der obigen Zitate zu sehen ist, zu höchst widersprüchlichen Aussagen und zur Verquickung diametral gegensätzlicher Diskurselemente.

Ein ähnliches Bild hat sich überdies auch in der quantitativen Konsensanalyse ergeben. Tabelle 5.2a versammelt acht wichtige Deutungsmuster zum Thema Kultur und Identität, die so oder in ähnlicher Form im Diskursfeld präsent sind und jeweils beispielhaft für einen der beiden dominanten Diskurse stehen. So geben die ersten beiden Deutungsmuster zentrale Aussagen des staatsnationalen Diskurses wieder, während die restlichen sechs Muster den ethnonationalen Diskurs repräsentieren.

Tabelle 5.2a Kultur & Identität

Tabelle 5.2a zeigt deutlich, dass der offizielle Hamburger Einbürgerungsdiskurs im Hinblick auf seine Definition von Kultur und Identität bei den Befragten viel Zuspruch erhält. Im Falle der beiden staatsnationalen Deutungsmuster wurde mehrheitlich die Option ‚Stimme zu‘ gewählt. Bei den meisten ethnonationalen Deutungen entschied sich eine breite Mehrheit dagegen für die Option ‚Stimme nicht zu‘. Insgesamt 89,36 % der 47 Befragten sind der Meinung, dass ein Mensch durchaus mehrere Kulturen in sich vereinen und an mehreren Orten auf der Welt heimisch sein kann (siehe Deutungsmuster Nr. 1). Dies ist eine Haltung, die klar dem konstruktivistischen, kosmopolitischen Ideal des staatsnationalen Diskurses entspricht und die insgesamt repräsentativ scheint für das allgemeine Antwortverhalten der Teilnehmenden. Durchbrochen wird der staatsnationale Trend hingegen von den Reaktionen auf Aussage Nr. 7:

„Menschen aus manchen Ländern lassen sich wegen ihrer kulturellen Ähnlichkeit leichter in die deutsche Gesellschaft integrieren als andere.“

Dieser Deutung stimmen 68,09 % der insgesamt 47 Umfrageteilnehmenden zu. Der Gedanke, dass Menschen allein aufgrund ihrer regionalen Herkunft in Taxonomien kultureller Fremdheit eingestuft werden könnten (ungeachtet ihres jeweiligen Lebensweges, ihres Bildungsstandes oder anderer Faktoren) spricht unzweifelhaft für ein essentialistisches (oder vielmehr diffusionistisches) Bild von Kultur. Des Weiteren lässt sich daran außerdem ein assimilatives Verständnis von Integration ablesen, welches auf umfassende kulturelle Anpassung zielt. Damit sind gleich zwei Kernannahmen des ethnonationalen Diskurses abgedeckt. Fast genauso viele Personen – nämlich 63,83 % – stimmten jedoch wiederum gegen Aussage Nr. 6:

„Wenn zwei Menschen aus demselben Land kommen, kann man davon ausgehen, dass sie einander kulturell sehr ähnlich sind.“

Noch interessanter ist, dass insgesamt 42,55 % aller Befragten Aussage 6 widersprochen haben, während sie Aussage 7 gleichzeitig zustimmten. Demnach gehen sie zwar nicht davon aus, dass Menschen, die aus demselben Land kommen, einander zwangsläufig kulturell ähnlich sein müssen, sehr wohl aber nehmen sie an, dass Menschen aus manchen Ländern aufgrund ihrer kulturellen Nähe zu Deutschland pauschal besser zu integrieren sind als andere. Ganz offensichtlich besteht hier ein logischer Widerspruch – denn wenn man von der Herkunft nicht auf die Kultur schließen kann (was durchaus ein konstruktivistischer Gedanke ist), wie kann man dann anhand der Herkunft die (vermeintlich) kulturbedingte Integrationsfähigkeit abschätzen?

An dieser Stelle zeigt sich, dass die Existenz unterschiedlicher Diskursrealitäten und die Verfügbarkeit unterschiedlicher Subjektkategorien in der öffentlichen Arena, deren individuelle Rezipient_innen unweigerlich vor die Herausforderung der Wahl stellt. Diese Wahl ist immer situativ und niemals endgültig. Diskursive Wirklichkeiten befinden sich ständig im Fluss – ganz offensichtlich umso mehr, wenn sie in der subjektiven Sinnwelt einzelner Akteur_innen unmittelbar aufeinanderprallen. Im Anschluss an den nachfolgenden Themenpunkt wird auf diesen Umstand (sowie auf etwaige dahinterstehende Dynamiken) noch ausführlicher eingegangen werden.

Identität

Was das Thema Identität anbelangt, das in Tabelle 5.2a ebenfalls mitabgehandelte wird, fallen die Antworten der Expert_innen sehr viel deutlicher zu Gunsten des staatsnationalen Diskurses aus. Bis auf wenige Ausnahmen stehen hier Vorstellungen von Mehrdimensionalität und Hybridität im Fokus – gerade auch wenn es um die Ausformung und Umgestaltung kultureller Identitäten im Kontext von Migrationsprozessen geht. Die nachfolgenden Interviewausschnitte vermitteln davon einen exemplarischen Eindruck.

[Frage: Wie stehen Sie zum Thema doppelte Staatsangehörigkeit?]

„Ich find das gut. Ja, weil, äh, man kann, also, ich find halt man kann, ähm, in vielen Kulturen gleichzeitig sein, oder, also, mit Ländern verbinde ich direkt Kulturen. Und, ähm, ich finde man sollte nicht eine aufgeben müssen, um eine andere zu haben, oder bzw. sich einer anderen zugehörig zu fühlen. Ähm, ja… und ich finde keiner sollte gezwungen sein, etwas aufzugeben, nur damit, ähm, er noch etwas haben kann.“Footnote 6

[Im Gespräch]

„Obwohl, ich leb ja schon seit 89 hier. Ich bin mit acht Jahren hierhergekommen mit meiner Familie. Und trotzdem bin ich alle paar Jahre in Pakistan gewesen und trotzdem ist das irgendwo sind da meine Wurzeln. Und… ich fühle mich immer auch wieder dort hingezogen. Egal wie schlecht es Pakistan politisch geht, oder wirtschaftlich geht, ob da jetzt, ähm, ich bin, ich geh dahin und muss da unter Verhältnissen leben, die ich hier nicht kenne. Dass da kein Strom ist, dass da in manchen Gegenden keine Toiletten zuhause sind, wo man ins Feld laufen muss, oder ähnliches. Aber trotzdem gehe ich da gern hin, weil das meine Wurzeln sind. Ich kann mir jetzt nicht vorstellen dort zu leben, aber wenn jemand fragt: Wo würden Sie am liebsten Urlaub machen? Ja, in Pakistan. Ganz klare Aussage. Natürlich möchte ich auch andere Länder sehen, ich reise auch in anderen Ländern, aber das ist der Punkt der mir nach Deutschland immer wieder, ja, mich zieht sozusagen. […] Wenn ich zwei Jahre nicht fliege, dann vermiss ich es, und wenn ich da vier Wochen gewesen bin, dann will ich auch zurück. Also viel länger als vier Wochen ist schon für mich viel. Ich war schon länger dort, aber, also, auch schon fast 12 Wochen, fast drei Monate, aber das war für mich schon wirklich grenz…, da war auch… ich musste dahin, aus privaten Gründen länger bleiben, aber es war schon für mich wie eine, wie eine Mutprobe. Also ich hatte schon Heimweh.“Footnote 7

[Frage: Was bedeutet ‚deutsch Sein‘?]

„Puh… ich glaube das bedeutet, äh… […] bedeutet, ähm, ja also… das ist wirklich eine schwierige Frage. Weil, ähm, ich glaube bedeutet sich mit der Kultur, mit der Kultur sich, mit der deutschen Kultur sich auseinanderzusetzen, mit der Sprache, mit sich Wohlfühlen in diesem Land, als Frau, sich für die Politik oder für die, was in diesem Land passiert interessieren. Bedeutet Teil der Gesellschaft sein, ohne, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren. Bedeutet auch […], sich für dieses Land zu engagieren […], also aktiv sein. Ja. Das würde es für mich bedeuten.“Footnote 8

Die unterschiedliche Dekodierung der Grundbegriffe Kultur und Identität ist augenfällig. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass es sich bei den interviewten Expert_innen um Personal im (staatsnationalen) Dispositiv der Hamburger Einbürgerungsinitiative handelt, überrascht die starke Präsenz essentialistischer Deutungen im Hinblick auf den Kulturbegriff. Warum wird bei der individuellen Ausformulierung von Kultur zwischen staatsnationaler und ethnonationaler Perspektive vermittelt, während sich bei der Ausgestaltung des Identitätsbegriffs klar die staatsnationale Perspektive durchsetzt? Es ist die These der vorliegenden Arbeit, dass dieses Phänomen v. a. mit den emotionalen Subjektkategorien zu tun hat, welche die beiden Diskursströmungen ihrem Publikum jeweils eröffnen. Die staatsnationalen Subjektpositionen des/der ‚guten Migrant_in‘ bzw. des/der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ und des/der ‚guten (geborenen) Staatsangehörigen‘ betonen v. a. die individualisierte Seite von Kultur und Identität. Im hyperkulturellen Sinne erlaubt diese Lesart eine individualistische und rationalistische Sicht auf das einzelne Individuum: Migrant_innen / Eingebürgerte sowie auch Deutsche qua Geburt sind individuelle, freie und rationale Akteur_innen, die Versatzstücke unterschiedlicher Kulturen und Identitäten auf ‚sinnvolle‘ und ‚eigensinnige‘ Weise miteinander verbinden. Gleichzeitig existiert im öffentlichen Raum jedoch die – wie Abschnitt 4.1, 4.2 und 4.3 gezeigt haben – äußerst mächtige Vorstellung von ‚Kultur als Gemeinschaft‘ mit ihrer ‚containerhaften‘ Konzeption essentialisierter Kulturmerkmale.Footnote 9 Dieser Kulturbegriff, der seit Herder im deutschen Sprachraum präsent ist,Footnote 10 bildet einen wesentlichen Baustein der öffentlichen Diskurslandschaft und damit der gesamtgesellschaftlichen Sinnwelt. Er scheint in der Tat so mächtig zu sein, dass die Befragten ihn nicht einfach ignorieren können. Vielmehr integrieren sie beide Denkmodelle gemeinschaftlich in ihre subjektive Sinnwelt. Die Idee, dass das Individuum zwischen verschiedenen Kulturen wählen kann, um mit deren Puzzleteilen seine persönliche Identität auszugestalten, steht aus dieser Perspektive nicht im Widerspruch zu einem essentialistischen Begriff von Kultur auf kollektiver Ebene (wie ihn etwa auch der in Abschnitt 2.2 vorgestellte Multikulturalismus vertritt). Demnach gibt es relativ klar definierbare kulturelle ‚Container‘, die anhand ihrer statischen Merkmale beschrieben und differenziert (bzw., wie im Rahmen der Konsensanalyse geschehen, in Taxonomien eingeordnet) werden können. Dem tut die Vorstellung (zumindest vermeintlich) keinen Abbruch, dass das Individuum frei zwischen diesen Containern wählt und sich nach Belieben Inhalte herauspickt. Die widerstreitenden Kulturalisierungsregime von Hyperkultur und KulturessenzialismusFootnote 11 finden hier ihre Versöhnung in einem konstruktivistischen Modell von (persönlicher) Identität. Damit korrespondiert des Weiteren auch das Wahlverhalten der Umfrageteilnehmenden, wie es in Tabelle 5.2a zusammengefasst wird: Auf Ebene des einzelnen Subjekts (wenn es um die Frage persönlicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen geht) wird Individualität zugestanden. Auf Ebene des Kollektivs (wenn es um die Frage der Integrationsfähigkeit ganzer Menschengruppen geht) obsiegt die Vorstellung vom essentialistischen ‚Container‘. Es ist davon auszugehen (wenn anhand der Daten auch nicht abschließend zu verifizieren), dass die Frage, ob die Teilnehmenden sich von der jeweiligen Aussage persönlich als Individuum angesprochen fühlen oder nicht, bei dieser Einordnung eine entscheidende Rolle spielt. Dazu passt die Tatsache, dass einige der Abstimmungsergebnisse, wie sie in Tabelle 5.2a dargestellt sind, z. T. entschieden anders ausfallen, betrachtet man Deutsche qua Geburt und Menschen mit MigrationshintergrundFootnote 12 separat (siehe Tabelle 5.2b). So sind etwa 45,45 % der geborenen Deutschen der Ansicht, dass man sehr wohl davon ausgehen könne, zwei Menschen, die aus demselben Land kommen, seien einander kulturell ähnlich. Bei den Befragten mit Migrationshintergrund erreicht die Zustimmung dagegen nur 25,00 %, bei den eingebürgerten Deutschen sogar nur 22,22 %. Überwältigende 81,81 % der geborenen Deutschen stimmen weiterhin der Aussage zu, dass Menschen aus manchen Ländern sich aufgrund ihrer kulturellen Ähnlichkeit leichter in die deutsche Gesellschaft integrieren ließen als andere. Auch hier ist die Zustimmungsquote mit 63,89 % bei den Menschen mit Migrationshintergrund deutlich niedriger (wenn auch insgesamt immer noch sehr hoch). Eingebürgerte Deutsche liegen mit einer Zustimmung von 70,37 % etwa im Mittelfeld zwischen der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund einerseits und der Gruppe der geborenen Deutschen andererseits.

Tabelle 5.2b Themenkomplex Identität – Zustimmung einzelner Teilgruppen

Man kann spekulieren, ob Personen, die in ihrem Leben selbst kultureller Essentialisierung und / oder Rassifizierung ausgesetzt waren bzw. sind, aufgrund ihrer eigenen Diskriminierungserfahrungen tendenziell kritischer reagieren, wenn Menschen – wie im Rahmen der hier abgefragten Aussagen – anhand von kulturellen Kategorien über einen Kamm geschoren werden. Sie bewegen sich, so kann man plausibler Weise vermuten, ob ihres spezifischen Lebensweges und der ihnen zugewiesenen Position in der Gesellschaft im Spannungsfeld anderer Diskurskonstellationen als es wiederum jene tun, die ihrerseits solche Erfahrungen nicht gemacht haben. Weiterhin lässt sich annehmen (wenn auch anhand der Daten in keiner Form nachweisen), dass die hier befragten Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt häufiger von rassistischem oder xenophoben Verhalten betroffen sind als die geborenen deutschen Teilnehmenden und deshalb im Verhältnis ein höherer Grad der Sensibilisierung besteht. Interessant wäre die Frage, inwiefern der Statuswechsel im Zuge der Einbürgerung zu einer veränderten Betroffenheit durch die dominanten Diskurskonstellationen und damit ggf. auch zu einer Veränderung innerer Haltungen führt, wie es sich im Falle von Aussage 7 anzudeuten scheint. Um diese Fragestellung weitergehend zu erörtern, ist die vorliegende Datenbasis jedoch ungenügend. Beachtenswert bleibt indes das Antwortverhalten in Reaktion auf Aussage 8 (siehe Tabelle 5.2b):

„Wenn eine muslimische Frau in Deutschland eine Form der Vollverschleierung trägt, kann man davon ausgehen, dass sie schlecht integriert ist.“

Dieser Deutung stimmten insgesamt 34,04 % der Befragten zu. Mit 63,63 % pflichteten ihr im Verhältnis weit mehr als doppelt so viele geborene Deutsche wie Menschen mit Migrationshintergrund (25,00 %) bei. Die Zustimmungsquote der Eingebürgerten entspricht hier mit 33,33 % dagegen ungefähr der Quote des Gesamtsamples und ist (wie schon im Falle von Aussage 7) höher als die Zustimmung der Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt.

Die Assoziation von kulturellen oder religiösen Symbolen mit pauschalisierter kultureller Fremdheit und die weiterführende Assoziation von kultureller Fremdheit mit mangelnder Integration (bzw. Assimilation) ist eine klassische Argumentationsfigur des ethnonationalen Diskurses und überdies ein bekanntes Phänomen im Kontext nationalistischer Abgrenzung, wie sie u. a. in Abschnitt 2.2 thematisiert wurde.Footnote 13 Es ist bezeichnend, dass fast zwei Drittel der geborenen deutschen Befragten sowie immerhin ein Drittel der Befragten mit Einbürgerungshistorie diesen Aspekt des ethnonationalen Diskurses mittragen – und das, obwohl es sich hierbei um Personen in der unmittelbaren Einflusssphäre des staatsnationalen Diskurses handelt. Es wäre diesbezüglich von Interesse – und von erheblicher gesellschaftlicher Relevanz – weitergehend nachzuforschen und die unterschiedlichen, biographisch bedingten Diskursformationen aufzudecken, die diese ethnonational gefärbte (und bisweilen zutiefst widersprüchliche) Haltung hervorbringen. Eine Dichotomisierung von Migrant_innen und geborenen Deutschen reicht – wie schon das beiderseits abweichende Antwortverhalten der eingebürgerten Deutschen veranschaulicht – als Erklärung hier keinesfalls aus und greift – angesichts der Komplexität und Vielzahl existierender diskursiver Formationen – zu kurz. Aus bereits genannten Gründen muss die Analyse an dieser Stelle jedoch im Stadium der Spekulation verbleiben und die weitere Erörterung anderen überlassen.Footnote 14 Nichtsdestoweniger bleibt (wenigstens vorläufig) festzuhalten, dass die Dekodierung von Diskursen ein vielschichtiger Prozess ist, auf den unterschiedlichste Faktoren (so etwa persönliche Biographie, gesellschaftlich zugewiesene Rolle oder die Kontextualisierung durch variierende Diskurskonstellationen) in vielfältiger Weise Einfluss nehmen – und das sogar innerhalb solcher Gruppen, die, wie die hier untersuchte, von außen relativ homogen und ideologisch klar positioniert erscheinen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass ein Kurzschluss von Diskurs auf Gruppe (oder umgekehrt) unweigerlich das Risiko der Verzerrung komplexer Realitäten birgt und in der ethnologischen Nationalismusforschung tunlichst vermieden werden sollte. Ähnlich wie Kultur und Ethnizität sind auch Diskurse und deren Publika / Produktionsräume zwei separate, wenn auch wechselseitig verzahnte Phänomene. Die nachfolgenden Ausführungen werden diesen Umstand weiterführend veranschaulichen.

Nation

Hinsichtlich des Nationenbegriffs, der in den Interviews zum Tragen kommt, gibt es – wie schon im Falle des Identitätskonzepts – eine klare Tendenz zu einer staatsnationalen Lesart. Diese begreift Deutschland – im subjektivistischen Sinn – als immanent multikulturelle und in stetem Wandel befindliche Einwanderungsgesellschaft innerhalb eines gemeinsamen transkulturellen Konsenses. Gleichzeitig allerdings wird offenbar, dass die Expert_innen sich ihrerseits in vielen Situationen mit einer ethnonationalen Perspektive konfrontiert sehen, dann nämlich, wenn sie selbst – trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und teilweise sogar obwohl sie in Deutschland geboren wurden – von Deutschen ohne Migrationshintergrund als ‚Fremde‘ oder ‚Ausländer_innen‘ eingestuft bzw. mit diskriminierendem Verhalten oder grob vereinfachenden kulturellen (bzw. religiösen) Stereotypen konfrontiert werden. Die folgenden Interviewausschnitte demonstrieren dieses Phänomen und den dabei erlebten Widerspruch zwischen subjektiver und kollektiver Sinnwelt:

[Frage: Was bedeutet ‚deutsch Sein‘?]

„Also deutsch Sein für mich, also, wenn ich hier, also mich entscheide, hier in Deutschland zu leben, ist erstmal für mich das Grundgesetz die Maßgabe. Und alles andere, also klar, vor ein paar Jahrzehnten, ne? Also wer blond ist, äh, also dieses Typische: So muss jemand Deutsches aussehen, ähm, ist natürlich Blödsinn, weil wir sind ein Einwanderungsland, wir sind vielfältig und, ähm… Es ist immer ganz witzig, wenn ich im Urlaub bin und wir sitzen irgendwo im Restaurant und dann kommt man mit dem Kellner ins Gespräch und sagt dann, ja, man ist aus Deutschland. Dann: „Oh, dann trinken Sie jetzt bestimmt ein Bier.“ So: „Nein, ich trinke kein Bier.“ – „Wie? Nein?“ – „Nein.“ – „Okay, du kannst kein richtiger Deutscher sein.“ […] So das ist, das sind immer so ganz witzige Anekdoten, aber das zeigt ganz viel, so, ne? Diese Klischees. Muss ja auch nicht immer bös beabsichtigt sein. Insofern, ähm, natürlich, als jemand, der vielleicht nicht so diesen typisch deutschen Namen hat, den es vielleicht schon vor fünfzig / sechzig Jahren hier in Deutschland gab. Wenn man mit solchem, mit so einem Namen dann irgendwo hingeht, sei es in die, zum Arzt, die Arzthelferin sagt: „Oh Sie können ja gutes Deutsch.“ – Das ist halt so, irgendwie so Standard. Und es ist auch: „Das war vor zwanzig Jahren und das kann dir doch jetzt nicht immer noch passieren.“ – Doch, das passiert mir immer noch. Und ich wunder mich. Da frag ich mich, bin ich, soll ich diejenige sein, die in einer Parallelgesellschaft ist oder diese, diese Person? Also vielleicht schotten die sich ja eher ab, dass die, ähm, das für so ungewöhnlich halten, dass jemand, der vielleicht schwarze Haare hat, einfach perfekt Deutsch spricht. […] Insofern, aber was halt für mich maßgeblich ist, das ist, das geht ja auch einher mit dieser Debatte ‚Leitkultur‘. Was gehört zur deutschen Leitkultur? Also das sagt ja das Wort Kultur. Kultur verändert sich. Ja? In jedem Land, und, ähm, Kultur wird ja auch von den Menschen ausgemacht, und insofern, unsere, unsere Restaurantvielfalt, Musikvielfalt, das vermischt sich ja alles, also mit den Menschen zusammen. Und dann muss man auch, man kann darüber vielleicht immer wieder auch debattieren und diskutieren und, ähm, das ist vielleicht auch ganz gut so, aber man muss halt auch sich klarmachen: Das verändert sich und das ist irgendwie erstmal nichts Schlimmes.“Footnote 15

[Im Gespräch]

„Ich werd‘ ja, wenn ich auf der Straße angesprochen werde, werd‘ ich ja nie als Deutsche gesehen. Das ist ja auch in Ordnung so, ne? Mir sieht man’s auch nicht an, dass ich Deutsche bin, Biodeutsche bin, also, dass ich geborene Deutsche bin. Und, ähm, ich werde nie als Deutsche gesehen, aber es stört mich auch nicht. Wo es mich stört, und da stört es mich wirklich, wenn, wenn es so einen leichten Unterton hat. Also wenn, wenn jemand mich auch als Ausländer beschimpft, oder so. Dann: Nö. Ich bin keine Ausländerin, ich bin Deutsche. Ich kann’s auch nachweisen, so. Viele sprechen mich ja auch schon auf falschem Deutsch an, weil sie denken ich sprech‘ kein Deutsch. […] Das erleb ich so oft. […] Arzt kommt rein ins Behandlungszimmer und sagt, dreht sich von mir weg zu meinem Mann und sagt: „Sagen Sie Ihrer Frau, sie soll sich hinsetzen.“ – Mein Mann sprach kein, also: „Wie bitte?“ – und so: „Ich glaub Sie können sich auch mit mir unterhalten, ich sprech ein bisschen Deutsch.“ Das hab‘ ich schon so oft erlebt.“Footnote 16

[Frage: Sollten Menschen, die eine Einbürgerung anstreben, sich emotional mit Deutschland identifizieren?]

„Ähm, ich denke, das ist, äh, schwierig da, äh, sich mit Deutschland zu identifizieren, mit diese Emotion zu haben. Das ist nicht eine mechanische Prozess, die man kann irgendwie von der Markt kaufen, oder irgendwo hingehen und das für sich besorgen, sondern das ist eine sehr komplizierte Prozess. Ähm, vielleicht Einbürgerung ist eine Schritt, um das zu ermöglichen. Ähm, aber wir müssen auch das, äh, berücksichtigen, dass in Deutschland das enorm schwierig ist. Da Deutschland ist nicht, ist ein neu, neulich ist eine Migrationsgesellschaft geworden, nicht wie die USA oder Australien oder Kanada, und, äh, und immer noch deutsch zu sein wurde mit dem Blut oder Geschichte, äh, und Mentalität, äh, definiert. Diese Dinge kann man nicht, äh, leisten, sich leisten. Also kurz vielleicht gesagt ist deutsch zu sein essentialistisch mit solche Elemente definiert, wird das nicht möglich sein. Von daher, also, darf man das nicht verlangen.“Footnote 17

In den obigen Zitaten tritt der immanente Antagonismus zwischen ethnonationaler und staatsnationaler Deutungslinie, der in ähnlicher Weise bereits im massenmedial vermittelten Diskursfeld zu beobachten war, klar hervor. Interessant ist in diesem Zusammenhang v. a. das zweite Zitat, in welchem die Sprecherin Verständnis dafür aufbringt, nicht als Deutsche (im ethnischen Sinne) erkannt zu werden, sich aber entschieden gegen die Zuschreibung des nicht-deutsch-Seins (im nationalen Sinne) verwehrt. Hier ist eine implizite Aufspaltung zwischen einem ethnisch gefassten ‚deutsch Sein‘ einerseits und einem auf die (subjektivistische, multi-ethnische) Nation bezogenen ‚deutsch Sein‘ andererseits zu beobachten. Auch hierin lässt sich eine gewisse Vermittlung zwischen konträren Subjektpositionen und Deutungslinien beobachten: Die staatsnationale Konzeption von Staatsangehörigkeit und (kosmopolitischer) Staatsbürgerschaft wird mit der ethnonationalen Konzeption einer deutschen ‚Volksgemeinschaft‘ (im Herder’schen Sinne) versöhnt. Beide Deutungen werden – obwohl sie eigentlich widersprüchlich sein müssten – in eine gemeinsame ‚Hierarchie der Wirklichkeiten‘ eingegliedert.Footnote 18 Die staatsnationale Perspektive übernimmt dabei die Führung, gesteht der ethnonationalen Ideologie jedoch eine (eingeschränkte) Daseinsberechtigung zu, indem sie die Subjektkategorie der ‚überlegenen deutschen Volksgemeinschaft‘ zu einer ethnischen Kategorie unter vielen degradiert.

Wiederum korrespondieren in diesem Fall die Ergebnisse aus der quantitativen Befragung (siehe Tabelle 5.3a) mit den Antworten der Expert_innen. Die ersten beiden Aussagen in Tabelle 5.3a stehen beispielhaft für die Deutungslinie des staatsnationalen Diskurses, während die restlichen vier Deutungen dem ethnonationalen Diskurs entliehen sind. Die Aussagen 1 und 2 erhalten mit 82,98 % und 87,23 % hohe Zustimmungswerte. Beide zeichnen ein kosmopolitisches Gesellschaftsbild, wonach kulturelle Vielfalt gesellschaftlichen Fortschritt bewirkt und ideale Staatsbürger_innen sowohl lokal verwurzelt als auch global vernetzt sein sollten. Drei der vier ethnonationalen Deutungsmuster werden dementgegen mehrheitlich abgelehnt.

Tabelle 5.3a Nation

Besonders viel Widerspruch erhält Aussage Nr. 12:

„Wenn jemand eine dunkle HautfarbeFootnote 20 hat, kann man davon ausgehen, dass er kein Deutscher ist.“

89,36 % der Befragten stimmen gegen diese Aussage und verwehren sich damit dem rassistischen Bild einer homogenen Abstammungsgesellschaft. Gleichzeitig stimmen allerdings 46,81 % der Aussage Nr. 11 zu:

„Durch die Einbürgerung wird man zwar zum deutschen Staatsbürger, aber nicht zum echten Deutschen.

Nur 38,30 % aller Teilnehmenden widersprechen dieser Sichtweise. Damit scheint sich an dieser Stelle eine ethnonationale Interpretation durchzusetzen, die ‚echtes Deutschsein‘ eben doch an die Abstammung von deutschen Vorfahren rückkoppelt. Die Gegenüberstellung der beiden Variablen in einer Kreuztabelle offenbart, dass 40,43 % aller Befragten, die ihrerseits beide Fragen beantwortet haben, Aussage Nr. 11 zustimmen, während Sie gleichzeitig Aussage Nr. 12 ablehnen. Demnach gehen sie zwar nicht davon aus, dass äußerliche Merkmale (wie etwa die Hautfarbe) Aufschluss darüber geben können, ob jemand ‚deutsch‘ ist, gleichzeitig nehmen sie aber an, dass ‚echtes Deutschsein‘ eine Kategorie jenseits vom rechtlichen Status der Staatsangehörigkeit darstellt und demgemäß durch irgendwelche anderen Charakteristika begründet sein muss (wie z. B. Kultur oder Ethnizität). Interessant ist hierbei, dass 72,72 % aller Deutschen qua Geburt Aussage Nr. 11 ablehnen, während ihr 55,56 % der Teilnehmenden mit Migrationshintergrund sowie der eingebürgerten Deutschen zustimmen (siehe Tabelle 5.3b):

Tabelle 5.3b Themenkomplex Nation – Zustimmung einzelner Teilgruppen

Die Wahrnehmung, dass Eingebürgerte keine echten Deutschen seien, wird demnach weitaus stärker von Menschen geteilt, die sich – das darf zumindest vermutet werden – ähnlich wie die oben zitierten Expert_innen ihrerseits vermehrt in der Situation sehen, in der deutschen Gesellschaft (ggf. auch trotz ihres Einbürgerungsstatus) als ‚Fremde‘ behandelt zu werden. Ihre Konfrontation mit den rassifizierenden Rollenzuschreibungen des ethnonationalen Diskurses führt augenscheinlich dazu, dass sie sich mit der Existenz (und der Unerreichbarkeit) der Subjektkategorie der ‚echten Deutschen‘ als gesellschaftlicher Wirklichkeit arrangieren. Im Gegensatz dazu weisen die hier befragten geborenen Deutschen eine solche zweidimensionale Aufgliederung der Kategorie ‚deutsch‘ entschieden von sich, was – so lässt sich spekulieren – mit ihrer sich grundlegend anders gestaltenden Alltagserfahrung und ggf. auch mit der Maßgabe sozialer Erwünschtheit durch den staatsnationalen Diskurs zusammenhängen könnte. Wenn diese Einschätzung richtig ist, dann üben die unterschiedlichen Formen und Grade der Betroffenheit durch die dominante Diskurskonstellation, die auch in diesem Fall mit Faktoren der individuellen Biografie und der sozialen Position zusammenzuhängen scheinen, wiederum erheblichen Einfluss auf die Diskursrezeption aus. Die augenfällige Aufspaltung von ‚deutsch Sein‘ in eine rechtlich-nationale und eine kulturell-ethnische Dimension, ist dabei vergleichbar mit der Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit (als Rechtsstatus) und Nationalität (als nationaler Minderheit innerhalb eines übergreifenden Nationalstaates), wie sie in Abschnitt 2.5 etabliert wurde. Eine solche Einstufung bedient sich zwar des diskursiven Vokabulars des ethnonationalen Diskurses, läuft dessen (nationalistischer) Intention jedoch diametral zuwider, insofern sie – wie im Falle der oben zitierten Expertin – den Status rechtlicher, nicht ethnischer Zugehörigkeit zum höchsten Gut erklärt. Ethnonationaler und staatsnationaler Diskurs gehen vor diesem Hintergrund eine fragile Verbindung ein, welche ihre Hierarchisierung innerhalb ein und derselben symbolischen Sinnwelt erlaubt, ihren wechselseitigen Antagonismus dadurch jedoch keineswegs auflöst.

In den Antworten der Expert_innen ist weiterführend zu beobachten, dass immer wieder auch explizit postnationalistische Deutungen anklingen. Schon im massenmedial vermittelten Diskursfeld sind postnationalistische Vorstellungen, welche Nationen und Nationalstaaten ganz grundsätzlich als soziale Konstrukte hinterfragen, hier und da am Rande aufgeblitzt.Footnote 21 Sie stellten dort allerdings eine absolute Minderheit. In den hier betrachteten Gesprächen bilden solche Positionen ebenfalls keine dominante Deutungslinie aus, entwickeln im Verhältnis jedoch stärkere Präsenz und bereichern die Debatte um eine interessante Zusatznote:

[Frage: Was bedeutet ‚deutsche Sein‘?]

„Was ist typisch deutsch? Also… Ich finde es immer schwierig in der heutigen Zeit, so über diese Themen zu sprechen, was so national, ähm, wo es so um Nationalgrenzen geht. Irgendwie in der heutigen Zeit, man ist verbunden durch das Internet, man, man reist viel, man, man, also auch die, die Arbeit ist ja auch, also viele arbeiten in verschiedenen Ländern irgendwie. Und insofern finde ich das schwierig, das mit „Was ist deutsch?“ Weil das ist ja eher so Nationalgrenze denkend und insofern ähm… ist das… ja. Muss selber für sich, jeder glaube ich, für sich selber bestimmen. Ich kann es ehrlich gesagt nicht.“Footnote 22

[Im Gespräch]

„…das ist für mich auch immer noch offene Frage, ne? Wie wollen die unterschiedlichen Nationen damit umgehen, mit diese globalisierte, Globalisierung der Welt. Ob sie wollen jetzt sagen, Deutschheit, z. B. – und das kenne ich auch von meinem Herkunft Iran – Iraner zu sein, das ist auch sowas Festes und nicht jeder kann das haben. Aber ich glaube die, was auch in Medien etc. wir hören, die brauchen, denke ich, noch tiefere Debatte darüber, tiefere, das, was heißt das. Nur jetzt wollen wir immer noch über unsere Nation uns definieren, oder sind wir in eine neue Paradigma, neue Phase, dass nicht unbedingt diese Bedürfnis wir haben, diese typische Bedeutung ist, sich mit einer Nation zu identifizieren?“Footnote 23

Anhand der Interviewausschnitte sowie auch anhand der konsensanalytischen Ergebnisse wird deutlich, auf welch vielschichtige Weise die dominanten Diskurse mit der Erfahrungswelt der Befragten interagieren. Diskursive Deutungen werden teils originalgetreu reproduziert, teils auf kreative Weise miteinander vermittelt, teils aktiv abgelehnt oder aber durch andere diskursive Perspektiven transformiert (z. B. durch einen postnationalen Blickwinkel). Die subjektive Sinnwelt speist sich aus dem Repertoire der Diskurse und umgekehrt speisen sich Diskurse letztlich aus dem Repertoire individueller Sinnwelten. Weder ist das individuelle Bewusstsein Produkt eines singulären Diskurses, noch sind Diskurse – das hat Kapitel 4 dieser Arbeit anschaulich zeigen können – Produkte eines einzelnen Bewusstseins.Footnote 24 Sie sind ein unabänderlich kollektives Phänomen, dass sich aus musterhaft auftretenden Deutungen ergibt. Gerade durch ihren intersubjektiven und dezentralen Charakter entfalten sie Macht. Inwiefern eine individuelle Äußerung (die an und für sich immer auch diskursiv ist) zur diskursiven Aussage wird (in dem Sinne, dass sie Teil eines musterhaft auftretenden und objektiv beobachtbaren Diskurses ist) hängt vom Kontext ihrer Tätigung ebenso ab, wie vom Kontext ihrer Rezeption. Am Beispiel der hier interviewten Expert_innen kann gezeigt werden, dass öffentliche Diskurse der massenmedial vermittelten Makroebene durch ihre individuelle und situative Dekodierung eine Transformation unterlaufen. Inwiefern diese Transformation jedoch auf das ursprüngliche Diskursfeld zurückwirkt, ist eine gänzlich andere Frage. Eine gänzlich andere Frage ist es überdies auch, inwiefern die hier portraitierten Perspektiven (etwa die Verquickung von staatsnationalen und ethnonationalen Elementen oder auch die postnationalen Einfärbungen) repräsentativ sind für einen spezifischen (gewissermaßen ‚eigenständigen‘) Mikro- oder gar Mesodiskurs innerhalb des TGH-Lotsenprojektes. Sollte ein solcher Diskurs tatsächlich existieren, so wäre es interessant, dessen Wechselwirkung mit seinen Akteur_innen und deren alltäglicher Umwelt sowie mit den dominanten Makrodiskursen der öffentlichen Arena zu erörtern. Wie schon an früherer Stelle bietet sich hier ein lohnender Ansatzpunkt für die weiterführende Forschung.

Integration

Die Expert_innen des TGH-Lotsenprojektes definieren Integration – ganz im Sinne des staatsnationalen Diskurses – als gleichberechtigte, demokratische Teilhabe in allen Lebensbereichen. Hinweise auf ein assimilatorisches Verständnis von Integration gibt es in den Interviews zwar durchaus auch, sie bleiben jedoch eine Randerscheinung. Wie die folgenden Beispiele zeigen, kann sich die Argumentationslinie des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses in den Antworten der Befragten relativ unangefochten durchsetzen. Die Vorstellung, dass Integration ein allseitiger gesellschaftlicher Prozess ist, schlägt sich überdies auch dahingehend nieder, dass die Expert_innen die verbindliche Behandlung des Themas Einbürgerung im allgemeinen Schulunterricht mehrheitlich befürworten. Hier zeigt sich, dass Integration nicht nur als alleinige Aufgabe der Migrant_innen begriffen, sondern Deutschen ohne Migrationshintergrund eine wesentliche Mitverantwortung zugesprochen wird. Sie sollen sich über das Thema und die Lebenslagen von Menschen ausländischer Herkunft informieren, um sich eine qualifizierte Meinung bilden und ggf. politisch und / oder sozial aktiv werden zu können. Auch wenn dieser Teil der Kampagne aus bereits genannten Gründen nie systematisch umgesetzt wurde,Footnote 25 richtet das TGH-Lotsenprojekt doch seinerseits in kleinerem Rahmen und auf Anfrage Informationsveranstaltungen in Schulen aus, um das Themenfeld Einbürgerung gerade jungen Menschen frühzeitig präsent zu machen.

[Frage: Was ist für Sie Integration?]

„Wie würde ich das… also ich versuch diesen Begriff nicht, ähm, also so wenig wie möglich zu, zu, zu nutzen. Ähm, also wenn, dann sollte man eher über Partizipation sprechen, was dann aber auch, also, das ist grundsätzlich erstmal ein Querschnittsthema. Das ist jetzt nicht irgendwie so eine eigene Branche oder ein eigener Themenkomplex für sich abgekoppelt, also, abgekoppelt von allem, sondern dass wir uns überlegen sollten: „Okay wie können alle, ähm, gesellschaftlichen Gruppen am Leben partizipieren?“ – Dazu gehört eben nicht nur, dazu gehören eben nicht nur Migranten irgendwie, die vielleicht in einigen Dingen benachteiligt sind, sondern eben vielleicht auch Personen, die eine Behinderung haben, oder alleinerziehende Mütter, auch alleinerziehende Väter, keine Ahnung. Also, dass man eher so über diesen Inklusionsgedanken, Partizipation, was können wir in den unterschiedlichsten, ja, Themenbereichen oder in, in, in unterschiedlichsten Bereichen tun, damit alle wirklich auch die gleichen Zugangsrechte zu Kultur, Bildung, zu Arbeit bekommen. Und dann brauchen wir halt auch nicht mehr über Integration sprechen. Also es wird immer so dargestellt: „Ja, die Leute wollen sich nicht integrieren, die wollen nicht Deutsch lernen.“ – Also wir sehen das halt ganz anders. Äh, die Leute, die sitzen, die stehen hier auf Wartelisten, die, ähm, die wollen Deutsch lernen, ja? Schon aus eigenem Interesse. Und… ja, es gibt nicht genug Plätze, nicht genug Lehrer, und insofern sollte man auch mal das auch betrachten. Also die wollen sich integrieren.“Footnote 26

[Frage: Viele sagen, es sei Aufgabe der Migrant_innen, sich um die Einbürgerung zu bemühen, nicht Aufgabe des Staates, dafür zu werben – was sagen Sie dazu?]

„Also… klar, es gibt auch viele, die sich selber drum kümmern, äh, die drucken sich dann ganz eigenhändig da den Einbürgerungsantrag aus und, ähm, gehen, also, die brauchen unsere Hilfe nicht, ne? Ähm… aber es gibt halt, nicht nur zum Thema Einbürgerung, sondern zu allen möglichen Themen, Beratungsstellen. Und das ist eigentlich in so einer Großstadt wie Hamburg eigentlich ein Vorteil. Weil es muss ja in unserem Interesse sein, dass die Menschen, ähm, die gleichen Rechte haben, und zwar so schnell wie möglich und nicht erst nach dreißig Jahren. Das heißt, ähm, in unserem Interesse müsste auch sein, dass die sozusagen einen Anreiz haben den deutschen Pass, weil das ist vielleicht schon auch eine Möglichkeit sich vielleicht mehr, ähm, mit, mit der Gesellschaft, mit dem Land zu identifizieren. Und wenn man dann den deutschen Pass hat und dann auch mal wählen gehen kann, also ich kann mich, als ich das erste Mal wählen gegangen bin, das war schon ein besonderes Gefühl, irgendwie auch jetzt irgendwie einen Teil, was zur Demokratie beigetragen zu haben, oder sozusagen die Möglichkeiten der Demokratie genutzt zu haben. Insofern, ähm, das, also, solche Projekte werden aus Steuergeldern finanziert. Jeder von uns trägt seinen Teil dazu bei, auch die Migranten, die eben nicht deutsch sind, die zahlen auch ihre Steuern. Und da finde ich, das ist so ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, und wenn das alles so abdriftet in: „Wir haben eh keine Rechte und dann machen wir hier halt eben unser eigenes Ding.“ – Das kann auch nicht in unserem Interesse sein. Deswegen, ähm, finde ich das immer so ein bisschen, ähm… Diese grundsätzlichen Debatten und Diskussionen, die eher so zu, wo es um Spaltung geht, ne? So: „Wir Deutschen, wir müssen unsere Rechte irgendwie… und die sollen sich an unsere, an unsere Leitkultur halten.“ – Also das sind, ja, in meinen Augen sind das so Scheindebatten. Wir sollten da so ein bisschen differenzierter einfach gucken, was eigentlich wirklich die Probleme sind. Das kann wie gesagt, ähm, keiner hat davon einen Nachteil, wenn einem Migranten geholfen wird, irgendwie diesen, diese bürokratischen Hürden irgendwie, ähm, zu meistern. […] Es wird einem ja dadurch nichts weggenommen.“Footnote 27

[Frage: Sollte das Thema Einbürgerung im Schulunterricht behandelt werden?]

„Also, würd‘ ich gut finden, dass auch vielleicht diejenigen, die damit gar nichts zu tun haben, einfach mal auch wissen wie das eigentlich ist, wenn vielleicht Mitschüler oder deren Eltern eben in solchem Einbürgerungsverfahren sind, so einen Einbürgerungstest machen. Das kann man ja auch dann als Lehrer ganz spielerisch mit denen, da gibt’s, es sind ja auch Themen, Politik, Gesellschaft, also wenn man das halt in den PGW-Unterricht, äh, integriert, ähm, das bietet sich ja an, ne? Das sind ja auch Themen, die für die deutschen Schüler, ja, da geht’s ja um Geschichte, also das ist ja, das wird ja eh vermittelt. Und wenn man halt noch so ein bisschen, so, ähm, einfach weiß es gibt Menschen, die eben so einen ausländischen Pass haben, also das gehört find‘ ich auch zur Allgemeinbildung, dass man weiß, was für Menschen in einer Gesellschaft vielleicht auch mit welchen Hürden die da leben.“Footnote 28

[Frage: Was ist für Sie Integration?]

„Ähm, ich würd‘ es definieren, äh, als ein gutes Miteinander und Leben miteinander. Und von, beiderseits […]. Also, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, die deutsche und meine, z. B., pakistanische, dann sollten beide sich integrieren mehr oder weniger. Deutsche – das heißt nicht, dass sie jetzt ihre Sprache erlernen müssen, oder so, aber dass man… Ich hab‘ z. B. zuhause gehabt, ich hab‘ ein Gericht gekocht, was stark gerochen hat. Da hab‘ ich am nächsten Tag von der Verwaltung ein Schreiben bekommen. […] Gerüche vom Essen… und ich hab‘ gedacht: „Was?“ – Dann hab‘ ich ein Urteil rausgekramt, wo es hieß, Gerüche gehören zum Kochvorgang dazu, die man nicht eindämmen kann und sonst was machen kann und dann hab‘ ich gesagt: „Leute, ich riech‘ hier auch ständig was, was mir nicht passt. Ich riech‘ sofort, wenn Schwein gekocht wird, dann lauf ich so, och, durch die Gegend, weil ich es nicht abkann. Oder Rotkohl. Aber das heißt doch nicht, dass ich es euch verbiete.“ – Das ist für mich Integration, geklappte Integration, wo man sagt: „Okay, ich mag zwar nicht, was du machst, ich toleriere es, ich muss es nicht akzeptieren.“ – Und egal ob auf deren Seite oder der anderen Seite. Natürlich sollen die Leute, die herkommen, sich anpassen und sich auch integrieren, Sprache lernen. Ich finde für mich persönlich, dass man aus beiden Kulturen das Gute nehmen sollte. Also ich bin auch ein sehr pünktlicher Typ, was in Pakistan überhaupt nicht üblich ist. Ordnung und sowas, also, ja, nehmt das Gute. Und ich als Deutsche, als deutsche Pakistani, sag‘ ich mal jetzt, ich nehme auch gerne Mal von meinen Freunden […], die aus Tunesien kommen, auch gerne was an. Was, was ich gut finde. Das ist für mich Integration. Nicht nur Sprache lernen und kein Kopftuch tragen. Das ist für mich keine Integration. Natürlich sollen die Menschen sich an die Rechte, an die Pflichten hier halten und… keine Ehrenmorde begehen. Aber das sollen auch Deutsche nicht.“Footnote 29

[Frage: Was ist für Sie Integration?]

„Integration ist, wenn ein Mensch in einem Land geboren wird und es ziemlich sicher ist, dass er auch hierbleibt, dass sie die gleichen Rechte bekommen. Das ist für mich Integration.“Footnote 30

[Frage: Was ist für Sie Integration?]

„Integration ist ein nützlicher Teil der Gesellschaft zu sein, und nicht mechanisch, sondern organisch mit der Gesellschaft in Interaktion zu sein. Und das verlangt die, das verlangt die Initiative oder Bemühungen von den Leuten, die nach Deutschland kommen, aber auch von der Mehrheitsgesellschaft.“Footnote 31

In den obigen Zitaten werden demokratietheoretische Überlegungen angestellt – zum interkulturellen Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft, zu demokratischen Rechten und demokratischer Teilhabe, zur Legitimationsgrundlage demokratischer Systeme und zur Deliberation von Differenzen – wie sie auch den massenmedial vermittelten staatsnationalen Diskurs dominieren.Footnote 32 Interessant ist in diesem Zusammenhang wiederum das Auftreten hyperkultureller Elemente im Sinne eines ‚nehmt das Gute‘ (s. o.). Gleichzeitig werden aber auch demokratische Pflichten betont sowie die gesamtgesellschaftliche Bedeutung eines transkulturellen Konsensus als Funktionsbedingung des Zusammenlebens.

Der staatsnationale Trend setzt sich in den konsensanalytischen Ergebnissen fort (siehe Tabelle 5.4). So betrachten 68,09 % der Teilnehmenden Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe (Aussage Nr. 18). Nur 6,38 % stimmen hingegen der ethnonationalen Lesart zu, dass Integration alleinige Aufgabe der Migrant_innen sei (Aussage Nr. 19). Zwar gehen insgesamt 48,94 % der Befragten davon aus, dass Integration eine gewisse ‚Anpassung‘ an die ‚deutsche Lebensart‘ erfordere (Aussage Nr. 17), da diese Aussage jedoch nicht zwingend kulturassimilativ ausgelegt werden muss (und durchaus auch im Sinne eines transkulturellen Konsenses gedeutet werden kann) ist dies kein notwendiger Hinweis auf eine ethnonationale Haltung.

