2.1 Nation und Nationalismus: Über das Fremde zum Eigenen

Um zielführend untersuchen zu können, wie Nation und Nationalismus in der öffentlichen Debatte konzipiert werden, ist es zunächst einmal sinnvoll, die theoretische Entwicklung dieser Begriffe in der wissenschaftlichen Debatte näher zu beleuchten. Als Ausgangspunkt kann hier das Werk Nations and Nationalism des aus der britischen Social Anthropology hervorgegangenen Ethnologen Ernest Gellner dienen. Sein Buch wurde weit über die Grenzen des Faches hinaus rezipiert und gilt als Standardliteratur der interdisziplinären Nationalismusforschung. Gellner definiert Nationalismus darin wie folgt:

„Nationalism is primarily a political principle, which holds that the political and the national unit should be congruent.

Nationalism as a sentiment, or as a movement, can best be defined in terms of this principle. Nationalist sentiment is the feeling of anger aroused by the violation of the principle, or the feeling of satisfaction aroused by its fulfilment. A nationalist movement is one actuated by a sentiment of this kind.“Footnote 1

Gellner zufolge kann das nationalistische Prinzip auf unterschiedliche Art und Weise verletzt werden. So kann z. B. die politische Bezugsgröße (bzw. der Staat) nicht alle Mitglieder der antizipierten Nation umfassen und / oder neben den Mitgliedern der Nation auch Nicht-Mitglieder miteinschließen. Zum anderen kann eine Nation auf mehrere Staaten aufgespalten sein, ohne dabei einen gemeinsamen NationalstaatFootnote 2 zu konstituieren, oder – Gellner identifiziert dies als die gravierendste Verletzung des nationalistischen Prinzips – die Nation kann innerhalb des eigenen Staates durch Mitglieder einer anderen Nation beherrscht werden.Footnote 3 Wie noch zu zeigen sein wird, sind alle diese Formen des Prinzipienbruchs für die historische (und aktuelle) Entwicklung des deutschen Nationalismus von Relevanz (siehe Abschnitt 2.5 sowie Abschnitt 4.2).

Folgt man der obigen Argumentation, so entsteht Nationalismus – analog zu Ethnizität (siehe Abschn. 2.2) – als identitäre Abgrenzungsdynamik zwischen Eigenem und Fremdem. Gellner schlussfolgert:

„In brief, nationalism is a theory of political legitimacy, which requires that ethnic boundaries should not cut across political ones…“Footnote 4

In Gellners Definition erfahren nationale und ethnische Gemeinschaft eine implizite Gleichsetzung. Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der öffentlichen Debatte ist diese Lesart äußerst verbreitet. Nationalismus wird als ethnische Agenda charakterisiert, deren Anhänger kulturelle und politische Grenzen als kongruent begreifen, bzw. diese Kongruenz ggf. auch überhaupt erst herzustellen versuchen, weil sie die politische Selbstbestimmung kulturell definierter Gruppen als unerlässlich für die Entfaltung und Bewahrung ihrer kollektiven Identitäten erachten. Das Prinzip des Nationalismus basiert demnach auf einem ethnisch konstruierten Modell der Nation, beruhend auf kultureller Homogenität und gemeinsamer Abstammung.Footnote 5 Obwohl diese ‚ethnische Deutung‘ gerade auch in ethnologischen Kreisen überaus gängig ist,Footnote 6 gibt Thomas Hylland Eriksen zu bedenken: „…there is no necessary link between national identity and ethnic identity.“Footnote 7

In der Vorbemerkung zu der hier vorliegenden Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Ethnologie sich dem Themenfeld Nation und Nationalismus erst verhältnismäßig spät zugewandt hat. Um das Phänomen Nation besser und umfassender verstehen zu können, ist es daher hilfreich, einen Blick auf die theoretischen Hauptströmungen der interdisziplinären Nationalismusforschung zu werfen. Christian Jansen und Henning Borggräfe unterscheiden darin vier dominante Definitionslinien:

1.) Der objektivistische Nationenbegriff, auch als substanzialistischer Begriff bezeichnet, versteht Nationen als durch (vermeintlich) objektive Tatsachen klar und statisch voneinander abgegrenzt. Diese objektiven Tatsachen liegen außerhalb jeder individuellen Kontrolle oder Einflussnahme. Als potenzielle Ordnungskriterien werden verschiedenste Merkmale angeführt, so z. B. „Sprache, Kultur, Tradition, Geschichte, gemeinsames Territorium, die Landesnatur, angeblich angeborene geistige oder psychische Eigenschaften, die als ‚Volksgeist‘ oder ‚Volkscharakter‘ bezeichnet werden“ sowie sozial konstruierte Vorstellungen von ‚Rasse‘, Abstammung oder sogenannter ‚Blutsverwandtschaft‘.Footnote 8 Gemeinsam haben alle Varianten des objektivistischen Nationenbegriffs, dass sie von einer eindeutigen Zuordnung jedes Menschen zu einer und nur einer Nation überzeugt sind. Von diesem Konsens einmal abgesehen, ist das Spektrum derer, die diesen Nationenbegriff vertreten, jedoch sehr weit gefasst: „Es reicht von marxistischen Ansätzen auf der Linken über liberale und konservative Vorstellungen bis hin zu völkisch-rassistischen auf der äußersten politischen Rechten.“Footnote 9

2.) Der subjektivistische Nationenbegriff begreift Nationen, ganz entgegen dem objektivistischen Ansatz, als „große Kollektive, die auf einem grundlegenden Konsens“ beruhen, auf der „inneren und freiwillig geäußerten Überzeugung ihrer Mitglieder, dass sie zusammengehören“.Footnote 10 Die Geburtsstunde dieses Nationenbegriffs geht nach allgemeiner Überzeugung auf die Zeit der Französischen Revolution zurück. Ganz der revolutionären Doktrin entsprechend, legt er den Fokus auf die freie politische Willensentscheidung einer selbstgewählten Gemeinschaft. Ihr nationaler Zusammenhalt beruht nicht etwa auf (vermeintlich) objektiven Kriterien, wie kultureller Gleichheit oder ethnischer Herkunft, sondern vielmehr „auf der immer wieder getroffenen freien Entscheidung“ ihrer Bürger.Footnote 11 Eriksen merkt an:

„…nationalism may sometimes express a polyethnic or supra-ethnic ideology which stresses shared civil rights rather than shared cultural roots. That would be the case in many African countries as well as in Mauritius, where no ethnic group openly tries to turn nation-building into an ethnic project on its own behalf. A distinction between ethnic nationalism and polyethnic or supra-ethnic nationalisms could be relevant here.“Footnote 12

In ähnlicher Weise wurde in der fächerübergreifenden Nationalismusforschung – vor allem unter dem Eindruck des Nationalsozialismus – ein „westlicher (britischer, französischer, amerikanischer), vom Bürgertum getragener Nationalismus […], der dem oben skizzierten subjektiven [Nationen-]Typus entspricht, von einem östlichen unterschieden, der dem objektiven Typus entspricht“.Footnote 13 In der Folgezeit wurden diese gegensätzlichen Modelle mit verschiedenen Begriffspaaren belegt, so zum Beispiel voluntarist vs. organic oder civic vs. ethnic.Footnote 14 Rogers Brubakers Vergleich zwischen dem deutschen und dem französischen Verständnis von Staat und Nation folgt einer ähnlichen Logik. Während die deutsche Nation sich laut Brubaker als ethnokulturell Einheit und in klarer Abgrenzung zu ethnokulturell ‚Fremden‘ auszudifferenzieren suchte, strebte das revolutionäre Frankreich nach der umfassenden Ausbreitung seines auf Universalismus angelegten politischen Wertesystems.Footnote 15 Kritische Stimmen aus Reihen der Ethnologie geben zwar berechtigterweise zu bedenken, dass viele Nationalstaaten, die sich (wie etwa Frankreich oder die USA) als ‚civic‘ inszenieren, insgeheim sehr wohl von ethnischen Gruppen dominiert werden, die ihrerseits ihren ethnischen Charakter verschleiern. Nichtsdestoweniger ist offensichtlich, dass Nationalismus und Ethnizität im internationalen Vergleich keineswegs immer in eins fallen.Footnote 16

Subjektivistischer und objektivistischer Nationenbegriff prägten die wissenschaftliche Debatte noch bis in die 1980er Jahre hinein als diametrale Pole der politischen Interpretation.Footnote 17 Auch und gerade die Frage nach der analytischen Einordnung Deutschlands war dabei immer wieder von Bedeutung – häufig unter Rückgriff auf Friedrich Meineckes eingangs vorgestellte Zweiteilung von Staatsnation und Kulturnation:

„In der deutschen Diskussion war in diesem Zusammenhang Friedrich Meineckes Begriffsbildung einflussreich. Er unterschied ‚Staatsnationen‘, in denen sich ein vorhandener Territorialstaat die nationalistische Ideologie zu eigen machte, von ‚Kulturnationen‘, in denen die (kulturelle) Nationsbildung der Entstehung eines Nationalstaates vorausging. Die ‚Staatsnation‘ als politisches Projekt entspricht dem subjektivistischen Nationskonzept, während im anderen Fall das ‚objektive‘ Kriterium ‚Kultur‘ die Grundlage der Nation bilde. Meineckes Begriffe finden sich bis heute in wissenschaftlicher Literatur und in der Publizistik, obwohl sie in hohem Maße ideologisch befrachtet sind und hinter ihnen die (nationalistische) Idee einer Überlegenheit deutscher ‚Kultur‘ über westliche ‚Zivilisation‘ steht.“Footnote 18

Wie noch zu zeigen sein wird, haben sich die Begriffe Kultur und Ethnizität – ähnlich den Konzepten Nation und Nationalismus – lange Zeit auf einer vergleichbaren Skala zwischen Essentialismus und Konstruktivismus bewegt. Wie eng diese vier Konzepte in ihren ideellen Grundlagen sowie ihren sozialpraktischen Auswirkungen miteinander verbunden sind, wird im Verlauf dieser Arbeit noch an verschiedener Stelle deutlich werden.

3.) Mit dem dekonstruktivistischen Ansatz erfolgte in den 1980er Jahren durch Theoretiker_innen wie Benedict Anderson, Eric Hobsbawm und Ernest Gellner (u. a.) eine weitreichende Radikalisierung der subjektivistischen Perspektive, indem sie „mit großer Breitenwirkung die Idee der Nation als natürliche oder naturwüchsige Ordnung dekonstruierten und damit allen essentialistischen Vorstellungen nationaler Gemeinsamkeit die Grundlage entzogen“.Footnote 19 Benedict Anderson etwa stellte in seinem einflussreichen Werk Imagined Communities drei essentielle Widersprüche nationalistischer Ideologien heraus:

Erstens ist der Nationenbegriff und das, was er in seiner modernen Form bezeichnet, ein vergleichsweise junges Phänomen, welches der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entspringt und als dessen Geburtsstunde zumeist die Ära der Französischen Revolution angeführt wird, sowie die Zeit des Bürgerkriegs und der Verfassungsgebung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nichtsdestotrotz wird der Nation von den Anhängern nationalistischer Ideen stets große Antiquität zugesprochen, als sei sie eine lang vorherbestimmte historische Determinante und nicht etwa ein rezentes Produkt der jüngeren Neuzeit.Footnote 20

Zweitens besteht für Anderson ein Widerspruch zwischen der Universalität des Nationenkonzepts auf der einen Seite – „in the modern world everyone can, should, will ‚have‘ a nationality, as he or she ‚has‘ a gender“ – und seiner Partikularität auf der anderen Seite, durch die es Menschen in klar voneinander abzugrenzende Kategorien unterteilt.Footnote 21 Hier zeigt sich eine Parallele zum Kulturbegriff, der sich ebenfalls im Spannungsfeld zwischen universeller Gemeinsamkeit und partikularer Unterscheidung bewegt, sowie zu Vorstellungen von Ethnizität, wie sie später noch eingehender beleuchtet werden.

