3.1 Die Hamburger Einbürgerungsinitiative: „Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause“

Nachdem im zweiten Kapitel der Arbeit die grundlegenden theoretischen Konzepte etabliert worden sind, welche ihrerseits die öffentliche Debatte und / oder die weitere Untersuchung anleiten, folgt nun die Vorstellung des diskursethnologischen Ansatzes. Bevor das methodische Vorgehen jedoch im Detail erläutert werden kann, muss zunächst ein kurzer Überblick über die Hamburger Einbürgerungsinitiative, ihre historische Entwicklung und ihre einzelnen Teilaspekte gegeben werden. Erst dann können Auswahl und Einsatz der Methoden, deren theoretische Einbettung sowie auch die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des Zugangs im Kontext des Forschungsfeldes verständlich werden.

In Abschnitt 2.5 wurden bereits die zentralen Übereinkünfte dargestellt, die – im Hinblick auf die Themen Staatsangehörigkeit und Einbürgerung – aus der bundesdeutschen Innenminister_innenkonferenz von 2006 hervorgingen. Ein für diese Arbeit wesentlicher Punkt ist dabei allerdings außer Acht gelassen worden. So beschloss die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder damals nicht bloß Maßnahmen zur Vereinheitlichung (und Verschärfung) der allgemeinen Einbürgerungsbestimmungen (und initiierte damit die Reform des Zuwanderungsgesetzes), sie kam überdies auch zu dem Schluss, dass die Einbürgerung in einem „feierlichen Rahmen“ vollzogen werden sollte.Footnote 1 Durch diesen feierlichen Akt und das damit einhergehende staatsbürgerliche „Bekenntnis“ sollte „die Verbindlichkeit der getroffenen Entscheidung hervorgehoben“ werden.Footnote 2 Ziel war also die Etablierung eines offiziellen Rituals zur emotional-identifikativen Eingliederung der Einzubürgernden in die (imaginierte) Gemeinschaft der Staatsbürger_innen. Es ging mit anderen Worten um die Institutionalisierung eines nationalstaatlichen rite de passage.Footnote 3

In Folge dieses Apells an die rituelle Akzentuierung des Einbürgerungsprozesses führte die Freie und Hansestadt Hamburg im Herbst 2006 erstmals regelmäßige Einbürgerungsfeiern ein, um „die Bedeutung der Einbürgerung festlich hervorzuheben und die Neubürgerinnen und Neubürger herzlich willkommen zu heißen“.Footnote 4 Die feierliche Würdigung der Einbürgerung im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses wurde v. a. auch deshalb befürwortet, weil die Einbürgerung (dem offiziellen Diskurs zufolge) ein „Bekenntnis zu Deutschland als neuer Heimat ist und zu allen Werten, die mit einem Leben hier verbunden sind. Endlich zu Hause und das Gefühl, dazu zu gehören, mit allen Rechten und auch Pflichten.“Footnote 5

Die Einbürgerungsfeiern waren ein erster Schritt auf dem Weg zu einer symbolischen Aufwertung des Einbürgerungsaktes als solchem sowie auch zur politischen Förderung des allgemeinen Einbürgerungsinteresses und zur Steigerung der damit in Verbindung stehenden Einbürgerungsquote. In den Folgejahren wuchs in der Hamburger Bürgerschaft das Bedürfnis nach einer großangelegten Einbürgerungskampagne, insbesondere da die Hamburger Einbürgerungszahlen im Jahr 2008 stark rückläufig waren und sich auch im Jahr 2009 nur langsam wieder erholten. Die Hamburger Behörde für Inneres und Sport führte diesen Einbruch v. a. auf die Gesetzesreform von 2007 und den damit einhergegangenen „Antragsstau“ zurück, der sich aus der Erhöhung der allgemeinen Einbürgerungsstandards ergeben habe:Footnote 6

„Dass die Zahl der Einbürgerungen in 2008 und 2009 vergleichsweise niedrig war, hing ursächlich mit den in 2007 erfolgten bundeseinheitlichen Rechtsänderungen zusammen, mit denen höhere Einbürgerungsstandards – teilweise auch rückwirkend – eingeführt wurden, wie z. B. der Einbürgerungs- und Sprachtest. Die Einbürgerungsverfahren dauerten damit länger.“Footnote 7

Während die Zahl der erfolgten Einbürgerungen in diesem Zeitraum erheblich zusammenschrumpfte, blieb die Zahl der eingereichten Einbürgerungsanträge zum Niveau von 2007 annähernd gleich bzw. stieg sogar leicht an.Footnote 8 Die sinkenden Einbürgerungszahlen waren also nicht zwingend auf ein sinkendes Einbürgerungsinteresse zurückzuführen.Footnote 9 Nichtsdestoweniger führte die Debatte um niedrige Einbürgerungsquoten unter der Hamburger Regierungskoalition von CDU und Grünen letztlich zur Einrichtung der ersten Hamburger Einbürgerungskampagne im Jahr 2010. Unter dem Slogan Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause. wurde eine umfangreiche Werbeaktion ins Leben gerufen, unterstützt von lokalen Hamburger Prominenten wie der Boxerin Susianna Kentikian und dem Sternekoch Ali Güngörmüş, die auf großformatigen Plakaten für die Einbürgerung und deren Vorteile warben. Teil der Kampagne war außerdem die Etablierung eines niedrigschwelligen Informationsprojekts zur Beratung und Begleitung von Einbürgerungsinteressierten.Footnote 10 Das Lotsenprojekt der Türkischen Gemeinde in Hamburg und Umgebung e. V. (TGH) wird in der Pressemitteilung der Hamburger Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz wie folgt beschrieben:

„Die Einbürgerungslotsen sind Ehrenamtliche, die gut in den migrantischen Gemeinschaften vernetzt sind und sich mit dem Verfahren zur Einbürgerung gut auskennen, zum Beispiel, weil sie selbst Migrationshintergrund haben und eingebürgert worden sind. Bislang sind mehr als 30 Lotsinnen und Lotsen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund im Einsatz. Sie informieren aus erster Hand über die Chancen einer Einbürgerung, beraten und begleiten Einbürgerungsbewerber und helfen ihnen bei Schwierigkeiten, zum Beispiel, wenn die Ausbürgerung aus dem Herkunftsland zum Problem wird.“Footnote 11

Im Jahr 2011, nach dem Regierungswechsel im Hamburger Senat, kam es – unter absoluter Mehrheit der SPD und unter Schirmherrschaft des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz – zu einer erheblichen Ausweitung der Hamburger Einbürgerungsinitiative (weiterhin unter dem Titel Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause.).Footnote 12 Ab 2011 umfasste die Initiative daher folgende Elemente:

  1. 1)

    Regelmäßige Einbürgerungsfeiern im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses (zu Zeiten Olaf Scholz‘ unter persönlicher Leitung des Ersten Bürgermeisters), ergänzt durch ein persönliches Begrüßungsschreiben an alle Eingebürgerten.Footnote 13

  2. 2)

    Lotsenprojekt der TGH zur Beratung, Begleitung und niedrigschwelligen ‚Anwerbung‘ von Einbürgerungsinteressierten.Footnote 14

  3. 3)

    Behandlung des Themas Einbürgerung im Schulunterricht „der Jahrgangsstufen 9 und 10 sowie 11 bis 13 anhand eigens dafür entwickelter Unterrichtsmaterialien“.Footnote 15

  4. 4)

    Briefkampagne des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz, in deren Zuge „alle 137.000 Hamburgerinnen und Hamburger ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die mindestens 16 Jahre alt sind und die zeitlichen Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen“ persönlich vom Bürgermeister angeschrieben wurden (jeweils 4.000 pro Monat) „um diese für eine Einbürgerung zu interessieren“.Footnote 16

In der Pressemitteilung der Hamburger Senatskanzlei vom 08.12.2011 heißt es:

Die ersten 4.000 von insgesamt 137.000 Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft, die möglicherweise die Voraussetzung für eine Einbürgerung erfüllen, erhalten ab heute Post von Bürgermeister Olaf Scholz. Der Bürgermeister wirbt in einem persönlichen Schreiben für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft. […]

„Die Einbürgerung ist viel mehr als ein Verwaltungsakt. Sie ist das Bekenntnis zu unserem Staat und zu unserer Gesellschaft. Wer hier schon länger lebt und die Voraussetzungen erfüllt, sollte auch deutscher Staatsbürger werden, weil nur dann alle Möglichkeiten der Teilhabe bestehen“, sagte Scholz und bezeichnete die Initiative als wichtigen Beitrag zur Integration.

Mit dem deutschen Pass erhalte man zum Beispiel alle staatsbürgerlichen Rechte, insbesondere das volle aktive und passive Wahlrecht. Der Wegfall des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens bedeute weniger Bürokratie für den Einzelnen. Und durch das Entfallen zahlreicher Visumspflichten würden Reisen ins Ausland deutlich erleichtert, heißt es in dem Brief des Bürgermeisters.“Footnote 17

Von allen Maßnahmen der Hamburger Einbürgerungsinitiative war die Briefkampagne diejenige, die in der medialen Öffentlichkeit die größte Aufmerksamkeit erzielt hat (sowohl positiver als auch negativer Art). Sie lief zunächst im Jahr 2015 aus und wurde dann im Jahr 2017 noch einmal neu aufgelegt. In diesem Zuge wurden ca. 21.000 weitere Personen angeschrieben, um sie auf die Möglichkeit und die Vorteile einer Einbürgerung hinzuweisen.Footnote 18 Um den Rücklauf der Briefaktion in Form vermehrter Anträge und Beratungsgespräche zu bewältigen und überdies die Bearbeitungsdauer der Einbürgerungsanträge insgesamt zu verkürzen, wurde die Abteilung für Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsangelegenheiten des Einwohner-Zentralamts im Jahr 2012 um mehrere Stellen aufgestockt.Footnote 19

Der Anklang, den die Briefkampagne in der migrantischen Bevölkerung fand, wurde seitens ihrer Befürworter_innen als großer Erfolg gewertet. Auch an den Einbürgerungszahlen ließ sich in den Folgejahren eine erhebliche Steigerung ablesen. So gab es im Jahr 2012 mehr als doppelt so viele Einbürgerungen wie noch im Jahr 2008. Ob der rapide Anstieg von 2.800 (2008) auf 5.736 (2012) Einbürgerungen im Jahr allerdings tatsächlich allein auf die Steigerung des allgemeinen Einbürgerungsinteresses durch die Hamburger Initiative zurückzuführen ist, oder vielleicht doch eher auf den allmählichen Abbau des Antragsrückstaus von 2007, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Festzuhalten bleibt indes, dass neben der Zahl tatsächlich erfolgter Einbürgerungen auch die Zahl der eingereichten Einbürgerungsanträge deutlich anstieg. Zudem gab die Hamburger Behörde für Inneres und Sport im Jahr 2013 an, dass von Dezember 2011 bis Ende des ersten Halbjahres 2013 insgesamt 3.337 Einbürgerungsanträge unter expliziter Berufung auf die Initiative gestellt worden seien.Footnote 20

Im Gegensatz zu Briefkampagne, Lotsenprojekt und Einbürgerungsfeiern, konnte sich die Behandlung des Themas Einbürgerung im Schulunterricht nicht durchsetzen. Ursprünglich angedachtes Ziel war es, im Rahmen der neuen Unterrichteinheit einerseits Informationen zum Thema Einbürgerung zu vermitteln und ggf. junge Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit auf ihre rechtlichen Möglichkeiten hinzuweisen, andererseits aber auch den Jugendlichen ohne MigrationshintergrundFootnote 21 den Themenkomplex Staat-Nation-Einbürgerung – sowie insbesondere die Situation der Betroffenen darin – zu vergegenwärtigen und auf diese Weise ein kritisches Bewusstsein für gesamtgesellschaftliche Fragen zu entwickeln. Aus einem mir vorliegenden Rundschreiben des ehemaligen Landesschulrates Norbert Rosenboom aus dem Jahr 2013 sowie aus einer E-Mail der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung, die mir auf meine persönliche Anfrage hin zuging, geht hervor, dass die eigens für die Unterrichtseinheit Einbürgerung entwickelte Handreichung bisher nur sporadisch zum Einsatz kam. Ursächlich hierfür ist laut Aussage der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung v. a. die curriculare Auslastung der Schulen. Seitens der Behörde wurde das Thema deshalb fallengelassen.Footnote 22

Die diskursanalytische Untersuchung der Hamburger Einbürgerungsinitiative, wie sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit vorgestellt werden soll, umfasst die Jahre 2006 bis 2015. Die neuerliche Wiederauflage der Briefkampagne 2017 kann hier indessen keine Berücksichtigung finden, da die Forschung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Das Untersuchungsinteresse richtet sich des Weiteren auf die drei zentralen Elemente der Initiative von 2011: Auf die Einbürgerungsfeiern, das TGH-Lotsenprojekt und die Briefkampagne des Ersten Hamburger Bürgermeisters. Vor dem Hintergrund ihrer nicht erfolgten Umsetzung, wird die Unterrichtseinheit Einbürgerung dementgegen nur am Rande von Bedeutung sein.

Im Zentrum der hier zu präsentierenden Analyse steht die öffentliche, massenmedial vermittelte Debatte, die sich diskursiv mit der Hamburger Einbürgerungsinitiative auseinandersetzt. Die Initiative an sich wird ihrerseits von Interesse sein, insofern sie als Dispositiv selbst Teil einer sozialen Konstruktion von Wirklichkeit ist. Es geht mir also weniger um ihre materiale Struktur oder etwa ihren praktischen Nutzen, sondern vielmehr um ihren Charakter als kulturelles Produkt einerseits und produktive Machtinstanz andererseits.

Auf Grundlage der theoretischen Vorannahmen, die im zweiten Kapitel der Dissertation erarbeitet wurden, sowie auf Grundlage der obigen Skizze des Diskursgegenstands, sollen im Folgenden nun die einzelnen Bausteine des analytischen Vorgehens entwickelt werden. Diese Bausteine bilden dabei nicht nur das kurzfristige Fundament eines zeitlich begrenzten, individuellen Forschungsvorhabens, sie sind – wie bereits mehrfach angekündigt wurde – gleichsam auch der paradigmatische Entwurf eines neuen theoretisch-methodischen Zugangs der Diskursanalyse, der für die Ethnologie und deren variable Erkenntnissinteressen längerfristig nutzbar gemacht werden soll. Ausgehend von einer Beschreibung des jeweiligen Teilfeldes der Untersuchung muss daher in den folgenden Unterkapiteln ein allgemeines Methodengerüst entworfen werden, das – in gleicher oder wenigstens ähnlicher Form – auch auf andere ethnologische Fragestellungen übertragbar ist.

3.2 Die öffentliche Debatte: Analyse eines heterogenen Diskursfeldes

Die Hamburger Einbürgerungsinitiative ist das zentrale Objekt einer kontroversen öffentlichen Debatte um die Themen Integration, Kultur, Identität und Nation. Ein prominentes Beispiel für die antagonistischen Argumentationsweisen, die diese Debatte dominieren, ist der in der Einführung zu dieser Arbeit bereits ausschnitthaft wiedergegebene Artikel aus der überregionalen Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel vom 12.04.2012. Darin stehen die beiden einflussreichsten Diskurspositionen einander diametral gegenüber: Befürworter_innen einer fördernden, anerkennenden und Willkommen heißenden Einbürgerungspolitik auf der einen Seite und Vertreter_innen einer restriktiven, exklusiven und sanktionierenden Einbürgerungspolitik auf der anderen Seite.Footnote 23 Auch wenn diese beiden Deutungslinien im Rahmen des Tagesspiegel-Artikels von Angehörigen der politischen Arena repräsentiert werden, erschöpft sich die Debatte keineswegs allein in den Sphären politischer Spezialdiskurse. Sie erfasst ein breites Spektrum an Sprecher_innen aus unterschiedlichsten Sparten der Gesellschaft, darunter sowohl kollektive als auch individuelle Akteur_innen. Die Debatte erschöpft sich – wie noch zu zeigen sein wird – des Weiteren auch nicht in dem simplen Antagonismus von Befürworter_innen und Gegner_innen der Initiative. Neben den dominanten Diskurssträngen gibt es weitere, mehr oder weniger einflussreiche Argumentationslinien, die das öffentliche Diskursfeld aktiv mitgestalten. Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorliegende Arbeit drei Ziele:

  1. 1.

    Sie fragt danach, ob und wenn ja wie in der oben beschriebenen Debatte Deutsche Nation definiert wird und inwiefern, bzw. in welcher Form sich an diese Definition nationalistische Diskurse anschließen, die ihrerseits eine wie auch immer geartete Identifikation mit dem Staat und der ‚nationalen Gemeinschaft‘ propagieren.

  2. 2.

    Sie interessiert sich für die Folk Concepts von Nation, Identität, Integration und Kultur, die mit diesen nationalistischen Diskursen in Verbindung stehen, bzw. für das Spannungsfeld zwischen den populären und den wissenschaftlichen Konzeptionalisierungen dieser Begriffe.

  3. 3.

    Sie will auf Basis der obigen diskursanalytischen Fragestellungen einen systematischen Ansatz der Diskursethnologie entwickeln, der auf andere, ähnliche Kontexte übertragbar ist.

Im Anschluss an die theoretischen Vorarbeiten in Abschnitt 2.1 bis 2.5 ist es die These dieser Untersuchung, dass die populären Ausgestaltungen von Nation, Integration, Identität und Kultur als Folk Concepts wesentlicher Bestandteil der diskursiven Phänomenstruktur sind, auf welche die nationalistischen Narrationen im Kontext des Themenfelds Staatsangehörigkeit und Einbürgerung ihren Rückbezug nehmen. Es ist weiterhin die These dieser Arbeit, dass der diskursive Komplex aus Macht, Wissen und Emotionen, der in den Abschnitten 2.3 und 2.4 beleuchtet wurde, diesen Narrationen zu kultureller Faktizität verhilft, wobei stets unterschiedliche Narrationen und unterschiedliche Macht-Wissen-Komplexe in einem beliebigen Diskursfeld zugegen sind und damit unterschiedliche Varianten der Weltdeutung möglich machen. Daraus folgt drittens und letztens die These, dass die zu beobachtenden Phänomene nicht nur für das hier behandelte Diskursfeld relevant sind. Wenn man annimmt, dass kulturelle Wirklichkeit durch Diskurse konstituiert wird, und wenn man weiterhin annimmt, dass diese Wirklichkeit immer umstritten ist und mit anderen kulturellen Wirklichkeiten in einem potenziellen (indes keinem zwangsläufigen) Konkurrenzverhältnis steht,Footnote 24 dann folgt daraus 1.), dass ethnologische Forschungsgegenstände grundsätzlich diskursiv vermittelt sind, und 2.), dass eine ethnologische (Diskurs-)Analyse ihren Blick auf Homogenität und Heterogenität gleichermaßen richten muss – Homogenität in Form kohärenter Diskurs- und Deutungslinien, Heterogenität im Sinne der Pluralität und Fluidität dieser Diskurse und ihrer jeweiligen Wirklichkeitsbestimmungen (damit schließt sich der Kreis zu Lila Abu-Lughods Plädoyer für die Betonung von Heterogenität und Partikularität in ethnologischen ForschungsarbeitenFootnote 25).