Tabelle 5.4 Integration

Einbürgerung

Angesichts einer mehrheitlich staatsnationalen Tendenz bei der Definition von Integration als Teilhabe, mag es überraschen, dass die Expert_innen des TGH-Lotsenprojektes den Akt der Einbürgerung als Abschluss von Integration und nicht etwa als deren logische Voraussetzung sehen. Dieser Umstand liegt sicherlich zum einen darin begründet, dass die Mitwirkenden der Einbürgerungsinitiative von Amts wegen eher mit jenem Teil der Integration befasst sind, der zur Einbürgerung hinführt und der außerdem mehrheitlich aus einseitigen (Vor-)Leistungen der Migrant_innen besteht. Für die Betroffenen ist es oftmals ein weiter Weg, bis ihnen die Einbürgerung bewilligt wird, nicht selten geprägt von Rückschlägen und Ängsten. Der erfolgreiche Abschluss der Einbürgerung steht für die Expert_innen (die diesen Prozess überdies zumeist selbst durchlaufen haben) im Vordergrund. Der weitere Verlauf der Integration nach der Einbürgerung – nämlich die Nutzung der neuen Rechte und das Selbstverständnis als deutsche/r Staatsbürger_in – spielt im Handlungsfeld des Lotsenprojektes aus rein praktischen Gründen eine eher untergeordnete Rolle. Hier fehlen wohl oft auch einfach die erforderlichen Einblicke. Zum anderen muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Aufspaltung des Integrationsbegriffs, wie die untenstehenden Zitate sie implizieren, in ähnlicher Form auch bereits im massenmedial vermittelten Diskursfeld zu beobachten war. Auch der staatsnationale Diskurs räumt den einseitig erbrachten Integrationsleistungen der Migrant_innen einen hohen Stellenwert ein – obwohl er Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Einbürgerung als deren Voraussetzung begreift.Footnote 34 Vor diesem Hintergrund liegt der Schluss nahe, dass die Sichtweise der Befragten in erheblicher Weise durch den Antagonismus geprägt ist, der schon im massenmedial vermittelten Diskursfeld für gewisse Inkonsistenzen des staatsnationalen Diskurses verantwortlich gemacht werden konnte. Die starke Präsenz ethnonationaler Fremdzuschreibungen, die Migrant_innen als ‚integrationsunwillig‘ oder ‚integrationsunfähig‘ charakterisieren (und die u. a. auch in vielen der weiter oben abgedruckten Zitate angeklungen sind), führt – so die These dieser Arbeit – im Bewusstsein der Interviewten zu einem zweigeteilten Integrationsbegriff: Einerseits wird Integration (in Abgrenzung zum ethnonationalen Diskurs) als Teilhabe und gesamtgesellschaftlicher Auftrag definiert, andererseits werden Migrant_innen (wiederum in Abgrenzung zum ethnonationalen Diskurs) als ‚gute Migrant_innen‘ gefasst, die in erheblichem Maße mit ihren Integrationsbemühungen in Vorleistung gehen und dafür entsprechend gewürdigt werden müssen. Die nachfolgenden Zitate zeigen, dass diese Deutung v. a. deshalb Macht entfalten kann, weil sie in besonderem Maße mit dem persönlichen Erfahrungsspektrum der Befragten korrespondiert:

[Frage: Was halten Sie von den Hamburger Einbürgerungsfeiern?]

„Finde ich auch sehr, sehr wichtig, weil, äh, für die Individuen, die sich einbürgern lassen, ist das ja, äh, ein großer, großer Schritt. Also, eine neue Staatsbürgerschaft anzunehmen, sich einem neuen Land, sag ich mal so, zuzusprechen […]. Und deshalb find ich’s wichtig, dass das, äh, gewürdigt wird, sag ich mal, und dass das auch so gefeiert wird, weil das für die Leute dann wirklich, vielleicht sogar ein neuer Lebensabschnitt ist. […] Ich find das auch sehr, sehr wichtig, dass die sich, ähm, schick anziehen können, dahingehen können […] und, äh, dann feiern können, dass sie diesen langen, langen Prozess geschafft haben und jetzt einen deutschen Pass haben.“Footnote 35

[Frage: Aus welchen Gründen beantragen Menschen die Einbürgerung?]

„Das Erreichen dieses Zieles, sehen viele Leute auch […] als die Auszahlung für das, was sie bisher durchgemacht haben. […] Also mit der Ausländerbehörde ist da ja nicht zu spaßen, ne? […] Ja, haben sich das erarbeitet, ne? Genau. Und sie sind auch sehr erleichtert, wenn sie da rausgehen mit der Urkunde. Aber ich muss auch sagen, die leben auch in sehr viel Angst bis sie die Urkunde haben. Weil irgendetwas könnte schiefgehen. Der Sachbearbeiter mag mich nicht oder… irgendwas.“Footnote 36

[Frage: Was für Rückmeldungen bekommen Sie von Menschen, die erfolgreich eingebürgert wurden?]

Ich bekomme davon mehr von Facebook, diese Google, zum Beispiel. Eigentlich sehr positive Rückmeldungen. Viele Leute freuen sich. Äh, ich glaube die meisten sind sehr stolz, dass sie das geschafft haben, ich treffe die Leute auch bei die Einbürgerungsfeier, auch Leute, die ich nicht wusste, dass sie eine Einbürgerung beantragt haben: „Oh bist du hier, schön.“ – Und sie sind immer so sehr glücklich. Sehr positiv. Manchmal finde ich es ein bisschen bescheuert, aber… viele Leute machen das so ein bisschen mehr: „Oh, ich habe das geschafft.“ […] Sehr, sehr viele Leute, diese rechts-orientierte Leute, die meinen, dass alles, sie schaffen alles von selber […]. Aber ich glaube, alle freuen sich, ne? Dass sie angenommen werden, dass sie auch ein Teil auch von die Gesellschaft sein können, ne? […] Aber das sind verschiedene Erfahrungen, ne? Auch wenn man hierhergekommen ist, weil man geheiratet hat oder zur Arbeit oder angefangen hat zu studieren und jemand hier getroffen hat, das ist, ne, wenn man eine Freundeskreis gemacht hat, das ist ja ziemlich schön, ne?“Footnote 37

[Frage: Aus welchen Gründen haben Sie sich für eine Einbürgerung entschieden?]

„Also, ähm, ich bin schon fast seit vier, acht Jahren hier in Deutschland. Und meine Frau hat sich, äh, vor unserer Heirat schon eingebürgert und deswegen konnte ich auch so nach Deutschland kommen. Und als meine Kinder geboren wurden, waren sie deutsch beide, und dann war ich sozusagen der einzige Ausländer. […] Und, äh, für mich ist auch so, die Einbürgerung so wie die letzte Stufe in der, in diesem Prozess von Integration, ne? […] Und für alle Vorteile, die man hat, wenn man, äh, sich einbürgern lässt, ne? Und ich musste auch nicht so viel denken, weil ich auch meine ecuadorianische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben sollte, musste.“Footnote 38

[Frage: Warum engagieren Sie sich für das Thema Einbürgerung?]

„Man wird irgendwie, man bekommt ja Gefühl: „Ich bin hier wie in der Heimat. Ich fühle mich wohl, ich fühle mich hier als Bürger, habe ja gleiche Rechte.“ – Das ist so Anerkennungsgefühl. Was man hier schon geleistet hat, erreicht hat.“Footnote 39

An den Zitaten lässt sich ablesen, dass die Einbürgerung für die Befragten gleichermaßen ein Abschluss, wie auch ein Auftakt ist – ein Abschluss für das Leben als Ausländer_in, ein Abschluss der Integrationsleistungen, die seitens der Migrant_innen bis dahin erbracht werden mussten und ein Abschluss der Diskriminierung die im Vorfeld vielleicht erlebt wurde. Andererseits ist die Einbürgerung aber auch ein Auftakt für das Leben als gleichberechtigte/r Staatsbürger_in und ‚vollständiges‘ Mitglied der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang spielen die persönlichen Einblicke der Befragten, ihre spezifische Rolle im Dispositiv sowie ihre individuellen Erlebnisse eine herausragende Rolle. Ihre persönliche Betroffenheit erzeugt in besonderem Maße emotionale Betroffenheit. Die diskursive Subjektposition des/der ‚guten Migrant_in‘ gewinnt in diesem Kontext eklatant an Einfluss. Die allgegenwärtige Bedrohung durch den ethnonationalen Diskurs, dessen assimilativen Integrationsanspruch und das darunterliegende kulturfundamentalistisch-rassistische Weltbild, machen das positive Identitätsangebot des staatsnationalen Diskurses umso wichtiger, lassen es umso ‚richtiger‘ und bedeutsamer erscheinen. Wiederum wird die wechselseitige Dynamik aus Macht, Wissen und Emotion im Kontext der antagonistischen Konstitution von Identität offenbar – und wiederum hängt diese Dynamik sehr eng mit der Polysemie der gesellschaftlichen Grundbegriffe zusammen, wie sie die Debatte (mit all ihren widersprüchlichen Facetten) strukturieren. Die gesellschaftliche Konzeption von Begriffen wie Integration, Kultur, Nation und Identität hat für das einzelne Individuum geradezu existenzielle Konsequenzen. Diskursive Wirklichkeiten sind nicht bloß ein kognitives Konstrukt. Sie üben Macht aus. Sie definieren Wahrheit. Sie prägen das Denken. Sie leiten das Handeln an. Sie nehmen Einfluss auf den menschlichen Körper. Sie erschaffen Objekte. Sie erschaffen Subjekte. Kurzum: Sie konstituieren Realität. Die Situationen, mit denen einige der Befragten (oder deren Klient_innen) in ihrem Alltag konfrontiert worden sind, und die sie in den obigen Zitaten beschrieben haben – die bürokratischen Hürden, die gesetzlichen Bestimmungen, die etwaigen Rassismen, die Diskriminierungen, die Missverständnisse, die emotionalen Verletzungen (und die Art und Weise, wie sie jeweils empfunden werden) – sind letzten Endes immanenter Teil der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Verteidigung der (eigenen) rationalen Ordnung (und damit letztlich auch der eigenen Identität) in vielen Fällen so heftig und so emotional gerät. Es geht nicht nur um den rein psychologischen Prozess des sich Zurechtfindens in der Welt. Es geht um die ganze Welt als solche. Es geht um die sehr spezifische Art und Weise, wie diese Welt sich (physisch) auf den Menschen auswirkt, welches Leben sie ermöglicht – und welches Leben sie gegebenenfalls auch verwehrt.

Während die Aussagen der Expert_innen auf einen zweigeteilten Integrationsbegriff schließen lassen, der dem ethnonationalen Diskurs widerspricht, obwohl (oder vielmehr indem) er sich einzelne seiner Bausteine kreativ aneignet, zeichnen die Ergebnisse der quantitativen Befragung kein solch klares Bild. Tabelle 5.4 zeigt, dass die Umfrageteilnehmenden – analog zu den Expert_innen – mehrheitlich einen staatsnationalen, demokratisch orientierten Integrationsbegriff teilen. Ebenfalls analog zu den Expert_innen weichen sie, wie Tabelle 5.5 offenbart, jedoch in puncto Einbürgerung wenigstens teilweise von der staatsnationalen Linie ab.

Tabelle 5.5 Einbürgerung

Aussage Nr. 21 stellt folgende ethnonationale These auf

„Erst wenn Integration von den Migranten vollständig geleistet und vom Staat sorgfältig überprüft wurde, darf sie mit der Einbürgerung belohnt werden.“

Aussage Nr. 22 widerspricht aus staatsnationaler Sicht und betont hingegen die zentrale Bedeutung von vollumfänglicher demokratischer Teilhabe als Indikator für erfolgreich abgeschlossene Integration:

„Weil erfolgreiche Integration bedeutet, dass alle Menschen in Deutschland gleiche Rechte haben müssen, ist Integration ohne die Einbürgerung nicht vollständig abgeschlossen. (Denn gleiche Rechte bekommt man nur durch die Einbürgerung.)“

Insgesamt 53,19 % der Teilnehmenden stimmten Aussage Nr. 21 zu. Im Gegensatz dazu erhielt Aussage Nr. 22 lediglich 38,30 % der Stimmen. 42,55 % der Befragten lehnten Aussage Nr. 22 sogar aktiv ab. Deutsche qua Geburt und Menschen mit Migrationshintergrund unterschieden sich in ihrem Antwortverhalten kaum voneinander. Hier setzt sich also ganz offensichtlich eine ethnonationale Erzählung durch, welche die Einbürgerung als Endpunkt eines einseitigen, assimilativen Prozesses begreift. Mehrere Ursachen könnten diesbezüglich denkbar sein. So können ggf. Vorstellungen von sozialer ErwünschtheitFootnote 40 dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Befragten (die größtenteils selbst einen sogenannten Migrationshintergrund aufweisen) sich für die ethnonationale Antwortoption entscheiden – und damit zugleich der ethnonationalen Zuschreibung pauschaler ‚Integrationsunwilligkeit‘ sowie dem vielfach gegen die Hamburger Initiative erhobenen Vorwurf der unlauteren ‚Einbürgerungserleichterung‘ widersprechen. Andersherum könnte die Ursache aber auch darin begründet liegen, dass das staatsnationale Integrationsmodell ein von Eliten propagiertes und (verglichen mit den historisch dominanten assimilativen VorstellungenFootnote 41) relativ neues Konzept ist, dass es sich im Bewusstsein der Befragten also noch nicht ausreichend verankern konnte und diese daher (unbewusst) in ‚klassische‘ (ethnonationale) Modelle ‚hinübergleiten‘. Aus dieser Perspektive erscheint die Aussage, Integration sei erst mit der Einbürgerung abgeschlossen, dann wohlmöglich gar als unzulässige Negation aller (einseitigen) ‚Vorleistungen‘, die seitens der Migrant_innen (unabhängig vom Faktor Einbürgerung) erbracht werden und die (in Übereinstimmung mit dem zweigeteilten Integrationsbegriff des staatsnationalen Diskurses) angemessen gewürdigt werden müssen. Eine solche Negation wäre ein Angriff auf die Wirklichkeit, die – das haben die obigen Interviewausschnitte gezeigt – viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland erleben und die für sie insofern genauso real ist, wie die Wirklichkeit der – ebenso persönlich empfundenen – staatsnationalen Narration von den ‚guten Migrant_innen‘, die auf demokratische Weise in den deutschen Staat integriert werden müssen. Dementgegen wäre überdies natürlich auch denkbar, dass die Befragten im Hinblick auf Rolle und Funktion der Einbürgerung bewusst und ‚aufrichtig‘ den ethnonationalen Standpunkt teilen, indem sie ihre Antwort auf die Annahme gründen, dass es tatsächlich viele ‚schlechte Migrant_innen‘ in Deutschland gibt, die man im Prozess der Einbürgerung aussieben muss. Auch wenn man aufgrund ihrer spezifischen sozialen Position und ihrer ‚Interessenlage‘ eher davon ausgehen müsste, dass die Umfrageteilnehmenden mehrheitlich einer staatsnationalen Sichtweise zuneigen (was bei der sonstigen Ausgestaltung des Integrationsbegriffs auch sehr wohl der Fall ist), ist diese Option durchaus nicht unrealistisch (zumal ja auch viele der Befragten ganz offensichtlich annehmen, dass Taxonomien kultureller Fremdheit maßgeblich für den Integrationserfolg mitverantwortlich sind).

Eine abschließende Antwort kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Wohl aber lässt sich festhalten, dass die Polysemie der diskursiven Grundbegriffe wesentlich dazu beiträgt, dass einzelne Deutungsmuster in den subjektiven Sinnwelten ihrer Adressat_innen Macht entfalten können – und zwar selbst dann, wenn sie vom ‚roten Faden‘ ihrer diskursiven Narration entkoppelt sind. Durch die ständige Präsenz der dominanten Deutungspartikel in der kollektiv konstruierten gesellschaftlichen Sinnwelt (so z. B. die Präsenz der Subjektklassen des/der ‚schlechten Migrant_in‘ bzw. des/der ‚echten Deutschen‘) werden diese zu einem unhinterfragbaren Bestandteil der rationalen Ordnung – ganz im Sinne der bourdieu’schen Doxa, allerdings ohne deren hierarchische Herrschaftskonnotation.Footnote 42 Denkt man diesen Gedanken zu Ende, dann prägen sich diskursive Deutungsmuster ihren Rezipient_innen nicht etwa aufgrund ihrer unwiderlegbaren Logik ein, sondern eher aufgrund ihrer ständigen Wiederholung und der damit einhergehenden Naturalisierung – wenn man so will, ihrer Einverleibung nach Bourdieu.Footnote 43 Denkbar ist deshalb, dass einzelne Deutungselemente quasi-automatisch reproduziert werden, ohne dass sie untereinander logischen Bezug aufnehmen müssten. Der daraus entstehende Widerspruch bleibt unentdeckt, weil unbeleuchtet. Diskursive Deutungsmuster erlangen – so die These – durch HabitualisierungFootnote 44 Faktizität und Geltung. Sie generieren Sinn, ohne dabei zwingend Sinn ergeben zu müssen.

Gründe

Die Expert_innen des TGH-Lotsenprojektes wurden weiterführend auch zu den Beweggründen befragt, die Ausländer_innen dazu veranlassen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Sehr häufig wurden daraufhin pragmatische oder sachliche Gründe angebracht – z. B. Aufenthaltssicherheit, Reisefreiheit, Schutz durch den deutschen Staat im Ausland, Wahlrecht und allgemeine rechtliche Gleichstellung. Diese pragmatischen Einbürgerungsmotive wurden durchweg von allen Befragten als legitim anerkannt. Dem Opportunismusverdacht des ethnonationalen Diskurses wurde dezidiert widersprochen. Darüber hinaus wurden aber häufig auch emotionale Gründe angeführt, allen voran der Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung sowie die persönliche Identifikation mit Deutschland. Die Expert_innen gehen demnach davon aus, dass pragmatische und emotionale Motive in den allermeisten Fällen miteinander verkoppelt sind. Nur sehr selten werde eine Einbürgerung ohne jede emotionale Motivation angestrebt. In dieser Hinsicht scheinen sich die individuellen Erfahrungswerte mit den Integrationserwartungen des staatsnationalen Diskurses zu decken:

[Frage: Aus welchen Gründen beantragen Menschen die Einbürgerung?]

„Also, meine Eltern haben sich eingebürgert. Damals gab es mich noch nicht, deswegen weiß ich nicht so viel darüber. […] Bei meinen Eltern war es halt so, die kommen halt ursprünglich aus Afghanistan […], und bei denen war es halt einfach die Sicherheit, die Deutschland bietet, weil man halt auf gar keinen Fall zurückmöchte. […] Und, ähm, also, für meinen Vater vor allem war’s sehr, sehr wichtig, ähm, dieses Zugehörigkeitsgefühl zu haben und sich nicht fremd zu fühlen. […] Auch wenn er halt nicht gerade deutsch aussieht, sieht er sich selber als eher deutsch.“Footnote 45

[Frage: Aus welchen Gründen haben Sie sich für eine Einbürgerung entschieden?]

„Weil ich mich hier zuhause fühle. Und weil es für mich der Kampf bis zur Aufenthaltserlaubnis ein sehr langwieriger und schwieriger Kampf war, nicht nur für mich auch für meine ganze Familie. Und man ist doch, egal wie lange man hier lebt, finde ich, sogar mit Aufenthaltserlaubnis […], auch mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, was man heutzutage ja als Niederlassungserlaubnis bezeichnet, finde ich, dass man trotzdem sehr unsicher lebt. Weil […] bei vielen Sachen, ob verschuldet oder unverschuldet, die noch weggenommen werden kann. […] Ich wollte damals auch heiraten und es war auch viel einfacher als deutsche Studentin, dann den Ehemann einfliegen zu lassen aus dem Ausland. Das war viel einfacher. Das war der praktische Grund, um in dem Moment zu sagen: „Jetzt möchte ich.“ – Aber an sich spielen schon andere Argumente eine viel gewichtigere Rolle, für mich, für mich persönlich. […] Auch dieses Unsicherheitsgefühl, man kann mir jederzeit meinen Aufenthalt wegnehmen, obwohl ich hier zuhause bin.“Footnote 46

[Frage: Aus welchen Gründen beantragen Menschen die Einbürgerung?]

„Erstens wegen der Sicherheit. Ganz klar. Weil als Deutscher ist man weltweit glaub‘ ich ganz gut unterwegs, als nur als Pakistani, finde ich zum Beispiel. Ich fühle mich viel sicherer, seit ich den deutschen Pass habe. Trete auch gegenüber anderen Ländern viel sicherer auch auf […]. Wenn ich in Spanien bin, Polizei oder so. Ich bin Deutsche. Ich bin auch stolz, Deutsche zu sein.“Footnote 47

[Frage: Manche Leute sagen, es ist falsch sich aus rein pragmatischen Gründen einbürgern zu lassen, ohne jede emotionale Identifikation. Was halten Sie davon?]

„Nein, warum denn? Wenn ich sage: „Ich möchte […] mich einbürgern lassen, weil ich dann mich sicherer fühle, ist das doch auch ein Gefühl, was für mich, was mir sagt, als Deutsche bin ich sicherer, reise ich sicherer.“ – Das ist doch überhaupt nicht das Problem. Es ist völlig in Ordnung, wenn jemand aus pragmatischen Gründen sich einbürgern lässt. Weil das… es gibt ja pragmatische Gründe. Es sollte diese pragmatischen Gründe dann nicht geben. Warum setzt man denn diese ganzen Vorteile, die man daraus hat? Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch nutzt natürlich seine Vorteile. Ich hab‘ ja auch damals […], emotional war ich soweit, dass ich eingebürgert werden konnte, wollte auch, aber dadurch, dass ich den Familiennachzug hatte […], war es nur […] der Auslöser. Heißt aber nicht, dass ich aus Überzeugung keine Deutsche wär‘. Also das find ich unsinnig eigentlich.“Footnote 48

[Frage: Manche Leute sagen, es ist falsch sich aus rein pragmatischen Gründen einbürgern zu lassen, ohne jede emotionale Identifikation. Was halten Sie davon?]

„Das macht niemand. Das ist ein Irrglaube. […] Also es sei denn, jemand ist politisch verfolgt und weiß, es geht um sein Leben. Aber so berechnend, ja? Da krieg ich eine Gänsehaut. Da krieg ich wirklich eine Gänsehaut. Was, was, also, was setzt man da für einen, einen Gedankenprozess voraus bei jemandem? Der sagt: „Ich mach das nur, damit ich hier mal irgendwann von Hartz 4 leben kann.“ – Wer will das denn? […] Und ich sag das nochmal: Wenn man in der Türkei ist und die Türken hier erlebt, die dann da mal im Urlaub hinfahren, wie die sich benehmen, die werden gar nicht als Türken wahrgenommen. Sondern da sagt man: „Du bist schon längst so deutsch, deutscher geht’s gar nicht.“ – Und ich hab‘ selber auch, als ich noch die türkische Staatsbürgerschaft hatte, weil die Gesetzgebung das einfach nicht erlaubt, dass ich meine abgebe und die deutsche bekomme, hab ich, also, um mich als Deutsche zu identifizieren, war ich bei der deutschen Bank, bei der deutschen Angestelltenkrankenkasse, ähm, ich hab mein Konto bei der deutschen Bank gemacht, […] weil ich dachte, vielleicht bekomme ich so endlich dieses Gefühl, dass diese Sehnsucht gestillt wird. […] Also ich hätte das [die Einbürgerung] von Anfang an sofort gemacht, sofort, wenn ich das gekonnt hätte. Sofort. Aber die Gesetzeslage hat das damals überhaupt gar nicht erlaubt.“Footnote 49

[Frage: Aus welchen Gründen haben Sie sich für eine Einbürgerung entschieden?]

„Ja, von den Gründen, was mir als erstes einfällt, ist die Erleichterung des Aufenthalts hier. Äh, aber auch, ähm, die Erleichterung meiner Reisen in andere Länder, da mit dem deutschen Pass man hat es mehr so leichter als mit dem iranischen Pass. Aber auch, dass hier sich ein bisschen so, naja auf deutsche, Deutschland, Deutschland und auf deutsche Gesellschaft ein bisschen noch fester fühlt. Dass ich gehöre zu dieser und ich bin Teil dieser Gesellschaft und, und, äh, … ja, vielleicht auch, ähm, dadurch bekommt man einige, ähm, Vorteile, [,,,] praktische Vorteile.“Footnote 50

[Frage: Was hat sich für Sie durch die Einbürgerung verändert?]

„Also bis jetzt, äh, ich möchte nächste Woche zum Beispiel meinen Bruder in Irland besuchen und dafür müsste ich so ein Visum beantragen und eigentlich habe ich so lange darauf gewartet, bis ich die Einbürgerung habe, um sie zu besuchen. Also ich wollte nicht zum Konsulat gehen, Visum beantragen, Zeit und Geld und deswegen, äh, nächste Woche kann ich als Deutscher ohne Probleme dahingehen. […] Und sonst, also, nicht viel. Nur wenn ich, wenn jemand meinen Ausweis sehen möchte, dann habe ich den deutschen Ausweis und ich, irgendwie ist das ein anderes Gefühl.

[…] Ein gutes Gefühl, auf jeden Fall. […] Und dass man nicht mehr so Ausländer… also offiziell.“Footnote 51

[Frage: Aus welchen Gründen beantragen Menschen die Einbürgerung?]

„Ja, also so dieses, die Reisefreiheit ist für viele sehr wichtig. Auch Übersee zu fahren, ähm, weil es gibt halt viele Iraner, bzw. auch viele Afghanen, die einfach in, ähm, Amerika, Kanada und so Verwandte haben. Ähm, für die Iraner, bzw. für die Afghanen ist es halt so, ähm, sowieso klar, dass die nicht zurückreisen werden, jemals mehr. Und das ist für die schon auch eine große Anerkennung, ne? V.a. für die Afghanen ist es schon so. Für die Iraner ist es eher so Reisefreiheit, ähm, und diese Dazugehörigkeit, das wollen die auch immer. Und dann auch die ganzen Akademiker natürlich, wenn sie sich niederlassen usw., als Ärzte ist das für die wichtig.“Footnote 52

Außer den Beweggründen für eine Einbürgerung wurden in den Interviews auch Gründe genannt, die potenziell gegen eine Einbürgerung sprechen könnten. Während beide dominanten Diskurse letztlich auf die eine oder andere Art davon ausgehen, dass es seitens der Migrant_innen keine wirklich legitimen Gründe gibt, die einer Einbürgerung langfristig im Wege stehen (und ihrerseits nicht auf mangelnde Information oder zu hohe Einbürgerungshürden zurückzuführen sind), erkennen die Expert_innen durchaus an, dass es sachliche Gründe geben kann, die eine Einbürgerung für den oder die Einzelne (berechtigterweise) unattraktiv machen – so z. B. wenn durch den Wechsel der Staatsangehörigkeit Rentenbezüge oder Erbrechte im Herkunftsland gefährdet sind oder wenn den sprachlichen Anforderungen der Einbürgerung aus verschiedenen Gründen (und trotz angemessener Bemühungen) nicht entsprochen werden kann. Hier weicht die Haltung der Expert_innen also deutlich von der (nationalistischen) Linie des offiziellen Diskurses ab. Dies deckt sich überdies mit den Ergebnissen der quantitativen Online-Befragung, wie Tabelle 5.6 sie zusammenfasst. Auch die meisten Umfrageteilnehmenden halten pragmatische und emotionale Gründe für gleichermaßen angemessen – und immerhin 44,68 % der Befragten sind der Ansicht, dass es u. U. gewisse Gründe gibt, die einer Einbürgerung legitimerweise widersprechen (Aussage Nr. 27).

Tabelle 5.6 Gründe

Hürden

Bei ihrer Bewertung der Einbürgerungsgründe bewegen sich die Expert_innen weitgehend auf einer Wellenlänge mit dem staatsnationalen Diskurs. Bei ihrer Bewertung der Einbürgerungshürden kommt es hingegen zu einer interessanten Abweichung. Zwar werden die Hürden im Einbürgerungsprozess in der Regel nicht als zu niedrig, genauso wenig aber auch als pauschal zu hoch bewertet. Im Allgemeinen wird viel eher die Angemessenheit der Hürden betont. Zugleich verweisen die Befragten auf einzelne Standards, die ggf. überarbeitet werden müssten:

[Frage: Wie bewerten Sie die Hürden im Einbürgerungsprozess?]

„Wie gesagt, das mit dem B1, das ist schon nicht so ganz einfach. Viele sprechen auch gut, ja? Bei denen, also, der Test ist dann ja auch gestaffelt in Hörverständnis, sprechen und Grammatik und dann scheitert’s an dieser Grammatik. Und, ähm, das ist halt nicht so ganz einfach. […] Ich würd‘ schon sagen, […] es ist möglich und es ist auch nicht, also… Man muss das mal aus der Perspektive der Menschen natürlich sehen. Wenn jemand mit fünfzig erst hierher migriert ist, ähm, dann ist das vielleicht für denjenigen eine Sprache zu lernen schon nicht ganz einfach, ja? Wenn das jetzt vielleicht jemand ist, der in seinem Heimatland Akademiker war, für den das relativ einfach ist, hier auf dieses B1 zu kommen, dann… ne? So. Für den einen ist es halt eine super große Hürde, für den anderen ist es halt: „Ach, das B1.“ – Der schafft vielleicht auch B2 oder C-Niveau. Und insofern, ähm, ist es schwierig das zu beurteilen. Ja, für mich ist es kein Problem […] und für diejenigen, die natürlich hier zur Schule gegangen sind, irgendwie, sozialisiert sind, für den ist das kein Problem, ja? Ähm, deswegen ist das für mich eine schwierige Frage zu beantworten. […]. Man muss sich halt auch überlegen: Macht es Sinn jetzt diesen Einbürgerungstest… Das ist ja eigentlich, wenn man gut auswendig lernen kann, dann, die Fragen sind alle im Internet, ne? Wenn es um Fragen zu Geschichte, Politik und wo kann man seinen Hund anmelden, solche Fragen kommen dann dran. Kann man sich natürlich […] überlegen, ob das wirklich irgendwie Sinn macht. Also das ist jetzt auch nicht so teuer, der Einbürgerungstest, 25 Euro… ja. Man muss das immer so ein bisschen sportlich sehen, aber ob das dann wirklich viel bringt, weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich sollen das auch so ein paar, es soll ja halt nicht verschenkt werden, ne? Wahrscheinlich. Für jemanden, der […] zur Schule geht hier, der wirtschaftlich integriert ist, ist das kein Problem. […] Eine alleinerziehende Mutter, die vielleicht noch arbeitet, wann soll die es […] schaffen, solche Dinge halt in Angriff zu nehmen?“Footnote 53

[Frage: Wie bewerten Sie die Hürden im Einbürgerungsprozess?]

„Also ich find‘ zum Beispiel diesen, äh, diese bestimmte Zeit, die man hier gewesen sein muss, sehr sinnvoll, weil man ja für sich auch einfach entscheiden will: „Möchte ich hier dazugehören?“ – Also dieses Zusammengehörigkeitsgefühl irgendwo auch. Und, ähm, ich find‘ aber… ja, das mit den Leistungen, zum Beispiel, in individuellen Fällen. Ich hab‘ das irgendwann mal mitbekommen, dass ein Vater alleinerziehend war und, ähm, sich und seine Kinder einbürgern wollte und aber Leistungen bezogen hat, weil er halt alleinerziehend war mit kleinen Kindern. Und das finde ich ist dann so – ich weiß jetzt nicht genau, ob das dann ne Ermessenseinbürgerung wurde oder nicht – aber das wär‘ für mich so ein Fall, wo ich die Regeln nicht so gut finde.“Footnote 54

[Frage: Wie bewerten Sie die Hürden im Einbürgerungsprozess?]

„Die Bedingungen sind, äh, okay, finde ich okay. […] Erste Bedingung, äh, Aufenthaltszeiten, es gibt eine Regelung acht Jahre, aber es gibt auch Ausnahmen. Wenn man Integrationskurs macht, oder besondere Leistung macht im sozialen Bereich, dann verkürzt ja das auf sechs Jahre schon. […] Ich finde sehr gut, weil viele nutzen diesen Bereich, und das ist auch, äh, für jeden möglich, wenn man einfach B2 macht statt B1-Prüfung abgibt […]. Und sechs Jahre ist ja genug Zeit hier etwas zu finden, das Gefühl bekommen, ich fühle mich wohl oder nicht. […] Ich finde Einbürgerungstest ein bisschen, ähm, ja, nicht bis zum Ende durchgearbeitet. Also es gibt auch Fragen, die auch Deutsche nicht antworten können. Wir haben einen Test gemacht, Altonale, hier, jedes Jahr gibt es sowas, und haben nur deutschsprachige Leute, die hier geboren sind, angeboten die Fragen zu beantworten. Und wenn die eine Frage nicht beantworten, die geben die deutsche Staatsbürgerschaft ab, direkt bei uns. Das war sehr lustig und das war auch schwierig für den, sage ich schon. Und das finde ich nicht so, ähm, okay, wenn man da so schwierige Fragen hat, aber okay. Andererseits, es gibt kaum Leute, die da nicht bestehen. […] Und dann gibt es natürlich Ausnahmen für Kinder, äh, unter 14, unter 16 Jahre alt, die machen sowieso Schulabschluss. Und für ältere Menschen über 65 Jahren, die brauchen auch das nicht machen. […] Test und B1. […] Und deswegen finde ich schon okay. Alles andere ist machbar. Und viele machen auch hier Ausbildung, das ist auch gleich wie B1. […] Weil für meine Community, meine Community es ist ja hochausgebildete Leute. Also meistens. Es ist natürlich, diese Frage richtet sich mehr für die Länder, die da mit der Schule Probleme haben, das Schulsystem. Die haben, die hatten keine Möglichkeit Alphabet oder Schreiben oder Lesen zu lernen. Das ist natürlich diese Frage.“Footnote 55

Ein Punkt, der von nahezu allen Befragten kritisiert wurde, ist das Gebot zur Vermeidung von Mehrstaatigkeit und das daraus resultierende Erfordernis, für eine Einbürgerung die bisherige Staatsangehörigkeit abzulegen (sofern jedenfalls keine länderspezifische Ausnahmeregelung deren Beibehaltung erlaubt). Dieses Thema soll an späterer Stelle noch ausführlicher behandelt werden. Vorerst ist anzumerken, dass die Expert_innen hinsichtlich der Hürden im Einbürgerungsprozess keineswegs eins zu eins den offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurs reproduzieren, sondern – vermittelt durch ihre eigene Erfahrung im Handlungsfeld Einbürgerung – dessen Deutungen transformieren, bzw. dezidiert anders einordnen und wesentlich weiter ausdifferenzieren. Hier zeigt sich ein erheblicher Unterschied zwischen der massenmedial vermittelten Debatte einerseits – in deren umkämpfter Arena die Sprecher_innen mit strategischen Mitteln um Deutungshoheit ringen und einzelne Aussagen überdies vom subjektiven Kontext ihrer ‚Ursprungssinnwelten‘ entkoppelt sind – sowie den subjektiven Sinnwelten der individuellen Akteur_innen andererseits, die sich (zumindest soweit es hier beobachtbar ist) aufgrund der ständigen Notwendigkeit zur Wahl und zur Vermittlung deutlich weniger im Bereich der Extreme bewegen. Die Komplexität des individuellen Lebensalltags mit seinen konkurrierenden Wirklichkeiten verlangt den Handelnden ein hohes Maß an Differenziertheit ab, während die massenmedialen Diskurse – da weitgehend von diesem Lebensalltag entkoppelt – mehr oder weniger uneingeschränkt ihre eigenen Wirklichkeitssphären konstruieren können.

In ganz ähnlicher Weise wie die Expert_innen des Lotsenprojekts vermitteln auch die Teilnehmenden der Konsensanalyse im Hinblick auf das Thema Hürden zwischen verschiedenen Perspektiven – teils ethnonationalen, teils staatsnationalen. Tabelle 5.7 zeigt, dass 38,30 % der Befragten die Hürden im Einbürgerungsprozess für angemessen halten (Aussage Nr. 31). Nur 17,02 % halten sie für zu hoch (Aussage Nr. 29), weitere 19,15 % halten sie für zu niedrig (Aussage Nr. 30). Immerhin 38,30 % sind der Auffassung, dass Deutschland als Einwanderungsland sehr attraktiv sei und dass man deshalb gut aufpassen müsse, wen man hereinlässt und wen nicht. 42,55 % lehnen eine solche Haltung hingegen ab (Aussage Nr. 32). 51,06 % der Befragten sind der Meinung, dass die deutsche Integrationspolitik unfair sei und Migrant_innen aus manchen Ländern bevorzugt würden, während andere Benachteiligungen erführen (Aussage Nr. 33). Diese Aussage bezieht sich maßgeblich auf das Thema Mehrstaatigkeit, das – wie schon erwähnt – auch von den Expert_innen der TGH äußert kritisch erörtert wird (s. u.).

Tabelle 5.7 Hürden

Einbürgerungsinitiative

Da die Mitwirkenden des TGH-Lotsenprojektes zugleich auch Personal im Dispositiv der Hamburger Einbürgerungsinitiative sind, war davon auszugehen, dass ihre Bewertung der Initiative mehrheitlich positiv ausfallen würde – insbesondere da viele von ihnen sich freiwillig und auf ehrenamtlicher Basis im Projekt engagieren. Tatsächlich hat sich diese Vermutung in den Interviews durchweg bestätigt. Die Initiative und ihre einzelnen Elemente werden – aus der praktischen Erfahrung der Expert_innen heraus und aufgrund der Rückmeldungen, die diese jeweils von ihren Klient_innen erhalten – umfassend befürwortet. Besonders hervorgehoben werden dabei, neben dem Lotsenprojekt als solchem, v. a. die vom Ersten Bürgermeister Olaf Scholz getragene Briefkampagne sowie die offiziellen Einbürgerungsfeiern im Hamburger Rathaus, an denen viele der Befragten – ob ihrer Funktion im Lotsenprojekt – regelmäßig teilnehmen. Einige kritische Stimmen zu einzelnen Aspekten der Kampagne gibt es zwar durchaus auch, diese fallen jedoch – was das Gesamtbild angeht – kaum ins Gewicht. Die folgenden, ausgewählten Zitate geben einen beispielhaften Überblick über die allgemeine Stimmungslage:

[Frage: Was für Rückmeldungen bekommen Sie von Menschen, die erfolgreich eingebürgert wurden?]

„Das ist nicht die Bedingung, dass die sich dann nochmal bei uns… die unterschreiben jetzt nicht: „Ich muss mich dann da nochmal melden.“ – Ähm, aber viele machen das auch, auch in Form von, ne? Dann kommen sie hier mit Schokolade oder… also zeigen dann schon so ihre, ihre Dankbarkeit, wollen uns zu sich nachhause einladen, das hatten wir auch schon. Äh, da muss man dann halt immer so sagen: „Okay, das mach, ist unser Job, also, das ist selbstverständlich, dass wir das machen.“ – Hängt vielleicht auch damit zusammen, dass sie halt vorher vielleicht mal eher so schlechte Erfahrungen gemacht haben, ähm, vielleicht nicht auf Augenhöhe begegnet wurden und für uns ist das halt, wir machen halt hier ganz normal unsere Arbeit, halt im rechtlichen Rahmen, was möglich ist, und, ähm, dann sehen wir sie auch auf den Einbürgerungsfeiern. Das ist immer das schönste, wenn sie dann auch dabei sind…“Footnote 57

[Frage: Was haben Sie in Bezug auf die Hamburger Einbürgerungsinitiative für Erfahrungen gemacht?]

„Also wie gesagt, unser Beratungsangebot auf jeden Fall positiv. Ähm, da haben wir ja immer wieder, also wie gesagt, Anfragen, ähm, äh, zu verschiedensten Problemen, auch falsche Beratungen von Anwälten waren da schon, also wo die dann zu uns gekommen sind, und insofern ist das auf jeden Fall positiv. Jetzt so Gesamtkampagne, glaube ich das nehmen die Leute gar nicht so richtig wahr, also nicht so bewusst. Ne? Wenn ich manchmal frage: „Haben Sie das Plakat schon mal gesehen?“ – Sagen viele: „Mmh, nee, kennen wir nicht.“ – Und Einige: „Ja, haben wir schon mal gesehen.“ – Ähm, aber wenn natürlich dann jemand direkt diesen Brief bekommt, dann ist er ja bewusst betroffen davon. Das finden die eigentlich ganz gut. Insofern… und dass wir halt so ein kostenloses Beratungsangebot haben, finden die auch gut. Und äh, gewisse Dinge, wie zum Beispiel, dass die Verfahren schneller dauern, äh, schneller durchlaufen werden, man schneller Termine bekommt, das ist in jedem Fall positiv zu bewerten. Wenn ich mir so andere Bundesländer, wenn ich so manchmal höre, was mir die Menschen so erzählen, dass die ganz lange halt auf, um überhaupt einen Termin zu bekommen… Hier kann man ja zur Erstberatung sogar ohne Termin hingehen. Das ist schon mal auf jeden Fall positiv.“Footnote 58

[Frage: Was für Rückmeldungen bekommen Sie von Menschen, die erfolgreich eingebürgert wurden?]

„Also ich hab‘ nur dankende, also auch für das Lotsenprojekt, nur dankende Resonanz bekommen. […] Vor allem, dass es kostenlos ist, das ist für die Menschen auch sehr wichtig, weil eigentlich ist sowas ja sehr, sehr teuer, wenn man zum Anwalt geht. […] Ich hab‘ viele Freunde, die Anwälte sind, und die, bei denen liegt der Flyer aus, ne? Und da sagen sie auch: „Das ist kostenlos, geht dahin.“ – Wenn ein Anwalt denn menschlich ist, ne? Und nicht nur auf Geld aus.“Footnote 59

[Frage: Was haben Sie in Bezug auf die Hamburger Einbürgerungsinitiative für Erfahrungen gemacht?]

„…wir können niemanden zwingen, wenn er sich nicht einbürgern lassen möchte, weil er, aus irgendwelchen Gründen auch immer. Natürlich können wir niemanden zwingen. Wir sagen: „Hey Leute, das sind eure Vorteile, das sind eure Nachteile.“ – Entscheiden müssen die sich. Klar. Und das ist bei denen ganz gut angekommen. Da haben wir ja oft auch erstmal so eine Informationsveranstaltung, sozusagen. Da erzähl ich über das Projekt ein bisschen […] und dann kommen sie nachher noch einzeln, ne? Und viele wollen dann Visitenkarten gleich haben noch. Der Zuspruch ist enorm, richtig groß gewesen. Auch im Flüchtlingsheim. Die waren so dankbar dafür, dass sie das, dass sie diese Information alle bekommen haben, weil sie diese Ausnahmen nicht kennen und viele Leute halt abgewimmelt haben: „Leute, ihr seid nicht acht Jahre hier, deswegen könnt ihr nicht eingebürgert werden.“ – Aber als sie das gehört haben, dass z. B. Minderjährige Kinder sich selbst einbürgern können – mit der Zustimmung der Eltern natürlich – aber keinen Lebensunterhalt, den, den zusichern müssen. Das wussten sie nicht zum Beispiel. Und das war eine riesengroße, also das war schon wirklich gut.“Footnote 60

[Frage: Was halten Sie von der Briefkampagne des Ersten Bürgermeisterts?]

„Also, dass er persönlich das macht, finde ich super. Also das ist ja, zeigt ja sozusagen den Willen, dass mehr Ausländer Deutsche werden. Das finde ich, das Prinzip finde ich ganz gut, nur das Problem ist, dass wenn der Brief nachhause kommt, dass es so, das verwirrt viele. Also sodass, ähm, ja, dann kommen die Leute dann so an, so: „Ja wieso, der Bürgermeister hat mich doch angeschrieben, krieg ich jetzt den deutschen Pass?“ – Und wir so: „Äh, nein, ähm, du musst natürlich die Voraussetzungen erfüllen, um dann den deutschen Pass beantragen zu dürfen.“ – Und das verstehen viele nicht. Das ist dann so ein bisschen verwirrend.“Footnote 61

[Frage: Was halten Sie von den Hamburger Einbürgerungsfeiern?]

„Das zeigt ja auch den angehenden Deutschen, oder, die sind ja schon deutsch, wenn sie dahin kommen, erstens, dass sie willkommen sind, zweitens, wie wichtig es Hamburg ist, dass sie, dass sie sich einbürgern lassen, dass sie im Rathaus eingeladen werden, das ist keine Kleinigkeit, dass sie damit auch ernstgenommen werden, wichtig genommen werden und, dass sie als Deutsche anerkannt werden. Vor allem dieses ins Rathaus einladen, das ist, für viele Menschen ist das, ja, da sitzt der Bürgermeister drin, ne? […] Das Maß aller Dinge und die Hoheitsgewalt überhaupt und wenn man dahin eingeladen wird, das ist für die Menschen auch eine Anerkennung, für das, was sie bisher geleistet haben. Das bringt unser Bürgermeister ja auch genug zum Ausdruck. Und, ähm, ich finde das sehr angemessen und sehr klasse. […] Also ich kenne das nicht von anderen Staaten so, wo die geweihte Person sozusagen jemanden willkommen heißt. Ich weiß nicht, ob der Gouverneur in Amerika das macht.“Footnote 62

[Frage: Was halten Sie von den Hamburger Einbürgerungsfeiern?]

„Ja, wir waren ja eigentlich, ja, seit 2010 eigentlich auf fast jeder Einbürgerungsfeier, also so, jeden Termin versuchen wir immer auch präsent zu sein, weil in der Rede des Bürgermeisters wir natürlich auch drin vorkommen. Wir sind ein Teil davon, und natürlich ist es immer wieder was Besonderes, weil man halt eben die Menschen sieht, die, wie die sich alle so fein und schick machen, mit der Familie. Also dass man halt diese Besonderheit, was das für die Menschen eigentlich bedeutet, mal da vor Augen geführt bekommt. Und ähm, ja. Also sonst wäre das einfach ein, ein, ja, bürokratisches Verfahren, was dann halt mit der Übergabe des, der Urkunde in einem relativ kühlen Büro wahrscheinlich ablaufen würde. Und insofern finde ich das dem Anlass entsprechend auch schön, dass das eben, dass das eine Stadt eben auch macht. Und ich glaube Hamburg – also ich mein‘, das sind dann nochmal die, der Grund, um ins Rathaus, oder dass man, wenn man das Rathaus noch nicht kennt, und dann das Rathaus auch nochmal zusätzlich kennenlernt, das ist halt vielleicht auch noch mal so ein Punkt, ne, sonst würde man sich vielleicht für das, für das Thema Politik gar nicht so interessieren. Vielleicht ist es das erste Mal, dass man da in das Rathaus geht, das ist ja bei uns in Hamburg auch sehr, sehr zeigenswert. Insofern, ähm… ist das denk‘ ich mal ganz, ganz sinnvoll. […] Also ich mein‘, der Saal ist eigentlich fast immer voll. […] Also dadurch, dass da der Bürgermeister persönlich dort auch noch mal eine Rede hält, das ist halt für die Menschen nicht selbstverständlich. Also dass der Bürgermeister der Stadt Hamburg dann eben zu sehen ist, und ich vielleicht sogar noch persönlich von ihm die Urkunde überreicht bekomme. Also insofern, das nehmen auch viele halt auch dankend an. Die werden gefragt: „Möchten Sie auf die nächste Einbürgerungsfeier?“ – Und… und dadurch, dass die sich, also, man sieht es halt. Die kommen da nicht in Jeans und Schlabberlook, sondern die machen sich alle schick und dann sieht man auch wie wichtig denen das ist.“Footnote 63

Das positive Bild, das von den Expert_innen gezeichnet wird, bestätigt sich weiterführend auch in den konsensanalytischen Ergebnissen, die in Tabelle 5.8 zusammengefasst sind. Dabei spiegeln die Deutungsmuster 36 bis 40 die staatsnationale Linie wider, während Deutungsmuster 41 und 42 der ethnonationalen Logik folgen. Aussage 43 bewegt sich, als Randposition, zwischen den beiden dominanten Diskursen.