Drittens sieht Anderson einen Widerspruch in der umfangreichen politischen Machtentwicklung nationalistischer Ideologien und ihrer zeitgleichen philosophischen Inkonsistenz. Bezeichnend hierfür sei vor allem ihre Armut an großen Denkern und einflussreichen Philosophen.Footnote 22 In Anbetracht des hartnäckig anhaltenden Einflusses, den Thesen wie die Meineckes bis heute ausüben, ist dieser letzte Punkt jedoch kritisch zu beurteilen. So hat zur neueren, ethnischen Ausformung des Volks- und Nationenbegriffs beispielsweise auch Johann Gottfried Herder in erheblicher Weise beigetragen. Seine Theorie, der zufolge Sprache die Volkszugehörigkeit konstituiert und diese Volkszugehörigkeit durch das Erlernen der Muttersprache im frühsten Kindesalter quasi unwiderruflich festgeschrieben wird, wirkte weit über den deutschen Sprachraum hinaus und bis in die heutige Zeit hinein. „Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung und Aufwertung von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit wurde Volkszugehörigkeit damit zu einer quasinatürlichen positiven Eigenschaft, derer man sich kaum entäußern konnte“.Footnote 23 Insbesondere kontrastiert Herder die ‚Natürlichkeit‘ eines ‚organisch gewachsenen‘ ethnonationalen Staates mit der ‚artifiziellen Maschinerie‘ einer multiethnischen Staatsnation und liefert damit u. a. auch die philosophische Basis für Meineckes Argument der ‚überlegenen‘ deutschen Kulturnation:

„Die Natur erzieht Familien; der natürliche Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter. Jahrtausende lang erhält sich dieser in ihm, und kann, wenn seinen mitgeborenen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden: denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen, als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter Einen Scepter. Der Menschenscepter ist viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Theile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staats-Maschine nennt, ohne inneres Leben und Sympathie der Theile gegen einander.“Footnote 24

Herders Volksbegriff wird auch in Abschnitt 2.2 noch relevant sein, wenn es um die Begriffe Identität und Integration geht sowie um deren unterschiedliche Ausgestaltung in rezenten wissenschaftlichen Theorieentwürfen.

Die von Anderson ausgemachten Widersprüche zwischen tatsächlicher Modernität und wahrgenommener Antiquität, zwischen universellem Anspruch und partikularer Logik, zwischen gesellschaftlicher Macht und philosophischer Inkonsistenz lösen sich ihm zufolge auf, wenn man anfängt, Nationalismus nicht als politische Ideologie zu betrachten (wie etwa Kommunismus oder Liberalismus), sondern als kulturelles Konstrukt. Wie Gellner geht auch Anderson davon aus, dass Nationen eine kollektive menschliche Erfindung sind und keine historisch determinierte Tatsache. Gellner zieht daraus jedoch den Schluss, dass Nationen falsche oder fabrizierte Gemeinschaften seien. Sie stünden im Gegensatz zu echten Gemeinschaften, die es durchaus gebe, und mit denen sie zu analytischen Zwecken kontrastiert werden könnten. Anderson hingegen begreift jede Form von Gemeinschaft als kollektive Imagination. Imagination sei hierbei auch nicht, wie bei Gellner, im Sinne von Fälschung zu verstehen, sondern vielmehr als eine Art kreativer Schöpfungsakt. Die Frage sei also nicht so sehr ob, sondern vielmehr wie eine nationale Gemeinschaft sich selbst imaginiere:Footnote 25

„In an anthropological spirit, then, I propose the following definition of the nation: it is an imagined political community – and imagined as both inherently limited and sovereign.

It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion.

[…] The nation is imagined as limited because even the largest of them, encompassing perhaps a billion living human beings, has finite, if elastic boundaries, beyond which lie other nations. No nation imagines itself coterminous with mankind.

[…] It is imagined as sovereign because the concept was born in an age in which Enlightenment and Revolution were destroying the legitimacy of the divinely-ordained, hierarchical dynastic realm. […] nations dream of being free, and, if under God, directly so. The gage and emblem of this freedom is the sovereign state.

[…] Finally, it is imagined as a community, because, regardless of the actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is always conceived as a deep, horizontal comradeship. Ultimately it is this fraternity that makes it possible, over the past two centuries, for so many millions of people, not so much to kill, as willingly to die for such limited imaginings.“Footnote 26

In Bezug auf Andersons letzten Punkt – die Ausblendung von Hierarchien – weist Ana María Alonso darauf hin, dass Nationalismen sich häufig der Metaphorik von Familie, Verwandtschaft und Geschlecht bedienen.Footnote 27 Innerhalb einer Familie existieren Hierarchien (z. B. zwischen Generationen und / oder Geschlechterrollen) und affektive Beziehungen Seite an Seite. Bestehende Ungleichheiten und Machtgefälle schließen demnach eine kollektive Imagination als Gemeinschaft – und eine starke emotionale Bindung an selbige – nicht aus.Footnote 28 Wegen dieser wichtigen affektiven Komponente plädiert Alonso dafür, das Phänomen des Nationalismus als „structure of feeling“ zu begreifen „that transforms space into homeplace and interpolates individual and collective subjects as embodiers of national character (viewed as shared bio-genetic and psychic substance)“.Footnote 29 Mit Bezug auf Mikhail Bakhtin spricht sie von der Sakralisierung der Nation durch epische Diskurse.Footnote 30 In ähnlicher Weise verweist Anderson darauf, das nationalistische Imaginationen enorme Definitionsmacht entfalten und in dieser Hinsicht Parallelen zu religiösen Weltbildern aufweisen. Die Parallele zwischen Religion und Nationalismus tut sich v. a. auch deshalb auf, weil letzterer, gerade in Zeiten des rapiden gesellschaftlichen Wandels, ein Gefühl von kultureller Kontinuität vermittelt.Footnote 31

In der zeitgenössischen Literatur herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass nationalistische Ideologien unter dem Eindruck aufbrechender Gesellschaftsstrukturen und zerfallender Hierarchien entstanden sind, deren Niedergang wiederum durch umfängliche Modernisierungsprozesse sowie wachsende internationale Vernetzung – Industrialisierung und Globalisierung – verursacht wurde. Sie entwickelten sich als Abwehrhaltung gegen den raschen sozialen Umbruch und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit breiter Bevölkerungsschichten. Nationalismus ist ein Resultat der menschlichen Suche nach Sinn, nach neuen, dauerhaften Bindungen – und er gewann angesichts des rasanten Bedeutungsverlusts althergebrachter, v. a. auch religiöser Zugehörigkeiten umso mehr an Einfluss.Footnote 32

„With the ebbing of religious belief, the suffering which belief in part composed did not disappear. Disintegration of paradise: nothing makes fatality more arbitrary. Absurdity of salvation: nothing makes another style of continuity more necessary. What then was required was a secular transformation of fatality into continuity, contingency into meaning. As we shall see, few things were (are) better suited to this end than an idea of nation. If nation-states are widely conceded to be ‘new’ and ‘historical’, the nations to which they give political expression always loom out of an immemorial past, and, still more important, glide into a limitless future. It is the magic of nationalism to turn chance into destiny.“Footnote 33

Hier schließt sich nahtlos Eric Hobsbawms Theorie der Invented Traditions an, also der erfundenen Traditionen, die (vermeintliche) Kontinuität mit einer idealisierten Vergangenheit etablieren und dadurch Sinn stiften:

„‘Invented tradition’ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past.“Footnote 34

Die implizierte Kontinuität sei jedoch weitgehend künstlich, so Hobsbawm. Invented Traditions seien nicht die logische Konsequenz vergangener Ereignisse, sondern eine Reaktion auf neue, veränderte Situationen. Sie bilden die Vergangenheit nicht ab, sondern erschaffen sie vielmehr neu. Hobsbawm zufolge sind sie ein allgemeiner Strukturmechanismus, um der fortwährend im Wandel befindlichen Moderne Stabilität abzuringen, ihr durch simple Wiederholung den Anschein von Dauerhaftigkeit zu geben.Footnote 35

„A striking example is the deliberate choice of a Gothic style for the nineteenth-century rebuilding of the British parliament, and the equally deliberate decision after World War II to rebuild the parliamentary chamber on exactly the same basic plan as before.“Footnote 36

Invented Traditions setzten Bruchstücke realer sozialer Praxis als Bausteine einer neuartigen symbolisch-rituellen Sinnkonstruktion zusammen, die einerseits von Grund auf modern ist, andererseits aber den Eindruck historisch gewachsener Kontinuität erweckt.Footnote 37 Gerade in Zeiten des raschen gesellschaftlichen Umbruchs gewinnen Invented Traditions daher an Relevanz. Ritualisierte Praxis wird laut Hobsbawm erst dann bedeutsam, wenn reale Praxis nicht mehr existiert, wenn das Kontinuitätsbedürfnis der Menschen gestört ist und Ersatz fordert.Footnote 38

Gerade auch ethnologische Arbeiten haben die herausragende Bedeutung von Ritualen und Symbolen für politische Prozesse immer wieder betont und dabei die Dualität von instrumenteller und emotionaler Dimension des Politischen (wie auch des Nationalen) herausgestrichen.Footnote 39 Das Zusammenspiel von Ritualen, Symbolen und Diskursen wird auch für die vorliegende Arbeit noch weiterführend von Bedeutung sein und in Abschnitt 2.3 / 2.4 daher eingehend beleuchtet. Vorerst bleibt festzustellen, dass eine nationale Gemeinschaft, um sich selbst als solche imaginieren zu können, zwangsläufig ihre eigenen nationalen Traditionen erschaffen muss, um ihre einzelnen und oftmals weit verstreuten Mitglieder dauerhaft miteinander in Beziehung zu setzen. Durch eben diese Erfindung von gemeinsamer Tradition und idealisierter Geschichte entsteht der fälschliche Eindruck, Nationen seien uralte, historisch gewachsene, quasi organische Ausdrucksformen menschlicher Lebens- und Schicksalsgemeinschaften, die sich als unumstößliche Konstanten durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ziehen und die kollektive Identität ihrer Mitglieder von Grund auf definieren.Footnote 40

Damit ein Gedanke wie jener der Nation und eine Ideologie wie die des Nationalismus sich verbreiten und letztlich die enorme Macht entfalten konnten, die Anderson, Gellner, Hobsbawm und andere ihnen zuschreiben, bedurfte es neuer und anderer Formen der Kommunikation. „Ohne den Buchdruck, mit dessen Hilfe Flugschriften, Zeitungen und Bücher in hohen Auflagen zu erschwinglichen Preisen hergestellt werden konnten, und ohne Entstehung eines literarisch-publizistischen Marktes […] konnte es keine bürgerliche, politische Öffentlichkeit geben“.Footnote 41 Durch eben diese Öffentlichkeit, die sich inzwischen auch durch Radio, Fernsehen und nicht zuletzt das Internet konstituiert, konnte die nationale Idee, die zunächst eine Erfindung einiger weniger Intellektueller war, ihre Erfolgsgeschichte schreiben – einerseits weil moderne Massenmedien schlicht zur Verbreitung der Idee beitrugen, und andererseits weil neue Kommunikations- und Darstellungsweisen auch den individuellen Erfahrungshorizont erweiterten, also neue Formen des Denkens und Imaginierens möglich machten.Footnote 42 Vor diesem Hintergrund ist die nationale Idee im Kern ein medial vermittelter Diskurs, der aus sich selbst heraus Fakten schafft: Wenn Menschen glauben, dass sie eine nationale Gemeinschaft bilden, sind sie eine nationale Gemeinschaft.