Medien – insbesondere moderne Massenmedien – spielen bei der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit eine entscheidende Rolle.Footnote 26 Dem trägt u. a. auch das wachsende Feld interdisziplinärer Mediendiskursanalyse Rechnung, deren Vertreter_innen die interessante These aufstellen, dass Diskurse, „sobald wir sie als solche erkennen“, immer schon „medial vermittelt“ sind.Footnote 27 Ein Beispiel für die Bedeutung von medialer Vermittlung im Kontext nationalistischer Diskurse gibt u. a. Tobias Schwarz, der bei seiner Untersuchung der öffentlichen deutschen Ausweisungsdebatten im Zeitraum von 1996 bis 2007 in wissenssoziologischer Manier feststellt, dass „Medienereignisse Produktion von Wirklichkeit sind“.Footnote 28 Weitergehend erläutert er:

„Massenmedien bilden Wirklichkeit nicht einfach nur ab, sondern sie schaffen sie mit, indem sie kollektiv geteiltes Wissen ordnen und strukturieren. Denn wir alle machen unsere Erfahrungen nicht oder nur in seltenen Fällen als direkte Beobachtung, sondern viel öfter über Vermittlungen in Form von Interaktionen oder über Bücher u.a. Medien. Durch hohe Nutzungsfrequenz der Massenmedien (täglicher Fernsehkonsum, aktuelle Nachrichten in Tageszeitung [sowie zunehmend extensive Nutzung des Internets]) bilden diese für solche ‚vermittelte Beobachtung der Realität‘ – und damit für die Formung der subjektiven Realitäten – eine wesentliche Quelle. Sie rahmen unsere Deutungskompetenz. Medien informieren also nicht nur, sie formen Bewusstsein.“Footnote 29

Dieses Argument korrespondiert mit Überlegungen, die William Sewell schon 1999 im Hinblick auf eine Neuorientierung des sozial- und geisteswissenschaftlichen Kulturbegriffs anstellte (und mit denen er überdies Problemstellungen aufgriff, auf die auch in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit kritisch hingewiesen worden ist):

„Recent work on cultural practice has tended to focus on acts of cultural resistance, particularly on resistance of a decentered sort – those dispersed everyday acts that thwart conventions, reverse valuations, or express the dominated’s resentment of their domination. But it is important to remember that much cultural practice is concentrated in and around powerful institutional nodes – including religions, communications media, business corporations, and, most spectacularly, states. These institutions, which tend to be relatively large in scale, centralized, and wealthy, are all cultural actors; their agents make continuous use of their considerable resources in efforts to order meanings. Studies of culture need to pay at least as much attention to such sites of concentrated cultural practice as to the dispersed sites of resistance that currently predominate in the literature.”Footnote 30

Sewells Anmerkungen zur Bedeutung von institutionalisierter Macht für die Erforschung von Kultur sind in hohem Maße anschlussfähig für das theoretische Gerüst der vorliegenden Arbeit, wie es insbesondere in Abschnitt 2.3 und 2.4 vorgestellt worden ist. Geht man mit Sewell und Schwarz davon aus, dass Institutionen im Allgemeinen und Massenmedien im Besonderen die kulturelle (und damit immer auch diskursive) Konstruktion von Wirklichkeit in modernen Gesellschaften anleiten,Footnote 31 dann müssen ethnologische Fragestellungen diesem Umstand in Gegenstand und Herangehensweise angemessen Rechnung tragen. Medienethnologische Arbeiten haben diese Idee in der Vergangenheit auf unterschiedliche Weise aufgegriffen. Dabei war v. a. auch die Frage relevant, inwiefern neue massenmediale Formate kulturellen Wandel herbeiführen sowie kulturelle Macht produzieren und welchen Beitrag die Ethnologie dazu leisten kann, diese Phänomene adäquat zu erfassen.Footnote 32 Angesichts der offensichtlichen Verknüpfung zwischen den Konzepten Kultur und Diskurs vertritt die vorliegende Arbeit den Standpunkt, dass ein diskursanalytischer Zugang sich für die ethnologische Untersuchung massenmedial vermittelter Wirklichkeitskonstitutionen in besonderem Maße anbietet.

Diskursanalyse ist zwangsläufig Interpretation und demnach immer auch bis zu einem gewissen Grad dem subjektiven Ermessen der Forschenden unterworfen. Da diese Arbeit im Anschluss an Clifford – und in entschiedener Opposition zu Geertz –Footnote 33 davon ausgeht, dass Interpretation immer partiell und niemals unproblematisch ist, bedarf der diskursanalytische Forschungsprozess einer sorgfältig strukturierten, theoretisch fundierten und methodisch transparenten Vorgehensweise. In Anbetracht dessen muss – im Hinblick auf das oben beschriebene komplexe Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative sowie unter Berücksichtigung seiner massenmedialen Verfasstheit – im weiteren Verlauf erörtert werden, wie die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit beantwortet, die sich daran anschließenden Ziele erreicht und die aufgestellten Thesen verifiziert werden können. Wie kann, mit anderen Worten, die diskursanalytische Untersuchung kultureller Wirklichkeitskonstruktionen unter ethnologischen Gesichtspunkten erfolgen? Um diese Frage zu klären, soll im Folgenden in das von Reiner Keller vorgeschlagene Methodengerüst der Wissenssoziologischen Diskursanalyse eingeführt werden, da es für ethnologische Zwecke zahlreiche sinnvolle Anknüpfungspunkte bietet. Die gewonnenen methodischen Einblicke sollen dann auf den im zweiten Kapitel dieser Arbeit entworfenen ethnologischen Diskursbegriff hin angepasst und auf das zu untersuchende Forschungsfeld übertragen werden. Dabei wird u. a. ersichtlich werden, dass der ethnologische Diskursbegriff, der diese Arbeit anleitet, eine Erweiterung makroperspektivischer Diskursanalyse um ethnographische Aspekte nahelegt.

Methoden der Wissenssoziologischen Diskursanalyse

Zunächst ist es sinnvoll zu rekapitulieren, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse „Texte, Praktiken oder Artefakte nicht als Produkte ‚subjektiver‘ oder ‚objektiver‘ Fallstrukturen, sondern als materiale Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen und damit als wichtigste Grundlage einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte“ begreift.Footnote 34 Dies bringt einige unmittelbare Implikationen mit sich: So geht die Wissenssoziologische Diskursanalyse von der Existenz „textübergreifender Verweisungszusammenhänge in Gestalt von Regeln und Ressourcen, also Strukturen der Aussageproduktion“ aus.Footnote 35 Daraus ergibt sich nicht nur, dass einzelne Diskurse zumeist über mehrere scheinbar unzusammenhängende Aussageereignisse zerstreut sind, sondern auch, dass multiple Diskurse in ein und derselben Äußerung auf komplexe Weise miteinander verschränkt sein können. Infolgedessen sollten Texte nicht als in sich geschlossenen Deutungszusammenhänge im Sinne eines separaten ‚Falls‘ begriffen werden. Vielmehr muss man aus ihnen – mittels Interpretation – die Bausteine des bzw. der sie verbindenden übergreifenden Diskurse ermitteln. Zentrales Ziel der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist dabei die „interpretativ-analytische Erfassung und Rekonstruktion“ typischer Aussagen im Sinne einer „detaillierten Matrix bzw. schematisierten Erfassung von Aussagen, die als Grundlage weitergehender Hypothesenbildung über die Gehalte, Funktionsweisen und Wirkungen eines Diskurses dient“:Footnote 36

„Die Ebene der subjektiven Sinnattribution ist für das hier verfolgte Programm der Diskursforschung von untergeordneter Bedeutung. Die Diskursforschung fragt nicht nach einer authentischen subjektiven Absicht und (ideosynkratischen) Bedeutung einer Äußerung für Textproduzenten. Sie berücksichtigt die situativen Sinngehalte im direkten Äußerungszusammenhang, zielt aber letztlich auf den allgemeinen Inhalt, wie er als typischer im Rahmen eines sozialen Kollektivs beschrieben werden kann; die Verknüpfung der situativen mit der allgemeinen Ebene erlaubt es, auch unterschiedliche ‚Gebrauchsweisen‘ von Typisierungen zu erkennen und zu reflektieren. Bspw. kann die Interpretation eines Ereignisses als ‚Katastrophe‘ mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen – bessere Technologie, Abkehr von einem technischen Entwicklungspfad, unvermeidbares Schicksal – verknüpft sein.“Footnote 37

Diskurse sind zudem „immer in einen interdiskursiven Kontext und Bezug zu historisch diachronen und synchronen Diskursformationen eingebunden“.Footnote 38 In der Konsequenz müssen diskursanalytische Studien sich in aller Regel mit äußerst umfangreichen Datenkorpora befassen. Der Umfang der zu untersuchenden Daten muss, ausgehend von der jeweiligen Forschungsfrage, theoretisch-methodisch begründet werden. Das Korpus erfüllt dabei zwei zentrale Funktionen: Einerseits dient es der allgemeinen Orientierung und muss daher möglichst weitreichende Informationen über das zu analysierende Diskursfeld bereitstellen, andererseits ist es Grundlage für die feinanalytische Untersuchung des oder der betrachteten Diskurse.Footnote 39

Im Zuge einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse können diverse Datenformate untersucht und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Reiner Keller nennt hier textförmige und audiovisuelle Daten, Objekte sowie soziale Praktiken. Festzuhalten bleibt, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse diese Datensorten z. T. nicht als aus sich selbst heraus diskursiv begreift (denn als diskursiv gelten ihr, wie man weiter oben gesehen hat, nur sprachliche Praktiken). Wohl aber begreift sie all diese Datentypen als „Elemente dispositiver Zusammenhänge (Infrastrukturen) der Diskursproduktion und der diskursiven Weltintervention“.Footnote 40

Bei der Erstellung eines diskursanalytischen Datenkorpus schlägt Keller eine Orientierung am theoretical sampling der Grounded Theory vor – also die Auswahl von Untersuchungsdaten entlang systematischer, theoriegeleiteter Kriterien.Footnote 41 So kann die Analyse beispielsweise ihren Ausgangspunkt bei den Sprecher_innen eines Diskursfeldes nehmen, ihre jeweilige Verteilungs- und Aussagestruktur erfassen und diese systematisch ‚kartographieren‘. „Umgekehrt ist es ebenso möglich, von einer begonnenen Datensammlung (Äußerungen, Texte) ausgehend sich rekonstruktiv dem Feld der beteiligten Sprecher/innen zu nähern, also bspw. die in medialen Diskursen qua Aussage präsententen (sic!) Akteure in den Blick zu nehmen, den Referenzen in Sachverständigengutachten zu folgen, usw. – und dafür sensibel zu sein, wer nicht erscheint (obwohl es gute Gründe für sein Erscheinen gäbe).“Footnote 42

Bei der Auswahl und Analyse der Daten muss des Weiteren beachtet werden, dass Aussagen niemals allein für sich stehen, sondern immer situiert, das heißt in spezifische soziale Kontexte eingebunden sind. Mit der Datenerhebung sollte deshalb auch eine gewisse Sensibilität dafür einhergehen „wer wie wo und für wen eine Aussage produziert“.Footnote 43 Dies schließt außerdem auch die jeweilige Materialität der Aussage mit ein: „Erfasst werden können bspw. Textsorte, Auflage, Verlag, Verbreitungswege, Rezeptionsarena“ etc..Footnote 44

Die wesentliche interpretative Arbeit erfolgt im Rahmen der sogenannten Feinanalyse. Diese detaillierte und intensive Auseinandersetzung mit den Daten kann sich in der Regel nicht auf das vollständige (und zumeist sehr umfangreiche) Gesamtkorpus beziehen, sondern muss „eine systematisch reflektierte und begründete Auswahl“ treffen, welche den Datensatz in seiner jeweiligen thematischen Relevanz repräsentativ widerspiegelt:Footnote 45

„Für diesen Schritt der kontrollierten Verdichtung des zu analysierenden Datenmaterials stehen mehrere Kriterien zur Verfügung. Dazu zählen die reflektierte Orientierung an Schlüsseltexten, -passagen, -akteuren und -ereignissen, deren Stellenwert aus dem Datenmaterial selbst herausgearbeitet werden kann. Weitere Selektionskriterien wären die Abdeckung des relevanten Akteurs- oder des massenmedialen Meinungsspektrums. Entsprechend ist die Datenauswahl zur Feinanalyse ein offener, kriteriengeleiteter Suchprozess, der nicht vorschnell zur Bildung eines definitiven Teilkorpus innerhalb des Gesamtkorpus führen sollte, sondern sukzessiv die Bandbreite des gesamten Datenmaterials durchschreitet und erfasst.“Footnote 46

Keller schlägt auch hier wiederum eine Orientierung an den Methoden der Grounded Theory vor. Zum einen nennt er das oben bereits erwähnte theoretical sampling. Zum anderen führt er das Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung an. „Dabei geht es darum, die Auswahl der für die Feinanalyse heranzuziehenden Dokumente aus dem Forschungsprozess selbst heraus zu begründen“.Footnote 47 Hierzu werden zunächst möglichst ähnliche Daten gesammelt (Minimierung von Differenz), um einzelne Analysekategorien zu identifizieren und zu fundieren. In der Folge werden dann möglichst heterogene Daten erhoben (Maximierung von Differenz) um die gesamte Bandbreite aller möglichen Kategorien umfassend zu erschließen, ihre Wechselwirkungen sowie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen zu analysieren.Footnote 48

„Die Orientierung an der maximalen Kontrastierung ermöglicht es, nach und nach das Gesamtspektrum des oder der Diskurse innerhalb eines Korpus zu erfassen und dadurch mehrere Diskurse zu einem Thema oder innerhalb eines Diskurses seine heterogenen Bestandteile herauszuarbeiten. Die minimale Kontrastierung richtet sich darauf, den jeweils erfassten Teilbereich möglichst genau und vollständig zu rekonstruieren, bis seine Analyse schließlich als ‚gesättigt‘ erscheint.“Footnote 49

Die theoretische Sättigung der Daten ist für die Grounded Theory in dem Moment sichergestellt, da „keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden können, mit deren Hilfe der Soziologe weitere Eigenschaften der Kategorie entwickeln kann“.Footnote 50 Auf die Ansprüche der Diskursanalyse übertragen bedeutet dies:

„Der Auswahlprozess des theoretical sampling wird durchgeführt, bis zusätzliche Analysen keinen Erkenntnisgewinn über das Gesamtkorpus bzw. die daran gestellten Forschungsfragen mehr ergeben. Die Ergebnisse der Detailanalyse werden dann zu Gesamtaussagen über den oder die Diskurse aggregiert.“Footnote 51

Drei Analyseebenen sind dabei für die Wissenssoziologische Diskursanalyse von Belang: 1.) Die Analyse der sozialen Situiertheit und Materialität von Aussagen (s. o.). 2.) Die Analyse „der formalen und sprachlich-rhetorischen Struktur“ von Aussagen.Footnote 52 3.) Die interpretative Analyse der Aussageinhalte. Die jeweilige sprachliche Struktur einer Aussage impliziert immer auch einen entsprechenden Bedeutungsgehalt sowie eine sehr spezifische Einbettung in weitergehende gesellschaftliche Rahmungen. Form, Inhalt und Kontext sind insofern untrennbar miteinander verwoben. „Die Erschließung solcher Inhalte muss die ursprüngliche Äußerung mehr oder weniger stark verdichten und typisieren, bspw. zur Gestalt von narrativen Strukturen oder plots, Deutungsmustern, Klassifikationen, Phänomenstrukturen“ oder auch diskursiven Subjektpositionen (siehe Abschnitt 2.4).Footnote 53 Diese Verdichtung erfolgt durch (ggf. wiederholtes) Lesen (bzw. Ansehen / Anhören) und Codieren des Datenmaterials. Keller orientiert sich diesbezüglich abermals am methodischen Repertoire der Grounded Theory:Footnote 54

„Die verschiedenen Strategien der (qualitativen) Kodierung zielen auf die begriffliche Verdichtung einzelner Textpassagen innerhalb von Dokumenten sowohl in analytisch-gliedernder wie auch in interpretierender Hinsicht. Die Richtung oder das Ziel dieser Verdichtung wird in der Diskursforschung durch die spezifischen Fragestellungen und damit verbundenen Konzepte vorgegeben […]. In Kommentaren (eine Art ‚kleine Begleitnotiz‘) kann (und sollte) festgehalten werden, nach welchen Gesichtspunkten ein bestimmter Kode formuliert und einer Textpassage zugeordnet wurde. Als Memos werden mehr oder weniger umfangreiche Notizen während des Untersuchungsprozesses bezeichnet, in denen festgehalten wird, was bezüglich einer spezifischen Textpassage oder einer Kodierung an weiteren Überlegungen, Idee, Geistesblitzen und Hypothesen entsteht. Feinanalyse wird meist in mehreren Schritten erfolgen: Beginnend mit dem Lesen einzelner Dokumente schreitet man zu Paraphrasierungen, zur Kontextanalyse und analytischen Zergliederung, zur detailgenauen Interpretation und schließlich zur Zusammenfassung.“Footnote 55

Laura Kajetzke bedient sich in ihrer Variante der Wissenssoziologischen Diskursanalyse überdies der drei zentralen systematischen Codierverfahren nach Vorlage der Grounded Theory – 1.) offenes Codieren 2.) axiales Codieren 3.) selektives Codieren:

„Beim offenen Kodieren werden vorläufige Kategorien ermittelt, die beim axialen Kodieren zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das selektive Kodieren ist der erste Versuch einer Schwerpunktbildung, indem sogenannte ‚Kernkategorien‘ gebildet werden. Eine Kodierung nach Grounded Theory soll dazu führen, dass eine Gegenstandsverankerung […] erreicht wird, die Kategorien also möglichst wenig Vorwissen des Forschers enthalten, sondern textnah entwickelt werden.“Footnote 56

Während also im Zuge des offenen Codierens erstmals Kategorien aus dem Datenmaterial abstrahiert werden und das Korpus damit eine (wenigstens grobe) Strukturierung erfährt, stellt das axiale Codieren Beziehungen zwischen diesen Kategorien her und gliedert sie in eine (wenigstens vorläufige) Ordnung aus Kategorien und Subkategorien. Schließlich wird im Zuge des selektiven Codierens ein durchgängiger Roter Faden ermittelt, der die einzelnen Kategorien und Subkategorien miteinander in Verbindung setzt und dabei zentrale Kernkategorien identifiziert.Footnote 57 Ganz offensichtlich eignet sich dieses methodische Vorgehen (das auch in der ethnologischen Forschungspraxis bestens bekannt ist) gut für den diskursanalytischen Kontext. Kajetzke weist allerdings darauf hin, dass die Grounded Theory einen Ansatz verfolgt, der Theorien erst aus dem Forschungsprozess heraus entwickeln will, nicht etwa den Forschungsprozess theoretisch vorstrukturiert (mit Ausnahme der Samplebildung, s. o.). Das setzt eine möglichst ‚theoriefreie‘ Herangehensweise an den Forschungsgegenstand voraus: „In einem Prozess reziproker Beeinflussung von Material und daraus induzierten Erkenntnissen soll so eine Theorie ‚von unten‘ entstehen, die in den sozialen Phänomenen selbst gründet“.Footnote 58 Berechtigterweise gibt Kajetzke zu bedenken, dass ein diskursanalytischer Ansatz immer schon gewisse theoretische Implikationen mit sich bringt, die den Forschungsprozess zwangsläufig vorformen. Ein gänzlich ‚offener‘ Zugang, wie die Grounded Theory ihn fordert, kann daher nicht erreicht werden. Vielmehr geht es darum, zwischen notwendiger theoretischer Rahmung und notwendiger empirischer Offenheit ein stabiles Gleichgewicht zu halten.Footnote 59

Methoden für die diskursethnologische Forschung

Die Methodik der Wissenssoziologischen Diskursanalyse – und darin insbesondere das der Grounded Theory entliehene Instrumentarium – ist für eine Übertragung in den ethnologischen Kontext sehr gut geeignet (v. a. da sich der Grounded Theory-Ansatz in der ethnologischen Forschungspraxis ohnehin großer Beliebtheit erfreut). Das oben beschriebene diskursanalytische Vorgehen kann also für eine ethnologische Variante der Diskursanalyse bedenkenlos übernommen werden. In Anbetracht des in Abschnitt 2.4 vorgeschlagenen erweiterten Diskursbegriffs, sind jedoch einige weiterführende methodische Überlegungen angebracht. Es ist an dieser Stelle sinnvoll die wesentlichen Unterschiede zwischen Wissenssoziologischer Diskursanalyse und der hier entworfenen Diskursethnologie noch einmal kurz zu rekapitulieren.