Tabelle 5.8 Hamburger Einbürgerungsinitiative

Eine deutliche Mehrheit der Befragten ist der Meinung, dass der Staat Informationsangebote bereitstellen, durch aktive Ansprache der Migrant_innen Willkommenskultur vermitteln, die Einbürgerung in einem feierlichen Akt würdigen und das Thema überdies im allgemeinen Schulunterricht verankern soll (Aussage Nr. 37 bis 40). Mit 48,94 % erhielt die Aussage, dass Einbürgerungswerbung notwendig sei, weil der deutsche Staat von hohen Einbürgerungsquoten profitiere, von allen staatsnationalen Deutungsmustern in dieser Sektion am wenigsten Zustimmung (Aussage Nr. 36). Entgegen diesem starken staatsnationalen Trend teilen nur 12,77 % der Befragten die ethnonationale Meinung, dass der deutsche Staat keine Einbürgerungswerbung machen sollte (Aussage Nr. 41). Weitere 10,64 % glauben sogar, dass die Staatsangehörigkeit durch Einbürgerungswerbung entwertet wird (Aussage Nr. 42). Immerhin 17,02 % haben den Verdacht, dass Politiker_innen die Einbürgerung lediglich fördern, um Wählerstimmen zu erschließen (Aussage Nr. 43). Diese Deutung taucht im ethnonationalen Diskurs recht häufig, im staatsnationalen Diskurs bloß als radikale Randposition auf. In der vorliegenden Umfrage widerspricht ihr mit 55,32 % eine deutliche Mehrheit der Befragten.

Im Zusammenhang mit dem Thema Hamburger Einbürgerungsinitiative wurden die Expert_innen des Weiteren auch mit dem zentralen Tagesspiegel-Artikel „Unser deutscher Pass ist kein Ramschartikel“ sowie mit den darin abgedruckten Aussagen von Alexander Dobrindt konfrontiert, wie sie in der Einführung zu dieser Arbeit vorgestellt wurden und wie sie auch in Kapitel 4 der Untersuchung immer wieder zu Relevanz gelangt sind. In ihren Reaktionen haben die Befragten dem CSU-Politiker und seinen ethnonationalen Thesen zu einem Großteil sehr vehement widersprochen. Dabei wurde immer wieder betont, dass durch die Hamburger Einbürgerungsinitiative – und darin insbesondere durch den Bürgermeisterbrief und die offiziellen Einbürgerungsfeiern – die Staatsangehörigkeit nicht etwa entwertet werde, sondern im Gegenteil sogar eine erhebliche Aufwertung erfahre, die von den Einzubürgernden und Eingebürgerten auch durchaus als solche erkannt werde:

„Wahrscheinlich war da gerade wieder Wahlkampf oder so. Also das ist natürlich, ja, kann man natürlich so in den Raum werfen, das ist natürlich erstmal auch populistisch, denke ich mal, weil er müsste erstmal schon darlegen, warum es verschenkt wird. Weil da wird ja nichts verschenkt. Keiner kriegt den deutschen Pass einfach mal so geschenkt. Also es gibt ein Gesetz, das Staatsangehörigkeitsrecht, und da steht drin, […] welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um per Anspruchseinbürgerung dann halt eingebürgert werden zu können. Und da muss man halt schon ganz schön viele Voraussetzungen erfüllen. Also insofern wüsste ich nicht, was da verschenkt wird. Und wenn die Stadt im Rahmen ihrer Willkommenskultur bestimmte Themen für besonders wichtig, ähm, findet, und in so einer Initiative sozusagen voranbringt, ähm, dann müsste er schon sagen: „Okay, sowas wie eine Willkommenskultur, dass wir den Menschen ermöglichen wollen, zu partizipieren, ist schlecht, weil so und so.“ – Da muss er schon das dann so sagen. […] Die können ja ihre Meinung haben, das ist ja total in Ordnung. Also finde ich aber total irgendwie so ein bisschen, ja, überspitzt und auch nicht wahrheitsgemäß. Weil da wird ja nichts verschenkt. […] Also nur weil es diese Kampagne gibt, heißt das ja nicht, dass die Voraussetzungen jetzt leichter werden. Die Voraussetzungen sind im Gesetz verankert. […] Also das ist ja ein Bundesgesetz […]. Die Länder, äh, also die einzelnen Kommunen können halt ihre Ermessensspielräume unterschiedlich nutzen, ja? Also das entscheiden die. Aber die grundlegenden, also die, die, das Gesetz, das Staatsangehörigkeitsrecht ist für alle Bundesländer gleich. Insofern wird hier gar nichts verramscht.“Footnote 64

„Kompletter Bullshit, find‘ ich persönlich. Ähm, dadurch dass da nichts verramscht wird. Es wird einfach nur den Menschen gesagt, worauf sie einen Anspruch haben. Mehr wird ja nicht gemacht. Es wird ja niemandem jetzt der deutsche Pass aufgezwungen, oder sonst was. Also wenn jemand sagt: „Ich fühle mich so wohl hier, ich möchte hier mein Leben verbringen, ich kann mich so gut damit identifizieren, ich möchte den deutschen Pass.“ – Dann, wenn er den Anspruch hat, dann soll er den auch bekommen.“Footnote 65

Ich würde sagen, dass das eine schwachsinnige Aussage ist. […] Allein die Einbürgerungsfeiern, die zeigen ja […] den Wert. Also das, das ist eine Wertigkeit für die Menschen. Und gerade weil es so viele Anlaufstellen gibt, glaube ich, ist, ist ja die Wertigkeit noch mal unterstrichen. Zu sagen: „Leute, es ist uns wichtig, dass ihr euch einbürgert. Es ist uns wichtig, dass ihr euch daran haltet, […] was unsere Verfassung sagt. Dass ihr hier willkommen seid, aber dass ihr Rechte und Pflichten habt.“ […] Und dafür gibt es verschiedene Stellen in dieser Initiative, wo man immer wieder sagt: „Hey, ihr habt Rechte aber auch Pflichten.“ – Und, ähm, das zeigt doch eher die Wertigkeit daraus. Erstens, dass man Einbürgerungen möchte, weil Deutschland Einbürgerungen auch braucht, äh, und zweitens die […] Wichtigkeit, halt, dass es gefeiert wird, dass man dazu eingeladen wird. Also ich würd‘ sagen, das, das unterstreicht eher die Wichtigkeit. Ja.“Footnote 66

„Was soll man dazu sagen? Ich bin Ramsch. Das heißt es. Ich [Name] bin Ramsch. Das ist beleidigend, kränkend, diskriminierend, es geht unter die Gürtellinie […]. Guck mal, da krieg ich jetzt sogar wieder Herzklopfen. Ich bin Ramsch. Und das ist kein schönes Gefühl, das ist nicht gut.“Footnote 67

„Im Gegenteil. Die Leute werden stolz, wenn sie dann die deutsche Bürgerschaft annehmen. Und, äh, ich finde das sehr wichtig, dass die Gesellschaft nicht gespalten wird. Es gibt immer freie Wahl, ob ich den deutschen Pass nehme oder nicht. Es gibt genug Voraussetzungen dafür. Trotzdem, die Leute bekommen das und fühlen sich natürlich sehr stolz, dass dann der erste Bürgermeister angeschrieben hat. Die kommen dann mit diesem Gefühl – man muss ja auch sehen, persönlich: „Ich hab‘ den Brief bekommen.“ – Das ist das Erste, was die sagen.“Footnote 68

Die diametrale Umdeutung der ethnonationalen Interpretation ist nicht nur überaus auffällig, interessant sind überdies auch die unterschiedlichen Strategien, anhand derer diese Umdeutung erfolgt. So nutzen einige der Interviewpartner_innen eine rationalisierende Argumentationsweise, indem sie – wie es im massenmedial vermittelten Diskursfeld bereits mehrfach zu sehen warFootnote 69 – die Anschuldigungen der Gegenseite als ‚realitätsfern‘ charakterisieren. Hier kann beobachtet werden, wie das Zusammenprallen zweier antagonistischer Wirklichkeitssphären dazu führt, dass der Gegenseite die Rationalität abgesprochen wird. Insofern sie sich außerhalb der eigenen Wirklichkeit bewegt, fällt sie unter die Kategorie der Unwahrheit.Footnote 70 Klar ist in diesem Zusammenhang, dass es in der Tat gewisse Faktoren gibt, die dem konstruktivistischen Prozess der Wirklichkeitskonstitution reale Grenzen setzen. So wird in den Interviews etwa auf gesetzliche Bestimmungen verwiesen, die letztlich nicht so unverbindlich und frei interpretierbar sind, wie der ethnonationale Diskurs es impliziert. Gleichzeitig muss man sich allerdings in Erinnerung rufen, dass die Argumentation der ethnonationalen Perspektive in erheblicher Weise Gefühle der Frustration und Deprivation aufgreift, die in ihrem Adressat_innenkreis dominant sindFootnote 71 – ganz genauso, wie der staatsnationale Diskurs dies für seine Adressat_innen tut. In Anbetracht dessen, dass der ethnonationale Diskurs davon ausgeht (und anhand seiner Grundbegriffe auch davon ausgehen muss), dass Einbürgerungen eine potenzielle Gefahr für die eigene (deutsche) Identität bedeuten und dass jegliche Maßnahmen der Einbürgerungsförderung eine (wenigstens potenzielle) Bedrohung darstellen, weil sie ‚schlechten Migrant_innen‘ eine zusätzliche Motivationsgrundlage schaffen, wird dann auch verständlich, warum es sehr wohl möglich ist (und durchaus logisch erscheinen kann) die Hamburger Einbürgerungsinitiative als ‚Erleichterungsinitiative‘ zu begreifen (zumal ja auch tatsächlich Erleichterungen stattfinden, z. B. in Form von beschleunigten Verfahren oder dem Abbau bürokratischer Hürden). Abermals wird deutlich, dass der wechselseitige Antagonismus der dominanten Wirklichkeitssphären deren Verständigung in weiten Teilen verhindert und – im Bewusstsein ihrer Sprecher_innen (bzw. ihrer Adressat_innen) eigendynamisch Macht entfaltet.

Im Gegensatz zu einer Strategie der Rationalisierung bemühen manch andere Sprecher_innen der obigen Interviewausschnitte eine Argumentation, die sehr viel stärker emotionale Faktoren in den Vordergrund rückt. Hier werden zum einen die Wünsche und Hoffnungen der Einzubürgernden angesprochen sowie auch die große emotionale Wirkung, welche die Hamburger Einbürgerungsinitiative ihrerseits auf diese ausübt. Aus diesem Blickwinkel erscheint es überaus schlüssig, die Initiative als qualitative Aufwertung von Staatsangehörigkeit und Einbürgerung zu begreifen. Während die deutsche Staatsangehörigkeit im ethnonationalen Diskurs etwas ist, um das die Migrant_innen kämpfen müssen, das ihnen nur widerwillig überlassen wird und das letztlich auch nicht unbedingt dazu beiträgt, zukünftige Rassismen abzuwenden, ist die Staatsangehörigkeit im staatsnationalen Diskurs ein im positiven Sinne emotionalisiertes Gut, das den Betroffenen in Aussicht gestellt wird und das ihnen eine endgültige Befreiung vom Zustand der Diskriminierung, der Entrechtung und der (emotional verletzenden) sozialen Entwertung verheißt. Mehr noch: Durch die Subjektposition der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ sehen die Adressat_innen sich mit einer Vielzahl positiver Zuschreibungen konfrontiert, welche nicht nur ihren eigenen Status aufwertet, sondern ebenso den Status der Staatsangehörigkeit als solchem: Staatsangehörigkeit ist vor diesem Hintergrund nicht (mehr) nur formale Zugehörigkeit, sondern ‚echte‘ Zugehörigkeit zu Staat und Nation.

In ganz besonderem Maße sticht das vorletzte Zitat aus der Menge der oben abgedruckten Antworten hervor. Die Sprecherin verleiht in erheblicher Weise der emotionalen Betroffenheit Ausdruck, welche das antagonistische Verhältnis mit dem ethnonationalen Diskurs in ihr auslöst. Damit wird wiederum der Umstand verdeutlicht, dass Diskurse Wirklichkeit nicht nur inszenieren, sondern sie vielmehr erschaffen und dabei auch unmittelbaren Einfluss auf den menschlichen Körper nehmen. Diskurse haben reale Konsequenzen. Ihre wissenschaftliche Untersuchung – das transparent Machen ihrer Machtdynamiken – gelangt vor diesem Hintergrund umso mehr zu Bedeutung.

Nationale Identifikation

In den Interviews kam wiederholt ein Bild von Staatsangehörigkeit zum Tragen, welches selbige – analog zum staatsnationalen Diskurs – als emotional besetzten Baustein der persönlichen Identität begreift. Anders als in der medialen Debatte wurde Staatsangehörigkeit jedoch auch verhältnismäßig oft als reiner Rechtsstatus definiert, ohne jede emotionale Komponente. In der Regel vermitteln die Befragten zwischen diesen beiden Deutungsmustern und betonen v. a. die persönliche Perspektive der Betroffenen. Ob die Staatsangehörigkeit als Stück Identität oder als Rechtsstatus empfunden wird, ist demnach eine Frage des jeweiligen individuellen Standpunkts. Die nachfolgenden Beispiele demonstrieren diese Sichtweise, die von der Mehrheit der Expert_innen geteilt wird:

[Frage: Wie stehen Sie zum Thema doppelte Staatsangehörigkeit?]

„Also viele sagen dann auch: „Ja, das wäre doch gut, wenn dann die Türkei auch sagt, wir bürgern nicht mehr aus. Dann könnte man doch sagen, gut, dann muss Deutschland die Mehrstaatigkeit hinnehmen.“ – Wo ich auch sage: „Nein. Also du redest davon, ne, die Türkei soll sich doch demokratisch entwickeln und so weiter.“ – Was ist denn das für ein Zeichen, wenn die Türkei sagt, wir bürgern unsere Leute nicht aus, auch wenn sie wollen? Also das ist kein demokratisches Zeichen. […] Ich finde schon, jeder sollte die Möglichkeit haben, wenn er sagt: „Ich möcht mich ausbürgern aus dem Land“, dass es auch dann geht. Deswegen… […] Für den einen ist das ein Stück Papier, für den anderen wiederum hat das mehr Bedeutung, der Pass. […] Wenn man halt binational aufgewachsen ist, sollte man das dann vielleicht auch in seinem Pass dann halt widerspiegeln dürfen.“Footnote 72

[Frage: Für viele Menschen ist die Staatsangehörigkeit ein wichtiges Stück Identität. Sehen Sie das auch so?]

„Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage, über die ich aber auch schon viel nachgedacht hab‘. […] Wenn ich daran denke, dass ich deutsch bin, denke ich daran, dass ich dankbar dafür bin, dass ich das unglaublich schätze, auf jeden Fall, aber es ist nicht so, dass ich mich damit identifiziere. Also, wie gesagt, ich bin Mensch und, ähm, was in meinem Pass steht, ist eigentlich irrelevant. Es ist, es hat natürlich Vorteile und wie gesagt ich bin dankbar dafür. Aber für mich hat es nicht so viel mit Identität zu tun. Weil ich bin nicht die Person, die ich bin, weil ich deutsch bin, oder weil ich einen deutschen Pass hab‘, in dem Sinne. Ähm, also eher nicht. Ich kann es sehr, sehr gut nachvollziehen [, wenn das für jemanden ein Stück Identität ist], auf jeden Fall. Aber für mich persönlich spielt es einfach nicht so eine große Rolle…“Footnote 73

[Frage: Sollten Menschen, die eine Einbürgerung anstreben, sich emotional mit Deutschland identifizieren?]

„Wer will darüber entscheiden, wer sich identifiziert und wer nicht? […] Das ist ja […] eine subjektive Frage, die ich mir, die ich mir stelle, wenn ich mich einbürgern lasse. Und da kann ich auch sagen: Ich identifiziere mich mit Pakistan genauso wie mit Deutschland. Man kann auch, also, wenn es erlaubt wäre, gestattet wäre, auch beide behalten. Ähm… also… das find‘ ich ein bisschen grenzwertig. […] Das sind Gefühle, Emotionen, wo kein Dritter eigentlich mitreden kann, oder kein Zweiter auch mitreden kann. Das ist eine subjektive, eigene Frage. Wer will denn, wie wir gesehen haben, sie identifizieren sich nicht mit Deutschland, nur weil sie Burka tragen, und da drunter ist vielleicht eine Deutsche, oder eine Europäerin? Es gibt ja viele Deutsche oder Europäer, die zum Islam konvertieren. […] Wer will darüber entscheiden? Also es gibt keinen Richter der Welt, der darüber entscheiden kann, was ich fühle. Und kein Minister und kein… keiner kann mir sagen, wann ich mich mit Deutschland identifiziere. Das muss ich mit mir ausmachen. Das ist eine sehr individuelle und eine sehr private Frage auch. Also da hat keiner in meine Privatsphäre einzugreifen.“Footnote 74

[Frage: Sollten Menschen, die eine Einbürgerung anstreben, sich emotional mit Deutschland identifizieren?]

„Ich überleg gerade: Macht das irgendeinen Unterschied? […] Verbundenheit. Ich überleg gerade was, was könnte man damit meinen? Ich meine, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich mein‘, ich hab‘ hier eine Verbundenheit. Ich fühle mich sowohl als Deutsche als auch gemischt. Also ich persönlich kann nicht sagen, ich bin jetzt voll nur türkisch, oder, ich kann aber auch nicht sagen, ich bin voll nur deutsch. Also ich hab‘ halt beide Teile in mir, deswegen ist das an sich schon irgendwie schwierig. Also […] ich bin beidem verbunden, um ehrlich zu sein. Wenn jetzt jemand sagen würde: „Du musst dich aber entscheiden, Deutschland oder…“ – Das, das könnte ich ehrlich gesagt auch gar nicht. Ich bin halt mit beidem großgeworden.“Footnote 75

Die obigen Zitate sind insofern bemerkenswert, als sie einer nationalistischen Denkweise offen zu widersprechen scheinen. Identifikation wird zur Privatsache erklärt und gerade nicht zur Angelegenheit des Staates. Diese Sichtweise ist sowohl postnationalistisch als auch im Reckwitz’schen Sinne hyperkulturell. Gleichzeitig ist jedoch im bisherigen Verlauf der Interviews hervorgetreten, dass die Befragten sehr wohl davon ausgehen, dass die Einbürgerung in der Regel mit emotionalen Motiven einhergeht und dass (nationale) Identifikation im Kontext von Staatsangehörigkeit durchaus eine Rolle spielt. Insofern wird ein Verhältnis zwischen Staatsangehörigkeit und Identität konzipiert, das (wie auch im Falle des staatsnationalen Diskurses) zwischen einem rein demokratischen Bürgersinn einerseits und einer emotional empfundenen kollektiven Identifikation andererseits oszilliert.Footnote 76 Mit der Möglichkeit der Nicht-Identifikation (im emotionalen Sinne), wenden sich die Sprecher_innen überdies v. a. gegen Argumente des ethnonationalen Diskurses, welche die Essentialisierung kultureller und religiöser Identitäten betreffen sowie auch das Thema der Vermeidung von Mehrstaatigkeit (s. u.) und die Forderung nach unabdingbarer Loyalität.

Vor diesem Hintergrund ist insbesondere eine Anmerkung interessant, die ein Teilnehmer der Online-Umfrage im offenen Kommentarbereich hinterlassen hat und die hier aufgrund ihrer besonderen und ungewöhnlichen Deutungslinie vollständig abgedruckt werden soll:

„Es ist schwierig nach Deutschland einzureisen und einen Aufenthaltsstatus zu erreichen mit dem die Einbürgerung möglich ist, wenn man nicht aus einem bevorrechtigten Schengenland kommt. Geht eigentlich nur über Asylantragstellung oder Eheschließung und in wenigen Fällen zur Geschäftsgründung oder auch zum Studium mit anschließendem einbürgerungsfähigen AT. Wir sind leider bisher nicht (1973 Anwerbestop) mehr in der Lage aktiv Personen anzuwerben, deren Fähigkeiten gewünscht sind. Hier müssen besonders im Altenpflegebereich durch Anwerbung eher freundlicher/friedlicher Menschen aus z. B. Ghana oder christliche Indonesier große Lücken geschlossen werden.

In der Erziehung der Menschen in Deutschland muss mehr auf ein Gemeinschaftsgefühl hingearbeitet werden, um verschiedene Ethnien/Religionen/Lebensvorstellungen mit dem Gefühl „Deutscher zu sein“ unter einen Hut zu bringen. Beispiel hat hier die USA oder auch Ghana (wachsendes Selbstbewusstsein und um sich greifender Nationalismus) mit Absingen der Nationalhymne vor Schulbeginn. Hier ist leider die Bundeswehr mit der unglücklicherweise ausgesetzten Wehrpflicht und dem staatskundlichen Unterricht (Innere Führung) weggefallen, in dem der Rechtsstaat und verschiedene Gesetzte, Rechte und Pflichten der Bürger, im Erwachsenenalter nochmals besprochen wurden.

Wer eingebürgert wurde, also „geprüfter Deutscher“ ist, verändert selbverständlich zu einem 80millionstel das Bild was man sich von Deutschland machen muss. Meinen jetzt erwachsenen Neffen aus Frankreich ist bei Ihren Besuchen in D stets aufgefallen, wie viele alte Menschen auf der Straße zu sehen sind. Ich arbeite seit 40 Jahren in der Ausländerbehörde/Einbürgerungsabtlg., bin mit einer ghan. Staa. verheiratet und könnte Sie weiter unterhalten.“Footnote 77

Der Sprecher formuliert hier ein umfassendes politisches Programm zur Herstellung eines staatlich institutionalisierten Nationalismus, der auf ungewöhnliche Weise staatsnationale und ethnonationale Deutungslinien miteinander verbindet. So plädiert er für mehr Möglichkeiten der legalen und dauerhaften Zuwanderung und sogar für die offizielle ‚Anwerbung‘ von Migrant_innen, deren ‚Nützlichkeit‘ für den deutschen Staat er wiederum an kulturfundamentalistische Taxonomien von kultureller Fremdheit knüpft. Des Weiteren propagiert er die staatsnationale ‚Erziehung‘ der Bürger_innen vermittels nationalistischer Symbole, Rituale und Diskurse und nimmt dabei explizit Bezug auf ähnlich geartete Nationalismen in anderen Ländern sowie auf deren Tradition des politischen Multikulturalismus. Ziel ist die Herstellung einer nationalen Identifikation, die weit über einen bloßen Bürgersinn hinausgeht und die der aktiven Erzeugung von emotionaler Macht – oder vielmehr emotionaler Herrschaft – dient. Gleichzeitig räumt der Sprecher ein, dass sich durch ein solches Programm das Antlitz Deutschlands verändern werde. Ob damit ‚ethnische‘ Bevölkerungsanteile gemeint sind oder gar die Verschiebung weg von einer Abstammungs- und hin zu einer Einwanderungsgesellschaft bleibt indessen unklar.

In ihrer Verbindung höchst unterschiedlicher Elemente zu einem nationalistischen Leitbild ganz eigener Prägung ist die obige Aussage bemerkenswert und – in dieser Untersuchung – einzigartig. Anhand der Selbstbeschreibung des Sprechers ist zu vermuten, dass der Kontakt mit anderen Nationalismen (etwa in Ghana) für die Entstehung dieser sehr eigenen Deutungsvariante konstitutiv ist. Dieses Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass öffentliche Diskurse individuelle Sinnwelten nicht determinieren. Sie liefern vielmehr ‚Bausteine von Wirklichkeit‘ die durchaus eigendynamisch Macht entfalten, die jedoch niemals unangefochten bleiben und ständig mit anderen Wirklichkeitsfragmenten konkurrieren. Die Dekodierung dieser Elemente und der damit einhergehende Akt der Wahl zwischen ihnen, ist ein hochgradig komplexer Prozess. Die vorliegende Arbeit kann lediglich einen Anfang machen, indem sie diese Komplexität sichtbar werden lässt. Entschlüsselt werden muss sie indes an anderer Stelle.

Mehrstaatigkeit

In der massenmedial vermittelten Debatte war eine intensive Verschränkung der beiden dominanten Einbürgerungsdiskurse mit dem Thema Mehrstaatigkeit zu beobachten. Aus diesem Grund wurden die Expert_innen des Lotsenprojektes im Zuge der Interviews auch zu ihrer diesbezüglichen Haltung befragt. Die folgenden drei Antworten können als exemplarisch gelten:

[Frage: Wie stehen Sie zum Thema doppelte Staatsangehörigkeit?]

„Man muss sich erstmal einfach die Statistik und die Fakten angucken. Also deswegen ist die Debatte, läuft eigentlich an der Realität so ein bisschen vorbei. Die Realität sagt: Also 60 % der Einbürgerungen finden sowieso unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit statt. Also da bleibt Deutschland gar nichts anderes übrig, […] als Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit […] durchzuführen. Das bedeutet eben, dass es viele Länder gibt, die gar nicht ausbürgern, aus politischen Gründen: Iran, Afghanistan und viele andere. […] Und dann gibt es halt auch Personen, deren Eltern, also dadurch, dass […] auch die Mischehen ja immer mehr werden […], wenn man dann, also, Eltern aus unterschiedlichen Ländern hat, automatisch auch mehrere Staatsbürgerschaften hat, also auch mehr als zwei sogar möglich sind. Insofern, die Statistik sagt sowieso was anderes. Und ich persönlich sag: Es kann auch Nachteile haben. Also wenn man jetzt z. B. doppelte Staatsbürgerschaft als Türke hat, ähm, man hat ja auch Pflichten. Wenn man halt männlich ist, dann Wehrpflicht und so weiter. Das heißt, muss man sich ganz gut überlegen, ob man das überhaupt will wirklich. Ich persönlich, ich vermiss da nix, was ich irgendwie abgegeben hab‘ und fühl mich eher sicherer momentan, wenn ich in die Türkei fliege. Aber grundsätzlich finde ich, sollte man halt selber die Möglichkeit haben, das zu entscheiden.“Footnote 78

[Frage: Aus welchen Gründen haben Sie sich für eine Einbürgerung entschieden?]

„Ich wollte mich hier stabil fühlen. Also ich hab‘ mich entschieden, hier bleiben. Und dann hab‘ ich auch daran gezweifelt, ob ich meine russische Staatsbürgerschaft abgebe oder nicht: Was bedeutet das für mich? Aber als ich abgegeben hatte, dann war es: Warum habe ich so viel gedacht? […] Das war leichter als ich dachte. Weil dafür bekomme ich die Deutsche, habe ich dann gedacht. Warum so viel Gedanken? […] Viele möchten auch die doppelte Staatsbürgerschaft haben. Ich kann auch verstehen, weil wenn man Verwandte da noch in Heimat hat, ist es sehr viel schwieriger für Russen, da einzureisen. […] Mit der Zeit man versteht, dass es viele Ausnahmen gibt, und leider Ausnahmen ist ja mehr als die Regel – 60 %. Und man fühlt sich ein bisschen komisch dabei, ne? Durchschnittlich 58 % Deutschland macht Ausnahme. […] Und dann heißt das: „Wir, ähm, wir machen keine doppelte Staatsangehörigkeit. Können wir nicht machen.“ – Aber ich glaube, […] dann wäre ja richtige Richtung, dass man [für alle] gleich das alles macht.“Footnote 79

[Frage: Wie stehen Sie zum Thema doppelte Staatsangehörigkeit?]

Also ich persönlich muss keine Doppelte haben. Ähm, also ich find’s immer problematisch […], bei manchen Ländern wird’s akzeptiert, bei manchen nicht und ich finde, da sollte es eine einheitliche Regelung geben. Ich find’s nicht in Ordnung einem Land wird’s gewährt, einem Land nicht, das find ich persönlich irgendwie nicht, finde ich nicht in Ordnung. Entweder für alle oder für gar keinen. Wobei das natürlich wieder ein Problem ist, weil andere Länder halt nicht… Ach, da krieg ich auch wieder so Schwierigkeiten. Weil einfach andere Länder sagen: „Nein. Wir entlassen dich nicht.“ – Hach, schwierig. Schwierig, schwierig. Da müsste man auch tiefer einsteigen. Kann man wahrscheinlich auch stundenlang drüber diskutieren. Gibt’s wahrscheinlich auch mehrere Aspekte. Aber ich kann jetzt so von mir persönlich, ich brauch nicht die Türkische und die Deutsche. Ich find‘ das ist dann auch immer wieder ein Problem, weil, ähm, dann bin ich in der Türkei, dann gilt die Türkische […]. Ich weiß nicht, ob ich das auch so möchte, ehrlich gesagt. Äh, ob ich das so toll finde. Kann vorteilhaft sein, kann aber auch zum Nachteil sich tatsächlich auswirken, könnte ich mir vorstellen. Deswegen bin ich mir so ein bisschen unsicher, ob ich das so toll finde. Aber wie gesagt, es gibt Länder, die entlassen einen halt auch nicht, ne? Da müssen die Menschen…. Ja. Schwieriges Thema.“Footnote 80

Die Mehrheit der Expert_innen würde eine generelle Hinnahme der Mehrstaatigkeit durchaus begrüßen. Gleichzeitig fallen die diesbezüglichen Einschätzungen, wie man an den drei hier zitierten Beispielen sehen kann, aber äußerst differenziert aus. Während im staatsnationalen Diskurs einseitig die Vorteile der Mehrstaatigkeit inszeniert werden und im ethnonationalen Diskurs ebenso einseitig die Nachteile im Vordergrund stehen, zeichnen sich die interviewten Expert_innen durch eine abwägende Haltung aus, die maßgeblich auf persönlicher Erfahrung und (in diesem Zuge) auf der Konfrontation mit anderen Diskursen gründet (z. B. politischen und / oder nationalistischen Diskursen in Russland und der Türkei). Diese Erkenntnis deckt sich weitgehend mit früheren Beobachtungen, wie sie z. B. auch in Bezug auf das Thema ‚Hürden der Einbürgerung‘ gemacht wurden. Wiederum scheint die Tatsache, dass Individuen in der Regel mehreren diskursiven Wirklichkeiten zugleich ausgesetzt sind, sie unweigerlich zur Wahl und zur Vermittlung zu zwingen. Besonders deutlich wird dies v. a. anhand des letzten hier abgedruckten Interviewausschnitts, in welchem die befragte Expertin sehr offensichtlich Pros und Contras unterschiedlicher (politischer) Positionen abwägt und versucht, sich selbst in diesem ‚Chaos der Wirklichkeiten‘ zu verorten.

Im Hinblick auf die obigen Ergebnisse kann das vorliegende Teilkapitel zwei definitive Aussagen treffen: 1.) Die beiden dominanten Diskurse des massenmedial vermittelten Diskursfeldes üben auf die befragten Personen Macht aus. Sie tun dies in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß, nichtsdestoweniger sind beide Strömungen insofern erfolgreich, als sie Teile ihrer Deutungslinien im individuellen Bewusstsein der Befragten verankern können. 2.) Ist klar geworden, dass diese ‚Übertragung‘ der diskursiven Inhalten von der kollektiven auf die individuelle Ebene (wenigstens insofern sie im Rahmen dieser Arbeit zu beobachten ist) immer auch eine gewisse Transformation zur Folge hat. Das ist umso erstaunlicher als die befragten Expert_innen des TGH-Lotsenprojektes nicht nur Diskursrezipient_innen, sondern zugleich eben auch Produzent_innen des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses sind. Ihre Rolle im Dispositiv der Hamburger Einbürgerungsinitiative führt dennoch nicht etwa zu einer unhinterfragten Reproduktion der dominanten Diskurspositionen. Vielmehr wird zwischen verschiedenen, z. T. auch gegensätzlichen Deutungselementen vermittelt. Eine staatsnationale Linie bleibt dabei durchaus erkennbar, es ist jedoch eine andere, transformierte Linie, die nicht eins zu eins mit dem massenmedial vermittelten Diskurs korrespondiert. Besonders sticht dabei die stärkere Differenziertheit der Aussagen und Bewertungsmaßstäbe hervor sowie die stärkere Präsenz von (etwa postnationalistischen) Randpositionen, die sich im öffentlichen Diskursfeld nicht durchsetzen konnten. Hervorzuheben ist überdies und vor allem die Integration und Hierarchisierung teils widersprüchlicher (staatsnationaler sowie ethnonationaler) Diskurswirklichkeiten in einer gemeinsamen symbolischen Sinnwelt, wie sie u. a. durch die mehrdimensionale Bedeutungsaufspaltung von Konzepten wie Kultur oder Nation gelingt.

Im Anschluss an diese Erkenntnisse kann eine Reihe weiterführender Beobachtungen wenigstens skizzenhaft notiert werden. Auffällig ist z. B. die Fortsetzung der antagonistischen Diskursdynamik in den subjektiven Sinnwelten der Expert_innen (und – wenigstens in Teilen – auch im Antwortverhalten der Umfrageteilnehmenden). Auffällig ist weiterhin, dass eben diese Dynamik sich auf höchst individuelle Art und Weise in den jeweiligen subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen ausdrückt. In diesem Kontext erscheint die Polysemie der diskursiven Grundbegriffe als wesentliche Vorbedingung dafür, dass diskursive Deutungsmuster im individuellen Bewusstsein auf kreative Weise Macht entfalten können. Überdies liegt der Schluss nahe, dass v. a. die (massenmediale) Omnipräsenz und die quasi-rituelle Wiederholung von Deutungsbestandteilen zu deren unbewusster Einverleibung bis hin zur körperlichen Hexis führen.Footnote 81 Emotionale Betroffenheit und die damit korrespondierende Attraktivität von emotionalisierten Identitätsangeboten treten in diesem Zusammenhang als beobachtbare Machteffekte hervor. Genauso bedeutsam scheinen außerdem die Konfrontation sowie die letztliche Verschränkung mit anderen ‚benachbarten‘ Diskursen zu sein. Die eigene Position in der Gesellschaft, der persönliche, biographisch bedingte Kontakt mit sowie die unterschiedlichen Grade der Betroffenheit durch heterogene Diskurskonstellationen sind (wenigstens augenscheinlich) zentrale Faktoren im individuellen Prozess der Dekodierung diskursiver Deutungen und bedürfen weitergehender diskursethnographischer Aufmerksamkeit über den Kontext der vorliegenden Arbeit hinaus.

Die hier zusammengefassten Einblicke sind lediglich vorläufiger Natur und können nicht abschließend erörtert werden. Sie zeigen jedoch Möglichkeiten der weiterführenden Forschung auf, wie sie nicht nur im Themenfeld Nationalismus, sondern ganz allgemein im Feld ethnologischer Diskursforschung gegeben sind. In diesem Zusammenhang bleibt eine letzte Anmerkung zu Forschungsansatz und Methodik zu machen: Anhand der obigen Ergebnisse lässt sich anschaulich demonstrieren, dass es schlichtweg nicht möglich ist, gesamtgesellschaftliche Diskurse anhand einzelner, vordefinierter Gruppen von Sprecher_innen zu erschließen. Auch wenn die Expert_innen des TGH-Lotsenprojektes einen wichtigen Teil des Hamburger Einbürgerungsdispositivs ausmachen und obwohl sie wesentliche Deutungen des staatsnationalen Diskurses reproduzieren, ist das Bild, das sich aus ihren Antworten ergibt, keineswegs deckungsgleich mit demjenigen, welches die dominanten Diskurse in der öffentlichen Arena zeichnen (Gleiches gilt für die Gruppe der Grenzgänger_innen, die im Zuge der konsensanalytischen Erhebung befragt wurde). Damit sei nicht gesagt, dass es nicht auch möglich (und durchaus interessant) wäre, z. B. TGH-interne Mikro- bzw. Mesodiskurse im Bereich Staatsangehörigkeit, Einbürgerung und Nationalismus zu untersuchen (unabhängig von oder in Wechselwirkung mit dem öffentlichen Diskursfeld). Diese Analyse hätte jedoch keinerlei Aussagekraft im Hinblick auf die gesellschaftliche Debatte als Ganzes. Wie in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit angeführt wurde, weisen viele Ethnolog_innen auf die bedeutende und korrigierende Funktion hin, welche eine Betrachtung der Mikroebene gegenüber einer analytischen Fokussierung auf die Makroebene einnehmen kann. Die Ergebnisse des hier vorliegenden Teilkapitels unterstreichen diesen Anspruch. Gleichzeitig muss aber auch betont werden, dass umgekehrt die gesellschaftliche Makroperspektive im Kontext mikroperspektivischer Untersuchungen als wichtiges Korrektiv dienen kann und muss.Footnote 82 Ein diskursanalytisches – respektive diskursethnographisches – Vorgehen kann beiden Erfordernissen gleichermaßen Rechnung tragen.

5.2 Aspekte der Diskursproduktion: Ein Diskurs wird in Szene gesetzt

In Abschnitt 5.1 wurde die These formuliert, dass Diskurse in der massenmedialen Sphäre v. a. deshalb mehr oder minder uneingeschränkt ihre eigene Wirklichkeit konstituieren können, weil sie sich – abgeschottet durch ihre jeweiligen FormationsregelnFootnote 83 – ein Stück weit von der Komplexität aller potenziell erfahrbaren Weltdeutungen entkoppeln. Ganz besonders deutlich wurde dies u. a. auch in Abschnitt 4.2. Darin konnte gezeigt werden, dass der ethnonationale Diskurs sich mehrheitlich in relativ ‚autonomen‘ virtuellen Räumen bewegt, innerhalb derer sich seine Sprecher_innen fortwährend selbst adressieren und damit in kollektiver Wechselwirkung die emotionale Macht ihrer essentialisierten Identitätsangebote vergrößern. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die diskursive Macht und die diskursive Eigendynamik sozial konstruierter Wirklichkeiten auch und gerade durch deren Loslösung von der unmittelbar erfahrbaren Alltagswelt (nach Luckmann) entstehen.Footnote 84 Wie Abschnitt 2.3 zeigen konnte, gelangen Rituale in diesem Zusammenhang zu herausragender Bedeutung. Rituale lösen – das hat u. a. Verkaaik demonstrieren können – diskursive Inhalte aus ihrem alltäglichen Zusammenhang, machen sie dadurch zum einen weniger fassbar, zum anderen aber – vermittels der ständigen Reproduktion ihrer zentralen Deutungsmuster – auch wesentlich einprägsamer.Footnote 85 Durch die fortwährende Wiederholung spezifischer Aussagen und Symbole sowie durch deren Abtrennung vom korrigierenden Gegengewicht alltäglicher (und immer auch antagonistischerFootnote 86) Welterfahrung, generieren Rituale Macht. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des dispositiven Apparats und bedeutsames Instrument der Diskursproduktion.Footnote 87 Ihre diskursethnographische Untersuchung kann maßgeblich zum Verständnis dessen beitragen, wie Diskurse kulturelle Wirklichkeiten generieren und diese Wirklichkeiten machtvoll in ihre Adressat_innen ‚einschreiben‘.

In Anbetracht ihrer besonderen Bedeutung für den offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurs, sollen im Folgenden die Hamburger Einbürgerungsfeiern als ein konstitutives Element seines staatsnationalen Dispositivs analysiert werden. Die Betrachtung erfolgt in drei aufeinanderfolgenden Schritten: Im ersten Teil werden die Feiern selbst, ihr Rahmen und ihr Ablauf untersucht. Dabei wird das Goffman’sche Analysevokabular, wie es in Abschnitt 3.5 erörtert wurde, in besonderer Weise von Nutzen sein. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Darstellenden und deren Performance, der Fassade aus Bühnenbild, persönlicher Erscheinung und Verhalten sowie den weiteren Techniken der EindrucksmanipulationFootnote 88. Auch Rolle und Reaktionen des Publikums werden dabei von zentraler Bedeutung sein. Im zweiten Teil des Unterkapitels werden Teilnehmende Beobachtung und massenmedial fokussierte Diskursanalyse dann noch einmal unmittelbar zusammengeführt. Hier schließt sich die Erörterung des offiziellen Hamburger Einbürgerungsfilms an, der seinerseits zentraler Bestandteil der Feierlichkeiten ist und überdies nicht nur die Eigenlogik des Diskurses, sondern außerdem auch dessen (macht)technische Selbstinszenierung eindrucksvoll sichtbar macht. Im abschließenden dritten Teil werden die zentralen Beobachtungen final herausgestrichen und weiterführend diskutiert.

Die Einbürgerungsfeier

1.) Bühnenbild: Die Einbürgerungsfeiern finden im großen Festsaal des Hamburger Rathauses statt (siehe Abb. 5.1 und 5.3). In vielen Interviews und Gesprächen wurde dieser Raum immer wieder als ganz besonderer Ort bezeichnet, zum einen aufgrund seiner prunkvollen Ausstattung und festlichen Atmosphäre, zum anderen aber auch, weil er normalerweise nicht frei zugänglich ist. Auf der offiziellen Website der Hamburger Bürgerschaft wird der Saal wie folgt beschrieben:

„Der Große Festsaal ist mit 46 Metern Länge und einer Fläche von 720 Quadratmetern der größte Saal im Rathaus und bietet 540 sitzenden Gästen Platz.

Er wird für große Empfänge und Festessen genutzt, wie für das Matthiae-Mahl, das älteste noch begangene Festessen der Welt, zu dem 400 Gäste geladen werden. Das Matthiae-Mahl findet seit 1356 immer um den 24. Februar herum statt.

Die riesigen Wandgemälde erzählen die Geschichte Hamburgs: die Urlandschaft vor der Besiedelung, die ersten Bauern und Fischer an Elbe und Alster, die Christianisierung und schließlich der Hamburger Hafen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Spannend ist vor allem die Geschichte der Darstellung der Christianisierung […]. Hugo Vogel musste die ersten Entwürfe überarbeiten, da vor dem Bischof zuerst ein Mann kniend dargestellt war. Aber ein Hamburger, befanden die stolzen Hanseaten, solle vor niemandem in die Knie gehen.“Footnote 89

Der Große Festsaal ist demnach nicht nur ein Ort, an dem normalerweise Staatsempfänge begangen werden – und der allein schon aufgrund dessen dazu geeignet ist, das dortige Geschehen aus der Sphäre des Alltäglichen herauszuheben – er stellt überdies auch eine unmittelbare Verbindung zu Hamburg her. Hamburgische Geschichte, hamburgische Symbolik und hamburgische Identität spielen im Kontext der Feiern (und darüber hinaus auch für die weitere Inszenierung des offiziellen Diskurses) eine herausragende Rolle. Bezeichnend ist hierfür u. a. der große schwarz-rot-goldene Anker, der nicht bloß als Logo der Hamburger Einbürgerungsinitiative fungiert, sondern darüber hinaus auch stets an prominenter Stelle die Bühne der Einbürgerungsfeiern schmückt (siehe Abb. 5.2). Mit der Mischung aus Nationalfarben und maritimer (Hamburg-)Symbolik verknüpft dieser Anker (wie auch der Leitspruch der Initiative: Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause.) lokale mit nationaler Identität. Die Rolle Hamburgs als Hafenstadt und ‚Tor zur Welt‘ ist dabei essentiell. In Abschnitt 5.3 wird auf diese ‚Lokalisierung‘ von nationaler Zugehörigkeit noch weiterführend einzugehen sein.

Abb. 5.1
figure 1

Hamburger Rathaus

Abb. 5.2
figure 2

Großer Festsaal – Bühne

Abb. 5.3
figure 3

Großer Festsaal (Blick von der Bühne ins Publikum)

Die Abbildungen 5.1 bis 5.3 vermitteln einen Eindruck vom Hamburger Rathaus und dem Großen Festsaal als Veranstaltungsort der Feiern sowie vom Arrangement ihres typischen Bühnenbildes. Auffällig sind v. a. die drei Flaggen rechts und links des zentralen Ankersymbols: Europa, Deutschland und Hamburg werden durch sie gleichermaßen repräsentiert. Dies ist im Kontext einer Einbürgerungszeremonie – einem Akt der nationalen Eingliederung – durchaus bemerkenswert. Die Einbürgerung wird auf diese Weise von der rein nationalen Ebene weggehoben und sowohl mit der lokalen (hamburgischen) als auch mit der transnationalen (europäischen) Ebene in Bezug gesetzt. Es geht hier demnach nicht nur um die offizielle Eingliederung in den deutschen Staat als solchen, es geht gleichermaßen auch um die Eingliederung in die Stadtgemeinschaft Hamburgs und die Staatengemeinschaft Europas. Drei Ebenen von Identität werden gleichberechtigt nebeneinandergestellt und – schon allein durch das Bühnenbild – miteinander verwoben. Bereits in der Wahl der Symbolik ist der kosmopolitische Unterton des staatsnationalen Diskurses unzweifelhaft erkennbar: Er deutet auf die Verquickung von Lokalem und Globalem, auf das Zelebrieren hybrider Identitäten und die Betonung einer transkulturellen Wertegemeinschaft, die nicht an Ländergrenzen Halt macht.

2.) Darstellende: Der mit einigem Abstand bedeutsamste Protagonist der Hamburger Einbürgerungsinitiative ist ohne Zweifel Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf ScholzFootnote 90. Er hält die Laudatio und überreicht die Einbürgerungsurkunden. Bei jeder der von mir besuchten Einbürgerungsfeiern stand er überdies nach dem offiziellen Teil der Veranstaltungen noch bis zu einer halben Stunde lang (!) zur Verfügung, um sich mit einzelnen Gruppen von Eingebürgerten und deren Angehörigen fotografieren zu lassen. Als Bürgermeister und Schirmherr der Hamburger Einbürgerungsinitiative ist er deren wichtigste Gallionsfigur und damit auch zentraler Akteur der Feiern. Darüber hinaus ist er eine prominente Persönlichkeit des politischen und öffentlichen Lebens und trägt durch seine persönliche Anwesenheit (sowie durch sein enormes symbolisches Kapital) maßgeblich zur rituellen, herausgehobenen Atmosphäre der Einbürgerungsfeiern bei. In seinen Reden aktualisiert er für gewöhnlich die zentralen Bausteine des staatsnationalen Diskurses: Multikulturalität betrachtet er als Bereicherung, Hybridität und Fluidität als gesellschaftlichen Normalzustand. Er hebt die Vielschichtigkeit menschlicher Identitäten hervor und verknüpft dabei immer wieder – einer kosmopolitischen Logik folgend – die lokale mit der globalen Ebene. Hamburg und Europa sind hierfür wichtige Bezugs- und Ankerpunkte. Zudem zeichnet Scholz ein Bild von Integration, das selbige als gesamtgesellschaftlichen Auftrag fasst. Dieser setzt Engagement und Eigeninitiative voraus und hat umfängliche gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel. Demokratie und Deliberation – sowie ein damit einhergehender, subjektivistischer Nationenbegriff – sind dabei zentrale Leitmotive und ziehen sich als roter Faden durch jede der verschiedenen Reden, die im Rahmen von diskursanalytischer Feinanalyse und Teilnehmender Beobachtung untersucht wurden. Ebenso prominent ist überdies auch der Entwurf eines nationalen (respektive lokal-hamburgischen) Mythos von der ‚historisch gewachsenen Einwanderungsgesellschaft‘ sowie die damit in Verbindung stehende Unterbreitung positiver Identitätsangebote (‚gute Migrant_innen‘, ‚gute (eingebürgerte) Deutsche‘, ‚kosmopolitische Staatsbürger_innen‘). Der nachfolgende Redeausschnitt steht beispielhaft für diese Argumentationslinie:

„…Hamburg ist seit Jahrhunderten eine weltoffene Stadt und Ziel von Hoffnungen. Im 17. Jahrhundert kamen Glaubensflüchtlinge aus Spanien, Portugal und den Niederlanden. Hundert Jahre später strömten Händler, die vor den Folgen der französischen Revolution flohen, an die Elbe. Und zwischen 1960 und 1970 kamen viele Arbeiter von der Iberischen Halbinsel, aus Italien, vom westlichen Balkan und später auch aus der Türkei.

Und so ging und geht es immer weiter. Aus Europa, zu dessen größten Errungenschaften die Freizügigkeit gehört, kommen heute wieder viele nach Hamburg und bleiben. […]

Meine Damen und Herren,

Für Sie wie für die meisten hier ist die Einbürgerung weit mehr als nur die Änderung Ihres aufenthaltsrechtlichen Status, Sie haben den deutschen Pass und damit unter anderem auch – wenn Sie alt genug sind – das volle Wahlrecht erhalten. Für die letzte Bürgerschaftswahl kommt das zu spät aber für Wahlen gilt ein Satz, der eigentlich aus dem Sport stammt: ‚Nach der Wahl ist vor der nächsten Wahl‘.