Die Nation konstruiert sich maßgeblich via Inklusion, durch gemeinsame Imagination und gemeinsame, ritualisierte Symbolik. Ihre Kontinuität und Bedeutung erhält diese Art der nationalen Inklusion allerdings erst durch ihre zeitgleiche Exklusion gegenüber Außenstehenden:Footnote 43

„…the drive to homogenisation also creates stigmatised others; the external boundaries towards foreigners become frozen, and ‘unmeltable’ minorities within the country […] are made to stand out through their ‘Otherness’ and thereby confirm the integrity of the nation through dichotomisation.“Footnote 44

In diesem Sinne wird die Nation erst zur Nation durch ihre Grenzen. Nur durch das Gegenbild der Fremden, der Anderen, der Feinde kann sie zu einer inneren Einigung gelangen, die alle internen Widersprüche überwindet, ja, sie geradezu nichtig erscheinen lässt. „Im Krieg, so die Schlussfolgerung, wird die Nation nicht bedroht, sondern es entsteht im Gegenteil die Möglichkeit, die Nation, das Volk zu konstituieren.“Footnote 45 Hier schließt sich der Kreis zu anderen Formen von Identität, die sich – wie in der Einführung zu dieser Arbeit bereits festgestellt wurde – maßgeblich durch die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem definieren und dabei aus der Abgrenzung vom Fremden das Eigene erschaffen.Footnote 46

4.) Anthony D. Smith nimmt mit dem vierten und letzten Ansatz zur Definition des Nationenbegriffs eine Zwischenposition ein zwischen den objektivistischen und den radikal dekonstruktivistischen Erklärungsversuchen. „Er hält an der Annahme eines ‚ethnischen Ursprungs‘ der Nation fest, also daran, dass gemeinsame Herkunft mehr als eine ideologische Fiktion oder eine nachträgliche Konstruktion sei“.Footnote 47 Er wendet sich damit insbesondere gegen Andersons Imagined Communities und Hobsbawms Invented Traditions:

„Smith stellt drei generelle Kritikpunkte an den von ihm als sozialkonstruktivistisch bezeichneten Theorien heraus. Erstens: Wenn der Nationalismus so leicht zu dekonstruieren ist, warum glauben dann die meisten Menschen nach wie vor an ihn? Er ist tief in Alltagssprache und Lebenswelten eingebettet. Zweitens: Die Analyse des Nationalismus als von Eliten vorangetriebene Idee übersieht den Einfluss der unteren Schichten und kann die tiefe emotionale Bindung an die Nation nicht erklären. Drittens, und das ist zentral: Die ‚sozialkonstruktivistischen‘ neuen Nationalismustheorien schotten sich gegen vormoderne Faktoren ab, für sie determiniert die Gegenwart den Blick auf die Vergangenheit. Aber gerade die Vergangenheit, so Smith, formt die Art und Weise, wie die Nation in der Gegenwart vorgestellt wird.“Footnote 48

Smith betont den Einfluss antiker ethnischer Gemeinschaften auf die Nationsbildungsprozesse der Gegenwart,Footnote 49 hat es jedoch weitgehend versäumt, diese These empirisch zu untermauern. Ob moderne Nationen wie die der US-Amerikaner sich zielführend mit dem Rückgriff auf einen ‚realen‘ ethnischen Ursprung erklären lassen, bleibt daher fragwürdig. Schon Ernest Gellner erhob gegen Smith den Einwand, dass viele heutige Nationen keine offensichtlichen Kontinuitäten zu ethnischen Gruppen der Vergangenheit aufweisen und sich insofern nicht durch deren bloßes Fortwirken erklären lassen. Als Beispiel führte er die estnische Nation an, die nicht einmal in Form ihres Namens Bezüge zu möglichen ethnischen Vorgängern herstellt.Footnote 50

Derzeit wird die wissenschaftliche Debatte – ungeachtet der Kritik Anthony D. Smiths – von einer dekonstruktivistischen Perspektive dominiert, die Nationen als Konstrukte und Nationalismus als Diskurs begreift.Footnote 51 In der Tat lassen sich Smiths obengenannte Kritikpunkte mit Hilfe einer diskursanalytischen Perspektive allzu leicht entkräften. Die enorme Machtentfaltung und gesellschaftliche Verselbstständigung nationalistischer Ideologien sowie ihre geschichtsverzerrende und die Wahrnehmung beugende Wirkung sind eine direkte Folge ihres Diskurscharakters. Sowohl der Diskursbegriff an sich als auch die Funktionsweise dieses, insbesondere von Michel Foucault geprägten theoretischen Konzepts, werden in Abschnitt 2.4 dieser Arbeit noch eingehender erläutert werden. Nachdem nun aber im vorliegenden Abschnitt 2.1 zunächst die Dichotomisierung von Eigenem und Fremdem als Charakteristikum jeder nationalistischen Konstruktion herausgearbeitet wurde, soll im Folgenden zuerst einmal untersucht werden, inwiefern sich diese Dichotomie ggf. wieder auflösen oder überbrücken lässt, unter welchen Bedingungen also ein Grenzübertritt möglich und durch Integration Fremdes zu Eigenem wird.

2.2 Identität und Integration: Von Assimilation bis Kosmopolitismus

Wie bereits hinlänglich deutlich geworden ist, sind populäre Konzeptionen von Nation unauflöslich mit populären Konzeptionen von (sozialer) IdentitätFootnote 52 verknüpft. Klassischerweise entwerfen Nationalismen kollektive Visionen von imaginierter Gemeinschaft, beziehen diese auf ein gemeinsames Territorium sowie eine gemeinsame politische Organisationsform und befrachten sie überdies mit mehr oder minder statischen Vorstellungen von kollektiver Identität. Steven Vertovec trägt diesem Dreiklang mit seinem IBO-Modell Rechnung:

„A key device for constructing the national imaginary is the conceptual triad identities-borders-orders [IBO]. In this formulation, (a) some sense of cultural identity is presumed to characterize a people; (b) this identity/people is believed to be contiguous with a territory, demarcated by a border; (c) within the border, laws and a moral economy underpin a specific social and political order. This order, which is conceived to be different from orders outside the border, both draws on and reinforces the sense of collective identity.“Footnote 53

Im vorangegangenen Abschnitt 2.1 ist die nationalistische Bedeutung von kultureller Identität – oder Ethnizität – bereits in besonderem Maße hervorgetreten. Ethnizität – nach Eriksen definiert als „relationships between groups which consider themselves, and are regarded by others, as being culturally distinctive“Footnote 54 – ist für nationalistische Ideologien auf zweifache Weise relevant. Zum einen wird nationale Identität (im Sinne eines objektivistischen Nationenverständnisses) häufig mit ethnischer Identität gleichgesetzt, zum anderen werden ethnische Minderheiten innerhalb des nationalen Staates oft als kulturell Fremde essentialisiert und auf Grundlage dessen stigmatisiert.Footnote 55 Da ethnische Identität neben der kulturellen Homogenität von Gruppenmitgliedern auch deren gemeinsame Abstammung betont, gibt es überdies eine fließende Grenze zwischen Vorstellungen von Ethnizität und Vorstellungen von ‚Rasse‘.Footnote 56 ‚Rasse‘ ist ein kulturelles Konstrukt und als solches ein ideologisches Denkmodell des Rassismus. Rassistische Vorstellungen gehen davon aus, dass Identität und Persönlichkeit eines Menschen maßgeblich durch erbliche Faktoren bedingt sind und dass sich eben diese erblichen Faktoren systematisch zwischen Menschengruppen unterscheiden.Footnote 57 Vor diesem Hintergrund definiert Silverstein das Konzept der ‚Rasse‘ wie folgt:

„…race is defined as a cultural category of difference that is contextually constructed as essential and natural – as residing within the very body of the individual – and is thus generally tied, in scientific theory and popular understanding, to a set of somatic, physiognomic, and even genetic character traits.“Footnote 58

In der deutschen wissenschaftlichen Debatte hatte der Rassebegriff v. a. im nationalsozialistischen Dritten Reich hohe Konjunktur, aber auch schon vor dieser Zeit waren Vorstellungen von ‚Rasse‘ weit verbreitet. Friedrich Meineckes These von der quasi natürlichen deutschen Kulturnation weckt starke Assoziationen mit rassistischer Ideologie. Ein weiteres Beispiel in diese Richtung ist überdies das vom Hamburger Museum für Völkerkunde (!) geförderte Werk Die Elbinsel Finkenwärder von Walter Scheidt und Hinrich Wriede aus dem Jahr 1927. In der ersten Hälfte dieses Buches setzt sich Wriede mit dem kulturellen ‚Volkstum‘ besagter Elbinsel auseinander. Die zweite, von Scheidt verfasste Hälfte ist eine rassenkundliche Abhandlung, die sich mit der Katalogisierung und Klassifizierung äußerlicher Körpermerkmale befasst, um anhand selbiger auf den ‚typischen Finkenwärder‘ bzw. die ‚typische Finkenwärderin‘ (und damit letztlich auch auf die ‚typischen Norddeutschen‘) zu schließen.Footnote 59

Ganz im Gegensatz zu solchen fragwürdigen historischen Vorläufern gibt es inzwischen einen internationalen wie interdisziplinären wissenschaftlichen Konsens darüber, dass ‚Menschenrassen‘ als biologische Tatsache nicht existieren – erstens, weil es schon immer Vermischung und Austausch zwischen den als ‚Rassen‘ bezeichneten Menschengruppen gab, zweitens, weil es innerhalb besagter Gruppen häufig größere genetische Varianz gibt, als systematische Unterschiede zwischen ihnen festzustellen wären, und drittens, weil kein offensichtlicher Zusammenhang besteht zwischen kulturellen und biologischen Charakteristika.Footnote 60 Nichtsdestoweniger sind Vorstellungen von ‚Rasse‘ als Folk Concept immer noch präsent in der öffentlichen Debatte und üben nach wie vor einen machtvollen Einfluss aus auf kollektive Konstruktionen von Identität im Allgemeinen und kollektive Konstruktionen von Nation im Besonderen. Rassistische Ideologien richten sich dabei auch und v. a. gegen migrantische Minderheiten im eigenen Staat.Footnote 61 So bemerkt Silverstein:

„In spite of repeated critiques of race as a scientific concept and analytic model, race remains salient in the everyday lives of immigrants in Europe, as an inescapable social fact whose vitality and volatility only appear to be increasing.“Footnote 62

Den Prozess der Essentialisierung, Naturalisierung und / oder Biologisierung von sozialen Merkmalen (wie etwa Kultur, Identität, Klasse, soziale Rolle, etc.) bezeichnet Silverstein als Racialisation (vielleicht am besten zu übersetzen mit Rassifizierung).Footnote 63 Rassifizierung und Rassismus sind gleichermaßen mächtige Instrumente sozialer Grenzziehung und Stigmatisierung. Ihr Wirken muss daher bei jeder Analyse nationalistischer Glaubenssysteme genauestens beobachtet werden. Dies gilt auch und gerade vor dem Hintergrund, dass rezente rassistische Ideologien vermehrt von rein biologistischen Argumentationslinien Abstand nehmen und stattdessen kulturelle Differenz als „immutable basis of identity and belonging“ inszenieren.Footnote 64 Dieser so genannte New RacismFootnote 65 wird in der Literatur an verschiedener Stelle als Kulturfundamentalismus betiteltFootnote 66 und von Carola Lentz wie folgt beschrieben:

„Die Vorstellung von kulturellen Eigenheiten, von Fremdheit als Integrationshindernis, ist weit verbreitet. Einzelne Migranten oder auch Migrantengruppen werden als typische Vertreter einer spezifischen Kultur dargestellt und wahrgenommen. Kultur wird dabei regelrecht zum Kampfbegriff […]. Untersucht man die rhetorischen Strategien in der öffentlichen Debatte über Migration, tritt der Begriff Kultur oft an die Stelle von älteren, heute als politisch inkorrekt gebrandmarkten Begriffen. Es ist nicht mehr die Rede von Rassenunterschieden. Aber: ‚Kultur‘ wird wie einst der Rassebegriff verwendet; über die unausweichliche Determination menschlichen Verhaltens durch Kultur wird gesprochen wie einst über die Prägung durch Rasse. Man könnte diese Sichtweise als Kulturfundamentalismus bezeichnen, in Anlehnung an den Fundamentalismusbegriff im Blick auf Religion. Und diesen Kulturfundamentalismus finden wir interessanterweise nicht nur bei rechtsnationalen Verteidigern einer deutschen Leitkultur, sondern auch bei linksliberalen Verfechtern eines fröhlichen Multikulturalismus; er schwingt sogar in Deklarationen der Vereinten Nationen über kulturelle Rechte von Individuen mit, insbesondere aber Rechte von Kollektiven auf ihre ‚eigene Kultur‘.“Footnote 67