Tabelle 3.1 Abgrenzung von Wissenssoziologischer Diskursanalyse und Diskursethnologie

Wie Tabelle 3.1 aufzeigt, besteht der erste und wesentlichste Unterschied zwischen Kellers Zugang der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und der in dieser Arbeit entwickelten Vision einer Diskursethnologie in der Rückbindung letzterer an einen totalitätsorientierten Kulturbegriff und damit in der Positionierung der Diskursethnologie als kulturtheoretischem Ansatz. Das Kulturelle und das Diskursive werden analytisch in eins gesetzt. Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen für das methodische Vorgehen. Zunächst einmal ist die Unterscheidung zwischen diskursiven (sprachlichen) und nicht-diskursiven (nicht-sprachlichen) sozialen Praktiken, wie Keller sie vornimmt, aus den in Abschnitt 2.4 dieser Arbeit genannten Gründen hinfällig. Vor diesem Hintergrund wird offenbar, dass Diskursanalyse aus ethnologischer Sicht nicht mit der makroperspektivischen Betrachtung von massenmedial vermittelten Texten abgeschlossen sein kann. Klassische ethnologische Analysesettings, die sinnvollerweise durch ethnographische Mittel wie Interviews oder teilnehmende Beobachtung erschlossen werden, gelangen hier unweigerlich zu Relevanz. Tatsächlich interessiert sich, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, auch Reiner Keller für solche ethnographischen Erweiterungen seines diskursanalytischen Ansatzes. Zu beachten ist allerdings, dass er die durch Ethnographie erhobenen sozialen Praktiken sowie auch die kommunikativen Alltagsinteraktionen auf der gesellschaftlichen Mikroebene nicht als aus sich selbst heraus diskursiv begreift (obwohl er ihre kritische Beteiligung an Diskursproduktion und Weltintervention sehr wohl berücksichtigt und ihnen sogar besondere Bedeutung beimisst).Footnote 62 Versteht man dementgegen, im ethnologischen Sinne, alle sozialen Handlungen als immer auch diskursive Handlungen, so ergeben sich daraus neue und andersgeartete Forschungsperspektiven. Beispielsweise ist es durchaus wahrscheinlich, dass dominante Diskurse auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen jeweils auf spezifische Art und Weise miteinander in Interaktion treten. Es ist sogar anzunehmen, dass es, neben massenmedial vermittelten Makrodiskursen, tatsächlich auch so etwas wie Mikro- oder Mesodiskurse bzw. Diskurformationen gibt, die ihrerseits spezifisch sind für bestimmte soziale Räume der gesellschaftlichen Mikro- und Mesoebene. Die jeweilige diskursive Konstellation, innerhalb derer sich Individuen in verschiedenen gesellschaftlichen Räumen bewegen, hat vermutlich erheblichen Einfluss auf die (situative) Dekodierung / Internalisierung einzelner Diskurse sowie natürlich auch auf den Umstand ihrer Produktion. Die Diskursethnologie fokussiert – ob ihres auf Wandel und Konflikt abzielenden Kulturbegriffs – wesentlich stärker auf das Begegnungsfeld zwischen Diskursen und insbesondere auch auf die von Individuen subjektiv angeeigneten sozialen Identitäten, die (im Anschluss an die Erkenntnisse der ethnologischen EthnizitätsforschungFootnote 63) als interdiskursive Differenzkonstruktionen in den Blick genommen werden müssen. Was das konkret bedeutet wird die Vorstellung der Untersuchungsergebnisse im vierten Teil dieser Arbeit beispielhaft veranschaulichen. Zunächst bleibt indes zu betonen, dass sich, angesichts der vielfältigen Ansatzmöglichkeiten der hier skizzierten Diskursethnologie, aus einer relativ simpel erscheinenden Forschungsfrage (z. B.: ‚Wie wird ‚Deutsche Nation‘ in der deutschen Gesellschaft definiert?‘) unweigerlich ein komplexes Gefüge aus potenziellen Perspektiven, Teilfragen und methodischen Zugängen ergibt. Naturgemäß kann keine Arbeit – auch nicht die hier vorliegende – alle diese Aspekte berücksichtigen. Es mag sich somit augenscheinlich ein Widerspruch auftun zwischen den aufgezeigten Möglichkeiten der Diskursethnologie und der nur partiellen Umsetzung dieser Möglichkeiten in der sie formulierenden Arbeit. Dieser Widerspruch mindert jedoch weder den Wert des Ansatzes, noch den der Untersuchung. Während der vorgeschlagene Ansatz der Diskursethnologie nach seiner theoretischen Fundierung und forschungspraktischen Breite bewertet werden sollte, muss jede Anwendung desselben sich daran messen lassen, inwiefern sie dazu in der Lage ist, die ihr gesteckten Forschungsziele zu erreichen – nicht jedoch an der Frage, ob sie alle methodischen Potenziale des Ansatzes (gleich welcher Relevanz für das Forschungsinteresse) vollumfänglich ausgeschöpft hat.Footnote 64

Die nachfolgende Darstellung zeichnet die einzelnen Schritte der von dieser Arbeit verfolgten Vorgehensweise nach und gibt einen Überblick über die gewonnenen Daten. Sie kann dabei als ein Beispiel dienen für die methodische Operationalisierung ähnlich gearteter Forschungsfragen, beansprucht jedoch keinesfalls für sich, alle denkbaren Spielarten der Diskursethnologie umfassend auszuformulieren. Da es der vorliegenden Arbeit in erster Linie darum geht, Diskursanalyse – auch und gerade in ihrer klassischen Form der Analyse massenmedial vermittelter Diskurse – als theoretischen Ansatz und Methode systematisch für die Ethnologie zu erschließen, liegt auf der Hand, dass der Fokus dieser Untersuchung makroperspektivisch ausgerichtet sein muss und ethnographischen Betrachtungen (wie auch bei Keller) eine vornehmlich ergänzende Rolle zugewiesen wird.

1.) Recherche:

Ausgehend von der eingangs formulierten Forschungsfrage und den beiden damit weiterführend in Verbindung stehenden Forschungszielen habe ich im Zeitraum von Januar bis Juni 2015 eine umfangreiche Datenrecherche unternommen. Die Recherche erfolgte in erster Linie im virtuellen Raum des Internets. Das World Wide Web bietet den entscheidenden Vorteil, dass Äußerungen unterschiedlichster Akteur_innen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sphären (Medienschaffende, Politik, Zivilgesellschaft, etc.) dort sowohl leicht zugänglich als auch in großer Menge konserviert sind. Insofern repräsentiert das Internet als Massenmedium andere Massenmedien (wie Fernsehen, Zeitung, Radio) immer schon mit, da es sich deren Produkte aneignet und sie reproduziert (z. B. im Rahmen von Online-Mediatheken, Online-Archiven, E-Books). Zudem ist das Internet heutzutage eine der wichtigsten Informations- und meinungsbildenden Arenen für einen Großteil der deutschen Bevölkerung und auch vor diesem Hintergrund von zentraler Relevanz.

Die Datensuche konzentrierte sich auf den Publikationszeitraum zwischen Januar 2006 und Juni 2015, also vom Jahr der erstmaligen Einführung von Einbürgerungsfeiern im Hamburger Rathaus bis hin zum Abschluss der medialen Datenrecherche. Genutzt wurde primär die Online-Suchmaschine Google, sowie die internen Suchmaschinen von Online-Mediatheken, Archiven und Datenbanken prominenter medialer, politischer und zivilgesellschaftlicher Institutionen (z. B. Die Zeit, Die Welt, Bildzeitung, www.hamburg.de, Parlamentsdatenbank der Hamburger Bürgerschaft, Pressearchiv der TGH etc.). Als Suchbegriffe dienten einschlägige Stichworte aus dem Themenfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative (z. B. ‚Einbürgerung, Hamburg‘, ‚Einbürgerungsinitiative, Hamburg‘, ‚Einbürgerungskampagne, Hamburg‘, etc.). Auf diese Weise entstand ein Datensatz von über 600 EinheitenFootnote 65 – darunter hauptsächlich Texte, aber auch Video-, Ton- und Bildmaterial – der das zu untersuchende Diskursfeld umfänglich abbildet, sowie kontextuelle Zusammenhänge mit anderen Diskursfeldern offenbart. Die erhobenen Daten sind dabei von sehr unterschiedlicher Materialität und Herkunft: Sie entstammen erstens der Sphäre massenmedialer Aussageproduktion (Zeitungsartikel, TV- und Radiomitschnitte, etc.). Zweitens entstammen sie der politischen Sphäre (Homepages / Websites / Pressemitteilungen / Interviews / Redemitschnitte von Politikern, Politikerinnen und Parteien; Parlamentsdokumente; Online-Auftritte / Publikationen / Dokumente der Stadt Hamburg sowie einzelner politischer und Verwaltungsinstitutionen, etc.). Drittens entstammen sie der äußerst heterogenen Sphäre der Zivilgesellschaft (Pressemitteilungen / Websites / Publikationen von NGOs, sozialen, religiösen sowie Bildungseinrichtungen; Internetforen, Blogs und Kommentarspalten von Online-Medien, in denen sich Bürger_innen mit und ohne Migrationshintergrund äußern oder miteinander verständigen).

Im zweiten Schritt (Juli bis September 2015) wurde der entstandene Datensatz – unter enger Rückbindung an die zentrale Fragestellung dieser Arbeit – einer kritischen Revision unterzogen. Alle Daten, die zwar allgemein für das Thema Einbürgerung in Hamburg aber nicht unmittelbar für die Debatte um die Hamburger Einbürgerungsinitiative oder deren konkreten Kontext relevant sind, wurden ausgesiebt. Auf diese Weise konnte aus den mehr als 600 recherchierten Dateneinheiten ein deutlich kompakteres Hauptkorpus extrahieren werden. In seiner finalen Form umfasst dieses 320 Einheiten, deren vielgestaltige Materialität (von Produktionssphäre bis Datensorte) dem in Punkt 1 beschriebenen Spektrum entspricht. Textförmige Daten machen auch hier wiederum den größten Anteil aus.

Neben dem Hauptkorpus entstand überdies ein kleineres Rahmenkorpus von noch einmal 20 Texten. Es umfasst in der Hauptsache Gesetzestexte sowie Dokumente und Publikationen, die für das Verständnis des Themenfelds Einbürgerung relevant sind, auch wenn sie nicht unmittelbar mit der Hamburger Einbürgerungsinitiative selbst zu tun haben. Hierzu zählt der Fragenkatalog der bundesweiten Einbürgerungstests genauso wie das Zweite Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes oder auch die Informationsmaterialien der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration. Das Rahmenkorpus war nicht selbst Teil der späteren feinanalytischen Untersuchung, hat diese aber durch Rückbindung an notwendige Kontextinformationen unterstützt und angeleitet. Zusammen bilden Haupt- und Rahmenkorpus das Gesamtkorpus der hier vorliegenden diskursanalytischen Arbeit.Footnote 66

2.) Datenauswahl:

Im Anschluss an die Erstellung des Hauptkorpus erfolgte die Datenauswahl für die Feinanalyse (Okt. – Dez. 2015). Diese musste nicht nur die inhaltliche Relevanz der Daten für die Fragestellung, sondern auch ihre gesellschaftliche Relevanz innerhalb des Diskursfeldes berücksichtigen. So ist es z. B. ein Unterschied, ob ein Artikel in einem lokalen Stadtteilanzeiger oder in einer auflagenstarken überregionalen Tageszeitung erscheint. Die Stimme einer namhaften Politikerin hat (ob ihres symbolischen Kapitals) in der Gesellschaft üblicherweise mehr Gewicht als die Wortäußerung eines anonymen Online-Foren-Nutzers. Die Tagesschau der ARD hat größere Reichweite als ein Nachrichtenbeitrag auf einem kleinen Regionalsender – und so weiter und so fort. Zur Strukturierung des Datensatzes wurden die erhobenen Daten deshalb zunächst in eine Reihe von ordnenden Kategorien unterteilt. Die erste Unterscheidung betraf dabei die drei beobachtbaren Sphären der Diskursproduktion: Massenmedien, Politik und Zivilgesellschaft.

Letztlich sind alle hier erhobenen Daten auf die eine oder andere Weise medial vermittelt. Die Kategorie Massenmedien umfasst allerdings nur solche Daten, die eigens von massenmedialen Institutionen produziert wurden (Printmedien, Fernsehen, Hörfunk aber auch Onlinemedien wie z. B. Internetzeitungen). Sprecher_innen, die zwar mediale Instrumente nutzen, um ihre Aussagen zu verbreiten, die ihrerseits aber nicht der Sphäre massenmedialer Institutionalisierung zuzuordnen sind, lassen sich entweder unter der Kategorie Politik (wobei hier neben genuin politischen Akteur_innen auch Akteur_innen der Verwaltung miteingeschlossen sind) oder der Kategorie Zivilgesellschaft subsummieren. Zivilgesellschaft ist ihrerseits die mit Abstand heterogenste Kategorie und umfasst – wie weiter oben schon ersichtlich wurde – alle diejenigen kollektiven und individuellen Akteur_innen, die weder massenmedial noch politisch institutionalisiert sind.

Auf Grundlage der drei Gesellschaftskategorien wurden anschließend sieben Relevanzkategorien entworfen, die v. a. auf dem symbolischen Kapital der jeweiligen Sprecher_innen sowie auf deren Rolle und Funktion im Diskursfeld basieren und zur Einordnung der Daten entlang ihrer jeweiligen Bedeutung für die Debatte dienen. Die Orientierung am symbolischen Kapital der Sprecher_innen (bzw. ihres institutionellen Kontextes) ist deshalb wichtig, weil sich die Untersuchung in erster Linie für dominante Diskurse im Diskursfeld interessiert, also für solche Wirklichkeitskonstitutionen, aufgrund deren Machtentfaltung man davon ausgehen kann, dass sie einen erheblichen Einfluss in der Gesellschaft ausüben und nicht bloß eine partielle Randerscheinung bilden:

  1. 1.

    Zentrale Akteur_innen: Das sind diejenigen individuellen und kollektiven Akteur_innen, die als Personal oder institutioneller Teil des Dispositivs eine zentrale Funktion für die Hamburger Einbürgerungsinitiative, deren praktische Umsetzung und / oder öffentliche ‚Vermarktung‘ erfüllen. Zu nennen sind hier zum einen der frühere Erste Bürgermeister Olaf Scholz, der Hamburger Senat und die Hamburger Bürgerschaft, die Stadt Hamburg mit ihren verschiedenen (Verwaltungs-)Institutionen sowie die TGH. Diese Kategorie umfasst damit sowohl politische als auch zivilgesellschaftliche Akteur_innen, die in besonderem Maße symbolisches Kapital akkumulieren. Aufgrund ihrer zentralen (Macht)Stellung im Dispositiv des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses bilden diese Akteur_innen die wichtigste Datenkategorien für die weitere diskursanalytische Untersuchung.

  2. 2.

    Einflussreiche Medien: Hierunter verbergen sich Akteur_innen der Medienbranche, die aufgrund der technischen Reichweite ihrer Einflusssphäre sowie aufgrund ihres symbolischen Kapitals als wesentliche Wortführerinnen der medial vermittelten Debatte gelten können (z. B. Zeitungen wie die Bild, die Zeit oder die Welt, Fernsehsender wie das ZDF, der NDR oder RTL, Radiosender wie der SWR oder die Deutsche Welle). Neben den zentralen Akteur_innen bilden sie daher die zweitwichtigste Datenkategorie.

  3. 3.

    Politische Akteur_innen: Umfassen zum einen Mitglieder politischer Parteien sowie politische Institutionen des Bundes und der Länder. Aufgrund ihrer hervorgehobenen gesellschaftlichen Stellung, können sie als wesentliche ‚Leitfiguren‘ in der öffentlichen Debatte gelten und bilden deshalb die dritte Relevanzkategorie.

  4. 4.

    Institutionen der Zivilgesellschaft: Diese Kategorie bezeichnet gesellschaftliche Organisationen wie z. B. Stiftungen, NGOs, soziale oder Bildungseinrichtungen. Ihr Einfluss ist (mit wenigen namhaften Ausnahmen) zumeist weniger weitreichend als derjenige politischer oder massenmedialer Akteur_innen, dennoch häufen auch sie in gewissem Ausmaß symbolisches Kapital an und ihre Wortäußerungen haben dementsprechend Gewicht.

  5. 5.

    Besondere Zielgruppen: Hier sind zum einen ‚migrantische‘ Akteur_innen angesprochen (also Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen von und/oder für Menschen mit Migrationshintergrund) und zum anderen solche Akteur_innen, die dem politisch rechten Rand zugeordnet werden können, selbst jedoch nicht der politischen Sphäre angehören (hierbei handelt es sich in der Hauptsache um Mitwirkende an rechten Blogs und Onlineforen). Diese Gruppen sind für die Produktion gesamtgesellschaftlicher Diskurse (wenigstens im Kontext der Hamburger Einbürgerungsinitiative) nicht oder zumindest weniger tonangebend als die vorgenannten Akteur_innen und akkumulieren (zumindest auf die Gesamtgesellschaft bezogen) auch deutlich weniger symbolisches Kapital. Nichtsdestoweniger bilden sie im Hinblick auf die zentrale Forschungsfrage eine wichtige Subkategorie und müssen daher in der Analyse angemessen Beachtung finden.