Und meine Bitte an Sie als Bürgermeister der Stadt, deren Bürger Sie jetzt sind, ist: Gehen Sie immer wählen. Wahlen sind die Grundpfeiler unserer Demokratie und ich finde, eine Pflicht für jeden Wahlberechtigten. Je höher die Wahlbeteiligung, desto breiter ist die Basis des Vertrauens in die Politik. Grade diejenigen unter Ihnen, die Ihre Wurzeln in Ländern haben, in denen für das Recht zu wählen gekämpft und manchmal auch gestorben wird, wissen das genau.

Noch eines ist mit Ihrer Entscheidung zur Einbürgerung verknüpft, dann nämlich, wenn Sie nicht aus einem Staat der Europäischen Union stammen: Mit der Einbürgerung in Deutschland ist für Sie die schon angesprochene Freizügigkeit in unserem EU-Europa verbunden.

Europa ist für viele in der Welt ein guter Ort. Dabei geht es um weit mehr als nur die Währung, den Euro und die wirtschaftliche Stabilität. Viel mehr sind Demokratie, Meinungsfreiheit und religiöse Toleranz Werte, die Europa auszeichnen.

Sie haben zu Europa, zu Deutschland und zu dem Hamburg von heute Ja gesagt. Als Bürgermeister dieser Stadt finde ich: dies ist ein Anlass zu feiern.

Meine Damen und Herren,

In Deutschland haben 16,5 Millionen Einwohner Wurzeln in einem anderen Land. Das Statistische Bundesamt nennt das einen Migrationshintergrund. Die Herkunftsländer sind zahlreich und verschieden: 2014 kamen die meisten aus Afghanistan, der Türkei, Polen, Iran und Russland.

In unserer Stadt hat fast jedes zweite Kind eine Zuwanderungsgeschichte. Ich freue mich, dass diese Kinder unsere Stadt mit ihren vielfältigen Talenten bereichern. Und ich freue mich auch, dass die Kinder, die hier geboren sind, sich nicht mehr, wie bis vor kurzem, sobald sie erwachsen sind, für eine von zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden müssen, die der Eltern oder die ihres Geburtslandes.

Seit 2009 hat sich die Zahl der jährlichen Einbürgerungen in Hamburg verdoppelt. Das passt gut zu Hamburg als Ankunftsstadt. Die meisten Einwanderer bringen das Grundgefühl der Zuversicht mit. Sie vertrauen darauf, dass sie in Hamburg ihren Platz finden werden…“Footnote 91

Für gewöhnlich ist der Erste Bürgermeister der einzige Redner im Programm der Hamburger Einbürgerungsfeiern. Eine Ausnahme bilden hier lediglich ‚Jubiläumsveranstaltungen‘. Im Rahmen der 40. Einbürgerungsfeier (18.07.2017) war z. B. der Hamburger Moderator und Entertainer Yared Dibaba als Gastredner geladen. Als SchwarzerFootnote 92 ‚Mensch mit Migrationshintergrund‘ (geboren in Äthiopien) und eingebürgerter Deutscher, der aufgrund seiner massenmedialen Präsenz und seines beruflichen Erfolgs erhebliches symbolisches Kapital akkumuliert, sprach er in einer Art Vorbildfunktion zu den geladenen Gästen. Dabei betonte er den gesellschaftlichen Mehrwert von Multikulturalität und appellierte an die ‚neuen Deutschen‘, sich sozial wie politisch einzubringen. Mit seiner Ansprache lag er vollends auf einer Wellenlänge mit dem staatsnationalen Diskurs der Stadt Hamburg. Dessen Botschaft erlangte durch Dibabas ‚Insiderposition‘ noch einmal ganz besondere Authentizität. Dabei ist zu bedenken, dass der Einsatz von Vorbildern und Personen mit ‚Modellcharakter‘ eine diskursive Emotionalisierungstechnik darstellt, die in erheblicher Weise dazu angetan ist, Macht zu entfalten. Dies gilt umso mehr, wenn – wie im Falle Dibabas – durch das Hervorheben gemeinsamer Identitätsmerkmale sowie durch deren Idealisierung, also durch deren Verknüpfung mit positiv konnotierten gesellschaftlichen Werten (z. B. wirtschaftlicher Erfolg, mediale Prominenz), ein positives Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit generiert werden kann.Footnote 93 Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass Dibaba v. a. für seine Beherrschung und massenmediale Inszenierung der plattdeutschen Sprache bekannt ist.Footnote 94 Der staatsnationale Anspruch an ‚kosmopolitische Staatsbürgerschaft‘ – im Sinne der Verknüpfung unterschiedlicher Kulturen, Identitäten und ‚Lokalitäten des Globalen‘ – findet in seiner Person, wie in kaum einer anderen, seinen plakativen Ausdruck.

Tatsächlich war es in den Anfangsjahren der Einbürgerungsfeiern üblich, prominente Gastredner_innen wie Dibaba (selbst eingebürgert oder mit Migrationshintergrund in Deutschland geboren) als symbolisches ‚Sprachrohr der Eingebürgerten‘ auf den Feiern sprechen zu lassen. Später kam man jedoch davon ab, weil aufgrund der rasch anwachsenden Zahl von Feiern die Auswahl der Redner_innen schwierig bzw. zu beliebig wurde.Footnote 95 Seither werden Gastredner_innen nur noch zu besonderen Anlässen eingeladen. Klar ist nichtsdestoweniger, dass die Einbindung von eingebürgerten Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund eine Verbindung schaffen soll zwischen dem politischen Personal der Stadt Hamburg und der angesprochenen Zielgruppe. Da es sich zudem bei den Gastredner_innen meist um Prominente oder sozial wie wirtschaftlich erfolgreiche Persönlichkeiten handelt, wird zusätzlich noch das Integrationsideal des staatsnationalen Diskurses aktualisiert: Integration bedeutet, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich außerdem positiv in die Gemeinschaft einzubringen. Migration ist eine Bereicherung für die Gesellschaft und trägt ihrerseits zu Wohlstand und Fortschritt bei. Kurzum: Die diskursiven Subjektpositionen des/der ‚guten Migrant_in‘ bzw. des/der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ werden durch die Auswahl der Redner_innen (re)produziert, symbolisiert und institutionalisiert.

Nicht jede/r Gastrender_in hat indes zwangsläufig einen Migrationshintergrund. Am 44. Jubiläum der Hamburger Einbürgerungsfeiern (23.01.2018) nahm z. B. der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teil. Aus Sicherheitsgründen war es mir leider nicht möglich, dieser Veranstaltung beizuwohnen. Die Anwesenheit des deutschen Staatsoberhauptes als Tatsache an und für sich unterstreicht aber bereits die besondere Bedeutung, die den Feiern von offizieller Seite zugemessen wird. Sein Besuch erhob sie umso mehr zum nationalen rite de passage.

Abb. 5.4
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Olaf Scholz mit einer Gruppe Eingebürgerter

Abb. 5.5
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Kinderchor bei einer Einbürgerungsfeier

Die Abbildungen 5.4 und 5.5 zeigen weitere wichtige Akteur_innen der Feiern. Diese sind, neben dem Ersten Bürgermeister Olaf Scholz und etwaigen Gastredner_innen, in Abbildung 5.4 v. a. die Eingebürgerten selbst. Der symbolische Akt der Verleihung von Einbürgerungsurkunden an einige ausgewählte Personen – stellvertretend auch für all die anderen, die ihre Urkunden vorab bereits erhalten haben und jetzt als Gäste im Publikum sitzen – bildet einen regelmäßigen und in hohem Maße standardisierten Teil der Zeremonie. Die Menschen, die zur Urkundenvergabe nach vorn auf die Bühne gebeten werden, haben zwar keine ‚Sprechrollen‘ in der diskursiven Inszenierung, tragen durch ihre Präsenz, ihr Erscheinungsbild und ihr Verhalten jedoch erheblich zum Gesamtbild derselben bei. So sind sie z. B. in der Regel festlich gekleidet, oft auch in Trachten ihrer jeweiligen Herkunftsregion. Sie werden unter Nennung ihres Namens und des ursprünglichen Herkunftslandes auf die Bühne gerufen. Auf diese Weise entsteht ein Eindruck von Multikulturalität, Hybridität und kosmopolitischer Vernetzung, der den Tenor des staatsnationalen Diskurses in erheblicher Weise unterstreicht. Indem der Erste Bürgermeister ihnen in festgelegter Reihenfolge die Urkunden überreicht, sie beglückwünscht und ihnen die Hand schüttelt, nimmt die Bühnenhandlung darüber hinaus einen durch und durch rituellen Charakter an. Die Bedeutung des symbolischen ‚Grenzübertritts‘ wird (v. a. durch den persönlichen Handschlag des Bürgermeisters und die damit assoziierte Wertschätzung) weiterführend hervorgehoben. Implizit wird dadurch auch die Subjektposition des/der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ mit ihrem kosmopolitischen Humankapital sowie dessen Relevanz für den deutschen Staat aktualisiert.

Abbildung 5.5 zeigt eine weitere wichtige Gruppe von Darstellenden. Es handelt sich dabei um einen der Kinderchöre, die den musikalischen Rahmen der Feiern gestalten. Zum ritualisierten Ablauf der Zeremonien gehört regelmäßig auch der Auftritt eines solchen Kinderchores, unterstützt von einem kleinen Instrumentalensemble. Jedes Mal übernimmt ein anderer Chor aus einer anderen Schule das Rahmenprogramm. Die Kinder singen ein festgelegtes Repertoire an Stücken, das sich als roter Faden durch das Prozedere der Feiern zieht. Der wiederkehrende Charakter ihrer Auftritte unterstützt die rituelle Natur der Zeremonie. In Abschnitt 2.3 wurde mit Edgewater darauf hingewiesen, dass Musik in hohem Maße dazu angetan ist, emotionale Macht auf den menschlichen Körper auszuüben, und kulturelle Botschaften aller Art in besonderer Weise bedeutsam erscheinen zu lassen. Andere Autor_innen untersuchen die Rolle von Musik und regionalen Musikstilen im Rahmen nationalistischer Identitätskonstruktionen (so etwa Wade im Hinblick auf Kolumbien).Footnote 96 Auch im Falle der Einbürgerungsfeiern handelt es sich – wie weiter unten noch zu zeigen sein wird – bei den vorgetragenen Stücken um Lieder mit erheblichem regional-identifikativen Potenzial, welches maßgeblich zur emotionalen und identifikativen Aufladung der zeremoniellen Handlung beiträgt. Die Tatsache, dass die musikalische Untermalung von einem Kinderchor und nicht etwa von einem professionellen Orchester geleistet wird, verleiht den Einbürgerungsfeiern überdies eine fast schon familiäre Note. Wie in Abschnitt 2.1 gezeigt wurde, sind metaphorische Anspielungen auf Familie und Familienstrukturen ein klassisches Machtinstrument nationalistischer Diskurse.Footnote 97 Durch die emotionale Ansprache werden Hierarchien, Machtgefälle und Konflikte übertüncht. Auch im Falle der Hamburger Einbürgerungsfeiern wird – statt etwa mit Berufsmusiker_innen würdevolle Distanz zu inszenieren – durch die Darbietung eines Kinderchores ein gewisser Grad von Nähe und Nahbarkeit hergestellt. Durch die Standardisierung der Auftritte ist diese Nahbarkeit allerdings niemals absolut. Der Ablauf bleibt nach wie vor rituell, zeremoniell, geregelt. Dennoch bildet der Chor ein ausgleichendes Gegengewicht zum prunkvollen Veranstaltungsort und dem autoritativen Personal der Feiern. Die Einbürgerung ist vor diesem Hintergrund zwar einerseits ein offizieller Akt, andererseits aber eben auch ein emotionaler Moment, ein Übertritt in die Gemeinschaft – wenn man so will – in die gemeinsame Familie.

3.) Handlung: Nachdem nun ein erster Überblick über Bühnenbild und Darstellende der offiziellen Hamburger Einbürgerungsfeiern vermittelt wurde, soll im weiteren Verlauf die Erläuterung der eigentlichen Bühnenhandlung nachfolgen. Diese ist stark standardisiert und folgt immer demselben Muster. Eine Ausnahme bilden hier lediglich die oben bereits erwähnten Jubiläumsveranstaltungen. Auch diese behalten allerdings die Grundstruktur der regulären Feiern bei und ergänzen ihren Ablauf nur hier und da um einige zusätzliche Elemente.

Das Ritual beginnt – nachdem alle Gäste eingelassen wurden und ihre Plätze eingenommen haben – mit dem Eintreffen des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Er schreitet zügig den Mittelgang des Festsaales entlang und lässt sich auf seinem Stuhl in der ersten Reihe nieder. Begleitet wird er von seinem Sicherheitspersonal. Für gewöhnlich handelt es sich hierbei um vier Personen, eine davon weiblich. Alle sind in schwarze Anzüge gekleidet. Sobald der Bürgermeister auf seinem Platz sitzt, nimmt der Kinderchor Aufstellung. Unter musikalischer Begleitung werden zunächst zwei Lieder gesungen – ‚Singen macht Spaß‘ und ‚Baum des Lebens‘ – dann zieht der Chor sich wieder von der Bühne zurück. Es folgt der Einbürgerungsfilm, der etwa zehn Minuten dauert und weiter unten im Detail analysiert wird. Erst nach Abschluss des Films eröffnet eine Vertreterin der Senatskanzlei – ebenfalls formell gekleidet – die Veranstaltung mit einer offiziellen Begrüßung, dann hält der Erste Bürgermeister seine Rede. Wie bereits erwähnt, hat diese in der Regel den Stil einer Laudatio. Sie würdigt die Eingebürgerten, deren bisherige Leistungen und ihre Potenziale, beinhaltet zugleich aber immer auch den Appell, sich zukünftig noch stärker in das demokratische System der Bundesrepublik einzubringen. Dieser zweischneidige Ansatz trägt in anschaulicher Weise dem doppelten staatsnationalen Integrationsbegriff Rechnung, wie er in den vorangegangenen Teilkapiteln ausführlich erläutert wurde. Er korrespondiert des Weiteren auch mit einer hier bereits mehrfach angesprochenen staatsnationalen Subjektposition, welche Eingebürgerte als (besonders) ‚gute Staatsangehörige‘ charakterisiert. Im Sinne Goffman’scher Idealisierung werden durch Verhalten und Erscheinungsbild des Bürgermeisters und seines Akteur_innenensembles überdies soziale Rollenerwartungen erfüllt, die in erheblicher Weise mit dem Faktor hohen symbolischen Kapitals verknüpft sind und die – im Sinne Goffman’scher Frames – den Rahmen dafür abstecken, welche Art der Interaktion im weiteren Verlauf der Feiern als angemessen, erwartbar und möglich gelten kann.Footnote 98

Nach der Ansprache betritt wieder der Kinderchor die Bühne. Er singt ein sogenanntes ‚Hamburg-Medley‘ – eine Zusammenstellung bekannter Hamburger Lieder wie z. B. ‚An de Eck steiht ´n Jung mit´n Tüddelband‘ (Volkslied), ‚Hamburg meine Perle‘ (Schlager von Lotto King Karl) und ‚In Hamburg sagt man Tschüss‘ (Schlager von Heidi Kabel). Wie oben angekündigt werden hier Elemente und Symbole einer hamburgischen Identität (regionale Volksmusik, plattdeutsche Texte) mit dem Thema Einbürgerung und dem Grenzübertritt in die nationale Gemeinschaft verwoben. Die emotionale und integrative Wirkung – sowie auch die Verbindung von lokaler, nationaler und transnationaler Ebene – wird durch den Faktor des Kinderchores – in dessen Reihen sich oft auch People of Color befinden – exponentiell verstärkt.

Im Anschluss an den zweiten Chorauftritt kehren der Erste Bürgermeister und die Vertreterin der Senatskanzlei auf die Bühne zurück. Es folgt die Urkundenverleihung. Die Eingebürgerten werden nacheinander nach vorn gebeten und erhalten jeweils ihre Urkunde. Sie bleiben auf der Bühne stehen, bis auch der oder die Letzte sein bzw. ihr Dokument bekommen hat. Schließlich wird allen Angehörigen ermöglicht, ein Foto von der Gruppe der Urkundenempfäger_innen zu schießen – mit Olaf Scholz in der Mitte. Zu guter Letzt, nachdem alle auf ihre Plätze zurückgekehrt sind, rundet ein weiterer Chorauftritt das Programm der Feiern ab. Diesmal wird die sogenannte ‚Hamburg-Hymne‘ – ‚Stadt Hamburg an der Elbe Auen‘Footnote 99 – gesungen gefolgt von der Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland. Die Texte beider Hymnen sind auf der Rückseite des Veranstaltungsprogramms abgedruckt, das auf jedem Platz bereitliegt (die Vertreterin der Hamburger Senatskanzlei weist bereits bei ihrer Begrüßung auf diesen Umstand hin). Für die Nationalhymne erhebt sich der Erste Bürgermeister. Das Publikum folgt seinem Beispiel, ohne dass es einer Aufforderung bedarf. Die Gäste werden nicht explizit darum gebeten mitzusingen, dennoch stimmen die meisten der Anwesenden an dieser Stelle in den Chorgesang mit ein. Bei der Hamburg-Hymne fällt die Beteiligung zumeist deutlich verhaltener aus, sicherlich auch deshalb, weil ihr Text und ihre Melodie weit weniger bekannt sind. Nichtsdestoweniger tritt hier die neuerliche Verquickung von lokaler und nationaler Ebene zum Vorschein: Einbürgerung in Hamburg bedeutet vor diesem Hintergrund nicht nur Aufnahme in die nationale Gemeinschaft (symbolisiert durch das Singen der Nationalhymne) sie wird auch als neuerliches Bekenntnis zu einer lokalen Hamburger Identität inszeniert (ihrerseits symbolisiert durch das Singen der regionalen Hamburg-Hymne).

Abb. 5.6
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Menschen stehen für Foto mit Olaf Scholz an

Abb. 5.7
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Einbürgerungsfeier – Empfang (Nebenraum des Großen Festsaales)

Nachdem mit dem Singen der Nationalhymne der offizielle Teil der Veranstaltung beendet ist, wird in den angrenzenden Räumlichkeiten zu einem kleinen Empfang gebeten (Abb. 5.7). Es werden Getränke und Häppchen gereicht. Die Menschen bekommen die Gelegenheit, sich zu unterhalten, Fotos zu machen oder sich ins Gästebuch der Stadt Hamburg einzutragen. Parallel dazu steht der Erste Bürgermeister Olaf Scholz im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses für Fotos mit den Eingebürgerten und deren Angehörigen zur Verfügung. Diese Möglichkeit wird von den Anwesenden intensiv genutzt. Abbildung 5.6 zeigt die lange Schlange von Menschen, die für ein Gruppenfoto mit dem Bürgermeister anstehen. Das rege Interesse an seiner Person veranschaulicht, wie bedeutend er und seine Rolle für die Einbürgerungsfeiern und die weitere Einbürgerungsinitiative sind. Sein Status trägt maßgeblich zum festlichen, rituellen Charakter der Feiern bei. Gleichzeitig vermittelt das Wechselspiel aus Distanz (oder auch Mystifikation im Sinne Goffmans – befördert u. a. durch das nachträgliche Eintreffen des Bürgermeisters und das ihn umgebende Sicherheitspersonal) und reglementierter Zugänglichkeit (im Rahmen der Fotosessions) einen Eindruck von Autorität einerseits und Nahbarkeit andererseits. Gerade dieser Dualismus aus Distanz und Nähe wertet den situativen Anlass – sowie die Rolle der Eingebürgerten darin – noch einmal erheblich auf. Denn aufgrund ihrer besonderen Position bekommen die neuen Staatsangehörigen einen (wenn auch kurzen) Zugang zum Bürgermeister, wie man ihn normalerweise als durchschnittliche/r Bürger_in nicht erhält. Man kann dies durchaus als außerordentliche Ehrung deuten, als Würdigung ihrer Person und ihres (oftmals auch beschwerlichen) Werdegangs. Hier wird – ganz im Einklang mit dem offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurs – ‚Willkommenskultur‘ inszeniert. Die Eingebürgerten werden in der (deutschen / hamburgischen) Gesellschaft willkommen geheißen, nicht nur als gleichwertige, sondern sogar als besondere Mitglieder. Die herausgehobene Bedeutung des damit verbundenen Identitätsangebots des/der ‚guten (eingebürgerten) Deutschen‘ ist offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist der hier wiederum hervortretende zweigeteilte Integrationsbegriff mit seinem emotionalen Machteffekt: Die Eingebürgerten werden in zweierlei Hinsicht gefeiert – als Hauptträger_innen (und Hauptleidtragende) des Integrationsprozesses sowie als (besonders) ‚gute‘ (und ob ihres kosmopolitischen Humankapitals vielleicht sogar ‚bessere‘) Staatsangehörige.

4.) Publikum: Das Publikum spielt im Kontext der Hamburger Einbürgerungsfeiern eine außergewöhnlich wichtige Rolle, insofern als die Zuschauenden eben nicht nur Zuschauende, sondern zugleich auch (mehr oder weniger passive) Protagonist_innen der offiziellen Inszenierung sind. Die Reden des Ersten Bürgermeisters (und ggf. der Gastredner_innen), der Einbürgerungsfilm, die Urkundenverleihung, die Fotosession am Ende – alle zentralen Elemente der Handlung drehen sich letztlich um die Eingebürgerten im Publikum oder nehmen wenigstens auf diese Bezug. Die Gäste sind zentrale Akteur_innen, ohne im eigentlichen Sinne in Aktion treten zu müssen. Schon allein ihre Anwesenheit als solche trägt und aktualisiert den offiziellen Diskurs. So sind die Einbürgerungsfeiern stets gut besucht, es bleiben kaum Plätze frei. Viele der Teilnehmenden (wenn auch längst nicht alle) sind formell gekleidet, einige kleiden sich sogar außerordentlich festlich. Damit wird der Stellenwert unterstrichen, den die Eingebürgerten (wenigstens allem Anschein nach) diesen Zeremonien beimessen. Überdies nutzen immer wieder auch einzelne Eingebürgerte und deren Angehörige die Feiern als Gelegenheit, um regionalspezifische Trachten zu tragen. Dadurch wird der multikulturelle, kosmopolitische Anspruch des staatsnationalen Diskurses für alle sichtbar eingelöst. Wenn die Gäste dann noch in die Hamburg-Hymne oder auch Teile des Hamburg-Medleys miteinstimmen (bzw., wie es durchaus vorkommt, ‚mitschunkeln‘), ist das Bild perfekt – Integration bedeutet Verbindung von Kulturen und Identitäten, Hybridität und Vielfalt, nicht etwa einseitige Anpassung an eine starre Leitkultur.

In sehr anschaulicher Weise entsteht im Rahmen der Feiern demnach Macht aus der Kooperation von Darstellenden und Publikum. Dieses Phänomen der ‚komplizenhaften‘ Aktualisierung von konventionalisierten Situationsbestimmungen (bzw. Frames) ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil von Goffmans theoretischem Ansatz,Footnote 100 auch Wilce betont im Hinblick auf das Phänomen der claptrap, dass emotionale Macht v. a. deshalb entsteht, weil Adressat_innen (unbewusst) auf die Indikationen der Darstellenden ansprechen und sie mit kulturell vordefinierten (emotionalen) Reaktionen beantworten.Footnote 101 Im Rahmen der Hamburger Einbürgerungsfeiern ruft die Person des Ersten Bürgermeisters die mit Abstand stärksten Reaktionen dieser Art hervor – und damit ist tatsächlich in erster Linie seine Person als solche gemeint, nicht unbedingt der Inhalt seiner Reden. Zwar reagieren die Menschen durchaus auch positiv (z. B. mit Beifall / Gelächter) auf die gehaltenen Ansprachen, um einiges augenfälliger ist jedoch, wie viele Fotos im Verlauf der Veranstaltung von Olaf Scholz gemacht werden. Das Publikum trägt seine Rolle als prominente Autorität durch das ihm entgegengebrachte Verhalten mit, lässt sich bereitwillig auf das Wechselspiel aus Nähe und Distanz ein und befördert es sogar (z. B. wenn Gäste billigend in Kauf nehmen, eine halbe Stunde lang für einen Handschlag und ein gemeinsames Foto mit dem Bürgermeister in einer langen Schlange anzustehen, anstatt das Angebot an Getränken und Häppchen zu nutzen und die eigene Einbürgerung zu feiern).

Starke Publikumsreaktionen lösen überdies auch die Auftritte der wechselnden Kinderchöre aus. Ihre Mitglieder gehören – nach dem Ersten Bürgermeister – zu den meistfotografierten Darstellenden. Nicht zuletzt ist ihre Darbietung maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Zuschauenden sich (etwa im Falle des Hamburg-Medleys) veranlasst fühlen mitzusingen und mitzuschunkeln. Die durch den Einsatz von Kinderchören erzielte Emotionalisierung – die weiter oben bereits angesprochen wurde – zeigt hier ihre Wirkung.

Am prominentesten tritt das Publikum schließlich in dem Moment in Erscheinung, da es sich für das Singen der Nationalhymne von seinen Stühlen erhebt, ohne von offizieller Seite dazu aufgefordert zu werden. Zwar erfolgt die Aufforderung durchaus indirekt, indem der Erste Bürgermeister aufsteht, dennoch drängt sich unweigerlich ein Eindruck von Zwanglosigkeit auf. Ohne zu wissen, dass der Impuls zu dieser kollektiven Handlung von Olaf Scholz ausgeht, könnte man meinen, hier sei ein gemeinsamer Wille am Werk, hier offenbare sich eine geschlossene Haltung. Spätestens in diesem Augenblick vollzieht sich (wenigstens in der Inszenierung des Rituals) der symbolische Übergang – die passage – vom Ausländer zum Staatsbürger bzw. von der Ausländerin zur Staatsbürgerin und bestätigt damit den (staats)nationalistischen Anspruch einer kollektiven (nationalen) Identifikation.

Der Einbürgerungsfilm

Neben der zentralen Rede des Ersten Bürgermeisters und dem Höhepunkt der Urkundenverleihung ist der oben bereits erwähnte EinbürgerungsfilmFootnote 102 einer der wichtigsten Inszenierungsbausteine der Hamburger Einbürgerungsfeiern und soll als solcher hier gesondert betrachtet werden. Der Film ist v. a. deswegen interessant, weil er eine Brücke schlägt zwischen massenmedialem Diskurs und ritueller Diskursinszenierung. Er aktualisiert alle wichtigen Deutungselemente der staatsnationalen Argumentationslinie und bedient sich dabei zum Teil sehr subtiler Ausdrucksformen. Eben dieses Zusammenspiel aus Bedeutungsreproduktion und (mehr oder weniger) unterschwelliger Inszenierungsstrategie soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

1.) Einstieg (00:00:01–00:00:40): Der Film beginnt mit zwei Schwarzen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, in bunter Tracht, die den Leitspruch der Hamburger Einbürgerungsinitiative aufsagen: „Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause.“ Dabei verspricht sich das Mädchen allerdings und sagt statt „Mein Zuhause“ „Meine Perle“. Als sie ihren Fehler bemerkt, verzieht sie das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln, stöhnt und schlägt sich die Hand vor die Stirn. Eine lustige, unbeschwerte Musik setzt ein. Es folgt eine Überblende zu einigen Hamburg-Impressionen (u. a. Hamburger Hafen, Menschen auf der Straße, Binnenalster). Die Einspielung der Hamburg-Bilder endet mit einer Ansicht des Großen Festsaals im Hamburger Rathaus. Der Blick der Kamera ist zunächst auf einen der großen Kronleuchter an der Decke gerichtet und senkt sich dann langsam tiefer. Man sieht die Wandgemälde und die prunkvolle Architektur des Raumes. Zuletzt fällt der Blick auf die große Zahl von Menschen, die sich unten im Saal versammelt hat. Der Text: „Einbürgerungsfeier – Großer Festsaal – Rathaus Hamburg“ wird eingeblendet. Jetzt verlässt man als Zuschauer_in die Vogelperspektive und ist mitten unter den Gästen. Man sieht, wie einzelne Personen die Treppe zum Großen Festsaal heraufkommen oder sich drinnen einen Platz suchen. Viele von ihnen sind People of Color, viele tragen überdies ‚traditionelle‘ Gewänder. Eine Frau trägt Hijab. Auffällig ist des Weiteren, dass die Kamera in dieser ersten Szene ausschließlich weibliche Personen in den Fokus nimmt.

Schon in den ersten 40 Sekunden des Films werden einige wichtige Elemente des staatsnationalen Diskurses aktualisiert. Zunächst sorgt der humorvolle Einstieg mit den beiden Kindern für einen niedrigschwelligen, emotionalen Zugang. Die Tatsache, dass beide Kinder Schwarz sind, fließend Deutsch sprechen und regionalspezifische (‚nicht-deutsche‘) Trachten tragen, stützt die staatsnationale These von kultureller – oder überhaupt menschlicher – Hybridität. Weitergehend gefördert wird dieser Eindruck nicht zuletzt auch dadurch, dass der Versprecher des Mädchens ganz eindeutig auf seine Kenntnis des lokalpatriotischen Hamburg-Schlagers „Hamburg meine Perle“ zurückzuführen ist. Mit den anschließenden Hamburg-Impressionen wird überdies sogleich ein lokaler Bezug hergestellt und ein identifikativer Ankerpunkt geschaffen. Die nahtlose Überblende zu den Einbürgerungsfeiern platziert diese in einem lokalen Kontext – hamburgische Identität (nicht so sehr deutsche Nationalität) steht hier im Vordergrund. Ähnlich wie Verkaaik es in den Niederlanden beobachtet, wird versucht, die abstrakte Makroebene der Nation vermittels konkreter Kultur- und Identitätsfragmente der lokalen Mikro- bzw. Mesoebene persönlich erfahrbar und anschlussfähig zu machen.Footnote 103 Diese lokale Identitätskategorie mit ihrer klassischen (Hafen)Symbolik und homogenisierenden Tendenz erfährt allerdings sogleich eine erhebliche Auflockerung durch die Heterogenität der Menschen, die auf den Einbürgerungsfeiern zu sehen sind. Explizit werden hier Personen gezeigt, die entweder bewusst (‚fremd‘)kulturelle Symbole mobilisieren, oder die allein schon aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes die Idee einer homogenen Abstammungsgesellschaft obsolet erscheinen lassen. Hamburg inszeniert sich als multikulturelle Metropole, als Einwanderungsland und ‚Tor zur Welt‘.Footnote 104 Durch die gezeigten Bilder und die humorvolle Musik wird die inszenierte Multikulturalität überdies in ein durchweg positives Licht gerückt.

2.) Die Protagonistinnen (00:00:40–00:03:10): Die Musik endet und man hört die Stimme einer Frau, die eine Eingebürgerte mit Ursprungsland Afghanistan zur rituellen Urkundenverleihung bittet. Bei einem kurzen Schwenk über die Bühne ist eine Gruppe von Eingebürgerten mit ihren Urkunden zu sehen. Auch die beiden Kinder vom Anfang des Films sind mit dabei. Dann wird gezeigt, wie die soeben Aufgerufene ihren Platz verlässt, um nach vorne zu kommen. Es handelt sich um eine junge, blonde, blauäugige Frau. Sie erreicht die Bühne, schüttelt dem Ersten Bürgermeister die Hand und erhält ihre Urkunde. Nun setzt eine andere, ‚soulige‘ Musik ein und es kommt zu einer neuerlichen Überblende. Die Kamera folgt der jungen Frau. Sie ist modisch gekleidet, hat die blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden und spaziert durch die Grünanlagen von Planten und Bloomen, nahe der Universität. Währenddessen offenbart ein eingespielter Text, dass sie Jurastudentin ist. In einem Voiceover hört man die Stimme der Protagonistin. Man erfährt, dass ihre Mutter aus der Ukraine und ihr Vater aus Afghanistan stammt, dass sie in Afghanistan geboren wurde und als Kind mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg fliehen musste. Es folgt ein kurzer Interviewausschnitt. Die junge Frau sitzt neben dem großen Spielplatz von Planten und Bloomen und erzählt, dass sie mit diesem Ort viele schöne Kindheitserinnerungen verbindet. Wieder eine Überblende: Die Protagonistin schlendert durch die juristische Fachbibliothek der Universität Hamburg und nimmt ein Buch aus dem Regal. Ein Voiceover verrät, dass sie in der dritten Klasse noch kein Wort Deutsch sprach und mit ihrer Familie in einer Unterkunft für Asylsuchende lebte. Sie sagt: „Heute, 13 Jahre später, studiere ich an der Universität Hamburg Jura.“ Im Anschluss daran kehrt die Handlung des Films zur Einbürgerungsfeier zurück. Man sieht die junge Frau noch einmal auf der Bühne stehen, dann schwenkt die Kamera zum applaudierenden Publikum. Abermals hört man die Stimme vom Rednerpult, die eine Eingebürgerte zur Urkundenverleihung bittet. Auch diesmal handelt es sich um eine junge Frau, nun aber mit Herkunftsland Thailand. Auch sie kommt durch den Mittelgang nach vorn und schüttelt Olaf Scholz die Hand. Wieder setzt eine neue Musik ein und wieder folgt eine Überblende. Man sieht die junge Protagonistin an der Binnenalster entlanglaufen. Sie trägt ihre dunklen Haare offen, dazu eine blaue Jeansjacke. Die Kamera schwenkt langsam über das Wasser und die dahinterliegende Hamburger Skyline. Ein eingeblendeter Infotext offenbart indessen, dass die Protagonistin Einzelhandelskauffrau ist. Gleichzeitig sagt ihre Stimme im Voiceover: „Reisen und die Welt entdecken, das liebe ich über alles. Aber wenn ich diesen Blick sehe, dann weiß ich, bin ich zuhause.“ Sie lächelt in die Kamera. Die nächste Überblende zeigt sie zuhause beim Kochen. Im Voiceover berichtet ihre Stimme, dass sie als Siebenjährige mit ihrer Mutter nach Deutschland kam und nun schon seit 20 Jahren hier lebt. Inzwischen sei ihre Mutter zwar wieder nach Thailand zurückgekehrt, aber vorher habe sie ihr noch das Kochen beigebracht. In einem kurzen Interviewausschnitt beteuert die Protagonistin, thailändisches Essen sei für sie das Beste, das es auf der Welt gibt. Diese Aussage wiederholt sie noch einmal auf Thailändisch. Dann sagt sie: „Und meine Muttersprache will ich auch nicht verlieren.“ Gleich darauf kehrt die Handlung noch einmal zur Einbürgerungsfeier zurück. Die Musik verstummt, denn gerade in diesem Augenblick hält Olaf Scholz seine Rede. Er betont: Die neue Staatsbürgerschaft bedeutet keinesfalls, dass man seine Wurzeln aufgeben muss. Im Gegenteil sei die mitgebrachte Vielfalt eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft.

Die Vorstellung der Protagonistinnen dauert insgesamt etwa zweieinhalb Minuten und fasst diverse wichtige Kernelemente des staatsnationalen Diskurses zusammen. Die gezeigten Personen sind jung, gebildet und erfolgreich. Sie betonen ihre identifikative Verwurzelung in der ‚neuen‘ Heimat (wobei die Stadt Hamburg wieder eine prominente Rolle einnimmt) und demonstrieren gleichzeitig die (partielle) Beibehaltung ihrer mitgebrachten Kultur in Form einzeln ‚konsumierbarer‘ – das heißt hyperkultureller – Kulturfragmente. Auf diese Weise verkörpern sie voll und ganz das kosmopolitische Integrationsideal des staatsnationalen Diskurses – die Verbindung von Kulturen, die Verbindung von lokaler Identität und globaler Weltoffenheit (so etwa beim Thema Reisen). Die Hervorhebung von Mehrsprachigkeit knüpft an die Vorstellung vom kosmopolitischen Humankapital an. Die beiden Frauen fügen sich in ‚vorbildlicher‘ Weise in die Subjektposition der ‚guten Migrantin‘ bzw. der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ ein. Sie sind ganz offensichtlich voll und ganz in die Gesellschaft eingebunden und – aufgrund ihrer Jugend, ihrer Bildung und ihres wirtschaftlichen Erfolgs – tatsächlich eine unbestreitbare Bereicherung. Durch die Erzählung der persönlichen Lebensgeschichten, die Nennung von Hobbys und Vorlieben und die subtile Einspielung unterschiedlicher Musikstile wird überdies die Individualität der Protagonistinnen hervorgehoben und auf emotionaler Ebene für die anvisierte Zielgruppe anschlussfähig gemacht.Footnote 105 Essentialistische, kulturfundamentalistische und biologistisch-rassistische Stereotypen werden durchbrochen – ganz besonders im Falle der blonden, blauäugigen Frau aus Afghanistan. Kultur und Identität werden hier als hybrides (und individuelles!) Produkt aus Prägung und Lebensweg inszeniert. Der Prozess ihrer Entwicklung bleibt dabei weitgehend unproblematisch. Es kommt zu keinen Widersprüchen oder Brüchen. Vielfalt ist kein Problem, Vielfalt ist ein Potenzial – und diese These wird, nachdem der Film hierfür die notwenigen Argumente geliefert hat, vom Ersten Bürgermeister Olaf Scholz auch noch einmal offiziell ausformuliert.

3.) Der Erste Bürgermeister (00:03:10–00:04:25): Die Handlung verlässt erneut den Schauplatz der Einbürgerungsfeiern und zeigt nun stattdessen den Ersten Bürgermeister Olaf Scholz. Er befindet sich im Gespräch mit einer Gruppe junger Menschen (vermutlich Schüler_innen der gymnasialen Oberstufe). In einem Voiceover erklärt er, dass die Einbürgerung ein demokratisches Erfordernis sei. Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben – so Scholz – sollten in der Konsequenz auch alle staatsbürgerlichen Rechte erhalten. Wieder wird übergeblendet. Jetzt sitzt der Erste Bürgermeister an einem langen Tisch im Hamburger Rathaus und hält das Anschreiben in der Hand, das im Rahmen der Hamburger Einbürgerungsinitiative an alle potenziellen Einbürgerungskandidat_innen verschickt wurde. Er liest still den Text, während seine Stimme im Voiceover einen Ausschnitt des Briefes vorträgt. Die Kamera zoomt dabei langsam an ihn heran, zeigt erst Olaf Scholz und dann das Anschreiben, das er in Händen hält. Schließlich legt er den Brief vor sich auf den Tisch, nimmt einen Füllfederhalter und setzt seine Unterschrift darunter. In einem anschließenden Interviewausschnitt sagt er, bei der Briefkampagne gehe es v. a. darum, den Leuten zu zeigen: „Wir wollen, dass du dabei bist. Wir wollen dich als Staatsbürger. Und diese Geste ist sehr wichtig, glaube ich, für sehr viele. Mir ist sie jedenfalls wichtig.“ Nach altem Muster schwenkt die Handlung nun wieder zurück zur Einbürgerungsfeier. Der offizielle Teil der Veranstaltung ist dort inzwischen vorüber. Man sieht Olaf Scholz umgeben von einer Menschentraube. Die Leute machen Fotos von und mit ihm. Er lächelt und unterhält sich freundlich mit den Eingebürgerten.

In diesem kurzen Ausschnitt des Films wird das wohl wichtigste Thema der Hamburger Einbürgerungsinitiative aktualisiert – Integration als demokratische Teilhabe und die Einbürgerung als deren unverzichtbare Voraussetzung. Durch den Status und die Autorität des Ersten Bürgermeisters erlangt diese Deutung zusätzliches Gewicht. Ganz unzweifelhaft soll hier Authentizität erzeugt werden: Der Erste Bürgermeister propagiert demokratische Teilhabe nicht bloß in der politischen Arena. Vielmehr lebt er sie, indem er sich tagtäglich der Debatte stellt und bereit ist, mit jungen Menschen über aktuelle Themen zu diskutieren. Außerdem wird seine Rolle als Schirmherr der Initiative hervorgehoben. So betont er im Interview nicht nur deren besondere Bedeutung, sondern liest zudem auch das Anschreiben der Briefaktion gegen, bevor er es persönlich unterzeichnet. Die Botschaft lautet: Das Thema Einbürgerung ist der Stadt Hamburg und ihrem Bürgermeister wichtig. Migrant_innen sind nicht nur allgemein willkommen, sondern überdies auch herzlich dazu eingeladen, deutsche Staatsangehörige zu werden. Das Wechselspiel aus Nähe und Distanz, das in diesem Teil des Films (wie auch allgemein im Zuge der Einbürgerungsfeiern) inszeniert wird, ist ein wichtiges Instrument zur Erzeugung emotionaler Macht. Durch das ehrwürdige, rituelle Setting des Rathauses und der langen Tafel, an welcher der Bürgermeister sitzt, sowie auch durch die Dramaturgie der Szene selbst, die ihn – als Person mit erheblichem symbolischen Kapital – allein, still und ernsthaft in die Lektüre vertieft zeigt, werden er und seine Rolle im Goffman’schen Sinne mystifiziert.Footnote 106 Gleichzeitig wird diese Mystifikation jedoch auch wieder durchbrochen, wenn man Olaf Scholz im angeregten Gespräch mit jungen Menschen sowie im persönlichen (und persönlich bewegten) Kontakt mit den Eingebürgerten sieht. Durch diesen strategischen ‚Bruch der Fassade‘ sowie auch durch den eingespielten Interviewausschnitt, in welchem er seine persönliche, emotionale (!) Motivation hervorhebt („Mir ist sie jedenfalls wichtig.“) wird – wie Wilce es formuliert hat – der Eindruck einer gemeinsamen emotionalen Erfahrungswelt hergestellt, welche Eingebürgerte und Bürgermeister untrennbar miteinander verbindet.Footnote 107

4.) Der Einbürgerungsprozess (00:04:25–00:06:35): Im ersten Teil des nun folgenden Filmabschnitts kehrt die Kamera zurück zu der Protagonistin mit thailändischem Migrationshintergrund und begleitet sie auf ihrem Weg zur Hamburger Einbürgerungsabteilung. In einem Voiceover berichtet die junge Frau von ihren Beweggründen für die Einbürgerung. Der zentrale Grund ist dabei rein pragmatischer Natur: Als thailändische Staatsbürgerin musste sie in Deutschland erheblichen Behördenaufwand in Kauf nehmen, um z. B. ihren Pass verlängern zu lassen. Mit einer deutschen Staatsangehörigkeit bleibt ihr dies in Zukunft erspart. Ihre Geschichte setzt sich indes im Warteraum der Einbürgerungsabteilung fort. Wie durch Zufall begegnet sie dort der zweiten Protagonistin. Die junge Frau mit afghanischem Migrationshintergrund wird zum Gespräch gerufen. Der Sachbearbeiter kommt dazu persönlich ins Wartezimmer. Er schüttelt der Antragstellerin die Hand, begrüßt sie freundlich und bittet sie in sein Büro. Währenddessen sagt ihre Stimme im Voiceover, dass für sie schon lange klar war, als deutsche Staatsangehörige mit gleichen Rechten in Deutschland leben zu wollen. Es folgt die Nachstellung eines Gesprächs zwischen Sachbearbeiter und Antragstellerin. Der Mitarbeiter der Einbürgerungsabteilung nennt darin noch einmal die Voraussetzungen, die für eine Anspruchseinbürgerung erforderlich sind, und fügt dann hinzu, dass aufgrund des bisherigen Lebensweges und des hohen Bildungsstandes der jungen Frau alle Kriterien erfüllt seien. Nach dem Gespräch verweilt die Kamera im Büro des Sachbearbeiters und beobachtet ihn bei der Arbeit am Computer. In einem Voiceover und einem sich daran anschließenden face-to-face Interview betont er, wie sehr die Lebensleistung der Menschen, die tagtäglich zu ihm kommen, ihn beeindrucke. Nach vielen Widrigkeiten hätten sie in Hamburg ein neues Zuhause gefunden, bereicherten hier das Leben und wollten – durch den Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit – jetzt endlich ganz und gar ankommen. Seine Aufgabe sei es, ihnen bei diesem Prozess zu helfen. Eine Überblende zeigt den Sachbearbeiter daraufhin auf einem Fußballplatz. Dort trainiert er eine Gruppe Jugendlicher, viele davon People of Color. Wieder setzt eine neue Musik ein. Man schaut den Jungen beim Training zu. Der Sachbearbeiter – der nun Trainer ist – gibt Anweisungen. Im Voiceover erzählt er, dass Hamburg eine Stadt sei, die historisch betrachtet schon immer von Einwanderung geprägt wurde. Ein gutes Beispiel hierfür sei die Mannschaft, die er ehrenamtlich trainiere: „Da ist es egal, was die Jungs zuhause essen, welche Musik sie hören, was sie glauben oder in welcher Sprache sie fluchen. Hier spielen wir alle nach den gleichen Regeln.“

Die drei Teile des hier beschriebenen Filmausschnittes nehmen auf unterschiedliche Bausteine des staatsnationalen Diskurses Bezug. Im Ersten Teil wird auf subtile Weise verdeutlicht, dass pragmatische Gründe für eine Einbürgerung durchaus legitim sein können – denn schließlich hat die entsprechende Protagonistin schon an früherer Stelle ihre emotionale Verbundenheit mit Hamburg (und Deutschland) ausreichend glaubhaft gemacht. Im zweiten Teil blitzt noch einmal das Thema demokratische Teilhabe auf, im Kern geht es jedoch um das Einbürgerungsverfahren als solches. Ganz offensichtlich soll hier den potenziellen Ängsten der Antragstellenden entgegengetreten werden. Es wird gezeigt, dass das oftmals als übermäßig bürokratisch verschriene Verfahren tatsächlich viel weniger problematisch ist als angenommen. Außerdem ist das Verhalten des Sachbearbeiters sowie auch dessen Wertschätzung für die Leistung der Migrant_innen dazu angetan, etwaige Vorurteile gegenüber der Einbürgerungsabteilung zu entkräften. Der Einbürgerungsfilm aktualisiert damit nicht nur den zweidimensionalen Integrationsbegriff des staatsnationalen Diskurses sowie dessen Subjektposition des/der ‚guten Migrant_in‘, überdies bringt er auch zum Ausdruck, wie viel die Stadt Hamburg mit ihrer Initiative dafür getan hat, dass die Hürden im Einbürgerungsprozess sinken. Im Letzten Teil des Filmausschnitts werden die Hemmschwellen gegenüber der Behörde dann noch weitergehend abgebaut, indem man den Sachbearbeiter als Privatmenschen zeigt und ihn damit nahbar und sympathisch macht. Gerade diese Individualisierung sozialer Kategorien durch die Nutzung individueller Fallbeispiele ist – nach Wilce – eine zentrale Emotionalisierungstechnik.Footnote 108 Außerdem wird durch das Gleichnis zwischen Fußballmannschaft und Hamburger Stadtgemeinschaft ein Kernelement der staatsnationalen Argumentation aufgegriffen: Jedes Individuum ist unterschiedlich geprägt und bringt unterschiedliche (kulturelle) Hintergründe mit (diese nehmen im Film wiederum die Form hyperkultureller Versatzstücke an), trotzdem spielen alle (völlig unproblematisch) nach denselben (transkulturellen) Regeln – ob nun in der deutschen Gesellschaft oder auf dem Sportplatz. Der nationale / lokal-hamburgische Mythos von der historisch gewachsenen quasi-natürlichen Einwanderungsgesellschaft unterstreicht diese Deutungslinie umso mehr.