Kulturfundamentalismus (oder Essentialismus, wie er in der Ethnologie klassischerweise genannt wird), wird in Abschnitt 2.3 noch weiterführend von Bedeutung sein, wenn es um die analytische Betrachtung des Kulturbegriffs geht. Vorerst bleib an dieser Stelle anzumerken, dass durch die Ausdehnung des wissenschaftlichen Rassismusbegriffs auf kulturfundamentalistische Ideologien die Grenze zwischen Ethnizität und ‚Rasse‘ umso mehr verschwimmt. So argumentiert u. a. Eriksen:

„…the boundaries between race and ethnicity tend to be blurred, since ethnic groups have a common myth of origin, which relates ethnicity to descent, which again makes it a kindred concept to race. It could moreover be argued that some ‘racial’ groups are ethnified, such as American blacks who have gradually come to be known as African-Americans; but also that some ethnic groups are racialised, as when immutable traits are accorded to ethnic minorities; and finally, there are strong tendencies toward the ethnification of certain religious groups, such as European Muslims. Formerly known by their ethnic origin, they are increasingly lumped together as primarily ‘Muslims’. Finally [the] notion of new racism seems to explode the analytical usefulness of the distinction. The new racism talks of cultural difference instead of inherited characteristics, but uses it for the same purposes: to justify a hierarchical ordering of groups in society.“Footnote 68

Eriksen weist hier daraufhin, dass neben ethnischen und rassistischen Identitätskonstruktionen, auch religiöse Identität im nationalistischen Kontext eine Rolle spielt. Die von Eriksen angesprochene Essentialisierung und Ethnisierung (oder Rassifizierung?) muslimischer (Minderheiten-)Identität ist dabei nur ein Beispiel unter vielen (wenn auch ein aktuell besonders relevantes). Gerade im deutschen Kontext waren darüber hinaus auch andere religiöse Gruppen Gegenstand nationalistischer Abwehrhaltung. Das prominenteste Beispiel (nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus aber währenddessen auf horrible Weise) bildet hier zweifelsohne die Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung deutscher Juden und Jüdinnen. Im 19. Jahrhundert war für das nationale Selbstverständnis überdies die identitäre Unterscheidung zwischen Protestant_innen und Katholik_innen maßgebend. So berichtet Georg Elwert:

„Es wurde gefragt, ob ein Katholik Deutscher sein könne. Wer einer Autorität jenseits der Alpen (daher das Schimpfwort ultra-montan) gehorcht, kann zumindest nicht loyal sein.“Footnote 69

Die Essentialisierung, Ethnifizierung und (v. a. im jüdischen Fall) Rassifizierung religiöser Minderheiten ist demnach ein überaus verbreitetes Phänomen. Ebenso verbreitet ist zudem die bereits in Abschnitt 2.1 angesprochene quasi-religiöse Aufladung nationalistischer Ideologien im Sinne einer (säkularen) Staatsreligion. In Bezug auf die USA nutzt Simon Coleman (im Anschluss an Robert Bellah) für diese Form des Nationalismus den Begriff civil religion. Religiöse Elemente eines konservativen Protestantismus werden mit staatsnationalen Idealen von Pluralismus und Säkularismus sowie Vorstellungen von einer gottbefohlenen nationalen Mission vermengt, wodurch eine Art überkonfessionelle Staatsreligion entsteht, die durch die Polysemie ihrer Rituale und Symbole (trotz ihres christlichen Ursprungs) mit unterschiedlichsten Weltanschauungen kompatibel bleibt. Die civil religion leistet einen maßgeblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung einer gemeinsamen nationalen Identität (über religiöse Grenzlinien hinweg) und bietet dennoch auch Anknüpfungspunkte für ein Wiedererstarken fundamental protestantischer Glaubenssysteme.Footnote 70

Die Verquickung von Nation und Religion, wie Coleman sie in den USA beobachtet, ist nur ein Fall von vielen. Die im Sammelband Questioning the Secular Faith von David Westerlund herausgegebenen Arbeiten zeigen weitere Beispiele für den Einfluss religiöser Weltbilder im politischen Kontext.Footnote 71 Ohne weiterführend in diese Thematik vordringen zu wollen, lässt sich feststellen, dass Ethnizität, ‚Rasse‘ und religiöse Identität ineinanderfließende Konstruktionen sind, die im Prozess der nationalen Abgrenzung besondere Bedeutung erlangen. In diesen Dreiklang fügen sich des Weiteren subnationale (regionale) und transnationale (oder postnationale?) Identitäten ein. So weisen verschiedene Autor_innen darauf hin, dass die Identifikation mit regionalen kulturellen Spezifika oft und gern von nationalistischen Ideologien vereinnahmt wird, um über die emotionale Bindung an die (erlebbare) lokale Ebene eine emotionale Bindung an die (abstrakte) Nation zu vermitteln. Verkaaik demonstriert dies anhand von Einbürgerungsfeiern in den Niederlanden, die sich – als nationales Ritual – lokaler folkloristischer Kulturfragmente bedienen, um eine rituell-symbolische Vision von Nation zu inszenieren.Footnote 72 Unter Verweis auf ethnologische Vorarbeiten identifiziert der Soziologe Florian Elliker in seiner diskursanalytischen Untersuchung der Schweizer Volksinitiative für demokratische Einbürgerung aus dem Jahr 2008 (u. a.) eine Konzeption der schweizerischen Nation als föderatives Konglomerat lokal verwurzelter, ‚organischer‘ und konsequent selbstbestimmter Gemeinschaften.Footnote 73 Wade stellt in Bezug auf Kolumbien fest, dass selbst regionale Musikstile, die ihren Ursprung in marginalisierten Bevölkerungsgruppen haben, der privilegierten Mehrheit als nationales Symbol dienen können, wenn die verschiedenen mit der Musik assoziierten (positiven wie negativen) Bedeutungsgehalte in der öffentlichen Wahrnehmung entsprechend verhandelt und gewichtet werden.Footnote 74 Clarke wiederum findet bei seiner Untersuchung von Identitätskonstruktionen in Plymoth und Bristol heraus, dass viele seiner Informant_innen sich eine Aufwertung ihrer englischen Identität gegenüber / als Teil von ihrer britischen (nationalen) Identität wünschen. Während ‚britisch Sein‘ eher mit transnationaler Einbindung in Europa und das weitere globale System assoziiert wird (im Sinne einer trans- oder postnationalen Identität), steht ‚englisch Sein‘ für die lokale emotionale Verwurzelung.Footnote 75 In ähnlicher Weise beobachtet Forsythe in der BRD der 1980er Jahre, dass in der Bevölkerung neben einer national-deutschen auch verschiedene regional-deutsche (v. a. im süddeutschen Raum) sowie eine starke trans- oder postnationale EU-Identifikation zu beobachten sind. Insbesondere diese transnationale europäische Identitätskategorie ist so mächtig, dass Deutsche, die diese Kategorie für sich in Anspruch nehmen, feindselig reagieren, wenn man andere Nord- und Mitteleuropäer_innen ihnen gegenüber als Ausländer_innen bezeichnet.Footnote 76

Wie sich gezeigt hat, gibt es eine lange Liste potenzieller Identitätskonstruktionen, die im Rahmen nationalistischer Ideologien zu Bedeutung gelangen können. Diese Liste ist hier in keiner Weise erschöpfend dargestellt. So wäre u. a. auch politische Identifikation zu nennen, beispielsweise in Form der kollektiven Imagination einer demokratischen Staatsnation, wie Brubaker sie Frankreich attestiert,Footnote 77 oder etwa in Bezug auf die tragende Rolle, welche die politische Revolutionsgeschichte (v. a. in intellektuellen Kreisen) für die Definition von kubanischer (nationaler) Identität spielt.Footnote 78 Einige Autor_innen (v. a. aus dem feministischen Kontext) haben überdies argumentiert, dass Gender und sexuelle Identität für das Verständnis nationaler Imaginationen von ebensolcher Relevanz sind.Footnote 79 Ihr Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte ist überaus bereichernd und fruchtbar, kann hier jedoch nicht im Detail erörtert werden. Stattdessen soll – nachdem nun zur Genüge demonstriert wurde, dass nationalistische Ideologien identitäre Grenzlinien ziehen – im Folgenden gefragt werden, wie diese Grenzlinien ggf. überwunden und (essentialisierte) Fremde in die Nation (sowie den dazugehörigen Staat) integriert werden können.

Integration: Wenn das Fremde zum Eigenen wird

In Politik und Medien ist der Begriff Integration ständig präsent. Das Konzept wird oft und gerne bemüht, um damit in den unterschiedlichsten Kontexten die unterschiedlichsten Dinge zu bezeichnen. Integration ist Gegenstand hitziger Diskussionen, Dreh- und Angelpunkt unvereinbarer, diametral auseinanderklaffender politischer Positionen. Da der Begriff dabei nur äußerst selten definiert wird, ist er zu einem unscharfen Containerkonzept verkommen, das verschiedenste Ansätze, Perspektiven und Theorien umfassen kann und dadurch in der öffentlichen Debatte zur Legitimation gänzlich gegenläufiger Sichtweisen herangezogen wird. Vor diesem Hintergrund ist es unabdingbar, der Analyse populärer Folk Concepts von Integration eine Analyse ihrer wissenschaftlichen Gegenstücke voranzustellen. Diese wissenschaftlichen Gegenstücke lassen sich ihrerseits grob in zwei separate Lager aufspalten: Deskriptive Ansätze und normative Ansätze.

Deskriptive Ansätze haben einen beschreibenden Charakter. Ihr Anspruch ist es, reale gesellschaftliche Zusammenhänge empirisch zu erfassen und theoretisch einzuordnen.Footnote 80 Sie zeichnen sich v. a. dadurch aus, „daß unmittelbar empirisch ermittelte Sachverhalte zu relativ einfachen Generalisierungen verarbeitet werden. Wissenschaftslogisch gesehen handelt es sich um die Verallgemeinerung induktiv gewonnener Erkenntnisse zu theoretischen Aussagen, unter die empirisch überprüfte Fälle subsumiert werden“.Footnote 81 Normative Ansätze entwerfen hingegen „systematische, in sich geschlossene Argumentationszusammenhänge zur Bewertung politischen Handelns und politischer Ordnung“.Footnote 82 Sie formulieren also die Vision eines idealen Zustands, den es zu erreichen gilt und an dem die Realität sich messen lassen muss. Auf diese Weise unterziehen sie den Status quo einer kritischen Diagnose.Footnote 83

Im weiteren Verlauf dieses Unterkapitels sollen beide Strömungen von Integrationstheorien – die deskriptive wie die normative – näher beleuchtet werden. Da die renommiertesten Varianten beider Traditionen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen als der Ethnologie geprägt wurden, wird im Anschluss daran eine kritische Betrachtung des interdisziplinären Erkenntnisstandes aus ethnologischer Sicht erfolgen. Zu diesem Zweck wird ein theoretischer Rückgriff auf die obigen Ausführungen zu Identität von Nöten sein. Insbesondere das ethnologische Verständnis von Ethnizität gelangt dabei zu entscheidender Bedeutung.