  6. 6.

    Wichtige Hamburger Medien: Damit sind diejenigen massenmedialen Akteur_innen gemeint, die – aufgrund ihres regionalen Charakters – gesamtgesellschaftlich zwar eine weniger große Reichweite haben als die oben genannten einflussreichen Medien, die jedoch bezogen auf die Hansestadt Hamburg und deren weiteres Einzugsgebiet durchaus symbolisches Kapital besitzen und daher für die zu untersuchende Debatte relevant sind. Namentlich sind hier das Hamburger Abendblatt, die Hamburger Morgenpost, Radio Hamburg und der TV-Sender Hamburg 1 zu nennen.

  7. 7.

    Keine besondere Relevanz: Diese Kategorie umfasst alle diejenigen Akteur_innen, die keiner der anderen Kategorien zugeordnet werden konnten. Es handelt sich dabei zumeist um Akteur_innen ohne große gesellschaftliche Reichweite, ohne nennenswertes symbolisches Kapital und ohne besondere Bedeutung für die Forschungsfrage. Dateneinheiten dieser Kategorie wurden für die Formation des feinanalytischen Korpus daher nicht berücksichtigt.

Im Hinblick auf die hier skizzierten Kategorien ist zu bedenken, dass diese lediglich ein Modell abbilden. In der Praxis ist eine saubere Trennung der Sphären oft nicht möglich. So äußern sich Politiker_innen beispielsweise in Zeitungsartikeln und Fernsehbeiträgen. Angehörige der zivilgesellschaftlichen Sphäre sind in der Politik aktiv und umgekehrt. Das hier entworfene Kategoriesystem ist demgemäß nur als notwendige Orientierungshilfe zu betrachten, die eine systematische Durchdringung des Korpus erlaubt. Wie jedes Modell muss es dabei die Komplexität realer Zustände zwangsläufig herunterbrechen.Footnote 67

Im Anschluss an die Kategorisierung der Daten wurde der prozentuale Anteil berechnet, den die einzelnen Relevanzkategorien (im Sinne ihrer Quantität) am gesamten Hauptkorpus ausmachen. Dazu wurden die Dateneinheiten gezählt, die von jedem / jeder (individuellen oder kollektiven) Akteur_in der Diskursproduktion im Korpus enthalten sind und unter die jeweilige Kategorie subsumiert, dem der / die Akteur_in zugehört. Beispielsweise sind im Hauptkorpus 40 Artikel des Hamburger Abendblattes enthalten. Das macht 12,5 % des gesamten Datensatzes aus. Von der Zeitung ‚Die Welt‘ sind hingegen nur 20 Artikel enthalten (6,3 %), von der Bildzeitung 10 (3,1 %) und von der Zeitung ‚Die Zeit‘ lediglich 2 Artikel (0,6 %). Neben dem qualitativen Kriterium der gesellschaftlichen Relevanz musste daher auch das Kriterium der quantitativen Präsenz einzelner Diskursproduzent_innen in der medial vermittelten öffentlichen Debatte eine Rolle bei der Datenauswahl spielen. Eine Überbetonung einzelner Akteur_innen allein aufgrund ihrer qualitativen Bedeutung hätte, angesichts ihrer etwaigen quantitativen Unterrepräsentation, das Bild des Diskursfeldes ansonsten unzulässig verzerrt.Footnote 68

Aus den qualitativen und quantitativen Kriterien wurde letztens die diskursive Priorität der einzelnen Datenkategorien entwickelt. Anhand dieser Priorität konnte der ungefähre Anteil abgeschätzt werden, den die jeweilige Kategorie am feinanalytischen Korpus haben sollte. Die Gesamtgröße dieses Korpus wurde auf einen Umfang von 150 Einheiten festgelegt. Diese Zahl war praktikabel für die intensive Detailanalyse und zugleich angemessen im Hinblick auf den Umfang des Hauptkorpus. Tabelle 3.2 zeigt die Aufschlüsselung der qualitativen Kategorien, ihres quantitativen Korpusanteils, der zugeordneten Priorität und der entsprechenden feinanalytischen Gewichtung.

Tabelle 3.2 Auswahlschlüssel Feinanalyse Teil 1

Darüber hinaus wurden innerhalb der Relevanzkategorien ebenfalls Gewichtungen entsprechend der jeweiligen quantitativen Präsenz einzelner Akteur_innen vorgenommen, um auch hier die Repräsentativität der Daten angemessen gewährleisten zu können. Tabelle 3.3 zeigt dies exemplarisch am Beispiel der Kategorie Zentrale Akteur_innen.Footnote 69

Tabelle 3.3 Auswahlschlüssel Feinanalyse Teil 2 (Beispiel: Zentrale Akteure/Akteurinnen)

Der hier präsentierte, umfangreiche Auswahlschlüssel sollte jedoch nicht als starres Gerüst missverstanden werden. Natürlich musste auch die inhaltliche Relevanz der Daten ausreichend Berücksichtigung finden. Um dies zu gewährleisten hat sich die Datenauswahl zwar strukturell am oben vorgestellten Priorisierungssystem orientiert, zugleich aber auch das Instrument der minimalen und maximalen Kontrastierung aus dem Methodenspektrum der Grounded Theory angewandt. Auf diese Weise konnte nicht nur die formale Repräsentativität, sondern auch die inhaltliche Sättigung der ausgemachten Datenkategorien (sowie der sich in ihnen und durch sie entfaltenden Diskurse) sichergestellt werden.

3.) Feinanalyse:

Mittels eines induktiven Codierverfahrens nach Vorbild der Grounded TheoryFootnote 70 und unter Zuhilfenahme des wissenschaftlichen Analyseprogramms ATLAS.ti wurde das feinanalytische Korpus in einem ersten Schritt auf typisierbare Deutungsmuster, Klassifikationen und Subjektpositionen hin untersucht. In einem zweiten Durchlauf wurden diskursive Verschränkungen mit anderen Diskursthemen (z. B. Mehrstaatigkeit oder Optionspflicht) sowie diskursive Strategien der Aussageproduktion erhoben (Keller versteht hierunter „argumentative, rhetorische, praktische Strategien zur Durchsetzung eines Diskurses“Footnote 71). Der erste Analyseschritt diente der Beantwortung der zentralen Forschungsfrage nach der diskursiven Konstruktion von ‚Deutscher Nation‘ sowie nach den sich ggf. daran anschließenden nationalistischen Ideologien. Er diente außerdem der Identifizierung der mit diesen Ideologien in Verbindung stehenden Folk Concepts von Nation, Integration, Identität und Kultur und bildet somit die wesentliche Grundlage der hier zu präsentierenden Ergebnisse. Der zweite Analyseschritt diente v. a. der Analyse diskursiver Machttechniken im Kontext von Macht/Wissen-Komplexen und in diesem Zusammenhang insbesondere auch der Analyse von Emotionalisierungstechniken, wie sie in Abschnitt 2.3 vorgestellt wurden. Er hatte insofern in erster Linie eine ergänzende und vertiefende Funktion. Im Rahmen beider Analyseschritte flossen offenes und axiales Codieren wechselseitig ineinander. Das selektive Codieren folgte hingegen erst im dritten Schritt der Bearbeitung.

Ausgangspunkt für diesen dritten Bearbeitungsschritt bildete ein umfangreicher CodeindexFootnote 72, der Fundstellen, Sprecher_innen sowie den jeweiligen Tätigungszeitraum der Aussagen auflistet. Mit Hilfe des Codeindex konnten die erhobenen Deutungsmuster zunächst sortiert und komprimiert werden (so wurden z. B. ähnliche Codes zusammengeführt, Codes mit geringer Frequenz und Dichte wurden herausgefiltert), um sie dann anhand ihrer Inhalte, interpretativen Bezüge und Bedeutungszusammenhänge stückweise in ihre jeweilige diskursive Struktur einzuordnen. In diesem Zuge wurden außerdem übergreifende ‚Supercodes‘ herausgearbeitet, welche die vorhandenen Codes ihrer gemeinsamen Aussage entsprechend gruppierten (z. B. alle Deutungsmuster, die auf einen ethnonationalen Nationenbegriff hindeuten, vs. alle Muster, die einen staatsnationalen Nationenbegriff implizieren). Mit Hilfe der Supercodes konnten dann einerseits die verschiedenen diskursiven Argumentationsstränge identifiziert werden und andererseits war es nun möglich, diese Stränge ihren jeweiligen Sprecher_innen zuzuordnen. Hierzu wurde aufgelistet, mit welcher Häufigkeit sowie vermittelt durch welche Medien die erhobenen Codes auftauchen, bzw. von welchen Sprecher_innen sie geäußert werden. Anschließend wurde überprüft, welche der Diskursproduzent_innen mindestens 75 % der Deutungsmuster eines spezifischen Supercodes abdecken und welche von diesen besonders relevanten Akteur_innen wiederum mindestens 75 % aller Supercodes des zugehörigen Diskurses vertreten.Footnote 73 Auf diese Weise konnte nach und nach die heterogene Akteurslandschaft des Diskursfeldes strukturiert und außerdem die zentralen Wortführer_innen der Diskurse ermittelt werden.

Bei der Etablierung der Supercodes flossen diskursanalytische Erkenntnisse und theoretisches Vorwissen zwangsläufig ineinander. Insofern entfernte sich die Analyse mit diesem Schritt von der Vorlage der Grounded Theory. Nur auf diese Weise konnten jedoch Parallelen und Widersprüche zwischen der populären und wissenschaftlichen Konzeption von Nation, Integration, Identität und Kultur effektiv herausgearbeitet werden. Hierin zeigt sich die von Kajetzke angesprochene Gratwanderung zwischen angestrebter empirischer Offenheit und notwendiger theoretischer Einbettung. Die Dialektik zwischen Induktion und Deduktion ist unabdingbarer Teil einer jedweden interpretativen ArbeitFootnote 74 – gerade auch wenn sie die im Forschungsprozess immer gegebene Gefahr rein subjektiver Bedeutungszuschreibung minimieren will.

In einem letzten feinanalytischen Schritt wurden schließlich Phänomenstrukturen und Story Lines der prominenten Diskurse im Diskursfeld identifiziert, untersucht und verglichen. Dieses Vorgehen diente der weiteren Strukturierung der Ergebnisse sowie der Gewinnung eines roten Fadens im Sinne der Grounded Theory. Jener rote Faden wiederum bildet die Basis der inhaltlichen Argumentation, wie sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit dargelegt werden soll. Deutungsmuster, Klassifikationen und Subjektpositionen werden im Kontext von Phänomenstruktur und Story Line logisch (im Sinne der Eigenlogik des jeweiligen Diskurses) zusammengeführt. Gleichsam wird der Einsatz diskursiver Strategien oder die spezifische Verschränkung mit anderen Diskursthemen vor dem Hintergrund einer solchen Eigenlogik (oder besser in wechselseitiger Beziehung dazu) weitergehend nachvollziehbar.Footnote 75

4.) Diskursethnographie:

Reiner Keller ist sich der diskursiven Bedeutung der von ihm als ‚nicht-diskursiv‘ kategorisierten Aspekte des sozialen Lebens sehr wohl bewusst. Mit dem Begriff des Dispositivs unterstreicht er ihre Relevanz für die diskursive ‚Weltintervention‘.Footnote 76 Wissenssoziologische Diskursanalyse in Kellers Sinne kann ethnographische Dispositivanalyse durchaus miteinschließen. Tatsächlich schlägt er hierfür sogar den Begriff der Diskursethnographie vor:Footnote 77

„Ich unterscheide vier Ansatzpunkte einer ethnographisch fokussierten Zugangsweise zu Diskursen: (1) Die Detailanalyse der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der Diskursproduktion, (2) die Detailanalyse der Einrichtung und Nutzung von Dispositiven, (3) die Detailanalyse der Rezeption/Aneignung/Auseinandersetzung mit Diskursen in gesellschaftlichen Praxisfeldern und (4) das Verhältnis von Diskursen und Alltagswissen [bzw. subjektiven Sinnwelten].“Footnote 78

In der Tat könnte man sagen, dass klassische ethnologische Forschung letztlich immer schon Diskursethnographie gewesen ist, insofern sie sich mit der Herauslösung kultureller Muster aus beobachtbarem sozialen Verhalten befasst. Neu ist hier lediglich die umfangreiche Rückbindung dieses Ansatzes an die moderne Tatsache einer massenmedial vermittelten Kulturproduktion sowie die sich hieran anschließende Perspektive auf Kultur als diskursives Wissen. Reiner Keller merkt dazu an:

„Der Kulturanthropologe James Clifford (1992) und einige andere Autoren aus dem Kontext der Cultural Studies weisen seit einiger Zeit gegen die Idyllen ‚unberührter‘ Ursprünglichkeit und die ethnologisch-ethnographische Unterstellung der Abgeschlossenheit lokaler Kulturen auf die Bedeutung u.a. von Diskursen für das Verständnis ethnographischer Gegenstandsbereiche hin. Ihr Argument fordert einen radikal anderen Blick auf das Lokale als Ort der Überkreuzung, Vermischung, des Patchworks aus Strömen von Menschen, Erfahrungen, Dingen und historischen sowie zeitgenössischen Diskursen. Überträgt man diese Haltung auf Anwendungen fokussierter Ethnographie in modernen Gesellschaften, dann bedeutet sie eine zusätzliche Aufmerksamkeit für das, was von außen in die untersuchten Zusammenhänge (Felder) hineinwirkt.“Footnote 79

Ergänzend könnte man hinzufügen: Nicht nur die Diskurse die von außen auf lokale Kontexte einwirken, sind von potenziellem Interesse für die Diskursethnologie, sondern vielmehr das Zusammenwirken – in Form etwa von wechselseitiger Beeinflussung, konflikthafter Begegnung oder simpler Koexistenz – von Diskursen (oder Kulturen) auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen, sowie der komplexe und fluide Prozess der Internalisierung und Externalisierung dieser Diskurse durch die individuellen Akteur_innen. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die drei ergänzenden, diskursethnographischen Untersuchungsschritte erläutert werden, welche die oben dargelegte Analyse – v. a. im Hinblick auf die Entstehung und Wirkung von Macht/Wissen-Komplexen – vervollständigen. Die vier Ansatzpunkte, die Keller für ein solches Vorgehen vorschlägt, werden sich darin an verschiedener Stelle wiederfinden. Vorab muss allerdings noch einmal betont werden, dass die diskursethnographischen Forschungsmöglichkeiten – gerade auch im Kontext eines hoch komplexen Diskursfeldes wie demjenigen um die Hamburger Einbürgerungsinitiative – ihrer Natur nach nahezu unbegrenzt sind. Im Rahmen des hier vorzustellenden Forschungsprojektes war es nicht möglich (oder sinnvoll), alle diese Optionen und Ansätze auch tatsächlich zu verfolgen. Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit liegt auf der Analyse massenmedial vermittelter Diskurse. Die weiteren ethnographischen Bausteine sind als Ergänzungen (auch durchaus notwendige Ergänzungen, aber eben nur Ergänzungen) zu verstehen. Sie geben wichtige, weiterführende Einblicke und helfen dabei, die diskursanalytischen Ergebnisse besser einzuordnen. Sie bilden jedoch nicht den Schwerpunkt dieser Arbeit. Dies tun sie auch allein schon deshalb nicht, weil die zentrale Fragestellung, die Forschungsziele, wie sie weiter oben dargelegt wurden sowie auch die daraus abgeleiteten Thesen zunächst und zuvorderst aus der öffentlichen Debatte in ihrer Gesamtheit heraus behandelt werden müssen. Würde man den Fokus stattdessen von vornherein auf einzelne Orte der Aussageproduktion, einzelne Gruppen von Sprecher_innen oder einzelne Bestandteile von Dispositiven ausrichten, bestünde die reelle Gefahr, wieder in die problematische perspektivische Enge zurückzufallen, die in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit kritisiert wurde. Eine Untersuchung, die allgemein nach nationalistischen Diskursen in der öffentlichen Debatte fragt sowie nach den Folk Concepts, die diese Diskurse anleiten, muss ihren Blick für das gesamte Spektrum dieser Debatte offenhalten. Die Betrachtung einzelner Ausschnitte und Aspekte kann daher auch nur (z. B. in weiterführenden Arbeiten) vor dem Hintergrund ihrer Gesamtheit Sinn ergeben. Diese Gesamtheit gilt es zuallererst zu erschließen und analytisch fassbar zu machen.