5.) Das Lotsenprojekt (00:06:35–00:08:05): Wir sind zurück im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses. Die Einbürgerungsfeier ist in vollem Gange. Gerade singt der Kinderchor ‚Hamburg meine Perle‘ von Lotto King Karl. Man sieht noch einmal den Sachbearbeiter der Einbürgerungsabteilung, der nun im Publikum sitzt, dann schwenkt die Kamera zu Tülin Akkoç, der Leiterin des TGH-Lotsenprojekts. Auch sie befindet sich unter den Gästen. Eine Überblende zeigt Akkoç in den Räumlichkeiten der TGH bei einem Beratungsgespräch. Indessen spricht sie im Voiceover über die Ängste und Unsicherheiten, die viele Antragstellenden umtreiben. Manche hätten Sorge, ein Stück ihrer Identität zu verlieren, wenn sie ihre alte Staatsangehörigkeit abgeben, andere befürchteten Konflikte mit der Familie oder mit den Behörden des Herkunftslandes und wieder andere scheuten einfach die bürokratischen Hürden des Antragsverfahrens. Aus diesem Grund gebe es in Hamburg ehrenamtliche Einbürgerungslotsen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern, die bei all diesen Fragen weiterhelfen könnten. Es folgt eine weitere Überblende. Türkische Musik wird eingespielt. Die Kamera begleitet Tülin Akkoç auf einer Barkassenfahrt. Im Voiceover berichtet sie, dass sie in Hamburg geboren wurde, ihre Eltern jedoch aus der Türkei stammen. Deswegen war sie zunächst türkische Staatsangehörige. Im Alter von 20 Jahren habe sie sich schließlich für eine Einbürgerung entschieden. Als Beweggrund führt sie an, dass sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland sieht und in allen öffentlichen Angelegenheiten mitentscheiden möchte. Sie sei daher seit über 10 Jahren Deutsche. Vieles an ihr sei aber trotzdem auch noch türkisch, so z. B. ihr Musikgeschmack. Sie sagt: „Ich höre ausschließlich türkische Musik.“ Dann übersetzt sie diesen Satz ins Türkische.

Bei seiner Vorstellung des Hamburger Lotsenprojektes reproduziert der Film die üblichen Argumente, die im Zusammenhang mit dieser Beratungsleistung für gewöhnlich angeführt werden. So hebt er u. a. den niedrigschwelligen Zugang hervor, betont den ehrenamtlichen Charakter des Angebotes und die Authentizität der Lots_innen. Die Projektleiterin Tülin Akkoç befindet sich dabei in einer interessanten Doppelrolle. Zum einen ist sie offizielle Vertreterin der Initiative, zum anderen ist sie selbst aber eben auch Eingebürgerte. Dieser Umstand trägt maßgeblich zur Glaubwürdigkeit der hier inszenierten Projektvorstellung bei. In dem kurzen Exkurs über ihre eigene Einbürgerungsentscheidung greift Akkoç – wie vor ihr schon die beiden anderen Protagonistinnen – zentrale Elemente des staatsnationalen Diskurses auf. Zum einen charakterisiert sie die Einbürgerung als Voraussetzung für volle demokratische Teilhabe, zum anderen aktualisiert sie noch einmal das staatsnationale Ideal multipler Identitäten und hybrider Kulturen. Akkoç sieht sich selbst sowohl als Deutsche als auch als Türkin. Sie will sich in die deutsche Gesellschaft einbringen und (politische) Verantwortung übernehmen, gleichzeitig hört sie aber am liebsten türkische Musik. Abermals wird an dieser Stelle kulturelle Vielfalt zelebriert. Kultur nimmt dabei (wiederum im Sinne der Reckwitz’schen Hyperkultur) die Form frei ‚konsumierbarer‘ Fragmente an, die, quasi nach Belieben, individuell zusammengefügt werden können. Augenfällig ist, dass alle Elemente eingebrachter Kultur, die im Verlauf des Films zu sehen (und zu hören) sind, ihrer Natur nach als relativ unproblematisch gelten können. Gezeigt werden kulturelle Aspekte wie Sprache, Musikgeschmack oder die Vorliebe für landesspezifische Küche. Kontroversere Themen wie beispielsweise Religion oder etwa Geschlechterrollen bleiben hingegen unbeleuchtet. Alle Eingebürgerten, die der Film an prominenter Stelle zeigt, sind jung, erfolgreich und weiblich. Das hat sicherlich v. a. damit zu tun, dass problematisches Verhalten in der öffentlichen Debatte zumeist eher männlichen und sozial benachteiligten Migranten zugeordnet wird. Zudem rekurrieren ethnonationale, kulturfundamentalistische Stereotype auf die (vermeintliche) Unterdrückung von Frauen sowie (vermeintlich) ‚rückständige‘ Rollenbilder seitens migrantischer (und insbesondere muslimischer) Minderheiten. Indem der staatsnationale Diskurs diesen Rollenbildern aktiv widerspricht, aktualisiert er das antagonistische Verhältnis zu seinem konstitutiven Gegenüber. Des Weiteren gelangen Gender-Thematik und feministischer Aktivismus in der deutschen Gesellschaft (sowie auch im transnationalen Raum der Massenmedien) zu immer größerer Bedeutung. Dieser Umstand scheint sich prominent in der hier zu beobachtenden Diskursverschränkung auszudrücken und ist damit ein weiteres Beispiel für Strategien der Idealisierung nach Goffman. Durch die Darstellung positiv konnotierter und sozial erwünschter Personenmerkmale (in diesem Fall Jugend, Bildung und wirtschaftlicher Erfolg – auch und gerade in Verbindung mit Weiblichkeit), treten negative Implikationen quasi-automatisch in den Hintergrund. In diesem Sinne verkörpern die gezeigten Personen ein modernes (und unkritisches) Idealbild von Integration. Anderweitige Aspekte und etwaige Hindernisse (z. B. ‚Integrationsdefizite‘, einander widersprechende, kulturelle Wertmaßstäbe oder auch strukturelle Diskriminierungserfahrungen) werden ausgeblendet. Es entsteht der Eindruck einer friedlichen, harmonischen, multikulturellen Stadt und einer ebenso friedlichen, harmonischen, multikulturellen Nation, die durch Migration und Integration fortwährend bereichert werden.

6.) Abschluss (00:08:05–00:09:42): Am Ende des Films werden noch einmal die beiden zentralen Protagonistinnen gezeigt. Im Hintergrund läuft dabei wieder die unbeschwerte Musik, die schon zu Beginn zu hören war. Zunächst sieht man die junge Frau mit thailändischem Migrationshintergrund. Sie geht lächelnd auf die Kamera zu während sie im Voiceover von ihren Träumen für die Zukunft berichtet. Sie wünscht sich, ein eigenes Geschäft zu führen und in ihrer Freizeit anderen Menschen mit thailändischem Migrationshintergrund die deutsche Sprache näher zu bringen. Nach demselben Muster folgt dann eine Einstellung mit der anderen jungen Frau. Diese wiederum wünscht sich eine gerechtere, tolerantere und demokratischere Gesellschaft. Das deutsche Grundgesetz, so sagt sie, bilde hierfür eine gute Grundlage. Nun werden nacheinander verschiedene Menschen eingeblendet, die jeweils das Motto der Hamburger Einbürgerungsinitiative (bzw. Teile davon) rezitieren: „Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause.“ Die Menschen sind unterschiedlich alt, haben unterschiedliche Geschlechter und tragen unterschiedliche Kleidung. Die meisten von ihnen sind People of Color. Manche sprechen akzentfrei Deutsch, andere nicht. Auch die beiden Kinder vom Anfang sind wieder mit dabei. Das Mädchen fragt den Jungen: „Mein Zuhause oder meine Perle?“ – Darauf der Junge: „Mein Zuhause.“ Der Film schließt damit, dass die beiden noch ein letzten Mal das Motto wiederholen, diesmal fehlerfrei. Der Junge lächelt. Dann folgt der Abspann.

Mit ihren Wünschen für die Zukunft reproduzieren die beiden Protagonistinnen einen wichtigen Aspekt des staatsnationalen Integrationsleitbildes – soziales und politisches Engagement. Die zentrale Deutungsfigur von den ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ als besonders ‚vorbildliche‘ und in diesem Sinne vielleicht sogar ‚bessere‘ Deutsche wird hier noch einmal aktualisiert. Überdies betont die junge Frau mit afghanischem Migrationshintergrund den transkulturellen Rahmen der deutschen Verfassung – wiederum ein wichtiges Motiv des staatsnationalen Diskurses. In besonderem Maße werden hier die diskursiven Identitätsangebote und Rollenerwartungen ausformuliert, durch ihre Inszenierung vermittels ‚vorbildlicher‘ Einzelfälle emotionalisiertFootnote 109 und auf diese Weise subtil in die subjektiven Sinnwelten der Adressat_innen eingeschrieben. Das staatsnationale Ideal des/der ‚kosmopolitischen Staatsbürger_in‘ gewinnt dabei eklatant an Einfluss. Dieses Ergebnis deckt sich nahtlos mit anderen Studien, welche auf die Konstitution staatsbürgerlicher Rollenbilder im Rahmen von Einbürgerungsfeiern hinweisen.Footnote 110 Der Film schließt letztlich mit den Eingebürgerten und ihren (wenigstens augenscheinlich) sehr unterschiedlichen Migrationshintergründen, wodurch das multikulturelle, kosmopolitische Gesamtbild weitergehend abgerundet wird. Durch die mehrmalige Wiederholung des Kampagnenmottos – das bereits an und für sich durch die verwendeten Begriffe und deren metaphorische Symbolik sowie auch durch die verschiedenen identifikativen Anknüpfungspunkte an Hamburg und Deutschland eine starke emotionale Dimension aufweist – tritt die Handlung (abermals) in den Bereich des Rituellen ein. Ihre emotionale Wirkung wird damit exponentiell befördert.Footnote 111 In dieser bedeutsamen letzten Szene zeigt sich das Wechselspiel zwischen Individualität und Gemeinsamkeit, das sich als Leitlinie durch die gesamte Handlung des Films zieht. Die einzelnen Personen werden als Individuen mit unterschiedlichen Identitäten und Lebensgeschichten inszeniert. Die Einbürgerungsfeier im Hamburger Rathaus führt diese Individuen jedoch immer wieder zusammen, verzwirnt die Fäden ihrer einzelnen Erzählungen zu einer gemeinsamen Geschichte. Aus Individuen wird eine Gemeinschaft. Der rituelle Übergang in den Staat und die Nation wird auf diese Weise symbolisch versinnbildlicht. Da der Film auf den Feiern selbst gezeigt wird (und zwar zu einem sehr frühen Zeitpunkt, noch vor der offiziellen Begrüßung), nimmt er zudem unwillkürlich eine Metaperspektive ein – die Gäste im Publikum sehen ihre eigene Situation durch die Augen der gezeigten Protagonistinnen. Ihre persönliche Erfahrung wird gefiltert und auf subtile Weise in die Argumentationslinie des offiziellen, staatsnationalen Diskurses eingeflochten. Die Teilnehmenden werden sozusagen auf das Ritual der Feiern ‚eingestimmt‘. Dabei bildet v. a. der omnipräsente Hamburg-Bezug einen entscheidenden, kollektiven Ankerpunkt. Dieser Aspekt wird in Abschnitt 5.3 noch weiterführend von Bedeutung sein. An dieser Stelle lässt sich aber bereits festhalten, dass hamburgische Identität im Kontext der Einbürgerungsinitiative, der Einbürgerungsfeiern und des offiziellen Einbürgerungsdiskurses ebenso wichtig (oder sogar noch wichtiger) zu sein scheint, als die nationale Zugehörigkeit als solche. Dies korrespondiert in hohem Maße mit den Erkenntnissen anderer Studien, die ebenfalls die enorme Bedeutung lokaler Anknüpfungspunkte für die Inszenierung (abstrakter) nationaler Identität betonen.Footnote 112

Zentrale Beobachtungen

Im Verlauf dieses Unterkapitels wurden die Einbürgerungsfeiern als rituelle Inszenierung des staatsnationalen Diskurses analysiert. Dabei lag das Augenmerk zunächst auf den Feiern selbst. Vor diesem Hintergrund wurden Bühnenbild, Darstellende, Handlung und Publikum einer detaillierten Betrachtung unterzogen. Des Weiteren wurde eines der wichtigsten Elemente der Feiern – der Einbürgerungsfilm – separat erörtert und damit ein Brückenschlag zwischen Diskursethnographie und klassischer Diskursanalyse vollzogen. Im steten Rückbezug auf den massenmedialen Diskurs und die zentralen Deutungselemente seiner Storyline konnte gezeigt werden, dass die Hamburger Einbürgerungsfeiern mit ihren unterschiedlichen Inszenierungsbausteinen alle wesentlichen Deutungsmuster des staatsnationalen Diskurses aktualisieren. Dazu gehören konstruktivistische Vorstellungen von (Hyper)Kultur und Identität, ein subjektivistischer Nationenbegriff, ein kosmopolitisches Menschenbild sowie eine Vision von Integration als gleichberechtigter demokratischer Teilhabe. In diesem Sinne zeichnet die Inszenierung ein vollständiges Spiegelbild des staatsnationalen Diskurses. Ihr ritueller Charakter trägt überdies dazu bei, die diskursiven Versatzstücke aus ihrem alltagsweltlichen Kontext zu lösen, wodurch sie dessen ‚Korrektiv‘ weitestgehend entzogen sind. Techniken der Emotionalisierung sowie die ständige Reproduktion von Aussagen sorgen weitergehend dafür, dass die Diskursbotschaft von den Anwesenden leichter verinnerlicht werden kann. Die teilnehmenden Gäste der Feiern befördern diesen Prozess (bewusst oder unbewusst) durch ihre Präsenz und ihr kooperatives Verhalten.

Vier zentrale Techniken der Eindrucksmanipulation sind, sowohl bei der Analyse der Zeremonie als auch bei der Analyse des Einbürgerungsfilms, in besonderem Maße hervorgetreten. Klassisch im Rahmen von Ritualen ist hier zunächst die Idealisierung des Geschehens sowie der handelnden Akteur_innen durch die Bezugnahme auf konventionalisierte (und positiv konnotierte) Symbole, Werte und Rollenerwartungen.Footnote 113 Momente der Idealisierung waren an verschiedener Stelle zu beobachten. Sie verbinden das Ritual mit der umgebenden Alltagswelt. Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass die rituelle Form ein Ereignis zwar aus dem Alltag der Akteur_innen heraushebt, dass es sich jedoch niemals gänzlich von selbigem entkoppeln kann, weil es gerade die Verbindung zum Alltag ist, die ihm letztlich seine Macht verleiht.Footnote 114 Auf diesen unvermeidlichen Widerspruch, wird weiter unten noch ausführlicher einzugehen sein.

Zweitens ist das Wechselspiel aus Mystifikation und gezielt inszenierter Nahbarkeit zu nennen, welches in erheblichem Maße dazu beiträgt, den sozial definierten Status und das hohe symbolische Kapital des Ersten Hamburger Bürgermeisters zu unterstreichen, bzw. für die Ziele des Diskurses nutzbar zu machen. Gerade das partielle Durchbrechen der Distanz hat zur Folge, dass die Hamburger Einbürgerungsfeiern – sowie auch die gesamte Initiative und darin insbesondere die umfangreiche Briefaktion – als besondere ‚Ausnahme vom Alltäglichen‘ erscheinen. Auf diese Weise wird der Status der Eingebürgerten maßgeblich aufgewertet. Sie werden (wenigstens im unmittelbaren Kontext der Zeremonie) zur privilegierten Gruppe.

Die dritte wesentliche Inszenierungsstrategie, die im Rahmen der Feiern (und des Films) zu beobachten war, ist die umfänglich Emotionalisierung des Geschehens – sei es durch den Einsatz von Musik, den Einsatz von Kindern, den Einsatz ritueller Rede- bzw. Handlungsstrukturen oder die Individualisierung und Entanonymisierung der Darstellenden, die durch das Erzählen persönlicher Lebensgeschichten erzielt wird. Verkaaik hat darauf hingewiesen, dass Rituale die Emotionen ihrer Teilnehmenden ansprechen müssen, um ihre Botschaft wirkungsvoll transportieren zu können.Footnote 115 Im Kontext von Einbürgerungsfeiern und Einbürgerungsfilm ist dieser Mechanismus sehr anschaulich zu beobachten. So reagiert das Publikum v. a. auf die emotionalen Momente der Feiern, beispielsweise auf die Auftritte des Kinderchors, auf die persönliche Wertschätzung durch Olaf Scholz oder auch auf den Humor, den der Erste Bürgermeister (bzw. etwaige Gastredner_innen) in ihre Ansprachen einfließen lassen.

Viertens und letztens gewinnt der staatsnationale Diskurs durch seine Rückbindung an eine lokale Hamburger Identität erheblich an Auftrieb. Damit wird nicht nur das kosmopolitische Ideal von lokaler und globaler Verbundenheit reproduziert, die emotionale Anknüpfung an den ‚Heimathafen‘ erleichtert auch die weitere emotionale Integration in das ‚große Ganze‘ der deutschen Nation. Dadurch, dass das Abstrakte mit dem Partikularen assoziiert wird, kann eine identifikative Verbindung entstehen, die ansonsten nur schwer zu erreichen wäre. Indem die Einbürgerungsfeiern ein passendes (!) Bild von Hamburgischer Gemeinschaft imaginieren, objektifizieren bzw. essentialisieren sie diese Gemeinschaftskategorie und erheben sie zum Modell für nationale Gemeinschaft als solche. Damit nehmen sie die Form von Cultural Performances nach Guss an, wie sie in Abschnitt 3.5 beleuchtet wurden. Der staatsnationale Diskurs geht an dieser Stelle eine Liaison mit einer anderen Deutungsströmung im Diskursfeld ein, die sich ganz und gar um die Stadt Hamburg dreht und diese als multikulturelles ‚Tor zur Welt‘ inszeniert. Ich nenne diese dritte Diskursströmung deshalb etwas provokativ den Hamburg-Mythos – auch in Anlehnung an die Erfindung nationaler Mythen im Rahmen von Hobsbawms Invented Traditions.Footnote 116 In Abschnitt 5.3 soll dieser Hamburg-Mythos näher vorgestellt und seine innere Logik nachvollzogen werden. Dabei wird von besonderem Interesse sein, inwiefern staatsnationaler Diskurs und Hamburg-Mythos einander positiv ergänzen und durch wechselseitige Kooperation diskursive Macht entfalten.

Anhand der Publikumsreaktionen und überdies auch anhand der Expert_inneninterviews, die in Abschnitt 5.1 erörtert wurden, lässt sich ablesen, dass die Techniken der Eindrucksmanipulation im Rahmen der Feiern durchaus Wirkung zeigen. So tragen die Adressat_innen den Diskurs aktiv mit, indem sie zunächst einmal an den Feiern teilnehmen (was, wie Abschnitt 3.5 gezeigt hat, keinesfalls selbstverständlich ist), sich überdies festlich kleiden, in das Wechselspiel aus Darbietung und emotionaler Publikumsreaktion einsteigen und (wie etwa im Zuge der Expert_inneninterviews) die besondere (persönliche) Bedeutung der Zeremonie als rite de passage (bzw. als dessen Abschluss) herausstreichen.Footnote 117 Dieser Eindruck setzt sich fort, wenn man einen Blick in das Gästebuch wirft, das regelmäßig auf den Feiern ausliegt. Dessen Einträge fallen, soweit ich das im Rahmen der Veranstaltungen beobachten konnte, durchweg positiv aus. Worte wie „Danke“, „Endlich“ oder „Ich bin Hamburger“ sind darin zu lesen. Dabei werden immer wieder auch Elemente des staatsnationalen Diskurses reproduziert. Es ist demnach davon auszugehen, dass die Feiern selbst erheblich zu dessen Institutionalisierung beitragen. Durch Ritualisierung und Inszenierung entfalten diskursive Inhalte Macht. Sie ziehen die Rezipient_innen in ihren Bann. Sie werden auf subtile Weise im Unterbewusstsein der Teilnehmenden verankert oder, um mit Bourdieu zu sprechen, einverleibt.Footnote 118

Zumindest gilt diese Erkenntnis für den unmittelbaren Moment der Feiern. Wie man anhand der Interviews und der quantitativen Konsensanalyse gesehen hat, kann die (durch seine Ritualisierung wenigstens partiell erfolgte) Abtrennung des Diskurses von der umkämpften Arena des weiteren Diskursfeldes zwar seine Macht stärken, zurück in der gesellschaftlichen Alltagswelt mit ihren heterogenen Wirklichkeiten, muss er sich jedoch letztlich der Konfrontation mit anderen Diskursen stellen, die diese Macht ggf. beschneiden, bzw. auf seine jeweilige Dekodierung Einfluss nehmen. Seine Macht – egal wie groß – ist also niemals absolut. Ganz wie mit Foucault in Abschnitt 2.3 und 2.4 festgestellt wurde, provoziert Macht immer auch Gegenmacht. Das zentrale Paradox der beiden dominanten Diskurse im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative ist es dabei, dass sie ihre Macht einerseits wechselseitig beschneiden, dass eben dieses antagonistische Verhältnis andererseits aber auch wesentlich dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass sie überhaupt (!) Macht entfalten. Dies zeigt sich in besonderer Weise im Kontext von Einbürgerungsfilm und Einbürgerungsfeiern. So wird durch die ständige Reproduktion und die hochgradig emotionale Inszenierung des staatsnationalen Diskurses dessen Narration zwar zum einen gegen Angriffe von außen abgeschirmt, zum anderen können aber gerade die emotionalen Komponenten der Darstellung nur deshalb Macht ausüben, weil sie sich implizit auf eben dieses ‚Außen‘ beziehen. Das positive Bild der jungen, erfolgreichen und ‚liebenswerten‘ Migrantinnen, wie der Film es zeichnet, ist nur deshalb so ausgesprochen mächtig und kann nur deshalb in so außerordentlicher Weise positiv empfunden werden, weil es der ethnonationalen Negativzuschreibung ‚ungebildeter‘, ‚feindseliger‘ und ‚fauler‘ Migranten (und hier ist explizit die männliche Form gemeint) widerspricht. Das Herausheben der Eingebürgerten als besonders ‚gute‘ oder gar ‚bessere‘ Deutsche, die in privilegierter Weise vom Ersten Bürgermeister gewürdigt werden, bewegt die Adressat_innen v. a. deshalb, weil sie sich in ihrem Lebensalltag und insbesondere im Hinblick auf den Prozess der Integration ansonsten oft benachteiligt und diskriminiert fühlen (zumindest legen die Expert_inneninterviews in Abschnitt 5.1 diesen Schluss nahe). Vor diesem Hintergrund kann die zentrale Funktion von Ritualen weniger im kategorischen Ausschließen konträrer Realitäten gesehen werden, als vielmehr in einer gezielten Dichotomie von Aus- und Einschluss. Hier schließt sich der Kreis zur ethnologischen Identitäts- und Ethnizitätsforschung, wie sie in Abschnitt 2.2 vorgestellt wurde: Nationalistische Diskurse ziehen demnach ihre Macht im Wesentlichen aus der Produktion von emotionalen Identitätsangeboten bzw. aus der Aneignung dieser Angebote durch ihre jeweiligen Adressat_innen. Die diskursiven Identitätsangebote wiederum entstehen aus dem konstitutiven Antagonismus zu dem, was sie jeweils nicht sind – aus dem konstitutiven Wechselverhältnis mit anderen, konkurrierenden Diskursen und deren konträren Rollenbildern. Macht wird dabei v. a. vermittels der gezielten Betonung, bzw. des gezielten Herunterspielens einzelner Deutungselemente generiert. In diesem Sinne geht es weniger darum, gegnerische Diskurse ‚auszulöschen‘. Vielmehr geht es darum, diskursive Wirklichkeiten in vorteilhafter Weise zu hierarchisieren und gegnerische Positionen als konstitutive Unwahrheit zu markieren. Diese zentrale These bringt einige weiterführende Implikationen mit sich: Wenn nationalistische Diskurse ein antagonistisches Gegenüber benötigen, um ihre eigene Wirklichkeitsordnung erfolgreich durchsetzen zu können, dann müssen sie nicht nur die von ihnen konstruierte Wirklichkeit gegen Angriffe von außen abschirmen. Sie müssen überdies auch zwangsläufig dafür Sorge tragen, dass eben dieses ‚Außen‘ – nämlich der konstitutive Antagonismus als solcher – bestehen bleibt. In doppelter Hinsicht setzt dies eine Resistenz gegenüber Verständigung und Konsensualisierung voraus. Ebenso setzt es aber auch voraus, dass Diskurse ihre jeweiligen Gegendiskurse im Bewusstsein ihrer Adressat_innen immer ein Stück weit reproduzieren müssen, um sie zu widerlegen. Diskurs und Gegendiskurs verankern sich sozusagen gegenseitig. Der grundlegende Unterschied zwischen ihnen besteht maßgeblich darin, welchen Platz sie sich selbst und einander in der Hierarchie ihrer symbolischen Sinnwelt zuweisen, bzw. wo sie sich selbst und einander auf der kulturellen Skala zwischen Wahrheit und Unwahrheit verorten. Dieser dichotome Prozess ist in hohem Maße eigendynamisch. Das bedeutet jedoch nicht, dass einzelne Akteur_innen ihm blindlings unterworfen wären. Wie einige der Beispiele in Abschn. 5.1 gezeigt haben, können Individuen durchaus aus der antagonistischen Logik ausbrechen oder diese grundlegend neu interpretieren. Ob dies ein bewusster Akt oder vielmehr die Folge komplexer Machtverhältnisse zwischen unterschiedlichsten Diskursen ist, muss als Frage an dieser Stelle offen bleiben. Klar ist indes, dass Diskurse nicht aus sich selbst heraus mächtig sind. Sie erhalten ihre Macht durch Zustimmung, implizit oder explizit, durch teils bewusste, teils unbewusste Kooperation zwischen Sprecher_innen und Adressat_innen – sowie durch die gemeinschaftlich erzeugte emotionale Wirkung, die durch eben dieses Wechselspiel entsteht.

Die obigen Überlegungen beziehen sich in erster Linie auf die beiden hier untersuchten dominanten Nationalismen. Ob sie ohne Weiteres auf andere nationalistische Diskurse übertragen werden können, ist an dieser Stelle nicht restlos geklärt. Zumindest jedoch hat Abschnitt 2.5 gezeigt, dass gesellschaftliche Antagonismen für den deutschen Nationalismus schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben. So konstituierte dieser sich zunächst als Gegendiskurs zur herrschenden Monarchie. Später, als der Nationalismus im deutschen Kaiserreich zur legitimierenden Staatsideologie aufstieg und das konstitutive Gegenüber der ‚feindlichen‘ Regierung(en) damit entfiel, begann der deutsche Nationalismus sich in zunehmendem Maße ein neues konstitutives Gegenüber zu schaffen – nämlich das der ‚unerwünschten Fremden‘ und der ‚Reichsfeinde‘. Überdies konstituierte sich der deutsche Nationalismus in akademischen Beiträgen wie denjenigen Meineckes oder Herders v. a. in Abgrenzung zum staatsnationalen Gegenentwurf anderer europäischer Staaten.Footnote 119 Hierin ist eine gewisse Parallele zum heutigen Widerstreit von ethnonationalen und staatsnationalen Modellen erkennbar. Die in Abschn. 2.1 vorgestellte interdisziplinäre Nationalismusforschung betont des Weiteren die wichtige Funktion welche der aktiven Exklusion von Außenstehenden im Rahmen der kollektiven Imagination von nationaler Gemeinschaft zukommt. In ähnlicher Weise deuten auch ethnologische Arbeiten (wie etwa diejenigen EriksensFootnote 120) auf die herausragende Rolle von ‚konstitutiven Fremden‘ innerhalb und außerhalb der Nation hin. Vor diesem Hintergrund scheinen die obigen Thesen plausibel und über den Horizont dieser Arbeit hinaus verallgemeinerbar. In jedem Fall ist die Frage, inwiefern diskursive Antagonismen – und antagonistische Identitätskategorien – zur Konstitution nationalistischer Ideologien beitragen und / oder auch in anderen Bereichen von diskursiver Sinngebung relevant sind, ein interessanter Ansatzpunkt für die weiterführende diskursethnologische Forschung.

In Kapitel 4 dieser Arbeit sind das polyseme Fundament und die antagonistische Konstitution der untersuchten Diskursströmungen als zentrale Beobachtungen hervorgetreten. Die widerstreitenden Identitätskategorien, die aus dieser diskursiven Dynamik erwachsen, sind im vorliegenden Kapitel 5 bereits mehrfach und auf unterschiedliche Weise zur Geltung gekommen. Emotionale Machteffekte haben dabei eine herausragende Rolle gespielt. Im Gegensatz dazu wird sich das nachfolgende Abschnitt 5.3 mit der Frage beschäftigen, inwiefern Macht, Emotion und Identität auch aus der friedlichen Koexistenz und dem ‚einvernehmlichen Miteinander‘ unterschiedlicher diskursiver Deutungslinien entstehen können. Wie schon angekündigt steht dabei der dritte dominante Diskurs des hier untersuchten Diskursfeldes im Mittelpunkt – der lokalpatriotische Hamburg-Mythos vom multikulturellen ‚Tor zur Welt‘. Seine perpetuierende Wechselwirkung mit dem staatsnationalen Diskurs ist im gesamten Kapitel 4 sowie auch in Unterkapitel 5.2 dieser Arbeit schon vielfach zu Prominenz gelangt. Sie wird daher im Folgenden von maßgeblichem Interesse sein.

5.3 Der dritte Diskurs: Ein Hamburg-Mythos

In Abschnitt 5.2 wurde gezeigt, dass der Stadt Hamburg – sowie auch der mit ihr assoziierten identifikativen Symbolik – eine herausragende Rolle für die Selbstinszenierung des staatsnationalen Diskurses zukommt. Tatsächlich ist im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative neben den beiden bereits vorgestellten dominanten Einbürgerungsdiskursen noch ein dritter, ebenfalls dominanter Diskurs zu beobachten, der sich zwar seinerseits nur sekundär auf das Thema Einbürgerung bezieht, der jedoch eng mit dem staatsnationalen Diskurs verzahnt und deswegen von besonderer Bedeutung für das hier behandelte Thema ist. Es handelt sich dabei um einen historisch fokussierten Hamburg-Mythos, der die Freie und Hansestadt als multikulturelles Tor zur Welt imaginiert. Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Deutungsmuster seiner Argumentationslinie präsentiert und deren Querverbindungen zum staatsnationalen Diskurs aufgezeigt werden. Ein knapper historischer Überblick widmet sich im Anschluss daran den geschichtlichen Wurzeln des Hamburg-Mythos und vergleicht die darin propagierte Diskursrealität mit dem wissenschaftlichen Forschungsstand. Eine abschließende Zusammenfassung wird die Ergebnisse miteinander in Beziehung setzen und weiterführend auf das Zusammenspiel von Hamburg-Mythos und staatsnationalem Diskurs eingehen. In besonderer Weise wird dabei die Frage im Vordergrund stehen, wie sich aus interdiskursiver Symbiose Macht entfalten kann.

Der Hamburg-Mythos

Deutungsmuster: Der im Themenfeld Einbürgerung so dominante Hamburg-Mythos lässt sich in drei zentrale Deutungsmuster aufgliedern. Das erste und mit Abstand prominenteste dieser drei Muster besagt, dass die Freie und Hansestadt auf eine lange Tradition kosmopolitischer Interkulturalität zurückblicken könne. Hamburg sei eine Hafenstadt und eine wichtige Handelsmetropole und aufgrund dessen schon immer von Migration und kultureller Vielfalt geprägt worden. Sie sei – so das beliebte Schlagwort – ein historisch gewachsenes Tor zur Welt. Überdies habe man in Vergangenheit und Gegenwart erheblich von Zuwanderung und gesellschaftlicher Pluralität profitiert. Migration sei ein unabdingbarer Bestandteil der Hamburger Stadt-Identität und wesentliche Triebfeder ihrer modernen Innovationskraft.

Kommentar: Schon in diesem ersten der drei Deutungsfragmente wird die kooperative Beziehung zum staatsnationalen Diskurs offenbar. Beide Diskurse teilen den multikulturellen Gesellschaftsbegriff und die optimistische Grundhaltung gegenüber Migration und Integration. Beide Diskurse stellen kosmopolitische Bezüge her. Überdies fügt sich der Hamburg-Mythos nahtlos in die symbolische Sinnwelt des staatsnationalen Diskurses ein, insofern er dessen Deutungslinie eine wesentliche Legitimationsgrundlage liefert. Gemeint ist hier die kollektive Imagination einer positiven historischen Migrationserfahrung sowie deren argumentative Untermauerung durch (ausgewählte!) geschichtliche ‚Fakten‘ einerseits und Hafen-/ Hansesymbolik bzw. -metaphorik andererseits. Der Zusammenhang zwischen Hafen, Hanse und Weltoffenheit wird dabei naturalisiert und essentialisiert. Er erscheint unhinterfragbar und impliziert damit nicht nur eine spezifische Vorstellung von der Stadt als solcher, sondern ebenso eine spezifische Vorstellung von deren Bewohner_innen als ‚kosmopolitischen Hamburger_innen‘ im lokalpatriotischen Sinne. Das nützt dem staatsnationalen Diskurs in doppelter Hinsicht: Erstens schafft der Hamburg-Mythos das identifikative Modell einer ‚multikulturellen Nation im Kleinen‘, das unproblematisch auf die nationale Makroebene übertragen werden kann. Zweitens unterfüttert er die emotionale Identifikation mit ‚rationaler‘ Logik. Diese Strategie der Rationalisierung, die im gesamten Diskursfeld auf verschiedenste Weise und an unterschiedlichster Stelle zu beobachten ist, wird auch in Abschnitt 5.4 noch weiterführend zu Relevanz gelangen.Footnote 121

  1. „Ole von Beust hob hervor: „In Hamburg leben Menschen aus mehr als 180 verschiedenen Nationen. Auch daran zeigt sich, dass das ‚Tor zur Welt‘ in beide Richtungen offen steht (sic!). Weltoffenheit ist unsere Visitenkarte. Genau deshalb darf sie auch nicht nur Aushängeschild sein. Sie ist eine Aufgabe für uns alle, der wir uns täglich zu stellen haben. Daran haben wir alle mitzuwirken. Und ich möchte gerade die neuen deutschen Staatsbürger auffordern, sich einzubringen und auszudrücken, wo und wann immer es geht und notwendig ist. Nur so kann der Dialog funktionieren, den wir miteinander pflegen sollten, damit ein echtes Miteinander entstehen kann.“Footnote 122

  2. „Als Bürgermeister einer traditionell weltoffenen und international geprägten Stadt wie Hamburg sind auch mir Integration und Toleranz besonders wichtig. Das sprichwörtliche Tor zur Welt will immer wieder aufgestoßen werden. Wir müssen es pflegen, damit es nicht einrostet.“Footnote 123

  3. „Zur Identität Hamburgs gehörte seit jeher, für Einwanderungswillige offener zu sein als viele andere Städte. Schaut man in der Geschichte zurück, stellt man fest: Die Einwanderer machten Hamburgs Entwicklung zur multikulturellen Weltstadt von heute erst möglich.

    1490 etwa war kein einziger der vier amtierenden Bürgermeister in Hamburg geboren. Als die Hanse 1497 vorschrieb, das Bürgerrecht und die Genehmigung für ein Gewerbe Fremden aus Nicht-Hansestädten vorzuenthalten, umging das der Rat der Stadt 1567 durch den Abschluss eines speziellen Fremdenkontrakts mit den englischen Textilkaufleuten, den sogenannten ‚Merchants Adventurers‘.

    1605 erhielten auch Zuwanderer aus den spanischen Niederlanden und andere Gruppen einen ähnlichen Vertrag. 1638 wurde für den Abschluss solcher Kontrakte sogar eigens eine besondere Kommission eingesetzt.

    Sicher, das hatte vor allem wirtschaftliche Gründe: Handel und Gewerbe sollten möglichst unbeschränkt gedeihen können. Dazu gehörte aber auch die gesellschaftliche Integration der Neubürgerinnen und Neubürger, um die sich die Stadt aus innerer Überzeugung kümmerte. Und bis heute ist Hamburg eine ‚Ankunftsstadt‘ geblieben.

    Wie stolz Hamburg auf seine Weltoffenheit ist, wird immer wieder betont, und auch ich erinnere gern daran. Ich sage aber auch: Wir Hamburger müssen uns diesen Ruf stets aufs Neue erarbeiten.

    Seit Jahrhunderten kamen Frauen und Männer aus allen Ländern nach Hamburg, und viele sind geblieben. Heute kann Hamburg auch auf seine Vielfalt stolz sein, die unsere Stadt und unser Land insgesamt bereichert: Mehr als 180 Nationen sind bei uns vertreten. Und jeder, der sich entschließt hierzubleiben, bringt eigene Vorstellungen mit, seine eigene Geschichte, individuelle Begabungen und Talente.“Footnote 124

  4. „Ich wünsche mir, dass Sie spüren: Sie sind uns hier willkommen. Hamburg war als Hansestadt immer schon von Einwanderung geprägt und hat von anderen Kulturen profitiert. Seit dem 16. Jahrhundert beeinflussten viele Einwanderer und Händler unsere stets kosmopolitische Weltstadt auf positive Weise.“Footnote 125

  5. „Wer im Internet die Begriffe ‚Hamburg‘ und ‚Traumstadt‘ sucht, findet mehr als 25.000 gemeinsame Fundstellen. Offenbar können sich nur wenige Hamburgs internationalem Flair entziehen, wenn im Hamburger Hafen die Schiffe von jedem entlegenen Winkel unserer Erde einlaufen, wenn auf den Straßen Menschen aus 185 Nationen in unendlich vielen Sprachen und Dialekten miteinander ins Gespräch kommen. Wer lebt nicht gern in solch einer bunten, lebendigen Stadt?“Footnote 126

  6. „Die Einbürgerungsinitiative von Bürgermeister Olaf Scholz ist gut für Hamburg und ein Vorbild für Deutschland. Anders als Herr Dobrindt meint, wird hier mitnichten der deutsche Pass ‚verramscht‘, sondern es wird den hier seit langem lebenden Ausländern gezeigt, dass sie in unserem Land willkommen sind. Das passt zu Hamburg als seit Jahrhunderten weltoffener Stadt und zu Deutschland als modernem, dynamischen Staat. Was für Herrn Dobrindt ‚wirr‘ ist, ist tatsächlich menschlich und pragmatisch. Wirr sind vielmehr die Versuche Herrn Dobrindts, die CSU im Gespräch zu halten und ihr den Anstrich bundespolitischer Bedeutung zu verschaffen.“Footnote 127

Deutungsmuster: Im zweiten wichtigen Deutungsmuster des Hamburg-Mythos inszeniert sich die Stadt als emotionaler Heimathafen und schlägt damit die Brücke zum Thema Einbürgerung. Dabei wird impliziert, dass Hamburg ein starker Ankerpunkt für die emotionale Identifikation und das Zugehörigkeitsgefühl seiner Bewohner_innen sei und somit die notwendige Verbundenheit schaffe, die letztlich überhaupt erst den Ausschlag für eine Einbürgerungsentscheidung gebe. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, die Einbürgerung sei immer und zu gleichen Teilen auch ein Bekenntnis zur Hansestadt. Einerseits stiftet Hamburg also Identität, andererseits wird die gestiftete Identität durch den Akt der Einbürgerung aktualisiert.

Kommentar: Die hier etablierte zweischneidige Argumentationslinie macht nicht nur den Hamburg-Mythos im hohen Maße anschlussfähig für den staatsnationalen Diskurs, umgekehrt instrumentalisiert der Hamburg-Mythos auch die staatsnationale Narration um seinen eigenen Wirklichkeitsanspruch sowie sein zentrales Identitätsangebot – nämlich die Subjektposition des/der ‚lokalpatriotischen, kosmopolitischen Hamburger_in (mit oder ohne Migrationshintergrund)‘ – zu zementieren. Nach dieser Lesart braucht nationale Identifikation immer, unbedingt und zuallererst auch lokale Identifikation. Indem lokale und nationale Identität in eins gesetzt und untrennbar mit der Einbürgerung assoziiert werden, legitimieren die Diskurse sich letztlich gegenseitig. Das zeigt sich u. a. auch in den untenstehenden Zitaten:

  1. „…wenn Sie gefragt werden, wo Sie zu Hause sind, dann sagen Sie wahrscheinlich ganz selbstverständlich: Hamburg! Sie leben seit vielen Jahren hier und haben ein stabiles Aufenthaltsrecht, wie das im Behördendeutsch heißt. Ich will das mal so übersetzen: Nachdem Sie schon längst Hamburgerin oder Hamburger geworden sind, könnten Sie wahrscheinlich auch mit einem einfachen Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen.“Footnote 128

  2. „Für ein Land, für eine Stadt kann es kein schöneres Kompliment geben, als dass die Bewohner sich darin zuhause und gut aufgehoben fühlen. Dass sie diesen Ort als ihren persönlichen Hafen betrachten und sich mit Deutschland so identifizieren, dass sie sich ganz und gar dazu bekennen und ein gleichberechtigter Teil der Gemeinschaft werden wollen.“Footnote 129

  3. „Sie selbst wissen es ja längst – Hamburg hat eine Menge zu bieten, weit über Arbeitsmöglichkeiten, Kultur- und Freizeitangebote hinaus. Und Hamburg ist eine weltoffene, polyglotte, kosmopolitische Stadt.

    Wir heißen Sie mit offenen Armen willkommen, mit Ihrer Erfahrung, Ihren Kenntnissen und Gepflogenheiten, Ihrer ganz eigenen Biografie.

    Ob Sie eine Lehrerin aus Finnland sind, ein Automechaniker aus Marokko, eine Köchin aus dem Libanon, ein (sic!) hier geborene Schülerin mit türkischen Eltern, die sich auf den Abschluss vorbereitet, oder ein Sportler wie Arawat Sabejew: Sie werden nicht alle Europameister oder sechsfache Deutsche Meister werden. Aber Ihnen allen wünsche ich Erfolg und das nötige Quantum Glück dabei, sich als Deutsche in Hamburg Ihre ganz persönlichen Träume zu erfüllen!

    Noch einmal herzlich willkommen bei uns und vielen Dank.“Footnote 130

  4. „Wir freuen uns, dass sich die Zahl der jährlichen Einbürgerungen seit 2009 verdoppelt hat. Wir empfinden es als Bestätigung, dass Sie sich auf Ihrer Suche nach einer neuen Heimat für Hamburg entschieden haben.“Footnote 131

  5. „Bei manchen von Ihnen wird diese Entscheidung jahrelang gereift sein, bis sie ganz bewusst gesagt haben: Ja, ich fühle mich inzwischen als Deutsche oder als Deutscher. Das Land und die Stadt sind Ihnen mit der Zeit ans Herz gewachsen und zu Ihrer Heimat geworden.

    Für manche andere hat die Entscheidung in ihrem persönlichen Gefühl vielleicht immer schon festgestanden – zum Beispiel, wenn sie in Hamburg geboren sind, und sich immer zuvorderst als Hamburger verstanden haben, ganz unabhängig davon, aus welchem Land ihre Eltern stammen oder in welchem Konsulat Sie bisher ihren Ausweis beantragt haben.“Footnote 132

  6. „Grund für die Offensive der Senate ist die Tatsache, dass mehr als eine halbe Million Menschen in der Stadt einen Migrationshintergrund haben. Dieser solle keine künstliche Trennung mehr beinhalten. In einer Senatsmitteilung aus dem Februar diese (sic!) Jahres heißt es: „Es geht also nicht mehr um ‚die einen und die anderen‘, sondern es geht um ‚uns‘ – um das ‚Wir‘ aller Hamburger“.“Footnote 133

Deutungsmuster: Im dritten und letzten Deutungsmuster des Diskurses wird Hamburg als Vorbild in Sachen Integration und Einbürgerung in Szene gesetzt. Nicht zuletzt auch aufgrund ihrer langen interkulturellen Tradition sei die Stadt eine Vorreiterin bei der Eingliederung von Migrant_innen. Sie gewähre außerordentlich viel Unterstützung im Integrationsprozess sowie auch beim Thema Einbürgerung. Die Wirksamkeit ihres Engagements zeige sich dabei insbesondere an den Erfolgen der Hamburger Einbürgerungsinitiative.

Kommentar: Wiederum nutzen die beiden Diskurse einander in diesem Schnittpunkt ihrer Erzählungen als Ressource. So kann der staatsnationale Diskurs an das Stereotyp der weltoffenen und ‚caritativen‘ Hansestadt anknüpfen, um die besondere Bedeutung seiner Initiative herauszustreichen und diese für die Adressat_innen (mit Migrationshintergrund) weitergehend (emotional) attraktiv zu machen. Dabei wird außerdem Anschuldigungen vorgegriffen, die etwa das Engagement des Hamburger Senats als politisches Kalkül brandmarken (wie Abschnitt 4.1 gezeigt hat, sind solche Deutungslinien durchaus im Diskursfeld existent). Andersherum profitiert der Hamburg-Mythos aber auch von der massenmedialen Präsenz des staatsnationalen Diskurses und von seiner überaus öffentlichkeitswirksamen Initiative, da diese in erheblichem Maße seine innere Logik untermauert und die Subjektposition des/der ‚lokalpatriotischen Hamburger_in‘ weitergehend stärkt. Denn: Je mehr ‚Vorbildcharakter‘ eine Stadt in einem positiv konnotierten sozialen und / oder politischen Handlungsfeld an den Tag legt, desto attraktiver wird sie (sowie die emotionale Identifikation mit ihr) für ihre etwaigen Bewohner_innen. Gleiches gilt natürlich auch (und vielleicht sogar umso mehr) für die potenziellen Wähler_innen einer ‚besonders erfolgreichen‘ oder ‚besonders vorbildlichen‘ Partei, in diesem Falle der Hamburger SPD, welche (als regierende Partei mit – wenigstens zeitweise – absoluter Mehrheit im Senat) maßgeblich in die Produktion beider Diskurse involviert ist.