Deskriptive Theorien

Einer der wichtigsten und meistzitierten Vertreter der deutschsprachigen Integrationsforschung ist der Soziologe Hartmut Esser. Er verfolgt einen deskriptiven Ansatz, dessen Ziel es ist, aus empirischen Erkenntnissen allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. In einem ersten Schritt definiert er Integration wie folgt:

„Unter Integration wird – ganz allgemein – der Zusammenhalt von Teilen in einem ‚systemischen‘ Ganzen verstanden, gleichgültig zunächst worauf dieser Zusammenhalt beruht. Die Teile müssen ein nicht wegzudenkender, ein, wie man auch sagen könnte, ‚integraler‘ Bestandteil des Ganzen sein. Durch diesen Zusammenhalt der Teile grenzt sich das System dann auch von einer bestimmten ‚Umgebung‘ ab und wird in dieser Umgebung als ‚System‘ identifizierbar.“Footnote 84

Des Weiteren können, so Esser, zu analytischen Zwecken zwei Dimensionen von Integration unterschieden werden. Er bezieht sich dabei auf den britischen Soziologen David Lockwood: Systemintegration bezeichnet gewisse Beziehungen zwischen den Teilen eines Systems. Sozial-integration bezeichnet gewisse Beziehungen zwischen dessen Akteur_innen bzw. die Einbeziehung von Akteur_innen in das System selbst.Footnote 85 Obwohl System- und Sozialintegration zwei verschiedene Prozesse sind, die ggf. auch unabhängig voneinander verlaufen können, sind sie nicht gänzlich voneinander entkoppelt. So setzt Systemintegration, laut Esser, immer auch ein gewisses Mindestmaß an Sozialintegration voraus, um dauerhaft zu funktionieren.Footnote 86

Wenn über die Integration von Migrant_innen diskutiert wird, ist damit zumeist die Dimension der Sozialintegration angesprochen.Footnote 87 Esser unterscheidet hierbei vier verschiedene Varianten:

1.) Kulturation ist die Aneignung von Wissen und Kompetenzen, die Akteure und Akteurinnen für „ein sinnhaftes, verständiges und erfolgreiches Agieren und Interagieren“ in der Gesellschaft benötigen, so v. a. „die Kenntnis der wichtigsten Regeln für typische Situationen und die Beherrschung der dafür nötigen (kulturellen) Fertigkeiten, insbesondere sprachlicher Art“.Footnote 88 Dabei ist die Enkulturation – der erstmalige Erwerb von Wissen und Kompetenzen durch Sozialisation in die Herkunftsgesellschaft – von der Akkulturation – das Umlernen, bzw. Neulernen von Regeln und Fertigkeiten beim Wechsel in eine anderer Gesellschaft – zu unterscheiden.Footnote 89

2.) Platzierung bezeichnet „die Besetzung einer bestimmten gesellschaftlichen Position durch einen Akteur“ oder eine Akteurin, also deren Eingliederung „in ein bereits bestehendes und mit Positionen versehenes soziales System“.Footnote 90 Prominente Beispiele sind die Besetzung beruflicher Stellen und – von besonderem Interesse im Kontext dieser Arbeit – die Verleihung staatsbürgerschaftlicher Rechte im Zuge der Einbürgerung.Footnote 91 Platzierung steht laut Esser in enger Beziehung zur Kulturation. Einerseits kann eine vorteilhafte Platzierung maßgeblich zum Erwerb bestimmter Kompetenzen beitragen, andererseits „ist die Kulturation oft ein wichtiger Filter […] für die Plazierung (sic!) der Akteure“ und Akteurinnen.Footnote 92 Für Esser sind durch Kulturation erworbene Wissensbestände und Kompetenzen demnach eine Form von HumankapitalFootnote 93, welches (mehr oder weniger) zwingend erforderlich ist, um gewinnbringende Positionen in der Gesellschaft zu erreichen.Footnote 94

3.) Interaktion ist „ein Spezialfall des sozialen Handelns, bei dem sich die Akteure wechselseitig über Wissen und Symbole aneinander orientieren und so, und über ihre Orientierungen und ihr Handeln, Relationen miteinander bilden.“Footnote 95 Dies tun sie durch „gedankliche Koorientierung“, „symbolische Interaktion“ sowie „Kommunikation“ und durch die Aufnahme von „sozialen Beziehungen“.Footnote 96 Der Erfolg von Interaktionen beruht dabei immer auf wechselseitigen Bemühungen. Angebote zur Interaktion müssen gemacht und auch angenommen werden, damit Sozialintegration auf diesem Wege funktionieren kann. Hierfür müssen Platzierung und Kulturation im Vorfeld die notwendigen Voraussetzungen schaffen.Footnote 97

4.) Identifikation bedeutet, dass der Akteur / die Akteurin sich selbst und das soziale System „als eine Einheit sieht und mit ihm ‚identisch‘ wird“, wobei diese Identifikation verschiedene Formen und Intensitäten annehmen kann.Footnote 98 Sie kann von der Entwicklung einer kollektiven Identität (unter Zurückstellung der individuellen Bedürfnisse) über eine Art „Bürgersinn“ (Unterstützung des Systems im Austausch gegen die Garantie bürgerlicher Rechte und Freiheiten) bis hin zur bloßen Hinnahme der gesellschaftlichen Bedingungen (ohne jede aktive Unterstützung) reichen.Footnote 99 So wie die Interaktion resultiert auch die Identifikation letztlich aus einer erfolgreichen Platzierung und Kulturation der Zugewanderten.Footnote 100

Neben den vier Varianten der Umsetzung von Sozialintegration differenziert Esser überdies vier unterschiedliche Verlaufsformen, bzw. Ausgänge derselben:

1.) Marginalität ist nach Essers Verständnis ein typisches Ergebnis von Migration in der ersten Generation. Dabei lösen sich die Akteur_innen von ihrem Herkunftsland (bzw. von ihrer ethnischen Community im Zielland), um dadurch die Sozialintegration (Platzierung, Kulturation, Interaktion, Identifikation) in die Aufnahmegesellschaft zu erreichen. Diese misslingt allerdings, bzw. kann aufgrund mangelnder Möglichkeiten und Potenziale nur unzureichend vollzogen werden. Daraus folgt eine völlige Herauslösung aus allen sozialen Zusammenhängen sowohl der ethnischen Gruppe als auch der Gesamtgesellschaft. „Der marginale Akteur [respektive die Akteurin] ist ein ausgestoßener, einsamer und heimatloser Fremder, wohin auch immer er geht“.Footnote 101

2.) Segmentation bezeichnet die Eingliederung in den sozialen Kontext der eigenen ethnischen Community OHNE Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft. Solche ethnischen Gemeinden fungieren „oft gerade wieder für die erste Generation als Auffangstation und puffern manche Belastung aus der Migrationssituation wirksam ab“, verhindern aber gleichzeitig die weitere Sozialintegration in die Gesamtgesellschaft (Platzierung, Kulturation, Interaktion, Identifikation), ggf. auch der nachfolgenden Generationen.Footnote 102

3.) Mehrfachintegration in die ethnische Community UND die Mehrheitsgesellschaft ist Esser zufolge eine eher theoretische Möglichkeit der Sozialintegration und fällt empirisch betrachtet kaum ins Gewicht. „Sie verlangt die soziale Integration in mehrere, kulturell und sozial unterschiedliche Bereiche gleichzeitig. Manifestationen wären die Mehrsprachigkeit, die Mischung der sozialen Verkehrskreise und eine ‚doppelte‘ oder mehrfache Identifikation oder ‚Identität‘“.Footnote 103 Dies sei nur für Diplomat_innenkinder, Akademiker_innen oder andere Kosmopolit_innen ein realistisches Szenario. Gerade auch die Entwicklung multipler Identitäten bleibt laut Esser eine absolute Ausnahmeerscheinung. Allein schon aufgrund der allgemeinen psychologischen Neigung „kollektive Zugehörigkeiten in einfachen ‚binären‘ Mustern zu strukturieren“, sei Mehrfachidentifikation ein äußerst ungewöhnlicher Sonderfall.Footnote 104

4.) Assimilation ist nach Essers Schlussfolgerung die einzig zielführende und realistische Variante der Sozialintegration, nämlich die alleinige oder zumindest maßgebliche Orientierung an der Aufnahmegesellschaft unter Loslösung aus allen integrativen Kontexten der Herkunftsgesellschaft (inklusive einer etwaigen im Zielland befindlichen ethnischen Community). Esser definiert Assimilation allerdings nicht als vollständige kulturelle Angleichung. Vielmehr versteht er darunter die Beseitigung systematischer Unterschiede „in der Verteilung gewisser Eigenschaften und Ressourcen über die verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft“ hinweg.Footnote 105 Ziel ist also nicht die kulturelle Verschmelzung des Individuums mit der Masse. Kulturelle Vielfalt bleibt möglich, aber eben nur auf individueller Ebene. „Insofern bedeutet die so verstandene Assimilation letztlich die ‚Individualisierung‘ der Eigenschaften und Merkmale und die Auflösung ‚kollektiver‘ Grenzen“, insbesondere in Form von eigenständigen ethnischen Gruppen.Footnote 106 Ein gewisses Maß an Kulturation ist laut Esser darüber hinaus immer erforderlich, da moderne Gesellschaften zwangsläufig eine dominante Leitkultur aufweisen. Ihre Institutionen sind von vordefinierten kulturellen Regeln bestimmt und die Interaktion mit ihnen verlangt daher ein spezifisches kulturelles Wissen.Footnote 107 Jenseits dieses Mindestmaßes sind Kultur und Religion jedoch als Privatsache zu betrachten und gesellschaftlich auch als solche zu behandeln.Footnote 108

Assimilationstheorien wie diejenige Essers haben in den Sozialwissenschaften eine lange Tradition, insbesondere in den USA, wo sie ursprünglich entwickelt wurden:

„Lange Zeit galt, trotz aller Kritik in vielen Details, die Hypothese von der schließlichen ‚Assimilation‘ der fremdethnischen Migranten als letztlich zutreffende Zusammenfassung der empirischen Vorgänge in den klassischen Einwanderungsländern wie die USA, Kanada oder Australien. Zwar ist das Konzept dieser klassischen Assimilationstheorie [Classic Theory of Assimilation] von Beginn an umstritten gewesen, und selbst in den deutlichsten Formulierungen, etwa bei Park, Gordon, Price oder Eisenstadt, finden sich immer wieder auch einschränkende Bemerkungen. Spätestens jedoch im Zuge der so genannten ‚New Immigration‘ nach 1965 hat es speziell in den USA erhebliche Diskussionen um seine Haltbarkeit gegeben.“Footnote 109

Ging man ursprünglich von der Desintegration ethnischer Gruppengrenzen im Generationenverlauf und der Auflösung von kultureller Vielfalt im Melting Pot der US-amerikanischen Gesellschaft aus, so wurde im Zuge der sogenannten New Immigration (gemeint sind neue Immigrationswellen aus nicht-europäischen LändernFootnote 110) mehr und mehr offensichtlich, dass ethnische Kategorien sich in der Tat eher verstetigen und eine fortschreitende gesellschaftliche Pluralisierung herbeiführen.Footnote 111 Als Antwort darauf wurden neue theoretische Ansätze entwickelt. Der prominenteste von ihnen ist die Theory of Segmented Assimilation:

„In opposition to the standard theory of assimilation, which envisions incorporation as involving ultimately some form of minority-group inclusion in the societal mainstream, linked to a decline in the disadvantages or ethnic penalties connected with immigrant origins, the theory of segmented assimilation posits three incorporation modalities. One is mainstream assimilation, but another is assimilation into a disadvantaged minority status, frequently described as ‘downward’ assimilation. The third option is a pluralist one – ‘parallel integration’ one could call it – whereby members of an immigrant minority are able to extract social and economic advantages by keeping some aspects of their lives within the confines of an ethnic matrix (e.g. ethnic economic niches).“Footnote 112

Die Theory of Segmented Assimilation basiert im Wesentlichen auf drei Grundsatzüberlegungen: 1.) Gesellschaften sind niemals homogen. In jeder Gesellschaft gibt es benachteiligte soziale Gruppen und insofern ist nicht jede Assimilation an die Aufnahmegesellschaft grundsätzlich positiv zu bewerten. Assimilation an sozial und ökonomisch schlechter gestellte Milieus kann erhebliche negative Folgen für die Assimilierenden sowie deren Folgegenerationen mit sich bringen und eine dauerhafte soziale Stagnation bewirken. 2.) Ethnische Ressourcen (Netzwerke, Sprache, etc.) können einer solchen Downward Integration entgegenwirken. Die Classic Theory of Assimilation hatte diesen Gedanken noch abgelehnt und ethnische Kapitalien eher als nutzlos oder sogar als Defizit betrachtet. 3.) Anders als die Classic Theory of Assimilation geht die Theory of Segmented Assimilation außerdem davon aus, dass die einzelnen Varianten von Assimilation (strukturell, kulturell, sozial, identifikativ) nicht eindimensional miteinander verkoppelt sind. So ist strukturelle Eingliederung in die Gesellschaft (Platzierung) durchaus auch ohne kulturelle Assimilation (Kulturation) möglich, beispielsweise in Form von Parallel Integration (Segmentation).Footnote 113