3.3 Das Lotsenprojekt der TGH: Emische Expertise zwischen Dispositiv und Adressat_innen

Reiner Keller zufolge ist die Ergänzung klassischer, auf Sprache und Text ausgerichteter Diskursanalysen durch diskursethnographische Erhebungsmethoden ein nützliches und wichtiges Instrument für die Fundierung, Absicherung sowie für die weiterführende Interpretation der diskursanalytischen Forschungsergebnisse:

„Mit der vorgeschlagenen Konzeption einer Diskursethnographie geht es summa summarum um die detaillierte Analyse von Prozessen der Diskursproduktion einerseits, um das Verhältnis zwischen Diskursen, Praxisfeldern und Alltagswissen [bzw. subjektiven Sinnwelten] andererseits. In diesem Sinne könnte die Ethnographie eine wichtige korrigierende Position gegenüber der Diskursforschung dahin gehend einnehmen, dass sie letztere vor ‚idealistischen‘ Fehlschlüssen, also vor dem unmittelbaren Kurzschluss von Diskurs und Praxis bewahrt.“Footnote 80

Diskursive (das heißt kollektive) Sinnwelten sind, wie in Abschnitt 2.4 erläutert wurde, nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit den subjektiven Sinnwelten einzelner Akteur_innen (das gilt für die gesellschaftliche Makroebene genauso wie für soziale Interaktionen auf der Mikroebene). Zwar muss aus ethnologischer Sicht jedwede soziale Praxis als diskursiv begriffen werden und insofern fließen subjektives und diskursives Wissen fortwährend ineinander, das heißt aber nicht, dass sich medial vermittelte Gesellschaftsdiskurse auch eins zu eins im individuellen Denken und Handeln niederschlagen. Jede soziale Handlung ist immer auch eine diskursive Handlung (in dem Sinne, dass sie das Potenzial hat, Teil eines diskursiven Sinnzusammenhangs zu sein oder zu werden), das bedeutet aber nicht, dass sie auch zwangsläufig an und für sich Teil eines spezifischen Diskurses ist. Diskursive Wirklichkeit und individuelle Wahrnehmung stehen in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander, dessen nähere Beschaffenheit ohne ethnographische Einblicke nicht zu entschlüsseln ist. Menschen sind letztlich immer Knoten- oder Schnittpunkte vielfältiger Diskurse, aus denen sie vermittels ständiger Wahl- und Aushandlungsprozesse (bewusst wie unbewusst) ihre eigene Identität konstruieren.Footnote 81 Will man die vielfältigen Wirkungsweisen diskursiver Macht-Wissen-Komplexe begreifen, ist es daher sinnvoll, im Anschluss an die Identifizierung dominanter Diskurse auf der Makroebene, zu untersuchen, inwiefern diese Diskurse tatsächlich Einfluss nehmen auf die subjektiven Sinnwelten der sie rezipierenden Akteur_innen – inwiefern sie also letztlich diskursive Macht ausüben und inwiefern es ihnen dabei gelingt, kohärente kulturelle Wirklichkeiten zu erschaffen. Idealerweise müsste eine solche Untersuchung die gesamte Bandbreite der Gesellschaft repräsentativ erfassen – das volle Spektrum der Sprecher_innen, wie auch das volle Spektrum der von ihnen adressierten Publika, inklusive all der unterschiedlichen Räume und situativen Konstellationen innerhalb derer sie sich bewegen. Leider sprengt ein solcher Untersuchungsansatz die Möglichkeiten der vorliegenden Arbeit um ein Vielfaches. Um dennoch einen partiellen Einblick in das Wechselspiel von diskursiven und subjektiven Sinnwelten zu erhalten und überdies ein Beispiel dafür zu geben, wie die ethnographische Bearbeitung dieses Themenfeldes methodisch ausgestaltet sein könnte, fokussiert die Untersuchung auf die diskursethnographische Analyse derer, die vom Thema Einbürgerung in besonderer Weise betroffen sind – z. B. weil sie sich entweder in naher Zukunft einbürgern lassen möchten oder weil sie in der Vergangenheit bereits eingebürgert wurden. Eine umfassende Befragung oder gar Beobachtung (im Sinne von Teilnehmender Beobachtung) von Menschen, die in jüngster Zeit in Hamburg eingebürgert wurden oder sich derzeit im Antragsprozess befinden, war und ist aufgrund der schieren Größe dieser Gruppe mit den finanziellen und personellen Mitteln der hier vorzustellenden Forschung allerdings nicht möglich. So wurden allein im Jahr 2015 in Hamburg 5.891 Menschen eingebürgert.Footnote 82 6.666 haben einen Antrag gestellt.Footnote 83 Die systematische Befragung eines derartigen Samples, oder auch nur eines repräsentativen Anteils desselben, bedarf der Instrumente und Ressourcen eines weitaus umfänglicheren Forschungsprojektes. Vor diesem Hintergrund war die Eingrenzung meines Vorhabens auf eine praktikable, überschaubare und dennoch (wenigstens in Teilen) aussagekräftige Untersuchungseinheit erforderlich. Expert_inneninterviews waren für das methodische Vorgehen an dieser Stelle daher eine logische Wahl.

Expert_innen sind in der ethnographischen Forschungspraxis Personen, „die für bestimmte Kategorien oder Probleme als besonders kompetent gelten“.Footnote 84 Sie sind indes nicht zu verwechseln mit den sogenannten Schlüsselinformant_innen klassischer ethnologischer Feldforschung. Ein/e Schlüsselinformant_in ist ein Mensch, „der als repräsentativ [für eine bestimmte Gruppe oder ‚Kultur ‘ ] gelten soll, oder der über besonders tief gehendes Wissen zum Thema verfügt und dies auch zu vermitteln versteht“.Footnote 85 Die Etablierung von Schlüsselinformant_innen ist in der Ethnologie seit Langem ein beliebtes Erhebungsinstrument, wurde in der Vergangenheit allerdings auch vielfach kritisch hinterfragt. So schreibt beispielsweise Judith Schlehe:

„Was am Konzept von Schlüsselinformanten in erster Linie zu kritisieren ist, leitet sich aus dem Begriff Schlüssel ab: Die Vorstellung, dass einzelne Personen – oftmals gesellschaftliche Außenseiter und meistens Männer, welche sich Ethnologen als Lehrer anbieten – als Quellen der Authentizität einen Zugang zum Verständnis einer Gesamtkultur liefern könnten.“Footnote 86

Legt man den oben entwickelten Kulturbegriff zugrunde, der kulturelle Sinnwelten als Verstrickung heterogener Diskurse begreift, dann wird schnell klar, warum die Vorstellung, eine einzelne Person könnte dieses komplexe Gefüge repräsentativ abbilden, problematisch ist. Der Begriff des/der Expert_in suggeriert dementgegen keinen Anspruch „umfassender Repräsentativität und die Vorstellung, sich über bestimmte Gewährsleute Zugang zu einer Gesamtkultur zu erschließen“.Footnote 87 Vielmehr geht es hier um Expertise im praktischen Sinne. Expert_innen sind Menschen, die durch ihre Tätigkeit oder ihre Stellung in einer Gruppe, in besonderem Maße Wissen über bestimmte Themenfelder ansammeln und in diesem sehr spezifischen Bereich deshalb einen guten und hilfreichen Überblick geben können. Dieser Überblick ist und bleibt unweigerlich ausschnitthaft und subjektiv vermittelt.Footnote 88 Aus diesem Grund ist es sinnvoll, nach Möglichkeit nicht nur einen oder wenige, sondern im besten Falle eine größere Anzahl von Expert_innen zu befragen, um das Thema auf vielfältige Weise zu beleuchten.

Zur Befragung von Expert_innen eignen sich in besonderem Maße semistrukturierte, leitfadengestützte Interviews. Diese Befragungsmethode bietet sich v. a. deshalb an, da sie zum einen Offenheit und Flexibilität im Befragungsprozess ermöglicht, diesen aber gleichzeitig systematisiert und vorstrukturiert. Der Aspekt der Vorstrukturierung ist besonders im Hinblick auf die Befragung von Personengruppen relevant, deren Alltag sich in einen straffen Zeitplan gliedert und die deswegen auch bei der Durchführung von Interviews auf Effizienz und Achtsamkeit im Umgang mit (zeitlichen) Ressourcen Wert legen.Footnote 89 In der deutschen Gesellschaft, trifft dieses Charakteristikum auf einen Großteil der allgemeinen Bevölkerung zu, zumindest insofern diese berufstätig bzw. in Schule, Studium oder Berufsausbildung eingebunden ist.

Über das Kriterium formaler Praktikabilität hinaus, bieten semistrukturierte Interviews außerdem den Vorteil, dass sie die Vergleichbarkeit der Befragungsdaten gegenüber unstrukturierten oder gar informellen Interviews wesentlich erhöhen.Footnote 90 Zudem erleichtert die Entwicklung eines Interviewleitfades die fokussierte Orientierung an den Ergebnissen der diskursanalytischen Voruntersuchung. Da es im Rahmen der Expert_inneninterviews in erster Linie um die Frage ging, inwiefern dominante Diskurse aus der medialen Debatte Eingang in die subjektiven Sinnwelten individueller Akteur_innen finden und wie sie sich jeweils dort verhalten, empfahl sich bei der Erstellung der Interviewfragen eine enge Anlehnung an die in der Diskursanalyse erhobenen Supercodes und damit an Phänomenstruktur und Story Lines der identifizierten Diskurse. Im Grunde fragte ich also die Haltung der Interviewten zu den im Diskursfeld konstituierten Deutungsmustern, Klassifikationen und Subjektpositionen ab und beobachtete, ob sich in den Antworten einzelne Diskursstränge herauskristallisierten oder ggf. neu formierten.Footnote 91

Im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative gibt es eine ganze Reihe von Personen, die als Expert_innen für unterschiedliche Teilaspekte des in dieser Arbeit formulierten Forschungsinteresses in Frage kommen. Zunächst einmal sind hier natürlich die Stellen in Behörde und Verwaltung zu nennen, die mit Planung und Umsetzung der Hamburger Einbürgerungsinitiative sowie mit dem Einbürgerungsverfahren im Allgemeinen betraut sind. Noch im Kontext der diskursanalytischen Untersuchung führte ich daher Interviews mit Waltraud Hadler – Referatsleiterin der Abteilung für Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsangelegenheiten der Hamburger Behörde für Inneres und Sport – sowie mit Doris Kersten vom Amt für Arbeit und Integration der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration durch.Footnote 92 Die Expertise dieser beiden Ansprechpartnerinnen war v. a. für das praktische Verständnis der Einbürgerungsinitiative, deren Hintergründe und Abläufe von großem Wert. Wertvoll und hilfreich war in dieser Hinsicht überdies auch mein E-Mail-Kontakt mit der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung.Footnote 93 Die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs mit Hamburgs damaligem Ersten Bürgermeister Olaf Scholz – der Leitfigur des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses – bestand dementgegen leider nicht.

Während die hier genannten Ansprechpersonen mir besonders im Hinblick auf praktische Aspekte und allgemeine Verständnisfragen weitergeholfen haben, bot das Lotsenprojekt der TGH einen sinnvollen und wichtigen Ansatzpunkt für die Untersuchung der oben ausgemachten Zielgruppe (sprich Eingebürgerte / Einzubürgernde). Die Türkische Gemeinde Hamburg und Umgebung e. V. ist zunächst einmal „ein Dachverband von aktuell 27 Einzelvereinen, Gruppen und Initiativen, die sich in Hamburg und Umgebung um die verschiedensten Belange von Menschen mit Türkei stämmigen (sic!) Hintergrund kümmern“.Footnote 94 Seit 2010 unterhält die TGH das von der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration im Rahmen der Einbürgerungsinitiative Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause. geförderte Einbürgerungsprojekt „Ich bin Hamburger!“ (Lotsenprojekt). Ungeachtet ihres allgemeinen Zielgruppenfokus auf Menschen mit türkischem Migrationshintergrund konzipiert die TGH ihr Lotsenprojekt als „kultur- und herkunftsübergreifendes Projekt“,Footnote 95 dessen vorrangiges Ziel es ist:

  • „Hindernisse, Ängste und Vorurteile abzubauen (sowohl auf Behördenseite als auch bei den Klienten*innen)

  • die Zahl der Einbürgerungen zu erhöhen

  • den Einbürgerungsprozess zu vereinfachen und zu beschleunigen

  • und durch Infoveranstaltungen, Schulungen, Infoständen in den verschiedenen Communities über das Thema Einbürgerung zu informieren, die Voraussetzungen zu erklären und auf die Vorteile der deutschen Staatsbürgerschaft aufmerksam zu machen…“Footnote 96

Das Projektteam setzte sich zum Zeitpunkt meiner Untersuchung (Juni bis Dezember 2017) aus einer hauptamtlichen Leitung, sieben festangestellten oder auf Honorarbasis tätigen Koordinator_innen sowie einer großen Anzahl ehrenamtlicher Lots_innen zusammen. Die genaue Anzahl der Lots_innen ist dabei – wie in den meisten ehrenamtlichen Projekten – nicht genau zu bestimmen, da viele Ehrenamtliche sich nicht offiziell abmelden, wenn sie sich aus der aktiven Tätigkeit zurückziehen. Grundsätzlich bildet die ehrenamtliche Basis ein wichtiges Fundament für die Arbeit des TGH-Einbürgerungsprojektes und bestimmt auch in weiten Teilen dessen Wahrnehmung in der allgemeinen Öffentlichkeit. Für besonderes Engagement im TGH-Projekt gibt es überdies die Möglichkeit, einen sogenannten Hamburger Nachweis über freiwilliges Engagement zu erhalten. Der Hamburger Nachweis ist eine offizielle Anerkennung ehrenamtlicher Bemühungen durch die Freie und Hansestadt Hamburg, ggf. auch verbunden mit einer Aufwandsentschädigung von bis zu 200 EUR für im Rahmen des Ehrenamts entstandene Ausgaben (Fahrtkosten, Kopierkosten, etc.).Footnote 97

Die Arbeitsweise des TGH-Lotsenprojekts stützt sich maßgeblich auf die Vorannahme, dass Migrant_innen üblicherweise in sogenannten Communities organisiert sind. Diese Communities konstituieren sich entweder national (auf Basis des Herkunftslandes, z. B. türkische Community), regional (auf Basis des kontinentalen Herkunftsgebietes, z. B. westafrikanische Community) oder sprachlich (auf Basis der jeweiligen nicht-deutschen Muttersprache, z. B. spanischsprachige Community). Es wird davon ausgegangen, dass es innerhalb der Communities besonders viele Personen gibt, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und sich daher in naher Zukunft für eine Einbürgerung interessieren könnten. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass ein communitybasierter Ansatz auch deshalb zielführend ist, weil im Falle unterschiedlicher Herkunftsländer und Migrationskontexte (Aufenthaltsstatus, Flüchtlingsstatus, etc.) unterschiedliche Einbürgerungsanforderungen zum Tragen kommen oder aber ggf. auch unterschiedliche Hindernisse relevant sein können (z. B. in Bezug auf die jeweiligen Ausbürgerungsbestimmungen des Herkunftslandes).Footnote 98

Aus ethnologischer Sicht ist eine ethnisch-kulturelle Gruppierung von Menschen, wie der Community-Ansatz sie impliziert, nicht ganz unproblematisch. Dies gilt insbesondere dann, wenn, wie im untenstehenden Informationstext der offiziellen Hamburg-Website, mit den ‚kulturellen Kompetenzen‘ der Lots_innen geworben wird:

„Das Team der Einbürgerungslotsen besteht aus erfahrenen Personen, die bestens mit dem Thema ‚Einbürgerung‘ vertraut sind. Die Einbürgerungslotsen kommen aus verschiedenen Communities, in denen sie sehr gut vernetzt sind. Sie kennen sich mit den gesellschaftlichen Strukturen und Kulturen aus und sind mit der jeweiligen Sprache vertraut.“Footnote 99

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Mitglieder einer spanischsprachigen Community über die Gesellschaftsstrukturen aller spanischsprachigen Länder sowie über die vielfältigen kulturellen Besonderheiten innerhalb dieser Länder Bescheid wissen. Genauso müssen die Mitglieder einer spanischsprachigen Community hier in Deutschland nicht zwingend Ausländer_innen sein (und deswegen als Zielgruppe für Einbürgerungswerbung in Frage kommen). Überdies gibt es sicherlich auch viele spanischsprachige Ausländer_innen, die nicht unbedingt in einer entsprechenden sprachlich, national oder ethnisch organisierten Community vernetzt sind (z. B., weil der Grad ihrer ethnischen Identifikation eher dem schwachen Integrationslevel der ethnischen Kategorie entspricht). Unter diesen Gesichtspunkten birgt das communitybasierte Vorgehen also durchaus einige potenzielle Schwierigkeiten. Nichtsdestoweniger bietet es allerdings auch Vorteile: Über den Zugang zu einzelnen migrantischen Netzwerken, können Informationen relativ unproblematisch an etwaige Zielgruppen gelangen. Dass nicht alle Angesprochenen auch zugleich Zielpersonen sind und andere Zielpersonen dementgegen möglicherweise ‚durchs Raster fallen‘ ist dabei für die Praxis des TGH-Lotsenprojekts zunächst von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist indes, dass die persönliche Einbindung der Lots_innen in existente migrantische Gemeinschaften einen niedrigschwelligen Zugang ermöglicht und in besonderem Maße dazu angetan ist, ‚Berührungsängste‘ und Zweifel abzubauen, die z. B. auch auf schlechten Vorerfahrungen im Behördenkontakt (v. a. mit der Hamburger Ausländerbehörde) gründen.Footnote 100

Die Koordinator_innen des Einbürgerungsprojektes sind jeweils für die Betreuung einer der beschriebenen Communities zuständig (z. B. türkische Community, russische Community, westafrikanische Community, lateinamerikanische und spanischsprachige Community). Das heißt, sie organisieren Veranstaltungen in und für diese Gruppen, um über die Einbürgerung zu informieren und für deren Vorteile zu werben. Darüber hinaus bieten sie auch Beratungen an, die (sofern möglich und erwünscht) in der jeweiligen (nicht-deutschen) Muttersprache des / der Klient_in abgehalten werden und die außerdem den jeweiligen Herkunftskontext berücksichtigt, insofern dieser im Rahmen der Einbürgerung relevant ist (z. B. im Hinblick auf Ausnahmen vom Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit). Die ehrenamtlichen Lots_innen sind dementgegen v. a. für die Vernetzung in den Communities zuständig, für den ersten persönlichen Kontakt mit den Zielgruppen und die Verbreitung von Informationsmaterial. Sie führen überdies ggf. erste Grundlagenberatungen durch, helfen beim Ausfüllen des Einbürgerungsantrags sowie dem Zusammentragen der einzureichenden Unterlagen. Auf Wunsch begleiten sie Klient_innen zu Behörden- und / oder Botschaftsterminen oder informieren über die Ausbürgerungsbestimmungen der jeweiligen Herkunftsländer. Selbst einen Migrationshintergrund zu haben ist für das Engagement als Lots_in nicht zwingend erforderlich. Laut Projektleitung sollte aber zumindest eine gute Einbindung in die migrantischen Communities gewährleistet sein, damit die Lots_innen-Tätigkeit sinnvoll ausgeübt werden kann. Dies ist v. a. deshalb erforderlich, weil Lots_innen für die Ansprache der Zielgruppen selbstverantwortlich ihre eigenen Kontakte und Netzwerke nutzen müssen.Footnote 101 Zusammenfassend heißt es auf der Website der TGH:

„Das Herzstück des Projektes sind die ehrenamtlichen Einbürgerungslotsen. Das sind Personen mit und ohne Migrationshintergrund. Sie engagieren sich für Menschen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben möchten.

Unsere Mitarbeiter*innen und Einbürgerungslotsen aus verschiedenen Communities (der Türkei, dem Balkan, Westafrika, Russland, Südamerika, Iran Nordafrika etc.) gehen direkt in diese, um unmittelbar Kontakt zu den Einbürgerungsinteressierten aufzunehmen. Sie sind vertraut mit den jeweiligen Nationalitäten, deren Sprachen, Kulturen und dem Thema ‚Einbürgerung‘. Sie kennen sich mit den gesellschaftlichen Strukturen und Kulturen aus und sind mit der jeweiligen Sprache vertraut.

Das Team des Projektes nimmt regelmäßig an Schulungen zum Thema Ausländer-, Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht teil, um stets auf dem aktuellsten Stand zu sein. So können alle Einbürgerungswillige sicher sein, dass sie gut verstanden und beraten werden. Natürlich können uns alle Interessierten auch gern in den Räumlichkeiten der TGH besuchen und sich beraten lassen. Wir suchen die Konsulate auf, um Fragen bzgl. der Ausbürgerung und dem Wehrdienst zu besprechen und diskutieren mit den zuständigen Behörden Generelles und Einzelfälle, um zu Lösungen zu kommen.“Footnote 102

Die Koordinator_innen und Lots_innen des TGH-Einbürgerungsprojekts eignen sich als Ansprechpartner_innen für die Durchführung diskursethnographischer Expert_inneninterviews in mehrfacher Hinsicht. Zunächst einmal sind die meisten von ihnen selbst eingebürgert worden und können so über Rahmen, Beweggründe und Folgen ihrer Einbürgerungsentscheidung aus erster Hand – oder, um es in ethnologische Terminologie zu fassen, aus emischer Perspektive – berichten. Zweitens sind sie wesentlicher Bestandteil des offiziellen Dispositivs der Hamburger Einbürgerungsinitiative und wirken an der Produktion des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses aktiv mit. Letztens fungieren sie als Schnittstelle zwischen Einbürgerungsinteressierten, Behörde sowie – durch ihre Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit – Politik und weiterer Zivilgesellschaft. Sie bilden mit anderen Worten einen zentralen Knotenpunkt zwischen den Produzent_innen des offiziellen Einbürgerungsdiskurses und dessen Adressat_innen.