  1. „Die Freie und Hansestadt Hamburg nimmt hierbei eine große Vorreiterrolle ein. Seit 2011 läuft unter dem Ersten Bürgermeister OIaf Scholz eine Aktion, die vermehrt Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit zur Einbürgerung ermutigen soll. Das Potenzial in Hamburg ist groß: Allein von den etwa 1,8 Millionen Einwohnern hatten 2011 mehr als 20 Prozent – rund 400 000 Menschen – ausländische Wurzeln, etwa 236 000 von ihnen besaßen noch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Zuge der Einbürgerungsinitiative werden nun monatlich 4000 Briefe an einzelne Bürger verschickt um sie über die Möglichkeiten einer Einbürgerung zu informieren.Footnote 134

  2. „Inzwischen wurden 90.000 der 137.000 Menschen mit ausländischem Pass in Hamburg vom Bürgermeister angeschrieben. Das gute Einbürgerungsergebnis ist auch darauf zurückzuführen, dass die Antragsbearbeitung mittlerweile nur noch 6 Monate beträgt. Im Vergleich zu 2009 hat sich die Zahl der Einbürgerungen sogar fast verdoppelt. Von diesen Ergebnissen zeigt sich Bürgermeister Olaf Scholz auch beeindruckt: „Nirgendwo in der Bundesrepublik, gemessen an der Einwohnerzahl, erhalten so viele Menschen den deutschen Pass wie bei uns. Und nirgendwo wird eine so moderne Zuwanderungsund (sic!) auch Flüchtlingspolitik betrieben.“ Dazu gehörten auch der Vertrag mit den Muslimen und Aleviten sowie das Anerkennungsgesetz für ausländische Berufsabschlüsse.“Footnote 135

  3. „Deshalb erhält in Hamburg jeder, der die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllt – und das sind sehr viele! – alle nur denkbare Unterstützung. Wir wollen Mut machen, ‚Ja‘ zur deutschen Staatsangehörigkeit zu sagen und sich auf das Einbürgerungsverfahren einzulassen.“Footnote 136

  4. „Sie sehen: Hamburg rollt Menschen, die sich für die Einbürgerung interessieren und die nötigen Voraussetzungen erfüllen, einen roten Teppich aus, und ich freue mich, dass Sie alle sich entschlossen haben, diesen wichtigen und manchmal auch mühsamen Schritt in Ihrem Leben zu gehen.“Footnote 137

  5. „Hier selbstbestimmt zu leben, zu arbeiten, sich etwas aufzubauen inmitten einer Großstadt mit hervorragender Infrastruktur, Kultur und Natur, und auch den eigenen Kindern den Weg in eine gute Zukunft zu ermöglichen: das wünschen sich wohl alle Neubürgerinnen und Neubürger. Und wir laden alle ein, die hier dauerhaft bleiben möchten und sich zu den Werten des Grundgesetzes und der Verfassung unserer Stadt bekennen, Deutsche zu werden. Im ersten Halbjahr 2012 erhielten fast so viele Ausländer einen deutschen Pass wie im ganzen Jahr zuvor: Das ist das ermutigende Ergebnis, der messbare Erfolg der Integrationspolitik des Senats.“Footnote 138

Vor allem das letzte hier abgedruckte Zitat sticht besonders hervor, insofern darin auf die Werte „des Grundgesetzes und der Verfassung unserer Stadt“ und nicht etwa ‚unseres Landes‘ oder ‚unserer Nation‘ verwiesen wird.Footnote 139 Stadt, Land, Nation und Staat fallen hier argumentativ in eins, finden ihre identifikative Ausformulierung im Idealbild des/der ‚lokalpatriotischen, kosmopolitischen, deutschen Hamburger_in (mit oder ohne Migrationshintergrund)‘. Diese förmliche Verschmelzung von lokaler und nationaler Ebene ist in erheblicher Weise dazu angetan, das Abstrakte durch das Partikulare erfahrbar und emotional anschlussfähig zu machen. Mit Hilfe des Hamburg-Mythos gelingt es dem staatsnationalen Diskurs, das Thema Einbürgerung affektiv aufzuladen, ohne sich auf die entrückte und wenig fassbare Makroebene der gesamtdeutschen Gesellschaft zu begeben und ohne sich außerdem eines (verpönten) nationalistischen Vokabulars bedienen zu müssen. So hat insbesondere Forsythe darauf hingewiesen, dass viele Deutsche sich aufgrund ihres gespaltenen Verhältnisses zur deutschen Geschichte entschieden von jeder nationalistischen Identifikation lossagen und stattdessen einer Identifikation mit der ‚unproblematischen‘ Ebene des Regionalen zuneigen.Footnote 140 Der staatsnationale Diskurs bietet indes auch (und gerade!) dieser Gruppe eine Möglichkeit, sich in die nationale Identität zu integrieren – indem er seine nationalistische Note hinter einer lokalen Identitätskonstruktion verbirgt. Indem er sich die Symbolik der Mikro- respektive Mesoebene zu eigen macht, um eine ideelle Verbindung zur Makroebene herzustellen, vereinfacht er den Identifikationsprozess ungemein und entfrachtet ihn von ‚unliebsamen‘ ideologischen Implikationen. Auf diese Weise kann sich letztlich jeder mit Deutschland identifizieren – nur assoziiert der oder die eine mit diesem ‚Deutschland‘ vielleicht den Hamburger Hafen und der oder die andere eher das Münchner Oktoberfest.

Der hier beschriebene Mechanismus einer ‚Lokalisierung des Nationalen‘ hat sich in den vorangegangenen Unterkapiteln bereits angekündigt. Im Rahmen der in Abschnitt 5.2 analysierten Einbürgerungsfeiern gelangte er überdies zu voller Blüte. Anhand der obigen Deutungsmuster wird nun offenbar, dass sein Einfluss in erheblicher Weise aus dem teils expliziten, teils impliziten Zusammenwirken zweier unterschiedlicher Diskurse entsteht. Beide Diskurse – der staatsnationale wie auch der lokalpatriotische – entwerfen emotionalisierte Identitätsangebote. Anders als im Falle von staatsnationalem und ethnonationalem Diskurs konstituieren diese sich jedoch nicht aus einem wechselseitigen Antagonismus heraus, sondern vielmehr aus der wechselseitigen Verstärkung durch korrespondierende Deutungselemente. In Anbetracht ihrer symbolischen Kontinuität erlauben die Diskurse eine Hierarchisierung innerhalb ein und derselben symbolischen Sinnwelt, ohne einander dabei umdeuten oder ihre jeweiligen Wirklichkeitsansprüche gegenseitig beschneiden zu müssen. Die Integration erfolgt vielmehr ‚in beiderseitigem Einverständnis‘.

Die symbolische Korrespondenz der beiden Diskurse gelingt v. a. deshalb so reibungslos, weil sie maßgeblich durch dieselben Sprecher_innen produziert und transportiert werden. So wird der Hamburg-Mythos – wie auch der staatsnationale Diskurs – hauptsächlich von den zentralen Akteur_innen der Stadt propagiert. Insbesondere Olaf Scholz ist in dieser Hinsicht sehr aktiv, doch auch andere Vertreter_innen der SPD sowie etablierte Massenmedien wie die Welt und das Hamburger Abendblatt sind an der Verbreitung beteiligt. Z.T. wird der Diskurs überdies von Sprecher_innen aus anderen Bundesländern sowie Sprecher_innen auf Bundesebene aufgegriffen und als Fremd- oder Außenperspektive im Diskursfeld reproduziert. So oder so bleibt er in der Hauptsache – analog zum staatsnationalen Diskurs – auf politische und zivilgesellschaftliche Eliten sowie auf Akteur_innen der massenmedialen Sphäre beschränkt. Hin und wieder taucht er zwar auch in verschiedenen Online-Kommentarforen, angegliedert an Online(Print)Medien, als ‚Leser_innenmeinung‘ auf, ist dort im Verhältnis jedoch unterrepräsentiert.

Insbesondere im Hinblick auf das letzte der drei hier vorgestellten Deutungsmuster muss betont werden, dass der Hamburg-Mythos – wie auch der staatsnationale Diskurs – mit einer klaren, politischen Intention verbunden ist. Beiden geht es um die werbewirksame Vermarktung der Stadt Hamburg und ihrer politischen Ambitionen. Parteipolitische Interessen spielen dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Vor diesem Hintergrund ist es besonders interessant, dass die Stadt Hamburg im Rahmen der oben betrachteten Deutungsmuster regelmäßig personifiziert und vermenschlicht wird – ganz so als ob nicht etwa der Senat oder die Bürger der Stadt dieses oder jenes tun würden, sondern die Stadt höchst selbst ein unabhängiges Eigenleben entwickelt hätte. Diese Art der Darstellung trägt dazu bei, die der Stadt zugeschriebenen Attribute (z. B. Weltoffenheit, Toleranz, Gastfreundlichkeit sowie auch und gerade den politischen Vorbildcharakter) zu naturalisieren. Eine solche Rhetorik erleichtert die diskursive Argumentation ungemein. Sie hilft dabei den Absolutheitsanspruch der eigenen Wirklichkeit durchzusetzen und gegenteilige Wirklichkeiten effektiv auszublenden. Denn: Es ist gar nicht so einfach jemandem glaubhaft zu versichern, dass jede/r einzelne Bewohner_in einer Stadt anderen Lebensentwürfen aufgeschlossen gegenübersteht. Wenn man allerdings die Stadt selbst als einen eigenständigen ‚Organismus‘ betrachtet und es darüber hinaus auch schafft, sein Publikum auf subtile Weise von diesem Eindruck zu überzeugen, erscheint die Behauptung, (ganz) Hamburg sei tolerant, gleich deutlich plausibler.

Ob die oben beschriebenen Dynamiken auf das strategische Handeln einzelner (politischer) Eliten zurückgehen, oder ob sich der interdiskursive Mechanismus wechselseitiger Amplifikation (wenigstens teilweise) im intersubjektiven Bereich des Unbewussten vollzieht, kann hier nicht restlos geklärt werden. Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, ist es jedoch sinnvoll sich mit den historischen Ursprüngen des Hamburg-Mythos und seiner bisherigen Entwicklungslinie zu befassen. Tatsächlich ist die Vorstellung vom Hamburger Tor zur Welt keine neue Idee (was natürlich auch einen Großteil ihrer diskursiven Attraktivität ausmacht). Im nächsten Abschnitt des vorliegenden Teilkapitels soll deshalb nachverfolgt werden, wie dieses symbolträchtige Schlagwort ursprünglich entstanden ist und in welchem Verhältnis seine historischen Wurzeln zur heutigen Verwendung stehen. Dabei soll am Rande auch ein kritischer Blick auf die ‚Hamburgische Stadtgeschichte‘ geworfen werden, wie der Diskurs sie im Verlauf seiner oben dargelegten Argumentationslinie imaginiert. Aufgrund der gegenwartsbezogenen Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit, muss dieser zeitgeschichtliche Einblick notwendigerweise ausschnitthaft bleiben. Einen umfassenderen Überblick bietet hier u. a. Lars Amenda mit seinem Text „Tor zur Welt“. Die Hafenstadt Hamburg in Vorstellungen und Selbstdarstellung 1890–1970. Der folgende Abschnitt bezieht sich in der Hauptsache auf seine Untersuchungsergebnisse.Footnote 141

Das Tor zur Welt

Die Rede vom Tor zur Welt als Bezeichnung für den Hamburger Hafen kommt nicht von ungefähr. Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Tor-Metapher ganz allgemein dazu benutzt, um Häfen oder Küstengebiete zu charakterisieren. Für die Stadt Hamburg war zu dieser Zeit jedoch noch der Titel Welthafen oder Welthafenstadt geläufig.Footnote 142 Amenda schreibt dazu:

„Welthafenstadt war ebenso wie Weltstadt von lokalpatriotischem Stolz erfüllt und grenzte sich gegenüber dem Land und der umliegenden Provinz ab. In beiden Bezeichnungen hallte der hamburgische Partikularismus nach, der sich auch nach der Reichsgründung 1871 eine lange Zeit gegen die vollständige Eingliederung des unabhängigen Stadtstaates in den deutschen Nationalstaat wehrte.Footnote 143 Das bedeutsam klingende Wort ‚Welthafenstadt‘ konnte zwar nicht die verlorene Selbstständigkeit ersetzen, es artikulierte jedoch immerhin eine lokale Identität. Es erinnert an den weltgewandten hamburgischen Kaufmann und seine weitgespannten Handelsbeziehungen, aber auch an eine mentale Disposition, den Kosmopolitismus. Welthafenstadt machte vor allem deutlich, wie sehr Hamburg mit der Welt verbunden war, was sich am ‚Netz‘ der vorhandenen Schifffahrtslinien anschaulich demonstrieren ließ.“Footnote 144

Interessanterweise tauchen hier mehrere Aspekte auf, die in ähnlicher Form auch im modernen Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative zu beobachten sind. Zum einen wäre da das Beharren auf einer partikularen Hamburg-Identität als emotionalem Ankerpunkt, zum anderen ist da der kosmopolitische Gedanke, der in der Selbstdefinition Hamburgs – so wie auch der Hamburg-Mythos sie zeichnet – unablässig mitschwingt. Die Subjektposition des/der ‚lokalpatriotischen, kosmopolitischen Hamburger_in‘ hat insofern ‚Tradition‘. Gleichwohl bemerkt Amenda, dass sich das Label der ‚Welthafenstadt‘ durchaus nationalistisch umdeuten ließ, nämlich als einprägsames Symbol für die wirtschaftliche und politische Leistungsfähigkeit des Kaiserreichs. Schon damals lag die Kraft der Hamburg-Symbolik in ihrer Doppelsinnigkeit begründet. Früher wie heute bedient sie einerseits lokalpatriotische Heimatgefühle und stellt andererseits einen vermittelnden Bezug zum ‚großen Ganzen‘ der deutschen Nation her. Die Deutungsfigur vom identifikativen Heimat- und kosmopolitischen Welthafen ist insofern schon um einiges älter als die ‚Tor zur Welt‘-Metapher als solche, denn diese gelangte erst im Zuge des Ersten Weltkriegs zu allgemeiner Popularität:

„Erst im Gefühl des Verlusts, angesichts der britischen Nordseeblockade und der ausbleibenden überseeischen Schifffahrt, entstand somit die Vorstellung von Hamburg als ‚Tor zur Welt‘. Die Metapher sollte an wirtschaftlich prosperierende Zeiten erinnern und ist folglich eine semantische Vergegenwärtigung der hamburgischen Erfolgsstory vor 1914. Im Schatten des Krieges wirkte die Strahlkraft des wirtschaftlichen Aufstiegs Hamburgs […] umso leuchtender und hob sich deutlich gegenüber dem Stillstand im Hamburger Hafen ab. Am 13. August 1914 lief das vorerst letzte aus Übersee kommende Schiff im Hafen ein – was vorher selbstverständlich war, das […] Gewirr des Hafens, war nun auf einmal Geschichte.“Footnote 145

Wie bei der Entstehung von Invented Traditions üblich, erfolgt die Betonung von Identität also im Moment des drohenden oder bereits eingetretenen Verlusts.Footnote 146 Das Symbol vom Tor zur Welt zeichnet sich vor diesem Hintergrund v. a. durch seine emotionalen Qualitäten aus: „Der Slogan weckte Assoziationen mit Fernweh […]. Das ständig wechselnde Ensemble aus Seeschiffen, die in andere Teile der Welt fuhren oder aus der Ferne kamen, beflügelte Fantasien über die Fremde“.Footnote 147 Die berühmte Hamburg-Metaphorik hat ihren Ursprung also einerseits im bedrohten Selbstbild einer wirtschaftlich erfolgreichen Hafenstadt und andererseits in der romantischen Exotisierung des ‚Fremden‘. Schon früh definierte Hamburg seine Identität demnach über die Exotik des ‚Anderen‘, über die Verbindung von und den Widerspruch zwischen Lokalem und Globalem – ein Motiv, dass sich in der heutigen Debatte in leicht veränderter Form wiederfinden lässt.

Im Verlauf der 1920er Jahre wurde die Metapher vom Tor zur Welt immer beliebter. Dies hatte v. a. auch mit den neuen Strategien und Techniken der Werbebranche zu tun, die den Slogan für ihre jeweiligen Zwecke instrumentalisierte (z. B. im Rahmen von Reiseführern oder Fremdenverkehrswerbung). Ab 1929 ließ die Weltwirtschaftskrise (wieder ein Moment des Verlusts) Hamburgs globale Vernetzung umso deutlicher hervortreten und gab der lokalen Identitätspolitik, wie auch der Romantisierung des Hafens, neuerlichen Auftrieb:Footnote 148

„Im mentalen Bild Hamburgs als ‚Tor zur Welt‘ schwangen historische Assoziationen mit, und es gab eine Reihe von unterschiedlichen Bezügen. Schifffahrt, Hafen und Handel bildeten die zentralen Gedankenketten, daneben flossen aber auch, wenn auch weniger bedeutsam, Auswanderung und Kolonialismus in die Wahrnehmung mit ein. Ein Entstehungszusammenhang besteht möglicherweise mit dem Hamburg-Wappen, welches eine dreitürmige steinerne Burg (somit also nicht die Hammaburg) zeigt, deren Tor verschlossen ist und die damit die Wehrhaftigkeit der Hansestadt anzeigen soll. […] Anregend für die Imagination erwiesen sich zweifelsohne auch Karten mit den regulären Schifffahrtslinien von Hamburg in alle Welt. Die Hapag veröffentlichte gerne Karten, auf denen ihre Liniendienste ein Netz globaler Verbindungen bildete und eine plastische Vorstellung vom ‚Tor zur Welt‘ vermittelte. Hamburg bildete auf solchen Karten den Ausgangs- und Zielpunkt, was seine Position als bedeutendes maritimes Zentrum unterstrich. Selbst wenn das Bild vom ‚Tor zur Welt‘ dabei nicht verwendet wurde, war es doch in den Köpfen präsent – es bedurfte nur eines Anstoßes, um entsprechende Assoziationen zu wecken.“Footnote 149

Die Rede vom Tor zur Welt setzte sich auch in Zeiten des Nationalsozialismus fort, allerdings unter leicht veränderten Bedingungen. „So war es beliebt, Hamburg als Ausfalls- und Einfallstor zu apostrophieren, was vor 1933 zwar auch geschah, aber nicht so verbreitet war“.Footnote 150 Zugleich etablierte sich der Zusatz Deutschlands Tor zur Welt, da diese Formulierung der nationalsozialistischen Ideologie von der unteilbaren deutschen Nation und dem zentralisierten Charakter ihrer Politik besser entsprach.

Das Tor zur Welt bekam nun eine klare Stoßrichtung. Bei seiner Vermarktung ging es um die ‚Leistungen‘ Deutschlands in der Welt, den Kolonialismus, Imperialismus und die Verbreitung des Deutschtums. Gleichzeitig wurden die Bodenständigkeit, die traditionelle ‚germanische‘ Kultur und die nordischen Wurzeln der hamburgischen Bevölkerung betont (oder vielmehr zu Propagandazwecken erfunden). Das Wechselspiel aus Lokalem und Globalem bekommt vor diesem Hintergrund eine völlig neue Konnotation. Hier zeigt sich, wie leicht Symbole, Traditionen und Geschichte im Kontext unterschiedlicher politischer Interessen umgedeutet werden können, ohne dass dabei offene ideologische Brüche entstehen:Footnote 151

„Einen inflationären Gebrauch erlebte die Tor-Metapher 1939, denn angesichts der 750-Jahr-Feier des Hamburger Hafens wurde sie laufend auf Plakaten, in Festreden und Filmen verbreitet. Einige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und erst recht mit den alliierten Bombenangriffen auf Hamburg im Juli 1943 verschwanden die maritimen Bilder Hamburgs dann von der politischen Agenda.“Footnote 152

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem sich daran anschließenden Wiederaufbau der Freien und Hansestadt kehrte die Hamburg-Metaphorik allmählich ins öffentliche Bewusstsein zurück. Sie verwies dabei insbesondere auf den Wiederaufstieg der Hafenstadt und die sich rasch verbessernde wirtschaftliche Lage. Obwohl sich Hamburgs Gesicht mit der zunehmenden Modernisierung fortschreitend veränderte, blieb die alte Hafenromantik wesentlicher Bestandteil des Selbstbildes. Im Sommer 1960 erwies eine Umfrage unter 6.000 Westdeutschen, dass die Inszenierung dieses Selbstbildes auch außerhalb Hamburgs nach wie vor Wirkung zeigte. Insgesamt 65 % der Teilnehmenden ordneten der Hansestadt darin klassische maritime Attribute zu – u. a. auch den inzwischen zur ‚Tradition‘ gewordenen Titel Tor zur Welt.Footnote 153

Als Kontrapunkt zur nationalsozialistischen Vergangenheit wurde Hamburg ab den 1950er-Jahren überdies eine globale Mission übertragen. So legt die 1952 beschlossene Präambel der neuen hamburgischen Verfassung fest, dass „die Hansestadt nunmehr als kulturelle Brücke gegenüber dem Ausland wirken und das demokratische Deutschland repräsentieren“ solle.Footnote 154 Im Wortlaut der Verfassung heißt es:

„Die Freie und Hansestadt Hamburg hat als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene, besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein.“Footnote 155

Eine historisch imaginierte und mit maritimer Symbolik aufgeladene Hamburg-Identität hat in dieser kosmopolitischen (Friedens)Vision genauso ihren Platz wie die gemeinschaftliche Verankerung im übergreifenden Kollektiv der Nation. Auffällig ist dabei v. a. die unweigerliche Implikation eines hamburgischen ‚Vorbildcharakters‘ wie sie im Kontext des heutigen Hamburg-Mythos ebenfalls prominent hervortritt. Tatsächlich ist der repräsentative Auftrag, den die Verfassung der Freien und Hansestadt zuschreibt, nicht neu, ähnelte er doch auf höchst paradoxe Weise der Rolle, die Hamburg schon zu nationalsozialistischer Zeit zugewiesen wurde (wenn auch damals unter gänzlich anderen ideologischen Vorzeichen).Footnote 156

„Die Präambel lässt zwischen den Zeilen aber auch die Interpretation zu, Hamburg habe von jeher eine kulturelle Vermittlerfunktion innegehabt – und damit auch während des ‚Dritten Reichs‘. Somit zog die Verfassung Lehren aus den NS-Verbrechen, war aber auch Teil einer ‚Vergangenheitspolitik‘, die aufgrund liberaler Traditionen und hafenstädtischer Internationalität eine hanseatisch zurückhaltende Ausprägung des Nationalsozialismus in Hamburg nahelegt.“Footnote 157

Diese verharmlosende Interpretation erscheint angesichts der historischen Faktenlage fragwürdig und ist ganz offensichtlich integraler Bestandteil einer neuerlichen symbolischen Umdeutung von Hamburgs (vermeintlich) historisch gewachsener Stadt-Identität.Footnote 158 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie haltbar die zentralen Deutungselemente des traditionsreichen Hamburg-Mythos sind, wenn man sie zu den Erkenntnissen der modernen Geschichtsforschung in Beziehung setzt. Inwiefern kommen inszenierte Diskursrealität und wissenschaftlicher Forschungsstand zur Deckung, inwiefern klaffen sie auseinander? Dies lässt sich anhand einiger Beispiele knapp und ausschnitthaft beantworten.

Die im Diskursfeld immer wieder betonte positive Wirkung von Migration und Globalisierung für die Freie und Hansestadt Hamburg kann aus historischer Sicht durchaus bestätigt werden. Migrant_innen „aus den Niederlanden, aus Spanien und Portugal vertriebene Juden, die über gute Kontakte im Fernhandel verfügten“ trugen maßgeblich dazu bei, dass Hamburg „zum bedeutenden Handelsplatz“ aufstieg.Footnote 159 Von mindestens ebenso großer (wenn nicht zeitweise sogar größerer Bedeutung) waren überdies die Auswanderungswellen, die von den deutschen und europäischen Gebieten aus über Häfen wie Bremerhaven und Hamburg Richtung ‚Neue Welt‘ strömten. Im Zeitraum zwischen 1850 und 1930 reisten Schätzungen zufolge etwa fünf Millionen Menschen über Hamburg nach Amerika aus. Die transatlantische Migration war für die Hamburger Schifffahrtsunternehmen – insbesondere für die Hapag – ein lukratives Geschäft und prägte „bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das Stadtbild in den hafennahen Vierteln“.Footnote 160 Der wirtschaftliche Nutzen trug allerdings nicht unbedingt zur allgemeinen Akzeptanz der Durchreisenden bei:

„Weil sich viele ost-europäische, orthodoxe Juden – abfällig ‚Ostjuden‘ genannt – unter den Migranten befanden, wurden sie immer wieder insbesondere von völkischen und antisemitischen Wortführern angefeindet. Man machte jüdische Auswanderer fälschlicherweise für den Ausbruch der Choleraepidemie in Hamburg verantwortlich, womit auf das rassistische Klischee des unsauberen ‚Ostjuden‘ angespielt wurde. Der Antisemitismus in Hamburg, der in den 1890er Jahren zur politischen Bewegung aufstieg und hier seitdem über eine Hochburg verfügte, sollte weit mehr vor dem Hintergrund globaler Kontakte betrachtet werden, als dies bislang in der Forschung geschehen ist. Der temporäre Aufenthalt von jüdischen Auswanderern und ausländischen Seeleuten provozierte bei einem Teil der Bevölkerung eine Abwehrreaktion, eine übersteigerte Identität des ‚Deutschtums‘. Maxime der Hamburger Politik blieb jedoch, dass das deutsche ‚Tor zur Welt‘ Ausländern offen stehe, solange diese für den Wirtschaftsstandort Hamburg förderlich waren. Die Definition der Nützlichkeit war dabei eng an den sozialen Status und die Klasse des ausländischen Gastes gebunden.“Footnote 161

Noch heute dient der ‚Nutzen‘ von Migration sowohl dem Hamburg-Mythos als auch dem staatsnationalen Diskurs als Legitimationsgrundlage. Dies konnte u. a. in Abschnitt 5.2 anhand der Protagonistinnen des Einbürgerungsfilms demonstriert werden. Sie alle sind jung, weiblich, gebildet und wirtschaftlich erfolgreich. In Kapitel 4 der Arbeit wurde überdies darauf hingewiesen, dass der staatsnationale Integrationsbegriff eine implizite Gleichsetzung von gelungener Integration und (vor allen Dingen wirtschaftlicher) Leistung vollzieht. Vorstellungen von Migration sind in Hamburg-Mythos und staatsnationalem Diskurs untrennbar mit der Assoziation von Fortschritt und ökonomischem Wohlstand verbunden. In eine ähnliche Richtung geht die Deutung vom kosmopolitischen Humankapital, welche innerhalb der staatsnationalen Narration eine zentrale Stellung einnimmt. Negative Aspekte der eigenen ‚multikulturellen‘ Geschichte – wie etwa die immer auch vorhandene Fremdenfeindlichkeit – werden dementgegen (in beiden Diskursen) weitgehend ausgeblendet. Auch der Faktor Auswanderung spielt im Diskursfeld Einbürgerung keine Rolle. Er findet nicht einmal am Rande Erwähnung, obwohl er über Jahrzehnte hinweg das prägende Moment der hamburgischen Migrationserfahrung war. Dieser Umstand ist sicherlich damit zu erklären, dass Abwanderung, ebenso wie Xenophobie und Antisemitismus, nicht in das plakative Bild einer traditionellen ‚Ankunftsstadt‘ passen. Ziel der dominanten Hamburg-Diskurse ist es, historische Kontinuität zu vermitteln und auf diese Weise die eigene Argumentationslinie zu legitimieren. Abweichende Deutungen durchbrechen die innere Logik der Erzählung und finden daher bei den Diskursproduzent_innen keinen Anklang. Ähnlich verhält es sich mit anderen negativen Aspekten, die mit Hamburgs Aufstieg als ‚Welthafenstadt‘ und ‚Tor zur Welt‘ in Verbindung stehen oder sogar maßgeblich für den wirtschaftlichen Erfolg der Stadt verantwortlich sind. So war Hamburg beispielsweise ein „bedeutender Standort der deutschen Kolonialpolitik“ und profitierte erheblich von der imperialistischen Erschließung (besser: Eroberung) der nicht-europäischen Welt.Footnote 162 Üppige Kolonialwaren und die Zurschaustellung kolonialer Exotika trugen in hohem Maße zu Hamburgs romantisierendem Fernweh-Image bei. Eine wesentliche Folge des florierenden Welthandels und des geschäftigen Hafens war überdies die Ausbreitung von Prostitution v. a. im heutigen Stadtviertel St. Pauli. Gerade in der Inflationszeit der frühen 1920er Jahre zog die Stadt zahlreiche Prostituierte an, die auf „ausländische Freier mit stabilen Devisen“ hofften.Footnote 163 Natürlich blendet der Hamburg-Mythos diese Art der Migration sowie auch die kolonialen Schattenseiten der hamburgischen Handelspolitik gänzlich aus. Damit sei nicht gesagt, dass das kosmopolitische Bild, welches der Diskurs mit Blick auf Hamburg propagiert, eine grobe Täuschung wäre. In der Tat prägten der weltoffene Anspruch und die hanseatischen Ideale der Hamburger Kaufmannsschicht die Entstehung eines spezifischen, immer auch schon kosmopolitisch ausgerichteten Hamburger Selbstbildes. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei dieser Schicht um eine wirtschaftliche Elite handelt, die keinesfalls und zu keinem Zeitpunkt die Geisteshaltung der gesamten Stadtbevölkerung repräsentierte.Footnote 164 Wahr ist auch, dass Hamburg durchaus von seinem Status als Knotenpunkt in einer zusehends globalisierten Welt profitiert hat und von dieser Rolle maßgebend geformt wurde.Footnote 165 Die kontinuierliche Linie kosmopolitischer Weltoffenheit und unproblematischer Multikulturalität, die Hamburg-Mythos und staatsnationaler Diskurs in der Debatte entwerfen und etwa auf den Hamburger Einbürgerungsfeiern wiederholt in dispositive Performance umsetzen, ist und bleibt dennoch eine diskursive Inszenierung. Diese Inszenierung mag zum einen gezielt und strategisch erfolgen, zum anderen ist sie aber sicher auch das Ergebnis eines über Jahrzehnte eingelernten und immer wieder den aktuellen Gegebenheiten angepassten Denkmusters: Das Hamburg-Image vom kosmopolitischen Tor zur Welt hat sich in den Köpfen festgesetzt und ist dort eigendynamisch mächtig.

Zusammenführung: Vergangenheit und Gegenwart

Wie die obige Darstellung zeigen konnte, ist der hier beschriebene Hamburg-Mythos die moderne Variante eines lokalpatriotischen Selbstbildes, das bereits in der Zeit um den Ersten Weltkrieg entstand und seither mehrere ideologische Transformationen durchlaufen hat. Seinen Ursprung hatte der Leitspruch vom Hamburger Tor zur Welt im kosmopolitischen Wirtschaftsstreben der Hamburger Kaufmannsschicht einerseits sowie im Moment der Krise und im drohenden Verlust von Identität andererseits. Seither wurde die beliebte Hamburg-Metaphorik durch gezielte Werbe- und Propagandastrategien vermarktet. Verschiedene politische Lager (von Nationalsozialismus bis Sozialdemokratie) bedienten sich ihrer Symbolik, um z. T. diametral verschiedene Ideologien zu legitimieren. Während die Tor zur Welt Metapher lange auf Hamburgs (und Deutschlands) Status in der Welt ausgerichtet war (wirtschaftliche Vernetzung, koloniale Expansion, Auswanderung) zielt sie heute umgekehrt auf die Präsenz globaler Vielfalt innerhalb der Stadt. Das Wechselspiel von Eigenem und Fremdem, von Lokalem und Globalem war dabei schon immer charakteristisch für Hamburgs Selbstinszenierung und Selbstverständnis. Während sich das Augenmerk in früheren Zeiten jedoch eher auf die einseitige Zurschaustellung kolonialer Exotik richtete, werden heute Hybridität, Kulturrelativismus und transkulturelle Werte betont. Es ist davon auszugehen, dass diese wiederholte Umdeutung in Teilen durchaus bewusst und strategisch erfolgte. Politische und zivilgesellschaftliche Eliten spielen hier in Vergangenheit und Gegenwart eine wichtige Rolle. Gleichwohl darf allerdings angenommen werden, dass der Hamburg-Mythos seine Macht gerade auch durch seine (vermeintliche) Historizität sowie durch seine enormen emotionalen Qualitäten erlangt hat. Dadurch, dass der Mythos über Jahre und Jahrzehnte hinweg tradiert wurde, hat er sich inzwischen zum Allgemeinplatz entwickelt (ganz im Sinne der Institutionalisierung nach Berger und Luckmann, die dem einzelnen Individuum immer schon voraus geht, oder auch im Sinne von Bourdieus Doxa)Footnote 166. Die geschickte Umdeutung seines Inhalts konnte durch eben diesen Anschein von Tradition immer wieder unproblematisch erfolgen. Was als traditionell verbürgt gilt, was für Kinder, Eltern und Großeltern gleichermaßen zur Gewohnheit geworden ist, das wird kaum hinterfragt und selten kritisiert. Hinzu kommt, dass der Hamburg-Mythos starke Emotionen mobilisiert und dadurch sein lokalpatriotisches Identitätsangebot in hohem Maße attraktiv erscheinen lässt. Wer bezeichnet sich selbst nicht gern als Bürger_in einer Metropole mit Weltgeltung oder (alternativ) als Vorreiter_in kosmopolitischer Werte? Der Hamburg-Mythos hebt die Stadt aus dem Alltäglichen heraus und verleiht ihr eine Aura des Besonderen. Er grenzt Hamburg gegenüber dem Rest der Nation ab und wertet eben diese Nation – als herausragender Bestandteil derselben – gleichzeitig auf. Er schafft die Verbindung zwischen lokaler Identität, nationalem Stolz und globaler Weltoffenheit. Gerade deshalb bietet er dem staatsnationalen Einbürgerungsdiskurs einen optimalen Anknüpfungspunkt: Er verankert die abstrakte Idee einer kosmopolitisch ambitionierten Staatsnation in einem emotionalen Heimathafen und verleiht ihr dadurch Glaubwürdigkeit. Es ist gewiss nicht unmöglich, auch mit abstrakten Werten und Modellen wie etwa Demokratie, Konstruktivismus, interkultureller Kompetenz oder gar europäischer Integration einen gewissen Grad an persönlicher Identifikation herzustellen. Wesentlich leichter fällt dies jedoch, wenn die entsprechenden Inhalte durch die geschickte Vermischung von Heimat- und Fernwehsymbolik emotional verpackt werden und damit an ein (vermeintlich) traditionelles, (vermeintlich) natürliches Selbstbild anknüpfen. Der emotionale Anker lässt die staatsnationale wie auch die kosmopolitische Vision plausibel erscheinen. Die ideelle Verquickung von Lokalem und Globalem findet im Bild vom Hamburger Tor zur Welt ihre plastische Entsprechung und kann – was noch viel wichtiger ist – anhand historischer ‚Fakten‘ belegt werden. Dass andere, gegenteilige historische Fakten dabei unter den Teppich gekehrt werden, ist gewiss z. T. strategisch gewollt, zugleich aber auch eine unmittelbare Konsequenz der diskursiven Emotionalisierung, welche den Blick von vornherein auf ein schlüssiges, positives Selbstbild reduziert.

Der Hamburg-Mythos bildet für den staatsnationalen Diskurs eine unschätzbare Ressource zur Entfaltung von Macht. Umgekehrt hat die Untersuchung jedoch auch offenbart, dass der Hamburg-Mythos seinerseits maßgeblich vom symbolischen Kapital der Hamburger Einbürgerungsinitiative profitiert. Überdies gewinnt sein Identitätsangebot als ‚Voraussetzung für nationale Identifikation‘ an Legitimität und Bedeutung. Da die beiden Diskurse nicht nur wesentliche Grundbegriffe ihrer jeweiligen Phänomenstruktur miteinander teilen, sondern diese auch noch inhaltlich in gleicher oder ähnlicher Weise ausformulieren, etablieren sie eine starke symbolische Kontinuität, die ihnen wechselseitig Macht verleiht. Durch ihre dominante Position im Diskursfeld entwickeln die Diskurse geradezu hegemoniale Tendenzen. Ihre korrespondierenden Erzählungen und deren jeweilige Machteffekte perpetuieren sich gegenseitig. Vor diesem Hintergrund ist es besonders interessant, dass der Hamburg-Mythos mit seiner Subjektposition des/der ‚lokalpatriotischen, kosmopolitischen, deutschen Hamburger_in (mit und ohne Migrationshintergrund)‘ einen emotional-identifikativen Ausgleich zur staatsnationalen Kategorie des/der ‚guten (geborenen) Staatsangehörigen‘ schafft. Kapitel 4 sowie auch Unterkapitel 5.2 dieser Arbeit haben demonstrieren können, dass sich die diskursive Klasse der ‚Deutschen qua Geburt‘ in einem symbolischen Zustand leichter ‚Benachteiligung‘ gegenüber der Gruppe der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ sowie auch der ‚guten Migrant_innen‘ befindet, insofern der staatsnationale Diskurs diesen beiden Letzteren weitreichende Kompetenzen und Vorteile im Hinblick auf das sozial erwünschte kosmopolitische Humankapital zuspricht, welches seinerseits essentiell ist für das favorisierte Idealbild des/der ‚kosmopolitischen Staatsangehörigen‘. Dadurch, dass der Hamburg-Mythos die Zugehörigkeit zur Stadtgemeinschaft quasi-automatisch mit kosmopolitischen Attributen auflädt, löst er diesen latenten Widerspruch (wenigstens für die Gruppe der Hamburger_innen) wieder auf. In diesem Licht betrachtet sind Hamburger_innen – genauso wie eingebürgerte Deutsche – letztlich ‚bessere‘ Staatsangehörige, weil sie – aufgrund ihrer spezifischen Geschichte und Prägung – das kosmopolitische Ideal bereits leben, das im Rest der Bundesrepublik seitens der ‚Mehrheitsbevölkerung‘ erst noch erarbeitet werden muss. Vermittels dieser Diskurslogik kann es gelingen, den staatsnationalen Diskurs, ob seiner emotionalen Identitätsangebote, nicht nur für Migrant_innen und Eingebürgerte attraktiv zu machen, sondern außerdem auch für die Gruppe der Hamburger_innen als Ganze, welche letzten Endes primäre Zielgruppe der Hamburger Stadtpolitik und damit auch der Hamburger Einbürgerungsinitiative ist. Wiederum tritt hier die enorme Bedeutung von emotionalisierten Identitätskategorien in den Vordergrund, welche die Diskurse durch ihre Wissensproduktion entwerfen und vermittels derer sie, in Form kollektiver Akzeptanz, Macht entfalten. Durch die positive Subjektposition des/der ‚Hamburger_in‘ gelangt demnach auch die nationale Subjektposition des/der ‚Deutschen‘ zu wachsendem Einfluss.

Bewusste Strategien und unbewusste Effekte der Emotionalisierung sind gleichermaßen Teil der diskursiven Eigendynamik, die sich, wie im bisherigen Verlauf der Arbeit offenbar wurde, im Spannungsfeld zwischen diskursivem Antagonismus und diskursiver Symbiose bewegt. Das Selbstbild der ‚deutschen Nation‘ ist niemals nur ein kognitives Konstrukt. Es ist immer und zuvorderst auch ein emotionales Konstrukt. Die Frage nach der Nation kann daher nicht allein im Rahmen rationalistischer Interpretationsversuche beantwortet werden. Sie muss immer auch den Aspekt menschlicher Affekte und deren Mobilisierung durch diskursive Praktiken mit beachten. Aus diesem Grund soll nun im nachfolgenden Abschnitt 5.4 untersucht werden, welche Mittel der diskursiven Emotionalisierung (und Rationalisierung) in der Debatte zum Einsatz kommen und welche Eigendynamiken sie jeweils entfalten. Mit der abermaligen diskursanalytischen Betrachtung von staatsnationalem und ethnonationalem Diskurs schließt sich hier der Kreis zu der in Kapitel 4 vorgestellten Hauptuntersuchung. Der Hamburg-Mythos wird insofern von weiterführender Bedeutung sein, als er im Rahmen des staatsnationalen Diskurses als Strategie und Ressource zu Relevanz gelangt. Überdies schließt das nachfolgende Unterkapitel inhaltlich sowie auch methodisch an die Untersuchung der Hamburger Einbürgerungsfeiern im vorangegangenen Abschnitt 5.2 an. In beiden Fällen geht es um die Analyse diskursiver Machttechniken, einmal im Kontext zwischenmenschlicher face-to-face Interaktionen, einmal im Kontext massenmedial vermittelter Interaktion zwischen disparaten Specher_innen. Die (trügerische) Dyade von ‚Vernunft‘ und ‚Gefühl‘, die sich im bisherigen Verlauf des hier vorliegenden Kapitels bereits angekündigt hat, steht bei diesem Vorhaben im Vordergrund.

5.4 Machttechniken: Die Konstitution von ‚Unwahrheit‘ und ‚Unmoral‘

In Kapitel 4 dieser Arbeit wurden die Ergebnisse der Feinanalyse des Diskursfeldes bereits umfänglich dargelegt, insoweit sie Deutungsmuster, Klassifikationen und Subjektpositionen der beiden dominanten Diskurse betreffen. Im vorliegenden Abschnitt 5.4 soll diese Darstellung nun um die jeweiligen Ressourcen und Strategien der Aussageproduktion ergänzt werden, die im Diskursfeld an prominenter Stelle zu beobachten sind und in erheblicher Weise zu der eigensinnigen Machtdynamik beitragen, welche im bisherigen Verlauf der Untersuchung herausgearbeitet wurde. Von herausragender Bedeutung sind in diesem Kontext Emotionalisierungstechniken, wie u. a. Wilce sie beschreibt und wie sie das gesamte Diskursfeld in erheblicher Weise strukturieren.Footnote 167 Im Rahmen von Abschnitt 5.1, 5.2 und 5.3 ist die besondere Relevanz der affektiven Dimension von Identität und Zugehörigkeit bereits auf vielfältige Art hervorgetreten. Im Folgenden soll es nun v. a. um die rhetorischen Mittel der Diskursproduktion und deren emotionale Implikationen gehen. Hierzu werden die Argumentationslinien des staatsnationalen und des ethnonationalen Diskurses jeweils anhand eines exemplarischen Analysebeispiels untersucht und einander dann vergleichend gegenübergestellt. Dabei werden zum Teil Äußerungen wiederverwertet, die bereits an früherer Stelle abgedruckt worden sind. Zu beachten ist dabei jedoch, dass diese hier nicht (noch einmal) im Hinblick auf ihren diskursiven Sinngehalt untersucht werden sollen. Vielmehr stehen sprachliche, formelle und stilistische Aspekte im Vordergrund.

Stellvertretend für den staatsnationalen Diskurs wird untenstehend eine Rede des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz analysiert, die jener anlässlich der Einbürgerungsfeier vom 11.04.2014 im Hamburger Rathaus gehalten hat. Die Auswahl einer solchen ‚Laudatio‘ erscheint insofern naheliegend, als Olaf Scholz mit weitem Abstand der einflussreichste Akteur des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses ist. Seine Reden prägen (im Untersuchungszeitraum) nicht nur die Handlung der Feiern, sie werden überdies auch (als Videomitschnitt und / oder in Schriftform) im Internet veröffentlicht und von diversen anderen Akteur_innen reproduziert. Pressemitteilungen der Senatskanzlei oder der TGH greifen Zitate der Ansprachen ebenso auf wie die Nachrichtenmedlungen einschlägiger Printmedien. Auf diese Weise ist Olaf Scholz im massenmedial verfassten Diskursfeld nicht nur überaus präsent, er prägt dessen Diskurslinien auch maßgeblich mit.

Der ethnonationale Diskurs wird in der nachfolgenden Analyse durch ein Online-Leser_innenforum der Zeitung Die Welt und die sich darin abzeichnende Debatte repräsentiert. Eine nähere Betrachtung gerade dieser Zeitung ist v. a. deshalb sinnvoll, weil ihre Kommentarbereiche nicht nur stark vom ethnonationalen Diskurs dominiert werden, sondern weil sie ihres Zeichens außerdem auch eine der meistgelesenen deutschen Tageszeitungen ist und insofern große Mengen symbolischen Kapitals akkumuliert. Die Leser_innenforen der Welt bilden im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative eine der wichtigsten Bühnen für die Verbreitung des dominanten Hamburger Gegendiskurses und erfordern insofern besondere Aufmerksamkeit.

Die Erörterung der diskursiven Mittel und Ressourcen beginnt zunächst mit der Betrachtung des staatsnationalen Diskursausschnittes und setzt sich dann mit dem ethonationalen Beispiel fort. Dabei werden die Herangehensweise der diskursanalytischen Untersuchung sichtbar und deren argumentative Schlüsse für den / die Leser_in nachvollziehbar gemacht. Anschließend erfolgt eine zusammenfassende Gegenüberstellung der Ergebnisse. Von besonderem Interesse ist dabei, inwieweit ‚Rationalität‘ und ‚Emotionalität‘ einander im öffentlichen Diskursfeld bedingen und welche Konsequenzen ihr Wechselspiel für das Verständnis diskursiver Dynamiken langfristig nach sich zieht.

Das staatsnationale Beispiel: Olaf Scholz

Alle untenstehenden Zitate stammen aus der Rede des Ersten Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz vom 11.04.2014. Die nachfolgende Analyse bezieht sich nicht auf das gesprochene Wort, sondern auf die schriftliche Version der Ansprache, wie sie im Internet zugänglich ist.Footnote 168 Der Redetext soll im Folgenden abschnittsweise analysiert sowie auf Strategien und Mittel der Aussageproduktion hin untersucht werden, die zum Teil für den staatsnationalen Diskurs und den Kontext der Einbürgerungsfeiern spezifisch sind, die zum Teil aber auch im gesamten Diskursfeld an unterschiedlichster Stelle zum Einsatz kommen. Die vorliegende Arbeit vertritt dabei die These, dass alle diskursiven Aussagen immer und unweigerlich inszeniert sind. Allein schon die jeweiligen Formationsregeln der DiskurseFootnote 169 bringen zwangsläufig einen gewissen Grad der Inszenierung mit sich. Inszenierung bedeutet hier auch nicht etwa Verzerrung oder Täuschung. Sie verweist lediglich auf die Tatsache, dass jede Deutung (im Goffman’schen SinneFootnote 170) in Szene gesetzt werden muss, um glaubhaft zu erscheinen und sich gegen andere Interpretationen durchzusetzen. Im weiteren Verlauf soll dieser Umstand nun anhand des hier analysierten Redebeispiels detailliert nachverfolgt werden:

11.04.2014

Grußwort zur Einbürgerungsfeier

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich heiße Sie herzlich willkommen im Großen Festsaal unseres Rathauses – und herzlich willkommen als deutsche Bürgerinnen und Bürger in der Hansestadt Hamburg! Schön, dass auch dieses Mal wieder so viele junge Gäste hier sind.

Wie bei einer offiziellen Ansprache üblich, beginnt die Rede des Ersten Bürgermeisters zunächst mit der Begrüßung der Anwesenden. Personen mit großem symbolischen Kapital (hier die Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft) werden dabei besonders hervorgehoben. Dies ist zum einen eine kulturell standardisierte Geste der Höflichkeit gegenüber den Betroffenen, zum anderen führt die gesonderte Nennung hochrangiger Amtsträger_innen aber auch unweigerlich zu einer symbolischen Aufwertung der Veranstaltung als solcher. Wenn Personen mit hohem sozialen Status an einer Einbürgerungszeremonie teilnehmen, unterstreicht dies zwangsläufig deren Bedeutung und damit auch den (politischen) Stellenwert der Eingebürgerten. Der nachfolgende Satz „ich heiße Sie herzlich willkommen“ scheint dagegen zunächst nicht weiter bemerkenswert. Er erhält seine spezifische Wirkung weniger durch seinen Wortlaut als vielmehr durch den Sprecher, der sich seiner bedient. Olaf Scholz – Erster Bürgermeister und politisches Oberhaupt der Stadt (bzw. des Bundeslandes) sowie (wenn man so will) Hausherr im Hamburger Rathaus – begrüßt die Eingebürgerten persönlich. Mit dem Zusatz „im Großen Festsaal unseres Rathauses“ (meine Hervorhebung), wird überdies sogleich eine intime Gemeinschaft hergestellt: Es handelt sich hier nicht um ein beliebiges Rathaus, dem die Gäste als Fremde gegenüberstehen. Es handelt sich vielmehr um ihr Rathaus, um den Ort, an dem sie als Staatsbürger_innen von nun an repräsentiert werden und der damit in gewisser Hinsicht ihnen gehört, auf den sie einen legitimen Anspruch haben. Auch Wilce hat auf die besondere Bedeutung und die emotionale Wirkung von Worten wie wir, uns und unser im Kontext politischer Reden hingewiesen.Footnote 171 Im Rahmen von Einbürgerungsfeiern, die ja gerade den (zum Teil hart erkämpften) Grenzübertritt in die nationale Gemeinschaft zelebrieren, gelangen solche Begriff umso mehr zu Relevanz. Des Weiteren begrüßt Olaf Scholz die Eingebürgerten als „deutsche Bürgerinnen und Bürger in der Hansestadt Hamburg“. Schon mit dem ersten Atemzug wird also eine Brücke zwischen einer lokalen Hamburg-Identität und dem deutschen Staat als Ganzem geschlagen. Bestärkt wird diese identifikative Lokalisierung noch durch den Titel „Hansestadt“, der sogleich maritime Assoziationen weckt und subtil an den prominenten Hamburg-Mythos anknüpft. Ob strategisch beabsichtigt oder nicht: Worte wie Hanse oder Hafen generieren – das hat Abschnitt 5.3 für den Hamburger Kontext zeigen können – sehr spezifische Vorstellungen von (identifikativem) Eigenem und (‚exotischem‘) Fremdem, die hervorragend zur Atmosphäre der Einbürgerungsfeiern sowie zu deren kosmopolitischer Ausrichtung passen.

Wer wie Sie schon lange in Hamburg lebt, weiß Vieles über diese Stadt, und Vieles davon aus eigener Anschauung. Aber was Sie vielleicht noch nicht wussten: Sie leben sozusagen in der „Hauptstadt“ der Einbürgerungen. In keinem anderen deutschen Land – gemessen an der Einwohnerzahl – nehmen so viele Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft an. Im vergangenen Jahr konnten wir 7.329 Frauen, Männer und Kinder einbürgern. Doppelt so viele wie noch 2009.