Gegenüber der Theory of Segmented Assimilation ist durch Soziologen wie Richard Alba und Victor Nee kritisch angemerkt worden, dass die New Immigration tatsächlich gar nicht so grundsätzlich verschieden von früheren Immigrationswellen verläuft, wie dies zu einem frühen Zeitpunkt angenommen wurde. Neuere empirische Befunde weisen darauf hin, dass Mainstream Assimilation nach wie vor eine weitaus größere Rolle spielt, als ihr von der Theory of Segmented Assimilation zuerkannt wird. Als Reaktion darauf entstand die Neo-Assimilation Theory von Alba und Nee.Footnote 114 Diese rückt von der Homogenitätsbehauptung der klassischen Assimilationstheorie ab und erkennt an, dass moderne Gesellschaften heterogene Gebilde sind:

„Zwar gebe es nach wie vor in jeder Gesellschaft einen […] Mainstream, allein weil es, bei aller postmoderner Fluidität, in jeder Gesellschaft auch einige zentrale institutionelle und kulturelle Kernbereiche gebe. Dieser Mainstream aber wandele sich beständig, wenngleich deutlich träger als die Einzelvorgänge individueller Reaktionen, wobei an der Konstitution des Mainstreams im Prinzip alle Gruppen und kulturellen Einflüsse ‚interaktiv‘ beteiligt sind.“Footnote 115

Des Weiteren übernimmt die Neo-Assimilation Theory die drei Inkorporationsvarianten der Theory of Segmented Assimilation, kehrt dann aber wieder zur Kernaussage der klassischen Assimilationstheorie zurück:Footnote 116

„Insgesamt und über die längere Sicht hinweg sorgen die grundlegenden Mechanismen und strukturellen Bedingungen in den Aufnahmegesellschaften doch, wie schon bei der ‚Old Immigration‘, dafür, dass es zur Anpassung der kulturellen Gewohnheiten, zu sozialem Aufstieg, zur Angleichung des Wohnverhaltens und der sozialen Kontakte kommt und dass sich die ethnischen Identifikationen und Identitäten zu bloß symbolisch und individuell gepflegten Relikten ohne jede weitere Bedeutung verdünnen – wenngleich auch wieder erst in einem längeren Prozess über mehrere Generationen hinweg und auch nicht bei allen Gruppen gleichermaßen rasch oder komplett.“Footnote 117

Die Parallele zu Essers weiter oben dargelegtem Theorieentwurf ist nicht zu übersehen. Bis heute sind assimilationstheoretische Ansätze in den Sozialwissenschaften äußerst dominant und werden von Politik und Öffentlichkeit gerne rezipiert. So wurde zum Beispiel die Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zum Einbürgerungsverhalten von Ausländerinnen und Ausländern im Jahr 2011 auf der Grundlage von Essers theoretischen Überlegungen konzipiert.Footnote 118 Alle hier vorgestellten assimilationstheoretischen Ansätze haben dabei einige Aspekte (oder Probleme) miteinander gemein:

1.) Sie versuchen, aufgrund einzelner empirischer Befunde allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren, wozu eine ganze Reihe nicht immer ganz unproblematischer Annahmen erforderlich sind. So neigen sie beispielsweise dazu, Erkenntnisse über bestimmte Gruppen von Menschen auf gesamte Gesellschaften einerseits und auf das einzelne Individuum andererseits zu übertragen, woraus zwar durchaus pragmatisch handhabbare Modelle entstehen, es allerdings zweifelhaft bleibt, ob diese Modelle auch tatsächlich eine universelle Anwendung rechtfertigen.

2.) Alle vorgestellten assimilationstheoretischen Ansätze – inklusive Essers – gehen von ethnischen Gruppen als selbstverständlichen Einheiten der Betrachtung aus.Footnote 119 In diesem Sinne neigen sie dazu, Gruppenidentitäten und Gruppengrenzen auf unzulässige Weise zu essentialisieren sowie zu problematisieren. Besonders deutlich wird dies anhand von Essers oben dargelegter These, dass Marginalität für Mitglieder der ersten Zuwanderndengeneration der einzig realistische Ausgang sei.

3.) Assimilationstheorien beinhalten immer auch Aussagen zum Zusammenspiel und zur Verträglichkeit unterschiedlicher kultureller Prägungen. Dabei versäumen sie es allerdings zumeist, Kultur adäquat zu definieren. Oftmals liegt ihren Überlegungen ein essentialistisch (oder kulturfundamentalistisch?) ausgeformter (und aus ethnologischer Sicht veralteter) Kulturbegriff zugrunde. Abschnitt 2.3 wird auf dieses Problem noch detaillierter eingehen.

4.) Durch ihre perspektivische Ausrichtung auf die (kulturelle, strukturelle, soziale, identifikative) Anpassung der Migrant_innen an eine etwaige Mehrheitsgesellschaft neigen Assimilationstheorien letztlich dazu, die Rolle der Einheimischen im Integrationsprozess zu vernachlässigen. Esser z. B. weist zwar im Falle sozialer Interaktionen auf die Notwendigkeit zu beidseitigem Engagement hin, stellt aber gleichzeitig fest, dass die Bedingungen für derartige Interaktionen zuerst durch Kulturation und Platzierung geschaffen werden müssten, welche ihrerseits wiederum maßgeblich dem einseitigen Kapitalerwerb durch die Zugewanderten überlassen bleiben. Ob solch einseitige Anpassung an den Mainstream wirklich die einzig sinnhafte Variante von Integration darstellt, muss im Folgenden differenzierter betrachtet werden.

Normative Theorien

In der Soziologie ist Assimilation ein deskriptives Konzept, das reale Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung bezeichnen will. Der Begriff wird allerdings durchaus auch normativ gebraucht. Für die Vision einer idealen Gesellschaft, gibt es – sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in der politischen Philosophie – traditionell zwei einander diametral gegenüberstehende Entwürfe – Assimilation auf der einen Seite und Multikulturalismus auf der anderen:Footnote 120

„Das Assimilationskonzept geht im Prinzip von einer ethnischen Homogenität einer Gesellschaft als politischem Ziel aus, mindestens in dem Sinne, dass es, bei aller ‚individueller‘ Unterschiedlichkeit, zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen keine Unterschiede in der Verteilung gewisser Merkmale gibt […]. Das Konzept der multiethnischen Gesellschaft zielt dagegen auf die ethnische Pluralisierung der Gesellschaft in dem Sinne ab, dass die verschiedenen ethnischen Gruppen unter einem politischen bzw. staatlichen Dach koexistieren und als ‚Kollektiv‘ ihre Eigenständigkeit bewahren können.“Footnote 121

Während das Assimilationskonzept von einer irgendwie gearteten, immer wenigstens minimal präsenten gesellschaftlichen Leitkultur ausgeht, betrachtet der Multikulturalismus Gesellschaften als von Grund auf plural. Er sieht also, anders als assimilative Ansätze, keinen übergreifenden Wertekanon vor, der automatisch gegeben ist und für alle gleichermaßen gelten muss. Stattdessen fragt er nach den Möglichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne einen solchen transkulturellen Konsens und betont dabei insbesondere den Schutz gleichwertig nebeneinander her bestehender Gruppenidentitäten.Footnote 122 Zwei Formen des Multikulturalismus können analytisch unterschieden werden:

„1.) Der liberale [Multikulturalismus] fordert die Beseitigung rechtlicher, polit. und sozialer Diskriminierung und unterstützt die jeweiligen Gruppen in ihrem Bemühen, die eigene kulturelle Identität zu bewahren; er betont aber gleichzeitig, daß a) eine funktionierende Gesellschaft auf eine gemeinsame Politische Kultur angewiesen bleibt, b) der [Multikulturalismus] allein mit dem Wohlergehen der Individuen zu rechtfertigen ist und er deshalb c) auf die Bürger- bzw. Menschenrechte verpflichtet sein muß. 2.) Der radikale [Multikulturalismus] behauptet dagegen die existentielle Bedeutung der je unterschiedlichen Gruppenidentitäten. Er will das Überleben spezifischer Kulturen garantieren und fordert hierzu die Anerkennung von Gruppenrechten im öffentlich-polit. Raum sowie weitgehende polit. Selbstbestimmung.“Footnote 123

Der Multikulturalismus ist insofern nicht mehr bloß ein rein normativer Denkentwurf, als dass seine liberale Variante seit den 1970er Jahren in Ländern wie Kanada oder Australien reale politische Anwendung findet. Kritisiert wurde der Multikulturalismus v. a. für seine Tendenz, separatistische Bestrebungen zu fördern,Footnote 124 sowie für seine „verfrühte Reifizierung vorausgesetzter Gruppenidentitäten“,Footnote 125 – worin sich eine gewisse Parallele zu den Assimilationstheorien auftut. Ein häufig diskutiertes Problem ist außerdem die Kollision von kulturellen Gruppenrechten mit den Rechten und Freiheiten des Individuums. Was ist also, wenn das kollektive Recht auf Ausübung gewisser kultureller Praktiken der Gleichberechtigung der Geschlechter oder dem Recht auf körperliche Unversehrtheit gegenübersteht? Welches Recht ist wann inwiefern höher zu bewerten und aus welchem Grund?Footnote 126 Was ist darüber hinaus mit denjenigen Individuen, die sich keiner Gruppe zuordnen können (oder wollen)? Welche Rechte haben Sie, wenn Rechte doch maßgeblich über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe vermittelt werden?

Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist es sinnvoll, sich einem weiteren normativen Denkentwurf der politischen Philosophie zuzuwenden – dem Kosmopolitismus. Sein Fundament entstand bereits zu hellenistischer Zeit und beinhaltete als solches zunächst keinerlei politische Ambitionen: „Der Ausdruck ‚Kosmopolis‘ will den Menschen ungeachtet seiner politischen Zugehörigkeit immer auch als Bürger der Welt betrachten, die selbst nicht politisch verfasst ist“.Footnote 127 Eine erste umfassende Ausformulierung erfolgte durch die Lehre der griechischen Stoa, welche das Wesen des Menschen als inhärent vernunftgeleitet begreift. Seine vernunftgeleitete Erkenntnis eröffnet ihm Einblicke in die universelle Weltordnung, die ihrerseits wiederum vernunftgeleitet ist und an der er selbst seinen Anteil hat, indem er Verantwortung trägt, „nicht nur für das eigene Leben, sondern für jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft, seiner Nation oder seinem Wohnort“.Footnote 128