Dieser dreifachen Expert_innenrolle trug eine entsprechende Gliederung des verwendeten Interviewleitfadens Rechnung: Im ersten Teil des Interviews wurden Fragen zur Person gestellt und (falls zutreffend) zur persönlichen Einbürgerungserfahrung der Interviewten. Im zweiten Abschnitt folgten Fragen zum Lotsenprojekt und der eigenen Rolle darin. Außerdem wurde nach dem Verhalten der Adressat_innen im Kontext des Projekts und des weiteren Einbürgerungsprozesses gefragt. Im dritten Teil schlossen sich Fragen zur Einbürgerungsinitiative als solcher an, zu deren einzelnen Aspekten, ihren Auswirkungen im Praxisalltag des Lotsenprojekts und (wiederum) zu den Reaktionen der Adressat_innen auf diese Aspekte. Zuletzt stellte ein vierter, abschließender Teil offene Fragen zu den zentralen Deutungsmustern der im Diskursfeld dominierenden Diskurse. Ziel insbesondere dieses vierten Befragungsabschnittes war es, etwaige diskursive Fragmente und Strömungen in der subjektiven Sinnwelt meiner Interviewpartner_innen zu identifizieren und (im Anschluss an Stuart Hall) deren jeweilige Dekodierung nachzuverfolgen.Footnote 103

Im Zeitraum von August bis November 2017 habe ich in der TGH insgesamt 11 Interviews durchgeführt. Vier Interviews davon führte ich mit verschiedenen Koordinator_innen, insgesamt sechs Interviews mit ehrenamtlichen Lots_innen (davon eines telefonisch) und ein Interview mit der Projektleiterin Tülin Akkoç. Fast alle Interviewten waren selbst eingebürgert oder befanden sich gerade im Einbürgerungsprozess. Lediglich eine Informantin war von Geburt an deutsche Staatsangehörige.Footnote 104 Die Anfrage der Interviewpartner_innen erfolgte im Falle der Koordinator_innen durch mich persönlich via E-Mail oder telefonische Ansprache. Im Falle der Lots_innen erfolgte die Vermittlung von Interviewpartner_innen mit Hilfe der Projektleiterin Tülin Akkoç. Aufgrund der starken beruflichen und ehrenamtlichen Auslastung der Koordinator_innen wie auch der Lots_innen blieb die Zahl der Interviews insgesamt auf 11 begrenzt. Mein Vorhaben, ergänzend zu den Expert_inneninterviews einige Fokusgruppeninterviews mit einer größeren Zahl von Teilnehmenden (insbesondere Lots_innen) durchzuführen, ließ sich aus demselben Grund leider ebenfalls nicht verwirklichen.

Die Auswertung der Interviews erfolgte, im Anschluss an deren Transkription, vermittels der Analysesoftware ATLAS.ti. Im Gegensatz zu dem induktiven Vorgehen im Rahmen der in Abschnitt 3.2 vorgestellten Diskursanalyse, orientierte sich die Codierung diesmal allerdings an einem deduktiven Verfahren, das zielgerichtet nach Hinweisen auf die Supercodes der öffentlichen Debatte suchte. Auf diese Weise konnte ermittelt werden, ob und wenn ja wie die dominanten Diskurse Eingang in die subjektiven Weltdeutungen der Expert_innen bzw. ihrer Klient_innen gefunden haben und inwiefern diese diskursiven Wirklichkeiten auf der sozialen Mikroebene der TGH Macht entfalten. Dabei bleibt anzumerken, dass die Aussagen der Expert_innen naturgemäß nur bis zu einem gewissen Grade Aufschluss über Wissen und Beweggründe ihrer Klient_innen geben können. Durch ihre zentrale Position im Praxisfeld Einbürgerung, ihre beratende und begleitende Funktion sowie ihren Status als Expert_innen haben sie durchaus weitreichende Einblicke in das Themenfeld und eine differenzierte Perspektive auf die Zielgruppe (oder wenigstens wesentliche Teile davon). Allerdings sind die Informationen, die sie über Dritte bereitstellen können, zwangsläufig immer schon durch die eigene Interpretation und Wahrnehmung vorgefiltert.Footnote 105 Hinzu kommt außerdem, dass natürlich nicht alle Einbürgerungsinteressierten Rat oder Beistand bei den Mitwirkenden des Hamburger Lotsenprojektes suchen. Viele wenden sich mit ihrem Wunsch nach Einbürgerung auch ohne Umwege direkt an die Abteilung für Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsangelegenheiten. Des Weiteren ist fraglich, inwiefern im Verhältnis zwischen Koordinator_innen, Lots_innen und Klient_innen ggf. auch Fragen der sozialen Kontrolle und / oder der sozialen Erwünschtheit von Aussagen oder Handlungen eine Rolle spielen und tieferliegende Handlungsmotivationen/Denkmuster deshalb gar nicht erst bemerkt werden.Footnote 106 Die Aussagekraft der gewonnenen Daten ist vor diesem Hintergrund also naturgemäß begrenzt und keinesfalls verallgemeinerbar über den untersuchten Kontext hinaus. Die Daten gewähren einen ersten Einblick in das Themenfeld der Diskursrezeption, nicht jedoch einen abschließenden Überblick.

Tabelle 3.4 zeigt eine Übersicht aller Interviews mit biographischen Eckdaten zu den interviewten Personen. Um die Privatsphäre der Befragten zu schützen, wurden die Daten anonymisiert. In diesem Sinne wurde außerdem auf eine Kennzeichnung des jeweiligen organisationalen Status der Person (Leitung, Koordinator_in, Lots_in) verzichtet. Dieser Schritt ist insofern tragbar, als sich in der Analyse keine systematischen Unterschiede zwischen den einzelnen Statusgruppen ergeben haben.

Tabelle 3.4 Übersicht: Expert_inneninterviews TGH

Aus Tabelle 3.4 wird ersichtlich, dass die Befragten keinen repräsentativen Querschnitt bilden, weder in Bezug auf die gesamte Hamburger Bevölkerung mit Migrationshintergrund noch etwa in Bezug auf die eingebürgerte, bzw. einzubürgernde Bevölkerung. Zu der Frage, inwiefern sie die Mitglieder- und Mitarbeitendenstruktur des TGH-Lotsenprojektes repräsentativ abbilden, kann hingegen keine Aussage getroffen werden, da (wie oben bereits dargelegt) die Struktur der ehrenamtlichen Mitarbeitenden nicht offiziell feststeht. Insofern ist es beispielsweise unklar, inwiefern der Umstand, dass an der Befragung hauptsächlich weibliche Personen teilgenommen haben, darauf zurückgeführt werden kann, dass der Prozentsatz von weiblichen Projektmitwirkenden grundsätzlich höher ist (dies lässt sich nur in Bezug auf die damaligen Koordinator_innen bestätigen), oder ob sich dieses Bild allein aufgrund des opportunistischen Samplings zufällig ergeben hat. Da die individuelle Biografie der Befragten in den Interviews und insbesondere bei deren Auswertung jedoch eine untergeordnete Rolle gespielt hat und das Augenmerk zuallererst auf den identifizierbaren Diskursfragmenten lag sowie auf dem Expert_innenwissen über das Verhalten der weiteren Zielgruppe, müssen individuelle Aspekte der Person hier weitestgehend vernachlässigt werden. Sie spielen zwar insofern eine (durchaus wichtige) Rolle, als zu erwarten ist, dass sie sich (auch und gerade im Sinne der Überkreuzung von Diskursen) maßgeblich auf die Art und Weise des zu beobachtenden Dekodierungsprozesses auswirken, um diesbezüglich jedoch tragfähige Aussagen treffen zu können, hätte es eines weitaus größeren Samples und einer andersgearteten Methodik bedurft. Das Ziel der ethnographischen Untersuchung war es indes nicht, der lokalen Überkreuzung beliebiger Diskurse in mehr oder minder willkürlich ausgewählten Räumen der Mikroebene (oder gar innerhalb einzelner subjektiver Sinnwelten) nachzuspüren, sondern die spezifischen Interaktionsweisen der als dominant identifizierten nationalistischen Makrodiskurse (wenn auch nur ausschnitthaft) auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft zu beobachten und die Einflussnahme ihrer Macht-Wissen-Komplexe auf konkrete Akteur_innen exemplarisch zu beleuchten. Die Existenz und Einflussnahme anderer (Mikro-, Meso- oder Makro-)Diskurse (obgleich sehr wohl relevant) konnte dabei nur am Rande Beachtung finden. Bei dem hier vorgestellten diskursethnographischen Baustein handelt es sich lediglich um den Versuch, einen beispielhaften Einblick in das Wechselverhältnis aus kollektivem und subjektivem Wissen zu gewinnen, nicht um die holistische Erschließung dieses Themenfeldes – das überdies auch nicht Teil der zentralen Forschungsfrage dieser Arbeit ist. Die Frage danach, wie die diskursive Machtentfaltung – respektive der Prozess der kreativen Dekodierung von Diskursen – in all ihrer Komplexität ausgestaltet ist und wie sich verschiedene Diskurskonstellationen jeweils auf die Prozesse der Internalisierung und Externalisierung von Wirklichkeit auswirken, muss zu gegebener Zeit an anderer Stelle (außerhalb dieser Arbeit) beantwortet werden.

3.4 Grenzgänger_innen: Im Spannungsfeld zwischen diskursiver und subjektiver Sinnwelt

Da die in Abschnitt 3.3 vorgestellten Expert_inneninterviews lediglich einen vorläufigen und – aufgrund des unzureichenden Samples – äußerst vagen Einblick in das Spannungsfeld zwischen diskursiver Macht und subjektiver Rezeption geben können, war es sinnvoll, die qualitative Befragung durch eine umfangreichere, quantitative Erhebung zu ergänzen. Im Anschluss an die Expert_inneninterviews lag auch hier ein Fokus auf Grenzgänger_innen im Diskursfeld nahe, also auf Personen, die unmittelbar an der (imaginierten) nationalen / staatlichen Grenzlinie stehen, die durch die sozialen Schließungsmechanismen von Staatsangehörigkeit und Einbürgerung markiert wird (bzw. diese übertreten haben oder im Begriff sind sie zu übertreten). Abermals muss betont werden, dass dieser Fokus letztlich nur eine Kompromisslösung darstellt, da es – um dem holistischen Anspruch dieser Arbeit gerecht zu werden – eigentlich notwendig wäre, die gesamte Sprecher_innenstruktur sowie auch sämtliche Publika der dominanten Diskurse repräsentativ zu erfassen.

Aus pragmatischen Gründen hatte ich zunächst beabsichtigt, die Hamburger Einbürgerungsfeiern als Ausgangspunkt zu nutzen, um Zugang zu den dort versammelten Eingebürgerten zu erhalten – entweder durch direkte Befragung der Teilnehmenden vor Ort oder aber durch vorläufige Kontaktaufnahme im Rahmen der Feiern und anschließende Befragung zu einem späteren Zeitpunkt. Meine Anfrage bei der Hamburger Senatskanzlei, ob ich eine der beiden Möglichkeiten im Kontext der Einbürgerungsfeiern umsetzen dürfte, wurde jedoch leider negativ beschieden. Begründet wurde die Absage mit dem hohen symbolischen Wert der Feiern für die Eingebürgerten. Der feierliche Akt und die Würdigung der Einbürgerung sollen laut Aussage der Senatskanzlei nicht durch Eingriffe von außen gestört oder gemindert werden. Nach einem langen und oft auch nervenaufreibenden Einbürgerungsprozess sollen die Einbürgerungsfeiern Wertschätzung und Willkommenskultur vermitteln und keine weiteren Anforderungen an die neuen deutschen Staatsangehörigen stellen. Darüber hinaus bestand die Befürchtung, dass durch eine Erhebung im Zuge der Feiern (oder im unmittelbaren Anschluss daran) der Eindruck entstehen könne, die Erhebung sei ein offizielles Projekt der Stadt Hamburg und würde als solches vielleicht sogar zur Teilnahme verpflichten.

Die Haltung der Senatskanzlei in diesem Punkt ist durchaus nachvollziehbar (gerade auch in Anbetracht des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses, wie er in späteren Kapiteln vorgestellt wird). Ihre Absage machte, sowohl was das Sampling, als auch was die Methodik meiner Untersuchung anging, ein Umdenken erforderlich. Glücklicherweise boten mir sowohl die TGH als auch die Hamburger Einbürgerungsabteilung diesbezüglich ihre Hilfe an, wofür ich zu großem Dank verpflichtet bin. Vor diesem Hintergrund entschied ich mich für die methodische Variante einer quantitativen Online-Befragung unter Verwendung der Erhebungssoftware ScoSci Survey. Dieses Vorgehen erlaubte mir ein umfangreicheres Sampling nach Kriterien, die weitaus besser dem oben geschilderten Gedanken an Grenzgänger_innen gerecht wurden und sich nicht nur auf Eingebürgerte allein beschränken mussten. So wurden neben bereits eingebürgerten Personen auch solche Personen miteinbezogen, die sich noch im Antragsprozess befinden oder sich ganz grundsätzlich für eine Einbürgerung interessieren, ohne bereits erste Maßnahmen ergriffen zu haben. Außerdem wurden Personenkreise inkludiert, die zwar ihrerseits die deutsche Staatsangehörigkeit von Geburt an besitzen, die aber haupt-, neben- oder ehrenamtlich im Bereich Einbürgerung tätig und daher in besonderem Maße mit dem Themenfeld befasst sind (also z. B. Lots_innen des TGH-Projektes oder Mitarbeitende der Hamburger Einbürgerungsabteilung). Auch diese Personen können als Grenzgänger_innen begriffen werden, da sie sich in ihrem Tätigkeitsfeld unmittelbar an der sozial konstruierten Grenzlinie bewegen und zwangsläufig mit beiden Seiten in Kontakt stehen.Footnote 107

Die Variante der Online-Befragung war im Hinblick auf das zu erfassende Sample insofern sinnvoll, als sie zunächst einmal die einfachste und ressourceneffizienteste Methode der quantitativen Befragung darstellt (verglichen etwa mit face-to-face Interviews, Telefoninterviews oder der postalischen Versendung papierförmiger Fragebögen).Footnote 108 In der heutigen Zeit (annähernd) totaler medialer Vernetzung ist überdies davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der Zielgruppe keine Schwierigkeiten oder gar Beschränkungen im Umgang mit Computer und Internet erfährt und der Zugang daher unproblematisch ist. Zudem bieten sogenannte self-administered questionnaires noch eine Reihe weiterer Vorteile. So können z. B. mehr Personen befragt werden, als für andere Interviewmethoden realistisch wäre. Außerdem ist es möglich relativ lange Reihen von Fragen zu stellen, ohne die Teilnehmenden zu langweilen (wie etwa bei mündlichen Interviews). Auch sogenannte Response Effects (also die Tendenz der Befragten, sozial erwünschte Antworten zu geben) werden minimiert. Der Vorteil computergestützter Fragebögen besteht überdies darin, dass sie interaktiv gestaltet werden können, z. B. wenn man möchte, dass Proband_innen zunächst eine bestimmte Frage beantworten, ohne zu wissen, wie die nächste Frage lautet (was bei einem papierförmigen Fragebogen unmöglich wäre) oder wenn eine bestimmte Antwortkategorie dazu führen soll, dass bestimmte zusätzliche Fragen eingeblendet werden.Footnote 109 Im Hinblick auf computergestützte Befragungen hält Russell Bernard außerdem fest:

„Respondents take quickly to this format – it’s used a lot in market research – and often find it to be a lot of fun. Fun is good because it cuts down on fatigue. Fatigue is bad because it sends respondents into robot mode an they stop thinking about their answers.“Footnote 110

Diesbezüglich lässt sich hinzufügen, dass computergestützte Umfragen modern und professionell erscheinen und insofern symbolisches Kapital im Sinne Bourdieus generieren, was sie für die Teilnehmenden unter Umständen attraktiver macht als herkömmliche, papierförmige Fragebögen.

Die Ansprache der Befragten erfolgte aus praktischen Gründen vermittels Snowball Sampling.Footnote 111 Die Basis dieses Vorgehens bildeten Handzettel, die eine kurze Beschreibung des Forschungsthemas enthielten, eine Kontaktadresse für Rückfragen sowie einer URL bzw. einem QR-Code zur Umfrage. Die Flyer wurden an die Leiterin des TGH-Lotsenprojekts, Tülin Akkoç, und an die Leiterin der Hamburger Abteilung für Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsangelegenheiten, Waltraud Hadler, übergeben. Frau Akkoç verteilte die Handzettel an die Mitwirkenden des Einbürgerungsprojekts, welche sie ihrerseits in die jeweiligen Communities weitertrugen. Überdies versendete Frau Akkoç eine PDF-Version des Handzettels über den E-Mail-Verteiler des Lotsenprojektes. Frau Hadler wiederum gab die Flyer an ihre Mitarbeitenden in der Einbürgerungsabteilung und diese verteilten sie weiter an die Einbürgerungsinteressierten und Antragstellenden, die zu einem Gespräch in die Behörde kamen. Die Umfrage lief über drei Monate, vom 17.07.2017 bis zum 16.10.2017. In diesem Zeitraum wurde der Fragebogen insgesamt 102-mal aufgerufen (inklusive versehentlicher Doppelklicks). 58 Personen haben den Fragebogen wenigstens teilweise ausgefüllt. Davon haben 45 Personen die Befragung komplett abgeschlossen. Zwei weitere Personen haben immerhin mehr als die Hälfte der Fragen beantwortet, sodass ihre Daten trotz vorzeitigen Abbruchs der Befragung verwertbar waren. Alles in allem ergab die quantitative Erhebung also ein Sample von 47 Fällen.