Das zeigt mir, dass unsere Anstrengungen für mehr Teilhabe, Vielfalt und Zusammenhalt erfolgreich sind und unsere Willkommens- bzw. Anerkennungskultur auch als solche wahrgenommen wird. Es bestätigt außerdem, dass Sie sich wohl fühlen in Hamburg und gern ein Teil unserer Gesellschaft sind. Und es stimmt mich optimistisch, dass sie diese auch in Zukunft mitgestalten wollen.

Der nächste Redeabschnitt knüpft nicht nur an den ‚Mythos‘ von der Hamburger Vorreiterrolle an,Footnote 172 er ist überdies auch ein klassisches Beispiel für eine Superlativierung, wie sie sonst gerne in Werbung und Marketing genutzt wird. Hamburg wird als „‚Hauptstadt‘ der Einbürgerungen“ betitelt, die mehr Menschen einbürgere als es irgendwo sonst in Deutschland der Fall sei. Die aufgestellte These wird auch anhand der aktuellen Einbürgerungszahlen sogleich anschaulich belegt. Eine Erläuterung oder kontextuelle Einordnung derselben bleibt allerdings aus. So wurde in Abschnitt 3.1 aufgezeigt, dass durchaus mehrere Faktoren für die niedrigen Einbürgerungszahlen im Jahr 2009 verantwortlich gemacht werden können und dass auch das Wiederansteigen der Zahlen nach 2010 nicht nur und ausschließlich mit den Auswirkungen der Hamburger Einbürgerungsinitiative zu tun haben muss. Auch der (essenzielle) Unterschied zwischen Einbürgerungsquote und ausgeschöpftem Einbürgerungspotenzial wird in der Rede nicht erläutertFootnote 173 und es werden keine Angaben zum Verhältnis zwischen Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund gemacht, was für das Verständnis der oben genannten Werte jedoch entscheidend wäre. Die etwaigen Rahmenbedingungen der statistischen Daten gehen gänzlich unter. Als ‚Fakten‘ stehen sie für sich, unhinterfragt und unhinterfragbar. Sie stützen die Behauptung vom herausragenden Erfolg in Sachen Integration und Einbürgerung und verleihen der Erzählung Substanz. Das plakative Bild einer ‚Einbürgerungshauptstadt‘ – das unweigerlich an einen Werbeslogan à la ‚Tor zur Welt‘ erinnert – erlangt auf diese Weise Plausibilität. In der Tat ist die argumentative Untermauerung emotionalisierter Deutungselemente durch das gezielte Einstreuen von Daten und Fakten – ein Prozess, der in Abschnitt 5.3 als Rationalisierung betitelt wurde – eine beliebte Taktik im Diskursfeld. Emotional konnotierte Diskursbausteine erhalten durch solche Mittel den Anstrich der Sachlichkeit und der Logik. Im obigen Redebeispiel wird eben diese Logik gleich im nächsten Satz genutzt, um Selbstbild, Rolle und politische Leistung der Stadt Hamburg zu untermauern und damit wiederum die These von der vorbildlichen hanseatischen Integrationsmetropole zu aktualisieren. Die letzten beiden Sätze des Abschnitts münden schließlich in eine suggestive Rollenzuschreibung: „Es bestätigt außerdem, dass Sie sich wohl fühlen in Hamburg und gern ein Teil unserer Gesellschaft sind. Und es stimmt mich optimistisch, dass sie diese auch in Zukunft mitgestalten wollen.“ Hier folgert Olaf Scholz eine emotionale Identifikation der Eingebürgerten und appelliert damit an ihren Willen zur Teilhabe. Durch seine personalisierte Formulierung („es stimmt mich optimistisch“ – meine Hervorhebung) erreicht er eine neuerliche Wertsteigerung: Er, der Erste Bürgermeister, hegt den persönlichen Wunsch, dass die Eingebürgerten sich demokratisch engagieren. Er persönlich will, dass sie die Zukunft mitgestalten und sich einbringen. Damit schreibt er den neuen Deutschen nicht nur eine spezifische Subjektposition zu (nämlich die des/der ‚lokalpatriotischen Hamburger_in‘ und des/der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘), er wertet diese Rolle auch erheblich auf, indem er deren soziale Erwünschtheit und ihre politische Bedeutung herausstreicht. Man könnte sagen, er macht seinen Zuhörer_innen die angebotene Rolle ‚schmackhaft‘ – und er täuscht mit der emotionalen Verpackung subtil darüber hinweg, dass es sich bei der von ihm antizipierten Subjektposition letztlich um eine Fremdzuschreibung handelt. Die wiederholte persönliche Ansprache des Publikums – und damit der Eingebürgerten –, die sich als rhetorisches Element durch die gesamte Rede zieht, trägt in erheblicher Weise dazu bei, die Adressat_innen als Protagonist_innen der staatnationalen Narration erscheinen zu lassen und die ihnen zugeschriebene besondere (!) Rolle positiv hervorzuheben.

Schon seit dem 16. Jahrhundert haben unzählige Einwanderer und Händler in Hamburg ihre Spuren hinterlassen. Sie prägten Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur und trugen dazu bei, dass Hamburg eine Weltstadt wurde. Die niederländische Mennonitenfamilie „de Voss“ beispielsweise gründete die spätere St. Pauli-Brauerei. Der Hamburger Reeder Albert Ballin wuchs in einer jüdisch-dänischen Immigranten-Familie auf, er baute die HAPAG zur größten Schifffahrtslinie der Welt aus. Und die in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts sehr bekannte Hamburger Malerin Alma del Banco stammte ursprünglich aus Italien.

Im hier folgenden Teil der Rede wird das zentrale Deutungsmuster des populären Hamburg-Mythos aktualisiert: Hamburg als historisch gewachsenes ‚Tor zur Welt‘. Durch die exemplarische Nennung einzelner prominenter Migrant_innen, die in der hamburgischen Stadtgeschichte eine maßgebliche Rolle gespielt haben, wird nach altem Muster die emotionalisierte Erzählung rationalisiert und durch (partikulare) Fakten glaubwürdig gemacht. Im Abschnitt 5.3 wurde bereits offenbar, dass die (für nationalistische Diskurse äußerst typische) selektive Reproduktion historischer Daten wesentlich zu einer ideologischen Verklärung der ‚eigenen‘ Geschichte beiträgt (in diesem Fall betrifft dies die kollektive Geschichte der ‚lokalpatriotischen, kosmopolitischen Hamburger_innen mit und ohne Migrationshintergrund‘). Sie dient dazu, eine schlüssige Diskurslinie zu zeichnen und etwaige Brüche auszublenden. Durch die Anspielung auf geschichtliche Ereignisse wird – ganz im Sinne der Invented Traditions nach HobsbawmFootnote 174 – der Anschein kulturell-identifikativer Antiquität und Kontinuität erweckt. Wenn diskursive Wirklichkeiten historisch verbürgt scheinen, macht sie das umso glaubhafter, weil eben diese Historizität – wie Berger und Luckmann feststellenFootnote 175 – den Eindruck vermittelt, dass ihre Institutionen weit über das einzelne Individuum hinausgehen. Die Vorstellung, Hamburg sei schon immer eine weltoffene Oase für Migrant_innen gewesen, fördert überdies die emotionale Identifikation der Eingebürgerten im Hier und Jetzt. Genauso fördert die Vorstellung, Migrant_innen hätten seit jeher die Entwicklung der Stadt auf positive Weise geprägt, die Aufwertung von und die Identifikation mit der eigenen, bzw. der zugeschriebenen Rolle. Die Instrumentalisierung individueller Fälle und Lebensgeschichten trägt – als Emotionalisierungstechnik nach WilceFootnote 176 – in erheblichem Maße zu diesem diskursiven Machteffekt bei. Sie ist insofern Instrument der Rationalisierung und der Emotionalisierung gleichermaßen.

In unserer Zeit hat fast jeder dritte Erwachsene und sogar jedes zweite Kind bei uns eine Zuwanderungsgeschichte. Gebürtige Hamburgerinnen und Hamburger, deren Eltern und Großeltern ebenfalls von hier stammen, gibt es gar nicht so viele.

Weniger als die Hälfte aller hier lebenden Frauen, Männer und Kinder sind auch hier geboren. 55 Prozent kommen aus Schleswig-Holstein, aus Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Schwaben oder sind irgendwo anders in Deutschland zur Welt gekommen. Und die werden auf hamburgisch liebevoll als „Quiddje“ bezeichnet, was übersetzt so viel heißt wie „Fremder“ und „Hochdeutsch Sprechender“.

Es kommt also nicht auf Herkunft oder Geburt an, sondern auf die Identifikation – wer hier lebt und sich zu Hause fühlt, ist selbstverständlich auch ein „richtiger“ Hamburger.

Und deshalb möchte ich, dass Zuwandererinnen und Zuwanderer sich von Anfang an als „echte Hamburgerinnen und Hamburger“ begreifen: die, die hier geboren wurden; die, die zum Arbeiten, Studieren oder der Liebe wegen gekommen sind; die, die vor Krieg oder Armut geflohen sind, die Muslime, Hindus, Christen, Juden oder Atheisten sind.

Nach der obigen Inszenierung eines historisch verwurzelten Hamburg-Mythos folgt nun dessen nahtlose Fortsetzung in der Gegenwart. Hamburg wird wiederum als Einwanderungsstadt charakterisiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang v. a. die Benutzung des Wortes „Quiddje“. Der plattdeutsche und ausschließlich auf den Hamburger Kontext beschränkte Begriff dient für gewöhnlich als Mittel der identifikativen Abgrenzung gegenüber „een, de nich ut Hamborg kummt“, also gegenüber ‚Fremden‘ bzw. Zugezogenen, die nicht im eigentlichen Sinne als ‚echte Hamburger‘ wahrgenommen werden und die überdies auch kein (Hamburger) Plattdeutsch sprechen.Footnote 177 An dieser Stelle wird der Terminus jedoch als ‚liebevolle‘ Bezeichnung für zugezogene Neuhamburger_innen umgedeutet. Aus dem Abgrenzungsmarker, der auf ein (sprachliches) Defizit hinweist, wird ein ‚kultiges‘ Zeichen für Weltoffenheit. Dazu passt die anschließende Beteuerung, in Hamburg komme es „nicht auf Herkunft oder Geburt an, sondern auf die Identifikation“. Damit wird abermals eine klare Rollenerwartung ausgesprochen: Wenn Migrant_innen sich emotional mit Hamburg verbunden fühlen (und Olaf Scholz geht hier implizit davon aus, dass sie dies tun), werden sie auch als ‚echte Hamburger_innen‘ anerkannt. Aus Identifikation folgt also Akzeptanz – und aus der Aussicht auf Akzeptanz folgt Identifikation. Im letzten Teil des vorliegenden Redeabschnitts bestärkt Olaf Scholz diese Logik durch einen persönlichen Apell: Er möchte, „dass Zuwandererinnen und Zuwanderer sich von Anfang an als ‚echte Hamburger und Hamburgerinnen‘ begreifen“. Damit sind einerseits die Eingebürgerten aufgefordert, sich in die soeben konstituierte Subjektposition einzufügen, andererseits wird ihnen aber auch ein erhebliches Maß an Wertschätzung zuteil. Der Erste Bürgermeister möchte höchstpersönlich, dass sie sich wohlfühlen, und bittet sie ausdrücklich, sich mit der Stadt zu identifizieren. Hier fließen gleich mehrere emotionale Komponenten ineinander. Bemerkenswert ist des Weiteren die nachfolgende Aufzählung unterschiedlicher biographischer Szenarien: „…die, die hier geboren wurden; die, die zum Arbeiten, Studieren oder der Liebe wegen gekommen sind; die, die vor Krieg oder Armut geflohen sind, die Muslime, Hindus, Christen, Juden oder Atheisten sind.“ Mit dieser Liste potenzieller Migrations- und Persönlichkeitsaspekte erreicht die Ansprache einen starken Moment der Individualisierung: So gut wie jeder oder jede kann sich hier ein Attribut herauspicken, das auf ihn oder sie zutrifft, und sich auf diese Weise wahrgenommen sowie persönlich angesprochen fühlen. Die repetitive Form der Satzstrukturen ist darüber hinaus in besonderem Maße geeignet, deren emotionale Wirkung zu verstärken, indem sie ihnen rituellen Charakter verleiht.Footnote 178 Solche Techniken der Individualisierung von Personen und der emotionalisierenden Verwertung von ‚Schicksalen‘ sind – wie man weiter oben bereits gesehen hat – in der Debatte weit verbreitet und tragen wesentlich dazu bei, in unterschiedlichsten Kontexten einen affektiven Zugang zu ansonsten komplexen und weitgehend anonymisierten Themenfeldern herzustellen. Sie sind ein einfaches und subtiles Werkzeug, um die Diskussion von einer abstrakt-sachlichen auf eine persönlich-emotionale Ebene zu heben. Damit sei nicht gesagt, dass Individualisierungen ihrerseits grundsätzlich ‚irrational‘ oder ‚unsachlich‘ sein müssten. Die Betrachtung von Einzelfällen ist – gerade auch in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Ethnologie – ein durchaus probates Mittel, um unzulässigen Verallgemeinerungen sinnvoll entgegenzuwirken. Nichtsdestoweniger bieten Techniken der Individualisierungen jedoch immer auch einen emotionalen Ansatzpunkt, weil sie das empathische Eintauchen in eine individualspezifische persönliche Perspektive erlauben. ‚Sachlichkeit‘ und ‚Emotionalität‘ liegen in dieser Hinsicht also äußerst nah beieinander. Schon in Abschnitt 2.3 wurde darauf hingewiesen, dass die Trennung von rationaler und affektiver Ebene des Menschseins als soziales Konstrukt gelten muss und dass die rationale Ordnung der Wirklichkeit immer und unweigerlich auch eine emotionale Ordnung ist. Anhand des vorliegenden Beispiels aus dem Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative wird diese enge und unauflösliche ‚Verzahnung‘ überaus deutlich.

Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu unserer Stadt. Wir alle wohnen nebeneinander, unterrichten, trainieren und treiben Handel miteinander. Kurz: Ob hier Geborene oder Zugewanderte – alle beteiligen sich am kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben unserer Stadt und bereichern sie durch ihre Perspektive.

Denn wir leben in einer Metropole, die dynamisch ist, die sich ständig weiterentwickelt und auseinandersetzt mit dem Neuen. Durch den Austausch zwischen Bürgern verschiedener Herkunft, Religion und kultureller Hintergründe wächst und prosperiert die Stadt. Frauen, Männer und Kinder aus 179 Nationen tragen dazu bei, dass wir kosmopolitisch, kulturell reich, innovativ und leistungsstark bleiben.

Im weiteren Verlauf nimmt der Hamburg-Mythos Fahrt auf und entspinnt sich zu einer umfassenden kosmopolitischen Perspektive, wie sie für den staatsnationalen Einbürgerungsdiskurs in Hamburg charakteristisch ist. Zentrale Aspekte wie Modernität, Dynamik, Innovationskraft und wirtschaftliche Leistungsstärke werden betont und an die gemeinsame Leistung – das ‚Wir‘ – aller Hamburgerinnen und Hamburger rückgekoppelt. Die Eingebürgerten sind in dieses ‚Wir‘ explizit miteingeschlossen. Olaf Scholz inszeniert hier die staatsnationale Logik der Bereicherung durch Vielfalt. Migration und kulturelle Pluralität werden in ein durchweg positives Licht gerückt. Der Fokus liegt auf den Potenzialen der Migrant_innen und lässt diese als Garanten für die Prosperität der Stadt erscheinen. Auch hinter dieser enormen Wertzuschreibung steckt allerdings eine verborgene Rollenerwartung: Die Eingebürgerten sollen – als ‚gute Staatangehörige‘ und ‚kosmopolitische Staatsbürger_innen‘ – ihr kosmopolitisches Humankapital mit- und einbringen. Sie sollen der Stadt nützen und sie voranbringen. Da diese Subjektposition jedoch nicht als Apell, sondern – vermittels Strategien der Rationalisierung – als Tatsachenbehauptung inszeniert wird, wirkt sie nicht wie eine unzulässige Fremdzuschreibung. Stattdessen nimmt sie die Form einer Lobrede an. Politische Interessen und Ansprüche können auf diese Weise unauffällig hinter einer emotionalisierten Fassade verborgen werden und sind für das Publikum somit deutlich leichter zu ‚verdauen‘. Durch die subtile Nutzung von Wendungen wie ‚unsere Stadt‘ oder ‚wir alle‘, sowie auch durch die langen Aufzählungen positiv konnotierter Eigenschaften wird ein gemeinsamer Erfahrungsraum, eine gemeinsame Basis emotionaler Verbundenheit etabliert, der man sich als angesprochene – und in besonderem Maße für den Fortbestand dieser Gemeinschaft verantwortlich gemachte – Person kaum entziehen kann.Footnote 179

Das aus dem Griechischen stammende Wort Kosmopolit bedeutet übersetzt nichts anderes als „Bürger der Welt“. Ein „Weltbürger“ zeichnet sich nach meinem Verständnis vor allem dadurch aus, dass er unvoreingenommen gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Traditionen ist, dass er die Vielfalt der Welt in sich zu vereinen weiß und sich zwischen den Welten zu bewegen weiß. So wie Sie, meine Damen und Herren, die Sie den Mut und die Offenheit hatten, sich auf Neues einzulassen, Bekanntes und Unbekanntes zusammenzubringen und dadurch Stärken zu entwickeln, die in unserer globalisierten Welt von großem Nutzen sind.

Das prestigeträchtige Fremdwort „Kosmopolit“ wird hier benutzt, um abermals den besonderen Wert der Eingebürgerten hervorzuheben. Ihnen werden, ob ihrer Migrationserfahrung, erhebliche interkulturelle und soziale Kompetenzen (Humankapital) zugeschrieben. Durch die Bezeichnung dieser Kompetenzen als ‚kosmopolitisch‘ wird die implizite Rollenerwartung erheblich qualitativ aufgewertet. Ob tatsächlich alle Eingebürgerten ‚Fachleute des Hybriden‘ sind – oder ob sie sich unter anderen Umständen selbst überhaupt als solche betrachten würden – ist fraglich. Die in Abschnitt 5.1 vorgestellten konsensanalytischen Ergebnisse haben gezeigt, dass essentialistische und ethnonationalistische Weltdeutungen durchaus auch in der Gruppe der Eingebürgerten vertreten sind. Nichtsdestoweniger kann die Zuschreibung und positive Aufladung eines quasi-automatischen Expertenstatus durch den Ersten Bürgermeister der Stadt sicherlich dazu führen, dass die mit der hier propagierten Subjektposition verbundenen staatsnationalen Implikationen leichter angenommen und im Rahmen des eigenen Selbstbildes effektiv einverleibt werden. Diese Annahme deckt sich jedenfalls mit Bourdieus Vorstellungen von symbolischer Herrschaft, welche – anknüpfend an kollektiv akzeptierte Doxa und ausgeübt durch Personen mit großem symbolischen Kapital – die Ausgestaltung von Habitus und körperlicher Hexis anleitet.Footnote 180

Der deutsche Autor bulgarischer Abstammung Ilija Trojanow hat einmal gesagt, dass sich im „kosmopolitischen Bürger“ das Globale und das Lokale als zwei Seiten einer Medaille zusammenfinden.

Es geht nicht um ein Entweder/Oder, es geht um ein Sowohl/Als auch. Entscheidend ist, dass Werte, Anschauungen, Kulturen und Identitäten in Frieden und Toleranz nebeneinander bestehen.

Und: Zuwanderer bescheren der deutschen Sozialversicherung nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung pro Kopf und Jahr Mehreinnahmen von weit mehr als 2.000 Euro. Der volkswirtschaftliche und demografische Nutzen der Zuwanderung steht außer Frage.

Das Zitieren von Persönlichkeiten, die ob ihrer gesellschaftlichen Stellung erhebliches symbolisches Kapital akkumulieren, ist – wie hier im Falle des Autors Ilija Trojanow – in der öffentlichen Debatte eine beliebte Methode, um den eigenen Aussagen Faktizität und Geltung zu verleihen. Zitation, (u. a.) als rhetorisches Mittel zur Herstellung von Autorität, wurde von wissenschaftlicher Seite bereits vielfach beleuchtet.Footnote 181 Scholz nutzt hier den autoritativen Effekt, um die staatsnationale Vision eines kosmopolitischen Deutschlands (oder besser: Hamburgs) zu untermauern. Durch die Verknüpfung von Lokalem und Globalem, von verschiedenen Kulturen und Identitäten zeichnet er ein konstruktivistisches Bild, das Mehrfachidentifikation explizit befürwortet und den Eingebürgerten damit einen unproblematischen Zugang zu den weiter oben etablierten identifikativen Subjektpositionen (des/der ‚lokalpatriotischen, kosmopolitischen Hamburger_in‘ und des/der ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ bzw. des/der ‚kosmopolitischen Staatsbürger_in‘) eröffnet. Einbürgerung heißt demnach Zugewinn von Identität, nicht etwa deren Verlust oder Einschränkung. Mit dem Einwurf wissenschaftlicher Studienergebnisse werden empirische Fakten überdies mit normativen Ansprüchen verquickt und letztere dadurch weitergehend plausibel gemacht (rationalisiert). Die Aussage, dass der „volkswirtschaftliche und demografische Nutzen der Zuwanderung“ außer Frage stehe, kann vor diesem Hintergrund kaum bezweifelt werden.

Mein Senat verfolgt eine moderne Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik. So hat der Bundesrat auf Initiative Hamburgs zum Beispiel eine Regelung für Jugendliche gefordert, die zwar kein Asyl erhalten haben, aber vorläufig geduldet werden. Wer einen Schulabschluss macht, soll damit auch einen sicheren Aufenthaltsstatus erwerben können. Und natürlich müssen junge Männer und Frauen eine Berufsausbildung absolvieren können, ohne an den Regelungen des Arbeitsmarkts zu scheitern. Im Übrigen hat Hamburg als erstes Bundesland überhaupt ein Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht, damit Berufsabschlüsse aus anderen Ländern auch in Deutschland anerkannt werden.

Wie viel sich in Deutschland tut in Sachen Willkommenskultur, sieht man auch am Koalitionsvertrag der Berliner Regierungsparteien, der nun umgesetzt werden soll: Endlich soll die Optionspflicht für jene Kinder ausländischer Eltern wegfallen, die bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt oder sechs Jahre hierzulande eine Schule besucht haben. Bislang müssen sie sich bis zum 23. Geburtstag noch für einen Pass und damit für eine Staatsangehörigkeit entscheiden. Der Hamburger Senat hat sich seit Langem für den Wegfall dieser Optionspflicht stark gemacht, und ich bin sehr froh, dass dieses Anliegen vieler Tausender junger Leute umgesetzt wird.

Der hier vorliegende Redeabschnitt ist ein klassischer ‚Werbeblock‘, in dem der Erste Bürgermeister die Errungenschaften seines politischen Wirkens vermarktet. Mit Worten wie ‚natürlich‘ oder ‚endlich‘ wird dabei ein gewisser Grad der Naturalisierung erzeugt. Aussagen, die mit solchen Begriffen eingeleitet werden, erhalten den Anstrich des Selbstverständlichen, des Unhinterfragbaren. Sie wehren jeder kritischen Auseinandersetzung. In der öffentlichen Debatte sind derartige Naturalisierungen ein beliebtes Mittel um ein Gefühl von ‚gesundem Menschenverstand‘ zu vermitteln – denn über den ‚gesunden Menschenverstand‘ muss nicht lange gestritten werden. Suggestionen und Tatsachenbehauptungen, wie Olaf Scholz sie u. a. im letzten Satz bemüht, verstärken die Aura des Unumstößlichen: „Der Hamburger Senat hat sich seit Langem für den Wegfall dieser Optionspflicht stark gemacht, und ich bin sehr froh, dass dieses Anliegen vieler Tausender junger Leute umgesetzt wird“ (Meine Hervorhebung). Ein politisches Streitthema wird als persönliches Anliegen ‚Tausender‘ inszeniert und erhält dadurch eine völlig neue emotionale Dimension (zumal es sich bei diesen ‚Tausenden‘ um ‚junge Leute‘, also um Kinder und Jugendliche handelt). Ob hinter der hier beworbenen politischen Entwicklung tatsächlich der tief empfundene Wunsch so vieler Menschen steht, ist (wenigstens im Moment der Rede) nicht verifizierbar und wird seitens des Bürgermeisters auch nicht weiter belegt. Die Aussage ist insofern nichts anderes als eine suggestive Behauptung, erscheint jedoch – ob ihres emotionalen Aspekts – als solche nicht kritisierbar. Hier zeigt sich sehr anschaulich, wie eine diskursive Wirklichkeit vermittels rhetorischer Strategien zur Wirklichkeit schlechthin erhoben wird. Gegenteilige Auffassungen müssen gegenüber dieser unanfechtbaren Wahrheit – gerade und v. a. vor dem Hintergrund ihrer Rationalisierung, Naturalisierung und unterschwelligen Emotionalisierung – zwangsläufig als unwahr und unmoralisch erscheinen. Dass diese Dynamik aus Macht, Wissen und Emotion durch den allgegenwärtigen, wenn auch unausgesprochenen Antagonismus zum ethnonationalen Gegendiskurs umso mehr an Einfluss gewinnt, haben insbesondere Abschnitt 5.1 und 5.2 anschaulich zeigen können.

Beim Thema Zuwanderung stellt sich grundsätzlich die Frage: Warum sollten wir auf die Ressourcen verzichten, auf das Wissen, die Kreativität, die Weisheiten und das Know-how so unterschiedlicher Männer und Frauen, die sich anderswo längst bewährt haben? Wir alle gestalten gemeinsam die Gegenwart Hamburgs und arbeiten an der Zukunft der Stadt. Dafür sind wir auch auf Ihre Erfahrung und Ihre Ideen angewiesen. Und ich bitte Sie sehr herzlich: Nutzen Sie alle Möglichkeiten der Teilhabe am öffentlichen Leben. Betätigen Sie sich aktiv in Vereinen, Stadtteilgruppen, Parteien und Verbänden.

Kurz vor Abschluss seiner Ansprache mobilisiert Scholz noch einmal das überaus emotionale und (deshalb) auch überaus mächtige Bild von den ‚guten Migrant_innen‘ und den ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ als ‚kosmopolitischen Expert_innen‘ für soziale, wirtschaftliche und politische Prosperität. Insbesondere Begriffe wie „Weisheiten“ oder „Know-how“ tragen erheblich zur qualitativen Aufwertung des Eingebürgertenstatus bei. Die Lobrede mündet in einem offiziellen Apell, sich aktiv in die Gestaltung der Stadt einzubringen und die demokratischen Möglichkeiten der Teilhabe zu nutzen. Die bis dato unterschwellig aufgebaute Rolle wird schließlich noch einmal explizit gemacht, erscheint jedoch – aufgrund ihrer extensiven emotionalen Vorbereitung – nicht (mehr) als unzulässige Fremdzuschreibung oder lästige Erwartungshaltung. Bemerkenswert ist, dass hier mit keinem Wort auf den deutschen Staat verwiesen wird. Alle angesprochenen Rollenbilder und Identitätsangebote werden in unmittelbaren Bezug zur lokalen Ebene gesetzt. Dies macht insofern Sinn, als im ganzen bisherigen Verlauf der Rede am graduellen Aufbau einer starken emotionalen Hamburg-Identifikation gefeilt wurde. Diese Identität wird nun wiederum als Basis genutzt, um den Willen zu sozialem und politischem Engagement zu stärken. Die umfängliche Erzeugung von Emotionen erfüllt demnach einen durchaus pragmatischen Zweck. Dennoch ist es erstaunlich, dass Staat und Nation im Rahmen einer Einbürgerungsfeier (!) eine derart untergeordnete, ja, regelrecht nebensächliche Rolle spielen.

Liebe Neubürgerinnen und Neubürger,

oft wird von Hamburg als ‚schönster Stadt der Welt‘ gesprochen und geschrieben – ob Sie das auch so sehen, sei ganz Ihnen überlassen. Ich jedenfalls freue mich, dass Sie sich nicht nur für Hamburg entschieden haben, sondern auch für die deutsche Staatsangehörigkeit und wünsche Ihnen und Ihrer Familie, dass sich ihre ganz persönliche Vorstellung von Glück hier in Hamburg realisieren lässt. Noch einmal: Herzlich willkommen und alles Gute für Sie!

Nachdem Olaf Scholz auf jede nur erdenkliche Weise intensiv für die Stadt geworben, deren Image vermarktet und mehr oder minder subtil die Hamburg-Identifikation seines Publikums befördert hat, inszeniert er im letzten Teil seiner Rede einen Moment der Wahl: Es sei in der Tat den Eingebürgerten überlassen, ob sie Hamburg als ‚schönste Stadt der Welt‘ betrachten wollen oder nicht. Dieser Anschein (!) von Freiwilligkeit lässt die vorangegangene Argumentation unaufdringlich wirken und macht sie umso sympathischer. Er lässt außerdem Spielraum für die Identifikation mit anderen Orten und ‚Heimaten‘ und löst damit sein kosmopolitisches Versprechen ein. Wenn der Erste Bürgermeister dann noch wünscht, dass die Eingebürgerten „ihre ganz persönliche Vorstellung vom Glück“ realisieren können, inszeniert er damit das Bild uneigennütziger und wohlwollender Empathie. Etwaige politische Intentionen werden heruntergespielt und die gemeinsame, emotionale Basis – die laut Wilce eine wichtige Erfolgsbedingung politischer Aktionen und Apelle ist – weitergehend gestärkt.Footnote 182 Die Eingebürgerten bleiben die Protagonist_innen der Erzählung. Ihr persönliches Glück steht – so der Bürgermeister – im Vordergrund.

Die obige Analyse hat verschiedene Techniken der diskursiven Aussageproduktion offengelegt. Zum Teil sind diese Techniken spezifisch für den staatsnationalen Diskurs und dessen Inszenierung im Dispositiv der Hamburger Einbürgerungsfeiern. Zum Teil handelt es sich dabei aber auch um gängige Praktiken, wie sie im gesamten Diskursfeld und in den Äußerungen der unterschiedlichsten Sprecher_innen auftreten. Zu den spezifischen Elementen der Diskursinszenierung gehört zuvorderst der emotionale Hamburg-Bezug und dessen Rückkopplung an den kosmopolitischen ‚Tor zur Welt‘ Mythos, wie er in Abschnitt 5.3 vorgestellt wurde. Weiterhin ist die emotionale Aufwertung der Adressat_innen hervorzuheben, die in erster Linie durch persönliche Ansprache und rhetorische Vergemeinschaftung erfolgt sowie durch extensive Zuschreibung positiv konnotierter Identitätsmerkmale. Die besondere Art und Weise, auf die im staatsnationalen Diskurs Identität erzeugt wird, ist für diesen Diskurs spezifisch. Die Erzeugung von Identität als solche ist jedoch ein allgemeines Phänomen. Zu den allgemeinen Elementen gehören des Weiteren auch Strategien der Individualisierung und Personalisierung, die Herstellung von Autorität via Zitation, außerdem Superlativierungen, Naturalisierung und Ritualisierung vermittels Repitition. Von erheblicher Bedeutung sind zudem Suggestionen und Tatsachenbehauptungen sowie die Rationalisierung des Gesagten vermittels plakativer und ausschnitthafter empirischer Fakten. Alle oben genannten Techniken – die diskursallgemeinen wie auch die diskursspezifischen – können (im Anschluss an WilceFootnote 183) als Techniken der Emotionalisierung betrachtet werden, da sie alle auf die eine oder andere Art dazu angetan sind, emotionale Reaktionen zu generieren, zu manipulieren und / oder zu legitimieren. Selbst Techniken der Rationalisierung müssen vor diesem Hintergrund als Techniken der Emotionalisierung gelten, denn sie erzeugen eine diskursspezifische Version von rationaler Ordnung, die ihrerseits immer auch emotional verfasst ist. Insofern wird die rationale Ordnung nicht nur mit emotionalen Mitteln verteidigt,Footnote 184 gleichsam wird auch die emotionale Ordnung mit rationalen Mitteln legitimiert und zur Wahrheit (im Foucault’schen Sinne) erhoben.Footnote 185 Inwieweit sich dieser Eindruck im Falle des ethnonationalen Diskurses fortsetzt, wird der nachfolgende Analyseabschnitt zeigen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem diskursiven Wechselspiel zwischen Wahrheit und Unwahrheit (bzw. zwischen Moral und Unmoral), das im Verlauf der obigen Untersuchung (sowie v. a. auch im bisherigen Verlauf dieser Arbeit) bereits prominent hervorgetreten ist.

Das ethnonationale Beispiel: Online-Kommentarforum der Zeitung ‚Die Welt‘

Stellvertretend für den ethnonationalen Diskurs wird im Folgenden ein Kommentarforum untersucht, das sich an den Online-Artikel „Unser deutscher Pass ist kein Ramschartikel“ vom 12.04.2012 in der überregionalen deutschen Tageszeitung Die Welt anschließt.Footnote 186 Es handelt sich hierbei um ein relativ kleines Forum mit lediglich 18 Kommentaren. Gerade diese überschaubare Größe erlaubt es jedoch, die Leser_innendiskussion holistisch abzubilden und im Ganzen zu analysieren. Der Vollständigkeit halber ist es hierfür sinnvoll, zunächst den Text des zugehörigen Zeitungsartikels vorzustellen, damit der oder die Betrachter_in sich ein umfassendes Bild machen kann:

DIE WELT

12.04.12 ∣ Alexander Dobrindt

„Unser deutscher Pass ist kein Ramschartikel“

Der Hamburger Senat wollte im Rahmen der großen Einbürgerungsinitiative möglichst viele in der Hansestadt lebende Migranten dazu bewegen, deutsche Staatsbürger zu werden. Nun kommt Kritik von der CSU.

Die CSU hat die Einbürgerungsinitiative von Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) scharf kritisiert. „Unser deutscher Pass ist kein Ramschartikel, und Einbürgerungsquoten sind kein Maßstab für Weltoffenheit“, sagte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt dem Berliner „Tagesspiegel“ (Donnerstagsausgabe). Der deutsche Pass könne nur am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen, nicht am Anfang.

„Solche wirren Einbürgerungsthesen setzen ein völlig falsches Signal“, warnte Dobrindt. „Statt über Fantasiequoten für Einbürgerungen zu schwadronieren, sollten wir gemeinsam

die immer noch bestehenden Integrationsdefizite in Deutschland lösen.“ Wer die Staatsbürgerschaft als Lockmittel benutze, der erschwere „alle ehrlichen Integrationsbemühungen“.

Hamburg hatte im Dezember damit begonnen, persönliche Einladungsbriefe des Bürgermeisters an rund 140.000 ausländische Bürger zu schicken, die die Voraussetzungen zur deutschen Staatsbürgerschaft erfüllen. In dieser Form ist die Kampagne bundesweit ohne Vorbild: Der Hamburger Senat wollte im Rahmen der großen Einbürgerungsinitiative möglichst viele in der Hansestadt lebende Migranten dazu bewegen, deutsche Staatsbürger zu werden.

„Nicht um Einbürgerung kämpfen“

In dem Schreiben appellierte der SPD-Politiker an die Hamburger mit ausländischen Wurzeln, sich für die Einbürgerung zu entscheiden, erläutert die Vorteile, nennt aber auch die Voraussetzungen. Dazu müssen sie seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben, Arbeit haben, Deutsch sprechen und dürfen nicht vorbestraft sein. „Entscheidend ist, dass gut integrierte Migranten nicht mehr wie früher um ihre Einbürgerung kämpfen müssen“, sagt Scholz. „Wenn umgekehrt der deutsche Staat auf sie zukommt, ist das, glaube ich, für viele von ihnen das Größte überhaupt.“

Nach Angaben von Scholz zeigt seine persönliche Einladung große Wirkung. So sei die Zahl

der Einbürgerungsanträge in Hamburg zwischen Dezember und März um 34 Prozent gestiegen, die Zahl der Beratungsgespräche sogar um 91 Prozent.

Unter den etwa 1,8 Millionen Hamburgern waren zum Start der Kampagne im Dezember 2011 164.000 Bürger mit Migrationshintergrund, die bereits über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen. Hinzu kommen weitere 236 000 Menschen, die einen ausländischen Pass haben.

140.000 Zuwanderer erfüllten Voraussetzungen

Von ihnen erfüllten laut Senat 137.000 Zuwanderer wenigstens einige der Voraussetzungen für eine Einbürgerung, weil sie mindestens 16 Jahre alt sind und seit nicht weniger als acht Jahren in Deutschland leben. Auf diese Gruppe zielte die Kampagne. „Es sollte wie in den USA ein Staatsziel sein, dass Menschen, die hier bei uns leben und gut integriert sind, auch die Absicht verfolgen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben“, so Scholz.

Die Idee ging auf, aber es gab Bearbeitungsengpässe

Knapp drei Monate nach dem Start war jedoch klar: Die Idee ging zwar auf – allerdings war

der Rücklauf so stark, dass es immer noch zu Bearbeitungsengpässen im dem (sic!) Einbürgerungsamt kommt.

Zwar wurden die bürokratischen Hürden gesenkt und die Bearbeitung vereinfacht, indem die Mitarbeiter die Anträge – sofern alle Unterlagen vorliegen – eigenständig genehmigen dürfen. Doch reicht die Personalstärke nicht aus, um dem hohen Aufkommen von Anträgen Herr zu werden. Antragsteller warten im Durchschnitt 10,6 Monate auf eine Einbürgerungsurkunde.

epd/inga/ee/hdrFootnote 187

Nachdem der Text des zugehörigen Welt-Artikels nun geläufig ist, folgt im Anschluss die Darstellung der sich darauf beziehenden Leser_innendiskussion. Auffällig ist dabei, dass nahezu alle 18 Kommentare des Forums der dominanten Deutungslinie des ethnonationalen Diskurses folgen. Dessen Interpretationsschema bleibt in der gesamten Debatte weitgehend unwidersprochen. Mehr noch: Durch die annähernd einhellige Übereinstimmung der Kommentator_innen verstärken die Aussagen sich zusehends gegenseitig. Schon im Verlauf der ersten vier Beiträge beginnt dieser Trend sich abzuzeichnen:Footnote 188,Footnote 189

Glaschked • vor 3 Jahren

Die SPD braucht Wählerstimmen.

Thanthalas > Glaschked • vor 3 Jahren

Die CSU auch. Sie motzt immer groß rum, läßt ihren Worten dann aber keine Taten folgen.

Capt. Future > Glaschked • vor 3 Jahren

Die SPD hofft durch diese Maßnahme auf „Wählerstimmen“ durch eine neue „Klientel“.

Die Bio- Deutschen, für die Blockparteien auch der „White- trash“, wissen, dass die BRD sich schon in der knallharten „Abwicklungsphase“ befindet und darüber ein parteiübergreifender Grundkonsens bezüglich dieses „Souveränitätsrechteausverkaufs“ vorherrscht.

Dies könnte die Bio- Deutschen dazu bewegen, ihr Kreuz (wenn auch nur aus Protest) „rechtsextremen“ Parteien zu geben.

Dann brauchen die „Volksparteien“ natürlich ihre „neuen Staatsbürger“, die aufgrund ihrer immensen Fertilität die demographische Entwicklung stark beeinflussen.

Denn mit der deutschen Staatsbürgerschaft erhalten eben diese Personen auch das Wahlrecht.

Politischen Rechte sollten eine Belohnung für gelungene Integration sein.

Der SPD genügen schon Wählerstimmen.

Wie immer, ist dieser Gedankengang entweder absichtlich oder aus Dummheit zu kurz gefasst.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis eine neue Islamische Partei Deutschlands ( IPD) die Bühne betreten wird.....dies ist aufgrund des demographischen Wandels so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Nativer > Glaschked • vor 3 Jahren

Das geht doch alles viel einfacher bei Ebay, Startpreis Deutscher Pass 1€, sofort kaufen 5€. Schulabschluss, Ausbildung, Arbeitsplatz und Vorstrafen uninteressant. Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.

Aus dem obigen Viererkanon sticht v. a. der dritte und längste Beitrag hervor, der seinerseits unter dem Pseudonym Capt. Future veröffentlicht wurde. Darin wird Deutschland als schwacher Staat inszeniert, kurz vor der Übernahme durch ‚fremde Mächte‘. Der/die Sprecher_in entwirft das ethnonationale Bild einer homogenen, ethnisch-deutschen Nation, die allmählich durch ‚Feinde innen und außen‘ zersetzt wird. Der doppelte Antagonismus, der – wie Kapitel 4 dieser Arbeit zeigen konnte – typisch ist für die ethnonationalistische Identitätskonstruktion, tritt in dieser Aussage überaus deutlich hervor. ‚Schlechte Migrant_innen‘ und ‚kosmopolitischen Eliten‘ bzw. ‚Einbürgerungsbefürworter_innen‘ sind gleichermaßen Feindbild und konstitutives Gegenüber des eigenen ‚deutschen‘ Selbst. Mit dem Begriff ‚bio-deutsch‘ werden überdies klassisch biologistisch-rassistische Assoziationen geweckt.Footnote 190 Gleiches gilt für Wendungen wie ‚White-trash‘ und ‚immense Fertilität‘. Der/die Sprecher_in gehört damit eindeutig zum radikalen Seitenarm der ethnonationalen Strömung, insofern er/sie sich ideologisch nicht allein auf kulturfundamentalistische oder essentialistische Deutungen beschränkt. ‚Gute Migrant_innen‘, die qua Einbürgerung zu ‚anständigen Deutschen‘ werden könnten, scheint es in der hier konstruierten Wirklichkeit nicht zu geben. Stattdessen mündet die Erzählung in eine ethnonationalistische Bedrohungsvision: „Es wird nicht mehr lange dauern, bis eine neue Islamische Partei Deutschlands ( IPD) die Bühne betreten wird…..dies ist aufgrund des demographischen Wandels so sicher, wie das Amen in der Kirche.“ Dieser letzte Satz ist besonders interessant – nicht nur, weil hier durch die Rassifizierung von religiöser Identität ein weiteres konstitutives Feindbild geschaffen wird. Interessant sind überdies auch Form und Stil der Aussage: Die negative Prognose erhält durch die Nennung eines konkreten Parteinamens faktische Plastizität. Sie wird des Weiteren mit (vermeintlichen) demographischen Entwicklungen untermauert (ohne diese jedoch näher zu erläutern oder zu belegen) und erhält durch die abschließende Redewendung ‚so sicher wie das Amen in der Kirche‘ den Anstrich des Selbstverständlichen. In der öffentlichen Debatte – und ganz besonders im Rahmen von Online-Foren – ist immer wieder zu beobachten, wie die Nutzung von Floskeln und Redewendungen dazu dient, an den ‚gesunden Menschenverstand‘ zu appellieren und das Gesagte als unhinterfragbare Tatsache erscheinen zu lassen. Worte wie ‚natürlich‘ oder ‚wie immer‘ (die als Instrumente der Naturalisierung bereits im Rahmen des obigen staatsnationalen Redebeispiels diskutiert wurden) verstärken diesen Trend zusehends. Hochgradig emotionalisierte Begriffe wie ‚White-trash‘, ‚knallharte Abwicklungsphase‘ oder ‚Souveränitätsrechteausverkauf‘ tragen außerdem zu einer fortschreitenden ‚Entsachlichung‘ des diskutierten Themas bei. Unklar ist in diesem Zusammenhang die extensive Nutzung von Anführungsstrichen. Ähnliche Praktiken der Zeichensetzung sind auch in vielen anderen, insbesondere radikal ethnonationalistischen Foreneinträgen zu beobachten und können längst nicht immer auf Zitationen oder die etwaige Markierung von Ironie und Sarkasmus zurückgeführt werden. Wohlmöglich dienen sie lediglich der Hervorhebung bestimmter Aussagepartikel. Wohlmöglich sollen sie aber auch dazu dienen, der Zensur durch automatisierte Algorithmen zu entgehen, wie sie von manchen Onlinemedien genutzt werden, um rassistische oder verfassungsfeindliche Beiträge zu identifizieren und zu löschen. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Sprecher_innen solche Praktiken (wie z. B. auch die Verwendung von ‚Emojis‘, die u. a. in einigen der Beispiele in Abschnitt 4.2 zu beobachten ist) nutzen, um ihren eigenen, radikalen Tonfall ‚gemäßigter‘ erscheinen zu lassen. Ein solches Verhalten könnte im Zusammenhang mit einer populären Sprachideologie stehen, die Wilce in Abschnitt 2.3 beschrieben hat. Diese Sprachideologie verleiht selbst beleidigenden und in hohem Maße menschenverachtenden Aussagen den Anschein der ‚Salonfähigkeit‘, insoweit deren Sprecher_innen behaupten können, ihre Worte ‚nicht so gemeint‘ zu haben. Smileys oder Anführungsstriche könnten vor diesem Hintergrund die präventive Funktion eines ‚entwaffnenden Augenzwinkerns‘ erfüllen. Ob dies tatsächlich der Fall und auf andere Beispiele im Diskursfeld übertragbar ist, ist eine durchaus interessante Frage, der an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden kann. Unzweifelhaft ist indes, dass Capt. Future in dem hier vorliegenden Post das Szenario einer bedrohten (Herder’schenFootnote 191) ‚Volksnation‘ entwirft, deren Mitgliedern aufgrund ihrer zunehmenden Unterdrückung keine andere Wahl bleibt, als „ihr Kreuz (wenn auch nur aus Protest) ‚rechtsextremen‘ Parteien zu geben“. Vermittels verschiedener diskursiver Techniken wird so die ethnonationale Opferrolle der ‚entrechteten Minderheit im eigenen Land‘ konstituiert, welche ihrerseits eine fortschreitende Emotionalisierung (und Radikalisierung!) des persönlichen Denkens und Handelns rechtfertigt. Der sich daran anschließende Beitrag von Nativer reiht sich weitergehend in diese Spirale eigendynamischer Emotionalisierung ein. Der Kommentar nutzt Sarkasmus, um die Hamburger Einbürgerungsinitiative ad absurdum zu führen. Dabei ignoriert er offenkundig die gültigen gesetzlichen Rahmenbedingungen, die jeder Einbürgerung zwangsläufig zugrunde liegen. Dieser gesetzliche Rahmen ist Angelegenheit des Bundes und kann nicht von einzelnen Bundesländern nach Belieben gelockert werden. Insbesondere die Behauptung, Arbeitsplatz oder Vorstrafen seien für den Einbürgerungserfolg irrelevant, ist schlichtweg falsch.Footnote 192 Der sarkastische Grundton und v. a. die abschließende Redewendung – „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ –, die Heinrich Heines berühmtem Gedicht NachtgedankenFootnote 193 entlehnt (und somit eine Form der Zitation) ist, täuschen jedoch über diesen Umstand hinweg. Die emotionale Verpackung legitimiert den (stark von der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit abweichenden) Inhalt der Aussage. Auf diese Weise kann eine eigene rationale Ordnung, eine eigene Wirklichkeit entstehen, die sich nicht um Gegenargumente scheren muss. Maßgeblich dafür verantwortlich ist das von Capt. Future vorab erzeugte Gefühl der Bedrohung, da es kollektiv akzeptierte moralische Maßstäbe außer Kraft setzt und – im Sinne des Diskurses – neu ordnet. Die Basis der Emotionalisierung ist geschaffen und legitimiert im Folgenden jede weitere emotionale Aufladung. Die Analogie zum Phänomen der Hate Speech, wie Wilce es in Abschnitt 2.3 beschreibt, sowie zum Phänomen der Cultural Anxiety nach Grillo ist dabei mehr als offensichtlich.Footnote 194

Jo • vor 3 Jahren

Nun, einen Vorteil hat diese Bettelei, die deutsche Staatsbürgerschaft doch bitte bitte anzunehmen: Die Kriminalitätsstatistik verschiebt sich von einer weit überproportionalen „Migranten-“ Kriminalität zu deutscher Kriminalität, d.h. man kann so – wenn auch vorgetäuscht – von einem massiven Rückgang der Kriminalität von Einwanderern schwärmen. Gleichzeitig kann man eine erhöhte deutsche Kriminalität vorweisen und so uns Deutsche wieder einmal – wie gewohnt – schlecht machen, in den Dreck ziehen und somit „beweisen“, dass wir Deutschen ja noch viel viel schlimmer sind als all die armen Einwanderer.

alles vorbei > Jo • vor 3 Jahren

Es wird trotzdem erwähnt das es sich um „Deutschtürken,Deutschinuit usw.“ handelt.