Im Laufe der Zeit hat sich der ursprüngliche kosmopolitische Gedanke in eine Vielzahl unterschiedlichster theoretischer Ansätze aufgegliedert. Einer seiner wohl renommiertesten Vertreter im deutschsprachigen Raum ist Immanuel Kant. Er betrachtet die „Entwicklung der Menschheit als ein Zulaufen auf die Vorstellung einer alle Menschen umfassenden Gemeinschaft“.Footnote 129 Daraus zieht er aber nicht die schlussendliche Konsequenz eines Weltstaates. Vielmehr geht es ihm um eine Art Weltbürgerschaft, also einen Kanon an universellen Rechten und Pflichten, die jedem Menschen zu eigen sind, unabhängig von seiner (oder ihrer) jeweiligen politischen oder sozialen Zugehörigkeit, nur auf Grundlage des Menschseins an sich. Kants Version der Weltbürgerschaft bezieht sich v. a. auf das Recht zu grenzüberschreitender Mobilität, das jedem bzw. jeder Reisenden (zumindest im Notfall) Hospitalität zusichert.Footnote 130 Hierin zeigt sich ein politischer Kosmopolitismus, dessen verschiedene Varianten mal nach der Etablierung von Weltbürgerschaft in Kant’scher Tradition, mal nach der tatsächlichen Etablierung weltstaatlicher Strukturen streben. Demgegenüber steht ein ökonomischer Kosmopolitismus, der die „Auflösung aller Politik im globalen Markt“ prognostiziert.Footnote 131 Darüber hinaus können weitere Ansätze unterschieden werden, die Kosmopolitismus z. B. als sozio-kulturelle Bedingung, als philosophisches Weltbild, als politisches Projekt zur Anerkennung multipler Identitäten oder aber als individuelle Kompetenz im Umgang mit Fremdheit auffassen.Footnote 132 Inzwischen gibt es auch eine Reihe von empirischen Studien, welche Vorhandensein, Ausprägung und Konsequenzen kosmopolitischer Einstellungen in der Gesellschaft analysieren. Timothy Phillips und Philip Smith haben beispielsweise mit ihrer Erhebung nahegelegt, dass kosmopolitische Haltungen (z. B. Offenheit gegenüber kulturellen Unterschieden auch in der lokalen Nachbarschaft) und Praktiken (Reisen, Einbindung in internationale Netzwerke, Nutzung internationaler Medien, etc.) nicht notwendigerweise, wie weiter oben von Esser angenommen, auf eine kleine privilegierte Elite beschränkt sind.Footnote 133 Gegenüber solchen eher positiv konnotierten Untersuchungen gibt es allerdings auch kritische Ansätze, welche die zunehmende Entfremdung des kosmopolitischen Menschen von seiner lokalen Lebenswelt mit Sorge betrachten.Footnote 134 Sie plädieren dafür, Kosmopolitismus nicht als Loslösung, sondern vielmehr als Verknüpfung von Lokalem und Globalem zu denken, von partikularer Identität und universeller Offenheit:

„In a similar vein, Bruno Latour […] has called for a form of cosmopolitanism that does not require us to leave our attachments at the door, one in which people are not asked to detach themselves from the particular – from their particular place, from their particular gods, from their particular cosmos – in order to attain cosmopolitan emancipation. Perhaps we need to fashion such a form of ‘cosmopolitics’ if we are not all to be fated to become mere visitors in our own worlds.“Footnote 135

Kosmopolitismus als Verbindung von Lokalität und Globalität, von Kollektivismus, Individualismus und Pluralismus, finden eine interessante Ausformung in diskurstheoretischen Ansätzen, wie sie u. a. von Jürgen Habermas oder Seyla Benhabib geprägt wurden. Diskurs ist hierbei nicht im Sinne Michel Foucaults zu verstehen als „strukturierte und zusammenhängende (Sprach-) Praktiken, die Gegenstände und gesellschaftliche Wissensverhältnisse konstituieren“.Footnote 136 Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Argumentationssituation, also eine argumentative Auseinandersetzung um bestimmte Sachverhalte oder Absichten.Footnote 137 Solchen argumentativen Auseinandersetzungen sollte Benhabib zufolge eine allgemeine Diskursethik zugrunde liegen, die der Diskussion zu bestmöglichen Ergebnissen verhilft:

„Die zentrale Prämisse der Diskursethik schreibt fest, daß nur diejenigen Normen und normativen institutionellen Regelungen gültig sind, denen alle Betroffenen in einer speziellen Argumentationssituation, die als ‚Diskurs‘ bezeichnet wird, zwangsfrei zustimmen können. Das ist die Metanorm der moralischen Autonomie innerhalb der Diskursethik. Diese Metanorm setzt wiederum Normen universaler moralischer Achtung und ‚egalitäre Reziprozität‘ voraus. Universale Achtung besagt, daß wir einander als Wesen betrachten sollten, deren Standpunkte die gleiche Beachtung verdienen. Egalitäre Reziprozität heißt, daß wir einander als menschliche Wesen behandeln sollten, deren Fähigkeit, den eigenen Standpunkt zu artikulieren, wir fördern sollten, indem wir, wo immer möglich, soziale Verhaltensweisen kultivieren, die das diskursive Ideal verwirklichen.“Footnote 138

Auf Basis dieser Überlegungen zur Diskursethik, entwirft Seyla Benhabib ihre Version einer deliberativen Demokratie, welche das Zusammenleben in und die Gestaltung von heterogenen Gesellschaften sinnhaft ermöglichen soll. Dabei wendet sie sich sowohl gegen den Multikulturalismus mit seiner Betonung kollektiver Gruppenrechte einerseits, sowie auch gegen den Liberalismus andererseits, der das Ausleben kultureller Prägungen als individuelle Privatsache auffasst (ähnlich wie Esser dies im Rahmen seiner Assimilationstheorie tut).Footnote 139 Durch die Unvereinbarkeit gewisser kultureller Praktiken mit rahmengebenden Normen, wie sie Verfassungen oder Menschenrechte festschreiben, entstehen Benhabib zufolge zwangsläufig Konflikte. Diese Konflikte sollten jedoch nicht von vornherein unterbunden werden. Vielmehr müssten Möglichkeiten der intersubjektiven Konfliktaustragung und -lösung geschaffen werden:Footnote 140

„Der deliberativen Demokratie gilt die freie öffentliche Sphäre der Zivilgesellschaft als wichtigste Arena für die Klärung und Lösung strittiger Fragen des normativen Diskurses. Natürlich werden sich in vielen Fällen keine Lösungen finden lassen, die von allen akzeptiert werden können. Man wird sich auf Uneinigkeit einigen müssen. Dennoch entsteht in der öffentlichen Auseinandersetzung auch eine neue moralische Perspektive. Diese neue moralische Perspektive zwingt die Mitglieder von Gruppen, deren Normen und Werte in ihrer Unvereinbarkeit Konflikte erzeugen, den Standpunkt anderer einzunehmen und in der Öffentlichkeit ‚gute Gründe‘ darzulegen, die alle überzeugen können. Selbst wenn dieser moralische und politische Dialog keinen Konsens erzeugt, was häufig geschieht, und wir auf das Recht zurückgreifen müssen, um die Grenzen der Koexistenz festzulegen, werden Gesellschaften, in denen solche multikulturellen Dialoge stattfinden, allmählich die zivile ‚erweiterte Denkungsart‘ annehmen, die zuerst von Kant formuliert und von Hannah Arendt in ihrer politischen Philosophie wieder aufgegriffen wurde.“Footnote 141

Kollektive Identitäten und individuelle Entfaltung haben in Benhabibs Vision gleichermaßen ihren Platz, sofern sie in einem fortwährenden zivilgesellschaftlichen Dialog ständig neu verhandelt und behauptet werden. In diesem Sinne ist die Theorie der deliberativen Demokratie gleichermaßen eine „Theorie moralischer Lernprozesse“.Footnote 142 Dazu ist es allerdings erforderlich, dass jeder und jede die gleichen Chancen erhält, sich am allgemeinen Diskurs zu beteiligen. Hierfür müssen „bestehende Ungleichheiten innerhalb kultureller Gruppen, die die volle Beteiligung jedes Gruppenmitglieds am öffentlichen Diskurs der Zivilgesellschaft verhindern, beseitigt werden“.Footnote 143 Um das zu erreichen sind durchaus auch staatliche Eingriffe erforderlich. Diese wiederum sollten jedoch nicht „durch gewaltsame Zwangsmaßnahmen erfolgen“ oder durch „bevormundende Sozialarbeit“:Footnote 144

„Der liberaldemokratische Staat kann die Verwirklichung universeller staatsbürgerlicher Rechte fördern, indem er in der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit die Bedingungen schafft, mit deren Hilfe diese Gruppen Teilnehmer eines öffentlichen Dialogs werden und alle Beteiligten bzw. Betroffenen ihre eigenen Erzählungen von Identität und Differenz selbst präsentieren können.“Footnote 145

Im Anschluss daran wendet Benhabib sich außerdem gegen das herkömmliche Konzept von Staatsbürgerschaft, welches einem Teil der Bevölkerung wertvolle Beteiligungsrechte zusichert, während es diese gleichzeitig einem anderen Teil verwehrt. Stattdessen plädiert sie für den Entwurf einer neuen, transnationalen Staatsbürgerschaft.Footnote 146 Demzufolge erwachsen die Kompetenzen, die einen guten Staatsbürger bzw. eine gute Staatsbürgerin im Zeitalter lokaler Komplexität und globaler Vernetzung ausmachen, nicht aus Kriterien wie Herkunft oder Abstammung. Vielmehr erfordern sie die „Partizipation an den verschiedensten Aufgaben und Aktivitäten einer zunehmend globalen Zivilgesellschaft. Und eben dies ist genau das, was eine transnationale Staatsbürgerschaft erwarten lässt“.Footnote 147 Aus diesem Grund fordert Benhabib die Gewährung staatsbürgerlicher Beteiligungsrechte, nötigenfalls auch ohne formale Staatsangehörigkeit (z. B. das Kommunalwahlrecht für Ausländer_innen).Footnote 148 Damit greift sie überdies die verbreitete, demokratietheoretische Sorge vor einem – in Zeiten globaler Migration – zunehmenden „Auseinanderfallen von Wohn- und Wahlbevölkerung“ auf, das für jedes demokratisch verfasste System auf lange Sicht zum Legitimationsproblem werden muss.Footnote 149

Seyla Benhabib entwirft die eindrucksvolle Vision eines vernunftgeleiteten gesellschaftlichen Lernprozesses durch allseitige und egalitäre Diskussion. Unglücklicherweise versäumt sie es dabei, die lenkende und ggf. verzerrende Wirkung machtvoller gesellschaftlicher Diskurse im Foucault’schen Sinne zu berücksichtigen, die einen derartigen vernunftgeleiteten Austausch immer ein stückweit hemmen, oder ihm zumindest eine vorbestimmte Richtung einprägen (siehe Abschnitt 2.4). Ungeachtet dessen weist Benhabibs deliberative Demokratie deutliche Parallelen zu einem Konzept auf, dass ursprünglich für den pädagogischen Kontext entwickelt wurde, das aber inzwischen auch immer häufiger Eingang in die weitere öffentliche Debatte findet. Die Rede ist vom Prinzip der Inklusion, wie es ursprünglich für das Zusammenleben und -lernen von Menschen mit und ohne Behinderung entworfen wurde, mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen, Erstsprachen oder sozialen Hintergründen. Hierbei wird jede Gruppe (so z. B. eine Schulklasse) als inhärent heterogen betrachtet, weshalb es keine quasi-automatische soziale Norm gibt, an der man sich ohne weiteres orientieren und die Kompetenzen oder Potenziale der einzelnen Gruppenmitglieder messen könnte. Auch die Aufspaltung der Gruppe in verschiedene Teilgruppen mit klar unterscheidbaren Bedürfnissen (z. B. nach unterschiedlichen Lehrplänen) ist keine Lösung, da die Inklusionsidee den Menschen zuallererst als Individuum betrachtet und nicht bloß als Mitglied eines Kollektivs von mehr oder weniger identischen Teilen. Der Gruppenerfolg kann daher nur sichergestellt werden, indem die Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten jedes und jeder Einzelnen bei der Festlegung von Gruppennorm und Gruppenzielen gleichwertige Berücksichtigung finden. Dies wiederum soll durch Gespräche und Diskurse im diskurstheoretischen Sinne ermöglicht werden. Anders als bei herkömmlichen Vorstellungen von Integration oder Assimilation, wird der allgemeinverbindliche Gruppenrahmen also nicht als statisch angesehen, sondern muss immer wieder neu überdacht und an die jeweiligen Gruppenkonstellationen angepasst werden.Footnote 150 Benhabibs normative und zuweilen recht abstrakte Vorstellungen könnten auf diese Weise praktische Anwendung finden. Zwar ist Inklusion bislang eher ein Programm für die Ausgestaltung einzelner Institutionen (z. B. Schulen oder Kindertagesstätten), ihre Ausdehnung auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge wäre aber durchaus denkbar.