Der Anteil der weiblichen Befragten überwiegt im Datensatz deutlich den der männlichen (72,34 % zu 27,66 %).Footnote 112 Was das Alter der Befragten angeht, lässt sich eine große Bandbreite von unter-25-Jährigen bis hin zu über-60-Jährigen feststellen, wobei ein Schwerpunkt auf der Gruppe der 40 bis 60-Jährigen liegt (42,55 %). Etwas mehr als die Hälfte der Befragten (55,32 %) ist nicht in Deutschland geboren. Nahezu drei Viertel aller Teilnehmenden wurden eingebürgert oder befinden sich gerade im Einbürgerungsprozess (72,34 %).Footnote 113 Auch aus diesem Grund bilden Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit im Datensatz die größte Gruppe (80,85 %) gefolgt von Personen mit brasilianischer Staatsangehörigkeit (27,66 %)Footnote 114 und – weit dahinter – mit (ehemaliger oder aktueller) türkischer Staatsangehörigkeit (12,77 %). Lediglich zwei Personen (4,26 %) besitzen weder eine deutsche Staatsangehörigkeit noch befinden sie sich im Moment der Befragung im Antragsprozess. Insgesamt 11 Personen (23,4 %) sind Deutsche qua Geburt

In Bezug auf die in Tabelle 3.5 zusammengefassten Daten muss noch einmal wiederholt werden, dass die vorliegende Erhebung keine Analyse individueller Biographien vornimmt und Personendaten lediglich peripher in die Untersuchung eingeflossen sind. Zu den Gründen, die sowohl praktischer als auch theoretischer Natur sind, wurde in Abschnitt 3.3 bereits Stellung bezogen. Anzumerken bleibt, dass das Feld der Überkreuzung von Diskursen (auf der zwischenmenschlichen Mikroebene sowie auch im individuellen Bewusstsein) von erheblicher Bedeutung für die weiterführende ethnologische Forschung in ganz unterschiedlichen Bereichen ist. Die vorliegende Arbeit soll nicht als Plädoyer zur Abkehr vom Lokalen oder zur generellen Bevorzugung eines makroperspektivischen Ansatzes verstanden werden. Vielmehr will sie im massenmedial vermittelten Raum der Öffentlichkeit die dominanten Leitlinien der Debatte und deren relevante Akteur_innen identifizieren, um weiterführenden (auch und gerade ethnographischen) Analysen sinnvolle und theoretisch tragfähige Anknüpfungspunkte zu liefern. Daten zur Diskursrezeption, wie sie in diesem und in Abschnitt 3.3 behandelt werden, sowie auch Daten zur Diskursproduktion, wie der nachfolgende Abschnitt 3.5 sie anspricht, dienen in diesem Sinne – neben ihrem Wert für die Einordnung der hier zu präsentierenden diskursanalytischen Ergebnisse – als Ausblick auf die vielfältigen Potenziale einer diskurstheoretisch verorteten Ethnologie mit ihren heterogenen Perspektiven, Instrumenten und Fragestellungen.

Tabelle 3.5 Übersicht: Datensatz der quantitativen Befragung

Im Hinblick auf die Methode der quantitativen Online-Befragung muss mit Martin Sökefeld darauf hingewiesen werden, dass schriftliche Befragungen – neben den oben genannten Vorteilen – auch einige entscheidende Nachteile bergen:

„Nachfragen sind nicht möglich, der Interviewte interpretiert den Fragebogen auf seine Art, und diese Interpretation kann von dem, der die Fragebögen erstellt und verteilt hat, nicht nachvollzogen werden. Man weiß also nicht, ob die Fragen ‚richtig‘ verstanden wurden. Der Forscher kann die Art des Verständnisses nicht aus Nebeninformationen, wie sie im Gespräch selbstverständlich sind, schließen. Diese Schwierigkeit erfordert besondere Sorgfalt bei der Erstellung von Fragebögen. Fragen müssen besonders einfach und eindeutig formuliert werden. Ein schriftlicher Fragebogen muss außerdem von einem Anschreiben begleitet werden, das Sinn und Zweck der Befragung erläutert. Datenschutz und Anonymität zusichert und auch eine Kontaktadresse für die Informanten nennt, falls sie doch weitergehende Fragen haben.“Footnote 116

Um die Fehleranfälligkeit des Online-Fragebogens zu minimieren, führte ich im Vorfeld der Befragung nicht nur einen technischen Funktionstest, sondern außerdem auch einen einwöchigen Pretest mit 10 Proband_innen durch, die in etwa der von mir anvisierten Zielgruppe entsprachen (verschiedene Geschlechter, verschiedene Altersgruppen, verschiedene Staatsangehörigkeiten, Eingebürgerte sowie Staatsangehörige qua Geburt). Für die Hälfte der Testenden war Deutsch eine Fremdsprache. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass der Fragebogen auch für Nicht-Muttersprachler_innen verständlich ist. Im Hinblick auf den Pretest bietet die verwendete Software ScoSci Survey des Weiteren die vorteilhafte Möglichkeit, dass Testende während des ‚Durchklickens‘ durch den Fragebogen Anmerkungen zu den einzelnen Fragen hinterlassen können. Somit können Unklarheiten sofort notiert werden, ehe sie in Vergessenheit geraten. Dies – sowie auch die wiederholte Rücksprache mit den Testenden – war bei der Aufdeckung von Missverständlichkeiten äußerst hilfreich. Zusätzlich zum Funktions- und Pretest wurde nach der Hälfte des offiziellen Umfragezeitraums eine erste Zwischenauswertung vorgenommen, um anhand der Teilnehmendenreaktionen einschätzen zu können, ob etwaige Nachjustierungen am Fragebogen oder der Samplingmethode erforderlich sind. Wie von Sökefeld gefordert, leitete ich den Fragebogen darüber hinaus mit einem kurzen Text ein, der Thema und Kontext meines Forschungsprojektes erläutert, den ungefähren Zeitaufwand nennt, der für die Beantwortung des Fragebogens einzuplanen ist, der Anonymität und den Schutz persönlicher Daten garantiert und außerdem eine Adresse für Rückfragen enthält. Weitergehend wurde in dem Text darum gebeten, die Umfrage nur einmal pro Person durchzuführen, um durch mehrfache Teilnahme nicht die Aussagekraft der Ergebnisse zu verfälschen. Am Ende des Fragebogens bot ich ein Kommentarfeld für zusätzliche Anmerkungen an und hinterließ überdies zum zweiten Mal meine Kontaktadresse.

Inhaltlich orientierte sich der Online-Fragebogen – ebenso wie der Leitfaden für die in Abschnitt 3.3 behandelten Expert_inneninterviews – an den Erkenntnissen, die aus der diskursanalytischen Voruntersuchung gewonnen wurden. Das Fragebogendesign folgte dabei dem Muster einer ethnologischen Konsensanalyse.Footnote 117 Das heißt, es wurden darin verschiedene – teilweise einander ergänzende, teilweise einander widersprechende – Deutungsmuster aus der öffentlichen Debatte abgebildet. Die Teilnehmenden erhielten dann jeweils die Auswahl zwischen den Antwortoptionen Ich stimme zu / Ich stimme nicht zu / Ich weiß nicht.Footnote 118 Auf diese Weise ließ sich für die zentralen Aussagen der dominanten Diskurse der jeweilige Zustimmungsgrad der Befragten ermitteln. Da einzelne Aspekte der Diskurse durch mehrere unterschiedliche ‚Statements‘ abgebildet wurden, ließ sich außerdem beobachten, inwiefern die Zustimmung der individuellen Akteur_innen zu den Diskursen durchgängig ist, oder je nach Situation und Kontext variiert. Durch dieses Vorgehen konnten Kontinuitäten und Brüche im Diskursfeld aufgedeckt werden, was die soziale Rezeption und Reproduktion dominanter Diskursströmungen anbelangt.Footnote 119 Die Analyse der Daten erfolgte unter Zuhilfenahme der Statistiksoftware PSPP (freie Alternative zur bekannten Software SPSS). Zur Erhebung des Antwortkonsenses wurden einfache Häufigkeiten ermittelt und außerdem Kreuztabellen angelegt, um einzelne Variablen miteinander zu vergleichen. Letzteres war v. a. notwendig, um Reaktionen auf verschiedene Aussagen miteinander in Beziehung zu setzen, die entweder das selbe Deutungsmuster auf unterschiedliche Art und Weise fassen, oder aber diametral gegenläufige Deutungsmuster und Diskursströmungen repräsentieren.

Festzuhalten bleibt, dass die hier beschriebene Umfrage (analog zu den in Abschnitt 3.3 behandelten Expert_inneninterviews) keineswegs repräsentativ ist für die gesamte Gruppe der ‚Grenzgänger_innen‘ im Diskursfeld Einbürgerung. Sehr wohl aber kann dieser kleine Exkurs in die Diskursrezeption (v. a. auch in Kombination mit den Ergebnissen der Expert_inneninterviews) Aufschluss über grundlegende Funktionsweisen einer etwaigen diskursiven Durchdringung geben: Inwiefern werden Diskurse in die subjektive Sinnwelt einzelner Akteur_innen inkorporiert? Vermischen sich dort, wo Diskurse einander begegnen, diskursive Partikel zu neuen, eigenständigen Deutungssystemen? Handelt es sich bei den übernommenen Deutungsfragmenten um bewusstes oder um unbewusstes, intuitives Wissen? All diese Fragen lassen sich durchaus auch in kleinem Rahmen mit den oben dargelegten Methoden beantworten und vermitteln so einen ersten, wenn auch ausschnitthaften Eindruck vom komplexen Wechselverhältnis zwischen Mensch und Diskurs.

Nachdem die Diskursrezeption damit nun also auf verschiedene Weise beleuchtet wurde, wird es im nächsten Unterkapitel um die diskursethnographische Betrachtung spezifischer Aspekte der Diskursproduktion gehen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Einbürgerungsfeiern im Hamburger Rathaus, ihrerseits dispositiver Bestandteil des offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses. Während also in Abschnitt 3.3 und 3.4 die Frage behandelt wurde, inwiefern dominante gesellschaftliche Deutungslinien in der subjektiven Sinnwelt der Rezipient_innen Macht entfalten, wird in Abschnitt 3.5 danach gefragt werden, wie diese Macht überhaupt entsteht, das heißt, wie, wo, von wem und mit welchen Mitteln sie produziert wird. Dabei gerät v. a. das komplexe Zusammenspiel von Diskursen, Ritualen und Emotionen in den Fokus, das in den Abschnitten 2.3 und 2.4 bereits zum Thema wurde und das im Folgenden weiterführend relevant sein wird.

3.5 Die Hamburger Einbürgerungsfeiern: Lokale Inszenierung eines nationalen rite de passage?

Die Einbürgerungsfeiern im Hamburger Rathaus bieten sich insofern für die wissenschaftliche Betrachtung an, als sie ein zentrales und zudem auch das chronologisch älteste Element der Hamburger Einbürgerungsinitiative sind. Allerdings sind sie kein exklusiv hamburgisches Phänomen. Seit der Reform des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2007 verlangt das deutsche Einbürgerungsrecht bundesweit nach einem feierlichen Bekenntnis zum deutschen Grundgesetz und empfiehlt hierfür die Einrichtung offizieller Einbürgerungsfeiern. In vielen Städten und Kommunen gibt es schon seit 1999/2000 regelmäßige Einbürgerungszeremonien, in anderen (wie auch in Hamburg) wurden sie erst im Zuge der Innenminister_innenkonferenz von 2006 oder der sich daran anschließenden Gesetzesänderung von 2007 eingeführt. Intendiert sind die Feiern einerseits als „Willkommensgeste […] und als Symbol für den Anspruch, eine offene Gesellschaft zu sein“, andererseits entspringen sie einer fortschreitenden normativen Aufladung von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft in der deutschen Gesellschaft.Footnote 120

Einbürgerungsfeiern gibt es in vielen Ländern dieser Welt, so u. a. in den USA, der Schweiz, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. Sie sind für die Sozialwissenschaften ein beliebter Forschungsgegenstand und wurden auch bereits von ethnologischer Seite beleuchtet. Das Forschungsinteresse richtete sich dabei zum einen auf die Frage, wie im Rahmen der Einbürgerungsfeiern soziale Konstruktionen von Nation, Staatsangehörigkeit und Zugehörigkeit ritualisiert werdenFootnote 121 und zum anderen auf die Frage, wie die Eingebürgerten selbst auf die Feiern als solche sowie auf deren sozial konstruierte Wirklichkeiten reagieren.Footnote 122 Einbürgerungsfeiern werden dabei gängiger Weise als Rituale und konkreter – im Anschluss an Arnold van Gennep – als rites de passage behandelt, „die dem Dreischritt Separation – Transition/Liminalität – Inkorporation folgen“.Footnote 123 Dabei werden die charakteristischen Phasen von Übergangsriten einmal auf den Ablauf der Feiern selbst bezogen (physische Separation der Eingebürgerten vom restlichen Publikum und spätere (Re-)Inkorporation der Gruppen) oder auf den gesamten Einbürgerungsprozess als solchen (Separation von der alten Staatsangehörigkeit, Liminalität im Prozess der Antragsbearbeitung, Inkorporation durch den Akt der Einbürgerung und die Einbürgerungsfeier als symbolischen Höhepunkt).Footnote 124

Rituale, und insbesondere Transformationsrituale von einem sozialen Status in einen anderen, erfüllen wichtige gesellschaftliche Funktionen auf individueller, wie auch auf kollektiver Ebene, insofern sie den Betroffenen den Übertritt von einer sozial definierten Rolle in eine andere erlauben, ohne dabei die kollektive Sinnwelt der gesellschaftlichen Ordnung zu gefährden oder auch die subjektive Sinnwelt des einzelnen Individuums zu erschüttern:

„Transitions from group to group and from one social situation to the next are looked on as implicit in the very fact of existence, so that a man’s life comes to be made up of a succession of stages with similar ends and beginnings: birth, social puberty, marriage, fatherhood, advancement to a higher class, occupational specialization, and death. For every one of these events there are ceremonies whose essential purpose is to enable the individual to pass from one defined position to another which is equally well defined.“Footnote 125

Indem sie den sozialen Alltag der Akteur_innen durchbrechen, sich quasi aus ihm herauslösen, bieten Transformationsrituale die Gelegenheit, „auf einer Meta-Ebene die Wertgrundlagen, Regulierungen und Legitimationen des sozialen Gefüges, seiner Institutionen und der individuellen Platzierung in diesen [zu reflektieren]. Dadurch wird aktiv Sinn aktualisiert und die Kontinuität der Gruppe oder Gesellschaft gewährleistet“.Footnote 126 Ein besonderes Merkmal von Transformationsritualen ist es dabei – wie Don Handelman anmerkt –, dass sie den zu vollziehenden Wandel aus sich selbst heraus bewirken, nicht bloß einen bereits erfolgten Wandel validieren.Footnote 127 Betrachtet man die Einbürgerungsfeiern als solche, ist dieses Kriterium nicht erfüllt. Einbürgerungsfeiern sind nicht der wichtigste und schon gar kein zwingender Schritt auf dem (formellen) Weg zur (deutschen) Staatsangehörigkeit. Tatsächlich stellen Anniken Hagelund und Kaja Reegård in Bezug auf Norwegen fest, dass die überwiegende Mehrheit der Eingebürgerten gar nicht an den Einbürgerungsfeiern teilnimmt.Footnote 128 Auch in Hamburg ist die Zahl der Eingebürgerten und die Zahl der Teilnehmenden an den Einbürgerungszeremonien keineswegs deckungsgleich. Die Einbürgerungsfeiern nehmen insofern eine rein symbolische Funktion ein, als sie die bereits erfolgte Inkorporation der neuen deutschen Staatsangehörigen zelebrieren, nicht aber diese Inkorporation selbst vollziehen. Sie sind keine rites de passage im klassischen Sinne, werden aber durchaus von offizieller Seite als solche inszeniert. Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass sie – wie Verkaaik in seiner Arbeit zu niederländischen Einbürgerungsfeiern anschaulich demonstriert – weniger für die Initiation der Eingebürgerten an sich bedeutsam sind, sondern vielmehr dazu beitragen, dominante nationalistische Diskurse (und damit spezifische kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen) zu institutionalisieren und diese (im Bourdieu’schen Sinne) in die Beteiligten (Darstellende und Publikum gleichermaßen) einzuschreiben.Footnote 129 So waren die von Verkaaik untersuchten Einbürgerungszeremonien ihrem Ursprung nach zwar als „disziplinierendes Initiationsritual“ geplant, das Einzubürgernde auf einen Kanon ‚unverhandelbarer‘, ‚niederländischer‘ Werte verpflichten sollte,Footnote 130 der diesbezügliche Effekt, den die Feiern auf die Zielgruppe ausübten, fiel jedoch äußerst gering aus. Verkaaik sieht die Zeremonien deshalb eher als Teil eines umfassenden nationalistischen Versuchs, die niederländische Nation neu zu definieren, sie zu essentialisieren und (vor allen Dingen) zu ‚kulturalisieren‘ – in dem Sinne, dass vormals rein rechtliche Kategorien wie die Staatsangehörigkeit mehr und mehr mit kulturellen Attributen aufgeladen werden.Footnote 131

Während viele namhafte Ethnolog_innen und Soziolog_innen in ihren Studien auf die kontinuitätsstiftende und sozial festigende Wirkung von Ritualen verwiesen haben, betonen andere v. a. ihren pluralen Charakter und ihr Potenzial, sozialen Wandel herbeizuführenFootnote 132 – ein Aspekt, der auch im Hinblick auf den etwaigen Widerstreit von Diskursen und Gegendiskursen im Kontext der Hamburger Einbürgerungsinitiative von besonderer Relevanz sein kann. Unabhängig davon, ob Rituale nun eine bestehende Ordnung zementieren oder eine neue Ordnung etablieren wollen – unzweifelhaft ist, dass sie für die diskursive(n) Wirklichkeitskonstruktion(en), zu der (oder denen) sie in Relation stehen, von erheblicher Bedeutung sind. In Abschnitt 2.3 ist bereits auf die große, insbesondere auch emotionale Macht hingewiesen worden, die Rituale ob ihrer spezifischen Verfasstheit generieren können. In Abschnitt 2.4 wurde überdies festgestellt, dass Rituale den diskursiven Verknappungsmechanismen nach Foucault zugerechnet werden müssen und insofern einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Diskurse zu produzieren, zu reproduzieren und (ggf.) zu transformieren.

Vor diesem Hintergrund sind verschiedene Studien zu dem Schluss gekommen, dass Einbürgerungsfeiern nicht nur nationalistische Diskurse institutionalisieren, sie indizieren überdies die sozial erwünschte Subjektposition eines ‚guten Staatsangehörigen‘ und üben Druck auf die Eingebürgerten aus, sich diese Subjektposition im Zuge ihrer (symbolischen) ‚Initiation‘ anzueignen.Footnote 133 Auch im Hinblick auf die Hamburger Einbürgerungsfeiern ist es daher erforderlich, in besonderer Weise dafür sensibel zu sein, wie diskursive Deutungsmuster, Klassifikationen und Subjektpositionen rituell inszeniert (oder konstituiert) werden und (z. B. mittels der in Abschnitt 2.3 erörterten Emotionalisierungstechniken) Macht entfalten.