Jo > Jo • vor 3 Jahren

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis genau das verboten und mit massiven Strafen belegt wird!

Mit dem nächsten Post reproduziert Jo die oben etablierte Opferrolle und spinnt sie entscheidend weiter. So sei die vermehrte Einbürgerung von Migrant_innen in Wahrheit eine gezielte Taktik, um den ‚echten Deutschen‘ eine erhöhte Kriminalitätsrate anzudichten und sie gegenüber den ‚schlechten Migrant_innen‘ „wieder einmal“ abzuwerten. Insbesondere die mehrmalige Repetition des Wortes ‚Kriminalität‘ steigert die emotionale Intensität des Beitrags. Hier tritt in anschaulicher Form das antagonistische Verhältnis zum staatsnationalen Diskurs hervor. Nicht nur wird dabei auf die alten Feindbilder von Migrant_innen und politischen Eliten rekurriert, auch die staatsnationale Narration von den ‚guten (eingebürgerten) Staatsangehörigen‘ als (wenigstens potenziell) ‚besseren‘ Deutschen wird als Angriff auf die eigene Identität umgedeutet und mit emotionaler Gegenwehr beantwortet. Die Worte „wieder einmal“ und „wie gewohnt“ weisen in diesem Kontext auf eine enorme politische Frustration und ein immanentes Misstrauen gegenüber der gesellschaftlichen Führungsschicht hin. Superlativierungen durch Begriffe wie ‚weit überproportional‘ oder ‚massiv‘ tragen weitergehend zur Emotionalisierung der Aussage bei und schüren – in Verbindung mit der Subjektklasse der ‚schlechten Migrant_innen‘ – das weiter oben initiierte Gefühl der Bedrohung. Ähnlich verhält es sich mit emotionalisierenden Verben wie ‚schwärmen‘ im Zusammenhang mit etwaigen ‚Einbürgerungsbefürworter_innen‘. Solche Begriffe lassen die Gegenseite (!) irrational erscheinen und werten implizit den eigenen Standpunkt auf. Bemerkenswert ist überdies die von Jo aufgestellte Behauptung, dass die Kenntlichmachung eines (oft auch nur vermeintlichen) Migrationshintergrunds in Zukunft unter Strafe gestellt werde. Diese Prognose scheint insofern erstaunlich, als die Bezeichnung Menschen mit Migrationshintergrund ein offizieller Begriff des statistischen Bundesamtes ist.Footnote 195 Die sprachliche Kennzeichnung als Migrant_in ist ein standardisiertes, staatlich institutionalisiertes statistisches Werkzeug. Es erscheint relativ unwahrscheinlich, dass umgangssprachliche Benennungen, welche ideologisch an dieses Konstrukt anschließen, in näherer Zukunft abgeschafft oder unter Strafe gestellt werden könnten – zumal auch der Begriff Menschen mit Migrationshintergrund letztlich eine (nicht ganz unproblematische) ethnische Trennlinie suggeriert.Footnote 196 Diesen Kontext blendet Jo jedoch völlig aus und aktualisiert stattdessen die in Online-Foren überaus gängige Deutung von der ‚undemokratischen Zensur‘ und der Unterdrückung ‚legitimer Minderheitenmeinungen‘ durch ein ‚autoritäres politisches Regime‘. Vertreter_innen des ethnonationalen Diskurses sehen sich in einer Linie mit den revolutionären Bewegungen der Vergangenheit, so z. B. mit dem Widerstand gegen das NS-Regime. Vor dem Hintergrund, dass der ethnonationale Diskurs einen ethnischen Nationalismus propagiert, der in hohem Maße mit kulturfundamentalistischen und (wie man oben gesehen hat) biologistisch-rassistischen Folk Concepts von Kultur und Identität in Verbindung steht, mag solch ein Gleichnis erstaunen, es ist jedoch ein weit verbreitetes Phänomen und veranschaulicht als solches die angespannte emotionale Stimmungslage sowie das allgegenwärtige Gefühl der Deprivation, das auch in Kapitel 4 dieser Arbeit bereits dominant hervorgetreten ist. Zugleich wird anhand der hier abgedruckten Beispiele deutlich, wie mächtig emotionalisierte Wirklichkeitskonstruktionen sein können und wie weit sie sich ggf. – aufgrund ihrer selbstlegitimierenden emotionalen Dynamik – von anderen, kollektiv akzeptierten Wahrheiten entfernen. Mit Foucault lässt sich festhalten, dass Wahrheit (wenigstens im vorliegenden Fall) in der Tat nichts anderes ist, als eine bloße Funktion des Diskurses.Footnote 197 Ihre Macht entfaltet sie v. a. durch die Konfrontation mit ihrem jeweiligen Gegenüber – oder vielmehr durch dessen diskursive Erfindung, also durch die diskursimmanente Konstruktion von konstitutiver Unwahrheit. Ebenso wie sich Identitäten maßgeblich durch ihr antagonistisches Gegenstück konstituieren, konstituieren sich Wirklichkeit, Wahrheit und Moral hier im Akt der Kontrastierung. So ist es z. B. äußerst beachtenswert, dass sich die Sprecher_innen des ethnonationalen Diskurses (im betrachteten Forum sowie auch darüber hinaus) deutlich intensiver und extensiver mit Irrationalität, Lügen und Unmoral ihrer Gegner_innen befassen, als mit der Konstruktion ihrer eigenen (positiven) Identität. Hier tut sich ein erheblicher Unterschied zum staatsnationalen Diskurs auf, der seinerseits in erster Linie durch explizit ausformulierte, positive Identitätsangebote hervorsticht. Auf diese offensichtliche Diskrepanz zwischen den diskursspezifischen Strategien der Aussageproduktion wird zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher einzugehen sein.

Olaf Metzger • vor 3 Jahren

Die deutsche Staatsangehörigkeit kann durch eine Staatsangehörigkeitsurkunde (Staatsangehörigkeitsausweis) nachgewiesen werden. Sie wird auf Antrag von der Staatsangehörigkeitsbehörde ausgestellt. Der Bundespersonalausweis oder der deutsche Reisepass sind kein Nachweis über den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Sie begründen lediglich die Vermutung, dass der Ausweisinhaber die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

Im Regelfall wird die deutsche Staatsangehörigkeit durch Abstammung erworben, wenn zumindest ein Elternteil deutscher Staatsangehöriger ist. Weitere Erwerbsgründe stellen Einbürgerungen und seit dem Jahr 2000 auch der Geburtserwerb von Kindern ausländischer Eltern dar, wenn sich zumindest ein Elternteil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig und gewöhnlich im Inland aufgehalten hat.

Quelle Bayrisches Innenministerium

http://www.stmi.bayern.de/buer...

Der Beitrag von Olaf Metzger nimmt im vorliegenden Forum eine Sonderstellung ein, da er sich, entgegen dem allgemeinen Trend, keiner offensichtlichen Emotionalisierungstechniken bedient. Stattdessen wird hier ein Text des Bayrischen Innenministeriums zum Thema Staatsangehörigkeit reproduziert. Die Absicht, die hinter dieser sehr spezifischen Art der Äußerung steckt, kann aufgrund des mangelnden Kontextes nicht restlos entschlüsselt werden. Es gibt jedoch einige Anhaltspunkte: So fällt an der zitierten Definition v. a. die Abgrenzung zwischen Staatsangehörigkeitsurkunde und Reisepass / Personalausweis ins Auge. Tatsächlich erhalten Eingebürgerte im Rahmen ihrer offiziellen Eingliederung in den deutschen Staat eine Staatsangehörigkeitsurkunde zum Nachweis ihrer neuen rechtlichen Zugehörigkeit. In der massenmedial vermittelten Debatte wird jedoch im Zusammenhang mit der Einbürgerung zumeist vom Erhalt des deutschen Passes gesprochen (so auch in dem obenstehenden Artikel, dem das vorliegende Forum angegliedert ist). In diesem Licht betrachtet scheint der Post zu implizieren, dass der bei der Einbürgerung erhaltene Pass keine ‚echte‘ Zugehörigkeit zur deutschen Nation etabliere. Dadurch, dass im Text des Bayrischen Innenministeriums außerdem auf die Askription qua Geburt als Regelfall des Staatsangehörigkeitserwerbs verwiesen wird, erscheint der Erwerb durch Einbürgerung zwangsläufig als mehr oder minder seltener Ausnahmefall. Dabei ist zu bedenken, dass auch Anspruchseinbürgerungen letztlich einen ‚Regelfall‘ des Staatsangehörigkeitserwerbs darstellen, insofern die Erfüllung entsprechender Voraussetzungen einen reglementierten und gesetzlich verbürgten Anspruch auf Zugehörigkeit begründet. Dementgegen untermauert die obige Formulierung jedoch auf subtile Weise die ethnonationale These von der natürlich gewachsenen Abstammungsgesellschaft. Indem er diese Darstellungsform reproduziert, vollzieht der hier behandelte Foreneintrag – durch Zitation und Nutzung (aus dem Kontext gerissener) Fakten – eine Rationalisierung der emotionalen Ordnung, die im bisherigen Verlauf der Debatte kollektiv und intersubjektiv entfaltet wurde. Das Primat der ‚echten Deutschen‘ als ‚überlegene Volksgemeinschaft‘ scheint durch die Gesetzeslage bestätigt zu werden. Wie schon an früherer Stelle zu beobachten war ergänzen und legitimieren Rationalität und Emotionalität sich gegenseitig. Wechselseitig tragen sie zur Verselbstständigung der kollektiven Sinnwelt bei, die im Forum gemeinschaftlich entworfen wird und deren Dynamik im Folgenden weitergehend Fahrt aufnimmt.

Schleimbeutel • vor 3 Jahren

Olaf bedankt sich artig dafür, das jemand deutscher Staatsbürger geworden ist.Bravo!

Ohne Mich • vor 3 Jahren

Machen Sie weiter Herr Scholz, ich finanziere hier nichts mehr im Freiluft KL. BRD (Vereinigtes Wirtschaftsgebiet sagt doch alles LOL)! Hier wird bewusst das deutsche Volk vernichtet.

Bin schon 10 Jahr im Streik und das ist gut so. Ich bin bescheiden, saufe und rauche nicht. Komme gut mit ALG 2 aus.

Gerhard Müller • vor 3 Jahren

Deutscher Pass oder die Staatsangehörigkeit ist doch heute nichts mehr Wert ausser für die Sozialschmarotzer die sich gerne die 2.Staatsbürgerschaft abholen und solche Leute sind der SPD willkommen denn die können auch nichts anderes als es sich auf Kosten der Steuernzahlenden Bevölkerung die Taschen zu füllen und saudumme Sprüche durch die Gegend zu tröten.

Die Kommentare von Schleimbeutel und Ohne Mich richten sich direkt an den Ersten Bürgermeister Olaf Scholz und diskreditieren dessen Engagement für die Hamburger Einbürgerungsinitiative. Diese direkte Ansprache des diskursiven Gegners ist – wie man in Abschnitt 4.2 gesehen hat – eine gängige Praxis ethnonationalistischer Sprecher_innen. Während Schleimbeutel relativ gemäßigt, wenn auch hochgradig sarkastisch formuliert, ist der Beitrag von Ohne Mich deutlich aggressiver. Insbesondere die Aussage, das deutsche Volk werde bewusst vernichtet, rekurriert wiederum auf die vermeintliche Opferrolle der ‚echten Deutschen‘ und schmückt diese mit emotionaler Rhetorik aus. Die Opferrolle, die im Forum durch intersubjektive Akzeptanz inzwischen zur Konvention geworden ist, dient im nächsten Schritt dazu, den „Streik“ und damit die aktive Verweigerung eines wirtschaftlichen Beitrags zu rechtfertigen. Der Bezug von Arbeitslosengeld wird als legitimer politischer Protest umgedeutet. Das ist besonders deshalb beachtenswert, weil der nächste Kommentar von Gerhard Müller eben diese Haltung als ‚Schmarotzertum‘ disqualifiziert – allerdings, und das ist entscheidend, nur in Bezug auf Mehrstaatler_innen (alias ‚Kosmopolit_innen‘) und (‚schlechte‘) Migrant_innen. Ihnen wird unterstellt, die Staatsangehörigkeit aus opportunistischen Gründen anzustreben und das deutsche ‚Volk‘Footnote 198 strategisch auszubeuten. Den gleichen Vorwurf macht der Autor im Übrigen auch der politischen (SPD)Elite. Die vorangegangene Aussage von Ohne Mich wird dabei völlig ignoriert. Auf diese Weise gelangt man zu dem Eindruck, Sozialhilfe zu beziehen sei für Menschen mit Migrationshintergrund verwerflich und offenbare kriminelle Absichten, für ‚echte Deutsche‘ sei solch ein Verhalten jedoch aufgrund ihrer Opferrolle verzeihlich und sogar ein probates Mittel im politischen Kampf. Hieran kann man sehr anschaulich erkennen, wie eng diskursive Wirklichkeitskonstruktionen nicht nur mit Vorstellungen von Wahrheit, sondern eben auch mit Vorstellungen von Moral verknüpft sind. Die Dynamik aus Rationalität und Emotionalität, die im bisherigen Verlauf der Analyse anschaulich zu beobachten war, kreiert nicht nur Identitätsangebote und Rollenbilder, sie ordnet diesen auch (im Goffman’schen Sinne) angemessenes bzw. erwartbares Verhalten zu.Footnote 199 Die Wertmaßstäbe, die der Diskurs etabliert, sind demnach nicht absolut, sondern relativ zu seinen jeweiligen Subjektkategorien. Da die diskursive Wirklichkeit im vorliegenden Forenbeispiel (wenigstens bis hierhin) keinerlei Widerspruch erfährt, entkoppeln sich ihre moralischen Implikationen vom korrigierenden Gegengewicht anderer Diskursrealitäten. Sie erscheinen absolut und ‚natürlich‘. ‚Deutsch Sein‘ wird damit zum naturgemäßen, ethnisch begründeten Recht. Gegenteilige Auffassungen tauchen nur und ausschließlich als konstitutive Unwahrheiten in der Debatte auf. Sie dienen den Sprecher_innen als (unmoralischer) Kontrapunkt zur eigenen (moralischen) Perspektive. Sie bilden das konstitutive Außen über das die Ethnonationalist_innen ihre kollektive Identität legitimieren. Zu diesem Zweck müssen die Diskursproduzent_innen (wie in Abschnitt 5.2 festgestellt wurde) paradoxerweise den gegnerischen Diskurs reproduzieren, um ihn in der Folge umzudeuten, zu diskreditieren und ihm einen sehr spezifischen Platz in der eigenen symbolischen Sinnwelt zuzuweisen – ganz weit unten in der diskursiven Hierarchie aller potenziellen Wirklichkeiten. Die gegnerische Narration gilt als böse, naiv oder ‚saudumm‘ (s. o.). Sie ist jedoch nicht nichtig und kann es auch nicht sein, weil ihr Gegenstück angesichts der Lücke dann zwangsläufig ebenfalls nichtig erscheinen müsste. Die Diskurse brauchen einander. Jeder ist die Existenzbedingung des jeweils anderen. Am Bespiel der unentwegt auf Angriff und Gegenwehr ausgerichteten ethnonationalen Erzählung sticht dieser Umstand ganz besonders deutlich hervor.

amphi49 • vor 3 Jahren

wieder so ein politisches Maulheldengeschwätz der CSU, das man wegen fehlenden Mumm in den Hosen, letztlich im Rot/Grün/Schwarzen Schulterschluß, schnell abgehacken wird . Entwedern die Roten Herrschaften in Berlin und Hamburg nehmen Rücksicht auf die Belange anderer Bundesländer, wenn nicht, dann zeigt Ihnen die Ar...karte, aber schnell. Immerhin ist Bayern ein Freistaat und man soll sich das Recht vorbehalten, parteipolitisch motivierte Einbürgerungsorgien nicht anzuerkennen. Weder als Bundesrepublikaner und erst recht nicht als EU-Staatenbundler, braucht sich die autochthone Bevölkerung alles überstülpen lassen. Dafür braucht man sich auch nicht zu schämen, weil dieses Recht ein globales ist.

Im Kommentar von amphi49 wird die Diskussion abermals auf eine neue Eskalationsstufe gehoben, denn der Beitrag ist letztlich ein aktiver Aufruf zur Sezession. Dabei tauchen mehrere Elemente auf, die schon an früherer Stelle anhand anderer Beiträge diskutiert wurden, so z. B. das antagonistische Wechselverhältnis mit den „Roten Herrschaften in Berlin und Hamburg“, welches hier mit dem Verweis auf die EU noch explizit mit (negativen) Vorstellungen von Transnationalität und Kosmopolitismus verkoppelt wird. Bemerkenswert ist überdies die rationalisierende Bezugnahme auf den Begriff des ‚Freistaats‘ als Legitimation für ein etwaiges politisches Ausscheren aus der Bundesrepublik. Tatsächlich ist der Titel ‚Freistaat‘, den Bundesländer wie Bayern oder Sachsen führen, – ähnlich wie der Hamburger Titel ‚Freie und Hansestadt‘ – eine Bezeichnung, die sich historisch entwickelt hat und auf die Freiheit von (monarchischer!) Herrschaft verweist. Es handelt sich dabei um eine im deutschen Sprachraum entstandene alternative Bezeichnung für den Begriff der ‚Republik‘, die zur Zeit der Weimarer Republik für viele deutsche Staaten geläufig war.Footnote 200 Der Titel begründet demnach keinen qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Bundesländern von heute und rechtfertigt auch keinen quasi-natürlichen Sonderweg. Nichtsdestoweniger lässt der im Stil einer Tatsachenargumentation formulierte Verweis auf den bayrischen Freistaat dessen besondere Rolle und Bedeutung ‚logisch‘ erscheinen und legitimiert die weitere Deutungslinie. In Abgrenzung zur EU wird auf das nationalistische Prinzip angespielt, das mit Gellner in Abschnitt 2.1 vorgestellt wurde. Die politische Selbstverwaltung der (Herder’schen) ‚Völker‘Footnote 201 wird als Naturgesetz inszeniert. Die Selbstbezeichnung als „autochthone Bevölkerung“ sowie der Verweis auf ein etwaiges ‚Völkerrecht‘ unterstreicht diesen Anspruch weitergehend. Gerade der Begriff ‚autochthon‘ ist in diesem Kontext interessant. Er taucht in der ethnonationalen Erzählung immer wieder auf, v. a. im Bereich ihrer radikaleren Seitenarme. Zwar ist die Vokabel und die damit verbundene Deutung weniger dominant als andere Muster des Diskurses, nichtsdestoweniger ist ihr wiederholtes Auftreten durchaus auffällig. Besonders bemerkenswert ist, dass ähnliche Karrieren des Autochthony-Begriffs auch im afrikanischen Kontext sowie in anderen westeuropäischen Ländern beobachtet werden können. Ceuppens und Geschiere stellen überdies fest, dass seine Verwendung immer in enger Verbindung mit Vorstellungen von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft steht und dass er sich außerdem maßgeblich über das konstitutive Außen der ‚Nicht-Autochthonen‘ (bzw. Allochthonen) konstituiert, wobei seine Dichotomisierung von (positiver) Statik und (negativer) Bewegung (in Form von Migration) unweigerlich gewisse Legitimations- und Definitionsprobleme mit sich bringt sowie die ständige Notwendigkeit, sich über die Abgrenzung (und die opportunistische Klassifizierung) von Außenstehenden seiner selbst zu vergewissern.Footnote 202 Diese Erkenntnisse sind auf den ethnonationalen Diskurs in hohem Maße übertragbar. Durch die Bezugnahme auf das Bild der ‚Autochthonen‘, welches eng mit Vorstellungen von ‚indigenen Völkern‘ und ‚indigenen Rechten‘ assoziiert ist,Footnote 203 erfährt das ethnonationale Projekt zudem eine ideelle Aufwertung. Ihre Implikationen passen hervorragend in die Narration vom ‚fremdbestimmten Deutschland‘ und zur Rolle der ‚unterdrückten Minderheit‘ (respektive ‚überlegenen Volksgemeinschaft‘) im revolutionären Kampf gegen das korrupte System.

conservative • vor 3 Jahren

Herr Scholz hat ein Problem: Es ist fraglich, ob die Anzahl der Neubürger, die SPD wählen werden, einen Machtverlust auch verhindern werden. Im Zweifelsfalle gilt das Motte von 2008: Wer wählt ist nicht wichtig, wer zählt ist wichtig. Siehe den „Obama von Altona“. Aber da hat es ja auch nciht gereicht.

helga-harry carstensen • vor 3 Jahren

hamburg möchte sich sicher die kriminalstatistik mit diesem trick verschönern.

Jutta Kodrzynski • vor 3 Jahren

Ich bin entsetzt über die inhaltliche und intelektuelle Qualität der Kommentare in der Welt.

Enhu > Jutta Kodrzynski • vor 3 Jahren

haben Sie das wort, welches Sie vor qualitaet gestellt haben, ,richtig geschrieben?? oder ist es ein verzeihlicher schreibfehler

Die nächsten beiden Kommentare von conservative und helga-harry carstensen reproduzieren abermals Motive der Debatte, wie sie weiter oben bereits in früheren Beiträgen aufgetreten sind. Von weiterführendem Interesse ist im Post von conservative lediglich die Bezugnahme auf den „Obama von Altona“. Dabei handelt es sich um den ehemaligen SPD-Politiker Bülent Ciftlik, den die Boulevard-Presse ob seines Charismas zeitweilig als „Obama von Altona“ inszenierte, der dann jedoch wegen mehrerer Vergehen zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.Footnote 204 Solche Negativ-Individualisierungen vermittels plakativer Einzelfälle (meist mit kriminellem Kontext) sind im ethnonationalen Diskurs ein beliebtes Mittel der Rationalisierung diskursiver Logiken einerseits sowie der Emotionalisierung abstrakter, makroperspektivischer Behauptungen andererseits. Anders als im staatsnationalen Diskurs liegt das Ziel dieser Strategie dabei zumeist nicht in der Erzeugung von Empathie, sondern vielmehr (passend zum unentwegten Abgrenzungsbedürfnis der Sprecher_innen) in der Mobilisierung von Angst (oder Cultural AnxietyFootnote 205). Während der hier zu beobachtende Einsatz von Machttechniken sich also unproblematisch in die kollektive Wirklichkeit des Forums einfügt, fällt der nachfolgende Kommentar (als einziger in der gesamten Forendiskussion!) aus der Reihe. Der Beitrag von Jutta Kodrynski hinterfragt und kritisiert die dominante Deutungslinie des ethnonationalen Diskurses sowie auch den Einsatz von rhetorischen Machttechniken seitens seiner Sprecher_innen. Dabei werden jedoch interessanterweise keine Gegenargumente angeführt, die in irgendeiner Form zur Verständigung führen könnten. Stattdessen nimmt die Autorin einen moralisierenden Standpunkt ein und wertet die vorherigen Redner_innen intellektuell ab. Das Aufeinanderprallen von Wirklichkeiten führt hier wiederum dazu, dass der gegnerischen Realität ein niederer Platz in der symbolischen Sinnwelt zugewiesen wird. Diese (emotionale) Abwehrreaktion wird dann auch sogleich durch den Kommentar von Enhu gespiegelt. Jener nimmt ebenfalls nicht auf die inhaltliche Aussage der Vorrednerin Bezug, sondern disqualifiziert diese, indem er auf einen Tippfehler in ihrem Post hinweist und damit die soeben inszenierte ‚intellektuelle Überlegenheit‘ seiner Kontrahentin ad absurdum führt. Dabei wird die Tatsache geflissentlich ignoriert, dass so gut wie alle Beiträge im Forum (und ebenso der Beitrag von Enhu selbst) Tippfehler aufweisen. Dieser kurze Wortwechsel steht exemplarisch für eine ganze Reihe weiterer im Diskursfeld. Wann immer Vertreter_innen unterschiedlicher Diskurslinien aufeinandertreffen ist augenfällig, dass sie einander intellektuell und/oder moralisch zu diskreditieren trachten. Die Verhaftung in der eigenen Wirklichkeitssphäre führt unweigerlich zur emotionalen (und rationalen) Ablehnung der jeweils anderen. Auffällig ist dabei v. a., dass die Auseinandersetzung mit der Gegenseite meistens überaus oberflächlich bleibt. Die Sprecher_innen begnügen sich damit, ihre eigene Meinung im Moment des Zusammenpralls durchzusetzen, nicht etwa durch Überzeugung ihres Gegenübers, sondern indem sie dessen Argumentation schlichtweg ad absurdum führen. Die gemeinsamen Grundbegriffe der Diskurse bleiben dabei in der Regel im Dunkeln, ihre polyseme Natur unbeleuchtet. Auf diese Weise kann sich der konstitutive Antagonismus zwischen ihnen ungehindert entfalten. Die diskursiven Wirklichkeiten erhalten sich selbst – und sie erhalten, in steter und unweigerlicher Wechselwirkung, immer auch einander.

wähler • vor 3 Jahren

wie hier ein land verraten und verkauft wird ist schon einmalig – wer die wählt hat mit diesem land nichts am hut – aber auch garnichts

Enhu • vor 3 Jahren

wenn das alles so weiter geht moechte ich keine deutscher mehr sein

es reicht im ergebnis ,hier zu sein eine gewisse-durchaus kurze zeit--und schon gibt es den pass

es handelt sich hier doch nicht um ein einbuergerungsverfahren,sondern ein pass erlangungsverfahren

glauben denn die politiker, dass so ein einbuergerungswilliger ,aus anderem kulturkreis stammend, mit anderen wertvorstellungen aufgewachsen anders tickt ,nur weil er einen deutschen pass hat??

viele von den neuen deutschen sagen doch ganz offen,dass sie fuer ausschwitz und andere verbrechen keine verantwortung uebernehmen,das sei doch sache von uns deutschen

wenn das so weitergeht wird alsbald jedem der einen antrag stellt, ,eine praemie bezahlt

armes deutschland--wir holen uns die probleme mit freuden ins haus

der islam gehoert zu deutschland

der ausverkauf gehoert zu deutschland

der schwachsinn gehoert zu deutschland

Die Kommentare von wähler und Enhu bringen noch einmal anschaulich das Gefühl der Deprivation auf den Punkt, welches die gesamte bisherige Forendiskussion wie ein roter Faden durchzogen hat. Insbesondere am Beitrag von Enhu fallen die zahlreichen emotionalen Deutungs- und Stilfragmente auf. Im Stilistischen Bereich tritt hier v. a. die abschließende Repetition mit ihrem intensivierenden Charakter hervor, welche abermals in der Konstruktion von konstitutiver Unwahrheit (respektive konstitutiver Unmoral) mündet (= „schwachsinn“). Inhaltlich verbindet der Kommentar verschiedene affektive Elemente zu einer selbstverstärkenden Narration. So wird die kulturfundamentalistische Vorstellung von containerhaften ‚Kulturkreisen‘ und der damit einhergehende Migrations- / Integrationspessimismus mit dem hochgradig emotionalen Motiv des nationalsozialistischen Holocaust in Verbindung gebracht. Insbesondere das personalisierende Bekenntnis, unter den gegebenen Umständen „kein deutscher“ mehr sein zu wollen, illustriert überdies die emotionale Negativspirale, in welcher der Sprecher sich offensichtlich befindet und externalisiert diese für die Rezeption durch etwaige Adressat_innen. Anhand seines Posts wird die wechselseitige Dynamik aus Rationalisierung und Emotionalisierung, welche die gesamte Forendebatte maßgeblich strukturiert, noch einmal in besonderer Weise sichtbar. Emotionale Argumente tragen dazu bei, die eigene Wirklichkeit sowie v. a. auch die eigene Position in selbiger zu rationalisieren und zu legitimieren. Emotionen sind hier nicht bloß ein Verteidigungsmechanismus zum Schutz der eigenen rationalen Ordnung. Vielmehr sind sie deren Fundament und ihre ureigene Voraussetzung.

Aus dem letzten Eintrag, und darüber hinaus auch aus dem gesamten Forum, spricht ein akutes Gefühl des drohenden Identitätsverlusts, wie es nicht nur für viele nationalistische Diskurse typisch istFootnote 206 sondern überdies auch für den Autochthony-Diskurs nach Ceuppens und Geschiere (s. o.), mit welchem es im vorliegenden Diskursfeld eine gewisse Verschränkung zu geben scheint. Inwiefern Vorstellungen von Autochthony für den ethnonationalen Diskurs eine ähnliche Funktion übernehmen, wie es der Hamburg-Mythos für den staatsnationalen Diskurs tut, ist eine überaus interessante Frage. Da die Nutzung des Begriffs autochthon im Diskursfeld jedoch eher eine Randerscheinung bildet, ist von einer solch zentralen Bedeutung – jedenfalls nach aktueller Datenlage – nicht auszugehen. Nichtsdestoweniger gibt es offensichtliche Parallelen zwischen dem deutschen Konzept des ‚Volkes‘ (oder der Kulturnation) und dem globalen Phänomen der Autochthony. Die wichtigste dieser Parallelen besteht in der kontinuierlichen Notwendigkeit zur Abgrenzung, welcher die Sprecher_innen des ethnonationalen Diskurses sich augenscheinlich ausgesetzt sehen. Die Metaphorik von Angriff und Gegenwehr, die den Diskurs entscheidend anleitet, kann sich in relativ autarken virtuellen Räumen wie dem hier untersuchten Online-Forum nahezu ungehindert entfalten. In dieser Hinsicht weckt das Forum Assoziationen mit den Hamburger Einbürgerungsfeiern, die in Abschnitt 5.2 untersucht wurden. In beiden Fällen kann sich die Diskursrealität durch ihre (selektive) Abkopplung von gegenläufigen Wahrheiten intersubjektiv verselbstständigen und gleichzeitig in ausgewählter Form konstitutive Unwahrheit und konstitutive Unmoral zulassen. Dieser Prozess vollzieht sich entlang von diskursiven Machttechniken, wie sie u. a. auch schon am staatsnationalen Beispiel zu beobachten waren. So ist zuvorderst das Wechselspiel aus Rationalisierung und Emotionalisierung zu nennen, das sich gleichermaßen (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise) durch beide diskursiven Strömungen (und durch die gesamte massenmedial vermittelte Debatte) zieht. In Verbindung damit stehen Strategien der Superlativierung, der Personalisierung, der Repetition, der Zitation und der (in diesem Falle ‚negativen‘) Individualisierung. Des Weiteren sind Sarkasmus und das ad absurdum-Führen gegnerischer Stimmen als wichtige Elemente hervorgetreten sowie auch die Nutzung von Floskeln und Redewendungen als Appell an den ‚gesunden Menschenverstand‘. Zusammenfassend lässt sich die ethnonationale Forendiskussion als Hate Speech nach Wilce charakterisieren.Footnote 207 Ob bei deren moralischer Rechtfertigung Sprachideologien eine prominente Rolle spielen, kann in dieser Arbeit nicht abschließend geklärt werden. Klar ist jedoch, dass die extensive Inszenierung von Hass und Angst maßgeblich durch die diskursinterne Logik der ethnonationalen Narration gerechtfertigt wird und dass derartige Emotionalisierungstechniken umgekehrt auch die diskursive Logik legitimieren, indem sie deren (vermeintliche) Implikationen unmittelbar erfahrbar machen. Der Diskurs entwirft eine tautologische Wirklichkeit, deren rationale und emotionale Aspekte sich fortwährend gegenseitig bestätigen. In dieser Hinsicht gleicht er dem staatsnationalen Diskurs, allerdings scheint die ‚Stoßrichtung‘ seiner Dynamik eine völlig andere zu sein. Während der staatsnationale Diskurs sich maßgeblich mit der Konstruktion positiver Identitätsangebote befasst, beschränkt sich der ethnonationale Diskurs nahezu ausschließlich darauf, Außenstehende zu identifizieren und abzuwehren. Das heißt nicht, dass der ethnonationale Diskurs seinen Adressat_innen keinerlei positive Identitätsangebote unterbreiten würde. Er tut dies in der Tat sehr extensiv, jedoch in aller Regel implizit vermittels Negation dessen, was sie jeweils nicht sind. Dieser offensichtliche Widerspruch zwischen den beiden diskursiven Narrationen und ihren korrespondierenden Machtstrategien bedarf im Folgenden einer näheren Betrachtung.

Die Machtstrategien im Vergleich

Die Frage, warum ethnonationaler und staatsnationaler Diskurs sich in ihren argumentativen Strategien und im Einsatz ihrer Machttechniken so gravierend voneinander unterschieden, ist nicht leicht zu beantworten. Mehrere Faktoren spielen hierbei eine Rolle. Zunächst einmal ist zu bedenken, dass staatsnationaler und ethnonationaler Diskurs in sehr verschiedenen Arenen und vermittels unterschiedlicher Medien (re)produziert werden. Anhand der Debattenausschnitte, die im vorliegenden Unterkapitel erörtert wurden, ist überaus deutlich geworden, dass die Produktion der beiden dominanten Diskurse jeweils sehr spezifischen Regeln folgt. Nicht nur Foucault hat darauf hingewiesen, dass Diskurse immer kontextuellen ‚Verknappungsmechanismen‘ unterworfen sind.Footnote 208 Auch Goffman geht davon aus, dass jede zwischenmenschliche Interaktion (auch dann, wenn sie massenmedial vermittelt ist) ‚gerahmt‘ wird durch Konventionen und intersubjektiv abgestimmte Erwartungshaltungen.Footnote 209 Je nach Situation und Kontext der Interaktion (bzw. des Diskurses) unterscheiden sich diese Frames zum Teil erheblich voneinander. So erfordert eine rituelle Laudation im Rahmen einer offiziellen Einbürgerungsfeier völlig andere Formen der Rhetorik als die inoffizielle und anonyme (!) Kommunikation in einem öffentlichen Online-Forum. Einige der Diskrepanzen im Hinblick auf Form und Stil der obigen Aussagen sind insofern ohne Zweifel auf die divergierenden Formationsregeln zurückzuführen, derer sie sich jeweils ausgesetzt sehen. Jedoch ist der Verweis auf diese Formationsregeln nicht ausreichend, um zu erläutern, warum der eine Diskurs Identität aktiv und inklusiv ausformuliert, während der andere Diskurs sie ausschließlich indirekt via Exklusion impliziert.

Ein weiterer Anhaltspunkt, der wohlmöglich zu einer Antwort führen könnte, betrifft die in Abschnitt 4.3 identifizierten Adressat_innenkreise der Diskurse. So wurde der staatsnationale Diskurs als fremdadressierter ‚Werbediskurs‘ charakterisiert, da er in der Hauptsache von politischen sowie zivilgesellschaftlichen Eliten ausgeht und maßgeblich darauf abzielt, deren Publika – Migrant_innen, Eingebürgerte, Hamburger_innen, potenzielle Wähler_innen, etc. – von seiner diskursiven Wirklichkeit zu überzeugen. Ganz im Gegensatz dazu entwirft der ethnonationale Diskurs eine im hohen Maße selbstadressierende Narration, insofern seine Sprecher_innen einander – vor allem im Rahmen von Online-Foren – gegenseitig eine Bühne bieten. Die unterschiedliche Verfasstheit der diskursiven Identitätspantheons – simpel und systematisch im staatsnationalen Fall, komplex und diffus im ethnonationalen Fall – wurden maßgeblich auf diesen zentralen Unterschied zurückgeführt. Insbesondere die hohe emotionale Betroffenheit der ethnonationalistischen Sprecher_innen führt demnach zu einem gesteigerten Abgrenzungsbedürfnis gegenüber einem (wie auch immer gearteten) ‚feindlichen Außen‘. Sie führt überdies zu latenten Legitimationsproblemen, etwa dann, wenn unterschiedliche Teilsinnwelten der Diskursproduzent_innen diskursintern miteinander in Konflikt geraten (so z. B. im Falle der widersprüchlichen Identitätskategorien von ‚echten‘ und ‚anständigen Deutschen‘), bzw. wenn der Diskurs als Ganzes sich mit konkurrierenden Wahrheiten konfrontiert sieht, die ihrerseits – wie u. a. der staatsnationale Diskurs – extensiv symbolisches Kapital akkumulieren.Footnote 210

Die Unterscheidung zwischen selbstadressiertem und fremdadressiertem Diskurs ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, sie erklärt jedoch immer noch nicht die starke Divergenz der diskursiven Emotionalisierungsstrategien, die in der obigen Analyse festzustellen war. Um diese Divergenz weitergehend zu verstehen ist es sinnvoll sich an die historische Entwicklung der nationalistischen deutschen ‚Vorgängerdiskurse‘ zu erinnern, wie sie ausführlich in Abschnitt 2.5 erörtert wurde. Hier nun endlich schließt sich der Kreis zu Brubaker und seiner berühmt-berüchtigten Charakterisierung Deutschlands als Kulturnation.Footnote 211 Tatsächlich hat es in der deutschen Geschichte ethnonationale und staatsnationale Konzeptionen von Nation gegeben. Trotzdem ist mit Brubaker festzuhalten, dass ethnonationale Diskurse in der Vergangenheit sehr viel stärker zu Dominanz gelangt sind und wesentliche Meilensteine des deutschen Nations- und Staatsbildungsprozesses in entscheidender Weise mitgeprägt haben (so etwa die Kodifizierung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 mit seiner gesetzgeberischen Hintertür für die Hegemonialmacht Preußen).Footnote 212 Gerade der Herder’sche Volksbegriff und dessen wissenschaftliche Verwertung durch Ideologen wie Meinecke sowie auch das Wirken der frühen ethnologischen Primordialisten, Evolutionisten und Diffusionisten haben dazu geführt, dass sich im deutschen Sprachraum eine ethnonationale Vision von Nation durchsetzen konnte und dass diese – wie die vorliegende Untersuchung zeigt – heute nach wie vor in den Köpfen präsent ist.Footnote 213 Rezente politische Debatten – etwa zum Thema Vermeidung von Mehrstaatigkeit und (Wieder)Aberkennung von StaatsangehörigkeitFootnote 214 – demonstrieren, dass ethnonationale Konzeptionen immer noch eine zentrale Stellung in der gesamtgesellschaftlichen Sinnwelt einnehmen. Die kollektive Hierarchie der Wirklichkeiten mag sich zwar momentan zu ihren Ungunsten verschoben haben, das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Einfluss nachhaltig gebrochen ist.

Wie schon im Hinblick auf den Hamburg-Mythos in Abschnitt 5.3 muss betont werden, dass die Tradierung kultureller Wirklichkeiten selbigen zwangsläufig Macht verleiht, insoweit sie im Prozess der intergenerationalen Weitergabe unweigerlich naturalisiert werden und dadurch nach und nach in den Bereich des Unbewussten eintreten.Footnote 215 Dieser Umstand trifft auf den ethnonationalen Diskurs ganz offensichtlich in besonderer Weise zu. Der starke Einfluss staatsnationaler Deutungen ist dementgegen eine verhältnismäßig neue Erscheinung. Staatsnationale Narrationen haben erst mit Gründung der (noch immer recht jungen) Bundesrepublik die ‚Oberhand‘ über ihr ethnonationales Gegenüber gewinnen können und waren selbst dann noch alles andere als unangefochten (was sich u. a. am ethnonationalen Konzept der ‚deutschen Volkszugehörigkeit‘ zeigt, das 1949 im Grundgesetz verankert und in den 1980er Jahren zugunsten der sogenannten Aussiedler_innen wiederbelebt wurde).Footnote 216 In Anbetracht dieses historischen Ungleichgewichts zwischen staatsnationaler und ethnonationaler Diskursströmung erscheint deren heutige Beziehung in einem völlig anderen Licht. Augenscheinlich hat sich ihr Verhältnis zunächst umgekehrt. So akkumuliert nun die staatsnationale Linie vermittels ihrer elitären Sprecher_innen in erheblichem Ausmaß symbolisches Kapital, während die ethnonationale Narration ‚an den Rand der Gesellschaft‘ gedrängt scheint. Dieses Bild ist jedoch trügerisch. Zwar mag die staatsnationale Linie derzeit besonderen Einfluss geltend machen können, die vorliegende Arbeit hat jedoch aufgedeckt, dass sie sich dabei unentwegt mit der ethnonationalen Gegenmacht auseinandersetzen muss.Footnote 217 Es konnte gezeigt werden, dass die staatsnationale Ideologie sehr wohl von diesem inhärenten Antagonismus profitiert, insoweit er ihre Identitätsangebote emotional attraktiv erscheinen lässt.Footnote 218 Nichtsdestoweniger ist es aber gerade der Antagonismus als solcher, der eben diese Identitätsangebote (sowie die spezifische Art ihrer diskursiven Ausgestaltung) überhaupt erst erforderlich macht. Während der ethnonationale Diskurs auf ein breites Repertoire historisch eingelernter ‚Selbstverständlichkeiten‘ zurückgreifen kann, was Vorstellungen von Identität und Gemeinschaft anbelangt, muss der staatsnationale Diskurs seine Rezipient_innen in weitaus stärkerem Maße von seiner (vergleichsweise neuen) Wirklichkeitskonstruktion überzeugen. Seine Sprecher_innen können sich in deutlich geringerem Umfang auf das Kontextwissen ihrer Adressat_innen verlassen, als dies seitens der Ethnonationalist_innen möglich ist. Aus diesem Grund müssen Identitätskonstruktionen explizit ausformuliert und intensiv ‚schmackhaft‘ gemacht werden, damit sie von etwaigen Rezipient_innen inkorporiert werden können. Andersherum sieht der ethnonationale Diskurs sich zusehends bedroht durch den wachsenden Einfluss der staatnationalen Deutungslinie. Seinerseits befindet er sich im Kampf gegen einen vergleichsweise neuen Feind. Auch wenn die ethnonationale Narration deutlich aggressiver und deutlich stärker auf Konfrontation ausgerichtet zu sein scheint, ist es in der Tat der staatsnationale Diskurs, der in diesem Konflikt den Angreifer mimt. Der ethnonationale Diskurs befindet sich in der Defensive und ist deswegen umso mehr auf Abgrenzung ausgerichtet. Er muss seine Identitätsangebote nicht mehr detailliert ausformulieren oder seine Anhänger_innen von deren Gültigkeit überzeugen. Er muss vielmehr die neue Wirklichkeit diskreditieren, die ihm seinen angestammten Platz in der symbolischen Sinnwelt abspenstig macht. Wenn man so will, befindet sich der staatsnationale Diskurs im Prozess des Aufstiegs, der ethnonationale Diskurs hingegen im Prozess des Niedergangs. Damit soll jedoch keinesfalls impliziert werden, dass dieser Vorgang – und die damit einhergehende Hierarchisierung von Wirklichkeit – unumkehrbar wäre. Die Wahlerfolge der AFD, die in der Einführung zu dieser Arbeit thematisiert wurden, deuten hier vielmehr auf das Gegenteil hin.

Diskurse befinden sich fortwährend im Fluss. Sie generieren Macht aus Akzeptanz – und Akzeptanz kann gewonnen oder verloren werden. Wie erfolgreich ein Diskurs ist oder potenziell sein kann, hängt nicht nur von etwaigen Kontextfaktoren ab – wie z. B. der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015Footnote 219 oder dem Aufflammen eines syrischen Bürgerkrieges unter Beteiligung deutscher fundamentalislamischer Terrorist_innen.Footnote 220 Erfolg oder Misserfolg sind – das hat Abschnitt 5.3 anschaulich gemacht – in erheblicher Weise mit der allgemeinen Struktur des Diskursfeldes verbunden, mit allen potenziellen Wirklichkeiten, die darin diskursiv verfasst sind, sowie mit den interdiskursiven Antagonismen und Allianzen, die sich aus dieser spezifischen Verfasstheit ergeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Laclau und Mouffe festhalten, dass die Wirklichkeit in der Tat zur Wahl steht.Footnote 221 Diese Wahl ist immer partiell und temporär, sie ist im selben Maße emotional wie sie rational ist – und sie ist niemals völlig freiwillig. Der Akt der Wahl als solcher ist letztlich die Folge einer diskursimmanenten Dynamik, die (im Anschluss an FoucaultFootnote 222) aus Wissen Macht generiert, indem sie (identitäre) Wirklichkeitskonzeptionen emotional auflädt und dabei Einfluss nicht nur auf den menschlichen Geist, sondern auch und v. a. auf den menschlichen Körper nimmt.Footnote 223

Jürgen Habermas, dessen Diskursethik in Abschnitt 2.4 vorgestellt wurde, geht mit seinem Konzept der kommunikativen Vernunft davon aus, dass jede Kommunikation eine Reihe von Vorannahmen erforderlich macht. So könne Verständigung nur deshalb funktionieren, weil alle Beteiligten annehmen, dass sie dieselbe faktische Realität miteinander teilen, weil sie einander Zurechnungsfähigkeit und Aufrichtigkeit unterstellen und weil sie überdies vom Wahrheitsgehalt und der intersubjektiven Überprüfbarkeit ihrer eigenen Aussagen überzeugt sind. In einer Diskussion gehen wir – wenigstens, wenn wir ernsthafte Absichten hegen, – davon aus, dass das ‚bessere Argument‘ letztlich obsiegen wird. Des Weiteren nehmen wir an, dass dieses ‚bessere Argument‘ anhand des lebensweltlichen Kontextes, in dem wir uns gemeinsam bewegen, auch für alle anderen gleichermaßen erkennbar sein wird. Ohne diese notwendigen Präsuppositionen, so Habermas, gäbe es keinen Anlass, miteinander in Interaktion zu treten.Footnote 224 Ganz im Gegensatz dazu muss anhand der obigen Analyse allerdings festgestellt werden, dass die Habermas‘schen Präsuppositionen nicht bloß (wie er selbst anführt) kontrafaktisch sind,Footnote 225 sie tragen außerdem auch entscheidend dazu bei, den diskursiven Antagonismus zu befeuern, der die unterschiedlichen Wirklichkeitssphären wirksam gegeneinander abschirmt. Sie sind nicht, wie Habermas annimmt, Vorbedingungen der Verständigung. Vielmehr wehren sie der Verständigung, indem sie ihrerseits das polyseme Fundament der Wirklichkeit negieren und die damit korrespondierende Hierarchisierung konkurrierender Wahrheiten ignorieren. Derart ‚naive‘ Vorannahmen sind der Grund dafür, dass Meinungen, die klar von der eigenen rationalen Ordnung abweichen, unweigerlich im Lichte der Unmoral und der Unwahrheit erscheinen müssen (denn das Streben nach dem ‚besseren Argument‘ setzt letztlich immer auch die Diskreditierung ‚schlechter Argumente‘ voraus). Insofern ist die kommunikative Vernunft – trotz und gerade wegen ihrer ‚guten Absichten‘ – das ureigene Machtinstrument des Diskurses. Die Unterstellung von Zurechnungsfähigkeit und Aufrichtigkeit folgt gerade nicht aus dem quasi-automatischen Vertrauen auf eine gemeinsame Realität und eine gemeinsame rationale Ordnung. Sie folgt auch nicht aus der quasi-automatischen Annahme, dass die eigene Perspektive wahr und als solche überprüfbar sei. Sie folgt vielmehr aus einer Sensibilität dafür, dass jede intersubjektive Wirklichkeit zwangsläufig verschachtelt und potenziell konflikthaft ist. Sie folgt aus dem Transparent-Machen von Techniken der Macht und der Emotionalisierung und – vor allem – aus einem kritischen Bewusstsein für die polyseme Natur aller gesellschaftlichen Grundbegriffe. Folgt man der in Abschnitt 2.3 etablierten demokratietheoretischen These, dass eine ‚aufgeklärte Öffentlichkeit‘ zu den zentralen Funktionsvoraussetzungen jedes demokratischen Systems gehört, dann muss ein grundlegendes Verständnis für die Macht und die Wirkungsweise von Diskursen – und damit auch und v. a. für den untrennbaren Zusammenhang von Rationalität und Emotionalität – zwangsläufig Teil dieser Aufklärung sein. Ohne ein solches Verständnis (das demonstriert die vorliegende Untersuchung) sind Verständigung (im Habermas’schen Sinne) und Deliberation (etwa nach BenhabibFootnote 226) schlichtweg unmöglich.