Für ein Vorhaben wie das hier intendierte, empfiehlt Abner Cohen, den analytischen Fokus auf die dramaturgischen Prozesse zu richten, die dem betreffenden Ritual und seiner symbolischen Inszenierung zugrunde liegen.Footnote 134 Er schlägt vor, alltägliche Rituale – analog zu einem Brecht’schen Theaterstück – analytisch aus ihrem gewohnten Kontext zu isolieren, um ihre Verstrickung in das weitere gesellschaftliche Spinnennetz aus Ideologien, Machtstrukturen und soziopolitischen Konfliktlinien aufzudecken.Footnote 135 Mit einem ähnlich gearteten Ansatz beweist David M. Guss, dass Rituale nicht nur etablierten Sinn reproduzieren, sondern oft auch neue Deutungen und neue Identitäten konstituieren. Dies tun sie, indem sie (analog zu den in früheren Kapiteln behandelten Invented TraditionsFootnote 136) in transformierter Weise an ältere Traditionen anknüpfen und Kultur sowie Identität dabei gewissermaßen objektifizieren (oder -um an die bereits etablierte Terminologie anzuknüpfen – zu essentialisieren). Guss benutzt hierfür den Begriff der Cultural Performances. Er beschreibt damit ein weit verbreitetes Phänomen, demzufolge ganze Gesellschaften sowie deren Kultur(en) in der Wahrnehmung ihrer Mitglieder durch einzelne Rituale, Feste oder Symbole repräsentiert werden, welche sich ihrerseits wiederum durch einen starken Hang zur Ästhetisierung auszeichnen.Footnote 137 Auch Einbürgerungsfeiern sind letzten Endes Cultural Performances, insofern sie ein plakatives Bild von nationaler Gemeinschaft vermitteln und dieses Bild dezidiert kulturell einfärben – beispielsweise indem sie (wie in Abschnitt 2.2 bereits angesprochen) Formen der Ästhetisierung nutzen, die sich lokaler, folkloristischer Kulturfragmente bedienen, um der abstrakten Nation (kulturelle) Substanz zu verleihen:Footnote 138

„The privileging of the visual, accomplished through colorful costumes and dramatic choreography, combines with technical excellence and virtuosity to present a cheerful, unceasingly optimistic world. This increased theatricalization abjures any mention of true historical conditions and replaces them with the staged creation of a mythic, detemporalized past.

Of course the fact that this aestheticization is driven by the need to erase any signs of conflict, poverty, or oppression (common elements of all popular forms) underscores the impossibility of disconnecting the aesthetic from other issues of ideology. For at the heart of all traditionalizing processes is the desire to mask over real issues of power and domination.“Footnote 139

Rituale (re)produzieren demnach Macht, indem sie diese zugleich maskieren und hinter einer symbolischen Fassade verbergen. Dies tun sie (und hier schließt sich der Kreis zu Foucaults MachtbegriffFootnote 140) allerdings nicht immer und nicht zwangsläufig im Sinne hegemonialer Diskurse, denn Rituale sind ihrer Natur nach polysemFootnote 141 und vielstimmig:

„Actors use these events to argue and debate, to challenge and negotiate. Thus, rather than thinking of cultural performances as simply ‘texts’, to be read and interpreted, a discursive approach recognizes that they are dialogical and even polyphonic. They are fields of action in which both dominant and oppressed are able to dramatize competing claims…“Footnote 142

Rituale sind demzufolge eine Bühne für die Darstellung kultureller (sozialer, politischer, religiöser, ethnischer, lokaler, nationaler) Identitäten und für die vielstimmige Inszenierung von kollektiver Wirklichkeit mit Hilfe von Metaphern, Symbolen und (erfundenen) Traditionen.Footnote 143 In seinem Buch Wir alle spielen Theater etabliert Erving Goffman ein nützliches Analysevokabular für die Untersuchung solcher kultureller Performances. Auch wenn er seinen Ansatz ursprünglich für die Analyse von Alltagsinteraktionen entwickelte, eignet er sich durchaus auch für die dramaturgische Untersuchung von Ritualen im Allgemeinen und rites de passage im Besonderen:

Als Darstellung (oder auch Performance) bezeichnet Goffman das gesamte Verhalten eines/einer Akteur_in, „das er [oder sie] in Gegenwart einer bestimmten Gruppe von Zuschauern zeigt und das Einfluß auf diese Zuschauer hat“, indem es ein bestimmtes Bild von seiner bzw. ihrer Person sowie von deren Absichten, Kompetenzen, Status, etc. vermittelt:Footnote 144

„Wenn der Einzelne eine Rolle spielt, fordert er damit seine Zuschauer auf, den Eindruck, den er bei ihnen hervorruft, ernst zu nehmen. Sie sind aufgerufen zu glauben, die Gestalt, die sie sehen, besitze wirklich die Eigenschaften, die sie zu besitzen scheint, die Handlungen, die sie vollführt, hätten wirklich die implizit geforderten Konsequenzen, und es verhalte sich überhaupt alles so, wie es scheint.“Footnote 145

Goffmans Konzeption der Darstellung ist allerdings nicht nur dazu angetan, dem jeweiligen Publikum ein bestimmtes Bild vorzugaukeln, es räumt darüber hinaus auch die Möglichkeit ein, dass der/die Darstellende in unterschiedlichem Maße selbst an das glaubt, was er/sie darstellt, oder sogar durch die Verselbstständigung seiner/ihrer eigenen Darstellung – aller vormaligen Skepsis zum Trotz – dazu überzeugt wird, an die Authentizität der gespielten Rolle zu glauben.Footnote 146

In Ergänzung zum Konzept der Darstellung, etabliert Goffman den Begriff Fassade, um das korrespondierende Bühnenbild (etwa die Einrichtung eines Büros) sowie Erscheinung (äußerliche Indizien für Status und Rolle einer Person) und Verhalten (konkretes Handeln in einer spezifischen Situation) zu erfassen.Footnote 147 Die Fassade als Ganzes umfasst also „das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet.“Footnote 148 Weiterhin stellt Goffman fest, dass Fassaden in komplexen Gesellschaften weitgehend standardisiert sind, insofern als dass gleiche oder sehr ähnliche Fassaden für die Darstellung unterschiedlicher Rollen gebraucht werden können oder sogar gebraucht werden müssen (z. B. werden in vielen offiziellen Kontexten und von vielen verschiedenen sozialen Rollenträger_innen Anzüge getragen). Außerdem ist es möglich, dass soziale Fassaden sich von ihrer eigentlichen Funktion loslösen und damit quasi zum Selbstzweck geraten (so z. B. wenn ein Arzt auch außerhalb seines beruflichen Umfeldes seine soziale Rolle und den damit einhergehenden Status betont oder aber andere von ihm erwarten, dass er dies tut).Footnote 149

Mit dem Konzept der Idealisierung verweist Goffman auf den (in hohem Maße mit Bourdieus symbolischem Kapital kompatiblen) Umstand, dass Darstellende – um in ihrer Rolle vollauf akzeptiert zu werden – sich bei ihrer „Selbstdarstellung vor anderen darum bemühen [müssen], die offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft zu verkörpern und zu belegen“.Footnote 150 Denn eine „bestimmte Art von Person sein, heißt […] nicht nur, die geforderten Attribute zu besitzen, sondern auch, die Regeln für Verhalten und Erscheinung einzuhalten, die eine bestimmte soziale Gruppe mit diesen Attributen verbindet“.Footnote 151 Hierin zeigt sich dann auch der Brückenschlag zum Ritual im klassisch ethnologischen Sinne:

„Insofern eine Darstellung die gemeinsamen offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft, vor der sie dargeboten wird, betont, können wir sie nach dem Vorbild Durkheim und Radcliffe-Browns als Ritual betrachten, das heißt, als eine ausdrückliche Erneuerung und Bestätigung der Werte der Gemeinschaft. Darüber hinaus werden in dem Maße, in dem die in Darstellungen nahegelegte Sicht als Wirklichkeit akzeptiert wird, diese Darstellungen Züge einer Zeremonie haben. Im eigenen Zimmer zu bleiben und sich von dem Ort fernzuhalten, an dem die Festlichkeit stattfindet beziehungsweise an dem der Kunde bedient wird, heißt, sich fernzuhalten von dem Ort, wo Wirklichkeit dargestellt wird.“Footnote 152

Um das Ziel einer idealisierten Darstellung zu erreichen, müssen die Darstellenden gewisse Aspekte der Situation betonen und andere vertuschen. Allgemein ist eine strenge Informationskontrolle vonnöten, um beim Publikum keinen ‚falschen‘ Eindruck entstehen zu lassen. So wird durch die „Wahrung der sozialen Distanz […] beim Publikum Ehrfurcht“ erzeugt und der oder die Darstellende „in einem Zustand der Mystifikation“ gehalten:Footnote 153

„Das Publikum wähnt hinter der Darstellung Mysterien und geheime Mächte, und der Darsteller ahnt, daß seine entscheidenden Geheimnisse unbedeutend sind. Wie zahllose Volksmärchen und Initiationsriten zeigen, ist das Geheimnis, das hinter dem Mysterium steht, oft die Tatsache, daß es in Wirklichkeit kein Mysterium gibt; das wirkliche Problem besteht darin, das Publikum daran zu hindern, dies ebenfalls zu bemerken.“Footnote 154

Vor diesem Hintergrund ist überdies Goffmans Unterscheidung von Vorderbühne und Hinterbühne interessant. Die Vorderbühne ist der Ort, an dem sich das Publikum befindet, an welchem also die Darstellung stattfinden, die Fassade gewahrt werden muss (z. B. mit Hilfe von Praktiken der Idealisierung und Mystifikation). Demgegenüber steht die Hinterbühne als Ort, zu dem das Publikum keinen Zutritt hat und an welchem vormals unterdrücktes Verhalten offen praktiziert werden kann, ohne dass man ‚enttarnt‘ würde und unmittelbare Konsequenzen fürchten müsste. Zugleich kann die Hinterbühne auch als Raum dienen, in dem Darstellungen von Einzelnen oder einem größeren Ensemble geplant und eingeübt werden, um sie später auf der Vorderbühne öffentlich zu präsentieren:Footnote 155 „Innerhalb des Ensembles herrscht Vertraulichkeit, entwickelt sich zumeist Solidarität, und Geheimnisse, die das Schauspiel verraten könnten, werden gemeinsam gehütet.“Footnote 156

Goffman betont in seinem Werk zwar die Rolle der Darstellenden und ihres Ensembles, impliziert damit jedoch keine Passivität oder gar Bedeutungslosigkeit des Publikums. Denn egal wie passiv die Zuschauenden auch erscheinen mögen, „durch ihre Reaktion auf den Einzelnen und die Art des Verhaltens, die sie ihm ermöglichen“ bestimmen sie die Situation wirkungsvoll mit.Footnote 157 Zu offenen Konflikten zwischen Publikum und Darstellenden kommt es – zumindest wenn beide Seiten die selbe soziale Wirklichkeit teilen – Goffman zufolge allerdings eher selten:

„Normalerweise sind Situationsbestimmungen der einzelnen Mitglieder einer Grup-pe so weitgehend aufeinander abgestimmt, daß keine offensichtlichen Widersprüche auftreten. Damit soll nicht gesagt sein, es bestehe jene Übereinstimmung, die sich einstellt, wenn der Einzelne offen das ausdrückt, was er wirklich fühlt, und mit den Gefühlen der anderen ehrlich übereinstimmt. Diese Art von Harmonie ist ein optimistisches Ideal und jedenfalls nicht unbedingt notwendig für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft. Man erwartet im Gegenteil von jedem Teilnehmer, daß er seine unmittelbaren tieferen Gefühle unterdrückt und einen Aspekt der Situation ausdrückt, den seiner Ansicht nach die anderen wenigstens vorübergehend akzeptieren können. Diese oberflächliche Übereinstimmung, die den Anstrich von Einigkeit hat, wird ohne Schwierigkeiten aufrechterhalten, wenn jeder seine eigenen Bedürfnisse hinter der Verteidigung von Werten verbirgt, denen sich alle Anwesenden verpflichtet fühlen.“Footnote 158

In sozialen Interaktionen (und das gilt in besonderem Maße, wie Guss weiter oben gezeigt hat, auch für Rituale) wird Wirklichkeit also selektiv dargestellt und auf diese Weise ein ‚kleinster gemeinsamer Nenner‘ geschaffen, der den Erfolg der sozialen Beziehung wenigstens vorübergehend absichert.

Für die Untersuchung von institutionalisierten (rituellen) Darstellungen bieten sich Goffman zufolge fünf verschiedene Perspektiven an:

  1. 1)

    Eine Institution kann technisch, das heißt „unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirksamkeit und Unwirksamkeit als absichtlich organisiertes System der Betätigung zur Erzielung vorherbestimmter Zwecke betrachtet werden“.Footnote 159

  2. 2)

    Eine Institution kann politisch, also „unter dem Gesichtspunkt der Handlungen, die jeder Partner (oder jede Klasse von Partnern) von den anderen verlangen kann, der Arten von Bestrafungen und Belohnungen, die ausgeteilt werden, um diese Ansprüche durchzusetzen, und unter dem Gesichtspunkt der sozialen Kontrolle betrachtet werden, die das Erteilen von Befehlen und die Anwendung von Sanktionen begleiten“.Footnote 160

  3. 3)

    Eine Institution kann auch strukturell „unter dem Gesichtspunkt der horizontalen und vertikalen Statusunterscheidungen und der sozialen Beziehungen, die diese verschiedenen Gruppierungen miteinander verbinden, untersucht werden“.Footnote 161

  4. 4)

    Eine Institution kann überdies kulturell, also „unter dem Gesichtspunkt der moralischen Werte [analysiert werden], von denen die Tätigkeit innerhalb der Institution beeinflußt wird – also unter dem Gesichtspunkt der Wertsetzungen, die sich auf Mode, Sitten und Fragen des Geschmacks, auf Höflichkeit und Anstand, auf letzte Ziele und normative Abgrenzung der Mittel usw. beziehen“.Footnote 162

  5. 5)

    Eine Institution kann schließlich auch dramaturgisch betrachtet werden, indem man „die Techniken der Eindrucksmanipulation und die Identität und das Beziehungsnetz der verschiedenen Vorstellungsensembles einer Institution“ untersucht und interpretierend auswertet.Footnote 163

Die vorliegende Arbeit interessiert sich v. a. deshalb für die Hamburger Einbürgerungsfeiern, weil sie Teil des Dispositivs eines offiziellen Hamburger Einbürgerungsdiskurses sind und insofern davon auszugehen ist, dass sie entsprechende Deutungsmuster, Klassifikationen und Subjektpositionen aktualisieren bzw. vermittels ritueller Machttechniken verstetigen. Zugleich liegt das Augenmerk aber auch auf den Reaktionen des Publikums sowie auf der Frage, inwiefern die Adressat_innen die ihnen präsentierte hegemoniale Wirklichkeitsdefinition teilen, oder ihr aber – in Form von Gegendiskursen – widersprechen. In Anbetracht dieser Zielsetzungen sind für die hier vorzunehmende Analyse v. a. die dramaturgische und die von Goffman als kulturell betitelte Perspektive relevant (wobei im Hinblick auf letztere der Fokus auf Werte durch einen Fokus auf Wissen erweitert werden muss). Die anderen drei Perspektiven werden bei der Präsentation der Ergebnisse nur am Rande und nur insofern von Bedeutung sein, als sie ggf. auf die dramaturgische und kulturelle Dimension zurückwirken.

Die diskursethnographische Erforschung der Diskursproduktion (oder auch der rituellen Diskursinszenierung), wie sie als Teil der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurde, basiert auf klassischer Teilnehmender Beobachtung auf vier Hamburger Einbürgerungsfeiern im Zeitraum von April 2016 bis Juli 2017. Dabei interessierte sich die Untersuchung v. a. für die von Goffman eingeführten Elemente der Dramaturgie (Darstellung, Fassade, Idealisierung und Mystifikation), für Formen der Ästhetisierung (insbesondere unter Einbeziehung lokaler Identitäts- und Kulturfragmente) sowie für Techniken der Emotionalisierung, wie sie in Abschnitt 2.3 behandelt wurden. In besonderer Weise fokussierte die Analyse überdies die antizipierte Verschränkung von Diskurs(en) und Ritual in Form von Deutungsmustern, Klassifikationen und Subjektpositionen. Diskursanalyse und Diskursethnographie flossen insofern aktiv ineinander, als zentrale Elemente der Feiern – wie z. B. die dort gehaltenen Reden oder der offizielle Einbürgerungsfilm – sowohl in ihrem rituellen Kontext als auch losgelöst davon als diskursives Ereignis untersucht wurden. Da mein Zugang zu den Feiern weitestgehend auf den öffentlichen Raum der Vorderbühne beschränkt blieb, wird dieser in der Präsentation der Ergebnisse eine prominente Rolle einnehmen. Elemente der Hinterbühne flossen indessen nur sekundär und am Rande in die Untersuchung mit ein. Hierin zeigt sich wiederum der ergänzende Charakter der hier vorgestellten diskursethnographischen Analysebausteine: Es war und ist nicht das Ziel, Einbürgerungsfeiern als solche ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Relevant sind diese allein im Hinblick auf ihre Funktion im und für das zu untersuchende Diskursfeld. Als Beispiel für die Sphäre der Diskursproduktion stehen sie nur als eines unter vielen möglichen, die nicht alle vollständig und abschließend hier behandelt werden können. Anhand der Feiern soll also beispielhaft gezeigt werden, wie diskursive Macht entsteht (bzw. entstehen kann). Weitere Untersuchungen auf dem Gebiet (im gleichen sowie in anderen Settings) wären wünschenswert, müssen allerdings an dieser Stelle anderen überlassen bleiben.

Mit der makroperspektivischen Diskursanalyse, den quantitativen und qualitativen Befragungen sowie der Teilnehmenden Beobachtung im Rahmen der Hamburger Einbürgerungsfeiern, sind die Forschungsbereiche Diskurs(feld), Diskursrezeption und Diskursproduktion (respektive Diskursinszenierung) analytisch abgedeckt. Auch wenn die diskursethnographischen Bausteine hier nur als Exkurse in den jeweiligen Teilbereich der Diskursforschung gelten können, geben sie doch zumindest einen vorläufigen Einblick in das potenziell umfassende Betätigungsfeld der Diskursethnologie einerseits und das Phänomen populärer deutscher Nationalismen andererseits. Zusammenfassend gibt Tabelle 3.6 einen Überblick über den gesamten Untersuchungszeitraum, die Forschungsziele sowie die verwendeten Methoden und erhobenen Daten.

Tabelle 3.6 Übersicht: Ziele, Methoden, Daten

Im Folgenden sollen nun die Ergebnisse der diskursanalytischen Untersuchung dargelegt werden. Hierfür werden in Kapitel 4 zunächst die dominanten Diskurse sowie deren weniger dominante Seitenarme vorgestellt. Weiterführend folgen in Kapitel 5 Exkurse in Diskursrezeption (5.1) und -produktion (5.2). Überdies wird ein weiterer, für das Diskursfeld (thematisch) peripherer und doch zugleich auch (symbolisch) zentraler Diskurs untersucht, der in besonderer Weise an eine lokale Hamburger Identitätskonstruktion anknüpft (5.3). Die Darstellung schließt mit der Analyse diskursiver Strategien der Aussageproduktion und deren etwaiger Machtwirkungen (5.4). Letztens werden in Kapitel 6 die inhaltlichen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und in ihrer Relevanz – sowie in der Relevanz ihrer Methodik – auch und gerade für den Fachbereich der Ethnologie reflektiert.