Anmerkungen aus ethnologischer Sicht

An der soziologisch-politikwissenschaftlichen Integrationsforschung von Assimilation bis Multikulturalismus kritisiert Andreas Wimmer eine Perspektive, die er als Herder’schen Commonsense bezeichnet (und die weiter oben bereits als Kulturfundamentalismus betitelt wurde).Footnote 151 Dieser Perspektive zufolge ist die Welt natürlicherweise in verschiedene, klar voneinander abgrenzbare ‚Völker‘ unterteilt. „Ethnien und Nationen [werden verstanden als] totale soziale Phänomene, die aus drei isomorphen Merkmalen bestehen“:Footnote 152 1.) Sie bilden Gemeinschaften, deren Mitglieder durch engmaschige soziale Netzwerke miteinander verbunden sind. 2.) Sie bilden „historische Schicksalsgemeinschaften und vermitteln ihren Mitgliedern deshalb eine kollektive Identität“.Footnote 153 3.) Sie besitzen eine eigene, klar von anderen abgrenzbare Kultur, die ihrerseits „eine einzigartige Weltsicht“ konstituiert.Footnote 154 „Die Grenzen sozialer Interaktion, der Horizont der Identität und der Bereich geteilter Kultur werden hier also als deckungsgleich gedacht.“Footnote 155 Vor dem Hintergrund eines solchen theoretischen Bias ist es verständlich (wenn auch hochgradig problematisch), dass beispielsweise Esser annimmt, die Verwurzelung in der ‚eigenen‘ ethnischen Gruppe und die Akkulturation an die Aufnahmegesellschaft, müssten einander zwangsläufig ausschließen. Es erklärt auch, warum Esser als einzig realistische Alternative zur Integration in die ethnische Gruppe ODER die ‚Mehrheitsgesellschaft‘ das Phänomen der Marginalität in Betracht zieht, also den völligen Ausschluss aus beiden.

Um Perspektiven wie diejenige Essers zu korrigieren, empfiehlt Wimmer einen Blick auf die theoretischen und empirischen Erkenntnisse der Ethnologie.Footnote 156 Unter Ethnolog_innen ist es ein Gemeinplatz, dass ethnische Identität nur eine Dimension von sozialer Identifikation unter vielen möglichen bildet, die jede für sich genommen die persönliche Identität eines Menschen in keiner Weise abschließend determiniert – oder, wie Amartya Sen es ausdrückt:

„Eine Person kann gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, daß es im All intelligente Wesen gibt, mit denen man sich ganz dringend verständigen muß (vorzugsweise auf englisch (sic!)).“Footnote 157

Des Weiteren hat v. a. Fredrik Barth sehr anschaulich und nachhaltig verdeutlichen können, dass ethnische Gruppengrenzen (und gleiches gilt für identitäre Grenzen im Allgemeinen) sich nicht automatisch aus den Bruchlinien kultureller Differenz ergeben. Kultur und Ethnizität verbindet kein simples Eins-zu-eins-Verhältnis. Ihr Verhältnis ist vielmehr komplex und fließend. Barth macht die zentrale Beobachtung, dass der kulturelle Inhalt einer ethnischen Grenze durchaus nicht homogen ist, sich z. B. regional an unterschiedliche lokale Umweltbedingungen anpasst und sich überdies im Zeit- und Generationenverlauf ständig wandelt. Des Weiteren stellt er fest, dass Kultur nicht an ethnischen Grenzen Halt macht und dass es demnach große kulturelle Ähnlichkeiten zwischen Gruppen geben kann, die einander nichtsdestoweniger als ethnisch different begreifen. Er zieht daraus den logischen Schluss, dass ethnische Grenzen nicht einfach durch kulturelle Grenzen prädestiniert sind. Sie sind vielmehr sozialer (oder politischer) Natur und entstehen durch Kontakt- bzw. Aushandlungsprozesse zwischen Gruppen (wiederum gilt Selbiges auch für alle anderen Formen von sozialer Identität). Eine besondere Rolle spielt dabei die Selbst- und Fremdzuschreibung ‚charakteristischer‘ Merkmale, wobei jeweils immer diejenigen Merkmale Betonung finden, welche die Grenze hervorheben, während diejenigen, die sie überbrücken, unter den Tisch fallen. Kultur und kulturelle Differenz sind in diesem Sinne ein Effekt von Ethnizität und nicht etwa deren Ursprung.Footnote 158

Seit Barth herrscht in der ethnologischen Forschung weitgehende Einigkeit darüber, dass Ethnizität keine Eigenschaft einzelner Gruppe ist, sondern eine (oftmals komplexe) Beziehung zwischen Gruppen. Thomas Hylland Eriksen fasst dies wie folgt zusammen:

„For ethnicity to come about, the groups must have a minimum of contact with each other, and they must entertain ideas of each other as being culturally different from themselves. If these conditions are not fulfilled, there is no ethnicity, for ethnicity is essentially an aspect of a relationship, not a property of a group. […] Ethnicity is an aspect of a social relationship between agents who consider themselves as culturally distinctive from members of other groups with whom they have a minimum of regular interaction. It can thus also be defined as a social identity (based on contrast vis-à-vis others) characterised by metaphoric of fictive kinship.“Footnote 159

Ethnizität kann darüber hinaus unterschiedlich starke Bedeutung im Leben eines Menschen erlangen. Anders als Esser, der nur ein Entweder-Oder von ethnischer Identität und Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft gelten lässt, aber auch anders als der Multikulturalismus, der Menschen immer als integralen Teil eines Kollektivs zu denken versucht, unterscheidet Eriksen (im Anschluss an Don Handelman) vier verschiedene Grade der ethnischen Inkorporation.Footnote 160

1.) Den niedrigsten Grad der Inkorporation bildet die ethnische Kategorie (ethnic category). Sie dient der Unterscheidung von Mitgliedern und Außenstehenden und strukturiert auf diese Weise zwischenmenschliche Interaktion, gibt also Orientierung über angemessene Umgangsformen und Verhaltensweisen. Die ethnische Kategorie ist jedoch kein Ausdruck tatsächlicher ethnischer Vernetzung, Organisation oder Vergemeinschaftung.Footnote 161

2.) Platz zwei in der Typologie nimmt das ethnische Netzwerk (ethnic network) ein. Es bezeichnet das Vorhandensein regelmäßiger Interaktionen und dauerhafter persönlicher Beziehungen zwischen Mitgliedern derselben ethnischen Kategorie. Mithilfe ethnischer Netzwerke können Ressourcen distribuiert werden, so z. B. im Falle der Mobilisierung ethnischer Beziehungen bei der Suche nach beruflichen Stellen. Das ethnische Netzwerk besitzt jedoch keinerlei zentralisierte Organisationsgewalt und setzt auch nicht voraus, dass alle Mitglieder einer ethnischen Gruppe miteinander in Verbindung stehen. Stattdessen erschöpft es sich in einer ganzen Reihe dyadischer Beziehungen zwischen Einzelpersonen.Footnote 162

3.) Die ethnische Organisation (ethnic association) bildet das nächste Inkorporationsniveau ethnischer Gruppen. Hier entwickelt sich aus den losen ethnischen Netzwerken eine formale Organisationsstruktur. Die ethnische Organisation (oder auch Organisationen, denn es können durchaus mehrere sein) nimmt für sich in Anspruch, die kollektiven Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten – ggf. auch ihrer Nicht-Mitglieder, sofern sie ihrerseits nicht die gesamte Spannweite der ethnischen Kategorie umfasst (was sehr häufig der Fall ist).Footnote 163

4.) Den vierten und letzten Grad der Inkorporation bildet die ethnische Gemeinschaft (ethnic community). Diese zeichnet sich neben der Ausbildung von Netzwerken und Organisationen außerdem durch den Besitz eines eigenen Territoriums aus. Nationen, die einen eigenen Staat für sich in Anspruch nehmen, entsprechen diesem Muster am eindeutigsten.Footnote 164

Eriksen zufolge gibt es verschiedene Möglichkeiten, die obige Typologie zu deuten:

„It can be seen […] as a developmental framework useful for the analysis of ethnogenesis or the emergence of ethnic corporate groups out of categories. There seems to be a clear development in time from the category through the network and the association to the community. It can nevertheless also be viewed […] as a non-developmental typology of ethnic organisation, where different types may coexist within the same polyethnic society. Finally, the typology may be interpreted as a model of aspects of interethnic processes. Thus one may through the course of a day pass from a situation where only one’s categorial ascription is relevant, to a situation where one’s ethnic network is activated, and later to situations where one’s ethnic category appears as an association or an ethnic community.“Footnote 165

Damit kommen wir zum nächsten wichtigen Punkt: Ethnische Identitäten sind, anders als von Esser in seinem Theorieentwurf impliziert, weder statisch noch eindimensional. Vielmehr sind sie relational, situativ und kontextabhängig sowie häufig (zumindest in gewissem Maße) Gegenstand individuellen strategischen Handelns. Beispielsweise gibt es Fälle der Ambiguität (und diese häufen sich in Zeiten der Globalisierung zusehends), in denen Individuen durch Selbst- und Fremdzuschreibung keiner eindeutigen ethnischen Identität mehr zugeordnet werden können (so z. B. Kinder aus binationalen Ehen). Dies kann von der umgebenden Gesellschaft negativ als Anomalie aufgefasst werden, es eröffnet den Betroffenen aber auch Möglichkeiten der kreativen und wandelbaren Selbstdefinition je nach Situation und Kontext.Footnote 166

Nicht zuletzt spielen bei der Kategorisierung ethnischer Gruppen neben einer etwaigen internen Gruppenidentität auch die externen Klassifikationen Außenstehender eine Rolle. Diese gesellschaftlichen Taxonomien wahrgenommener Fremdheit sind ebenfalls nicht statisch. Je nach äußeren (politischen, sozialen) Umständen unterliegen sie ggf. Umklassifizierungen, in deren Zuge Gruppengrenzen sich verschieben, verschwinden oder neu bilden können.Footnote 167 So weist beispielsweise Wessendorf auf die sich wandelnden Diskurse gegenüber italienischen Migrant_innen in der Schweiz hin: Während in den 1950er bis 1970er Jahren Italiener_innen in der öffentlichen Debatte als ‚Kriminelle‘ und ‚asoziale Taugenichtse‘ gebrandmarkt wurden, gelten sie heutzutage als ‚die besseren Migrant_innen‘ und werden gedanklich in die imaginierte Gemeinschaft der Schweizer Nation eingemeindet.Footnote 168 Das abgrundtief Fremde ist damit auf schier magische Weise zum Eigenen geworden.

Gesellschaftliche Kategoriesysteme, und somit auch Grenzen der Inklusion oder Exklusion, können sich demnach unter gegebenen Umständen verändern. Schon Alba und Nee berücksichtigen in ihrem Entwurf der Neo-Assimilation Theory die Möglichkeit der Assimilation von Minderheiten durch den allmählichen Abbau gesellschaftlicher Grenzlinien.Footnote 169 Wimmer denkt diese Option weiter:

„Wird der Unterschied zwischen Staatsbürgern und Immigranten einmal denaturalisiert und als Produkt eines reversiblen und historisch spezifischen Prozesses sozialer Schließung verstanden, so entsteht eine neue Perspektive auf die alten Fragen der ‚Assimilation‘ und ‚Integration‘ von Immigranten. […] Gruppen, die zuvor als ‚Immi-granten Minoritäten‘ definiert wurden, werden jetzt als vollständige Mitglieder der Nation behandelt. Dies stellt abermals einen genuin politischen Prozess und nicht das quasi natürliche Ergebnis abnehmender kultureller Differenz und sozialer Distanz dar, wie die Assimilationstheorie meint. Folgt man […] dem interaktionistischen Axiom, so wird deutlich, dass solche Grenzverschiebungen auch von der Akzeptanz der Mehrheitsbevölkerung mit ihrer privilegierten Beziehung zum Staat abhängen, da sie solche Grenzverschiebungen durch Alltagsdiskriminierung zu verhindern weiß. Die Grenzverschiebung muss m.a.W. bestehende Formen der sozialen Schließung überwinden, aufgrund derer Außenseitern volle Mitgliedschaft verwehrt und die Grenzen zwischen Mehrheit und Minderheit verstärkt werden.“Footnote 170

Wimmer zufolge ist es der „Prozess der sozialen Schließung, der überhaupt erst definiert, wer ‚wir‘ und wer ‚die‘ sind“, und dieser Prozess hat immer auch etwas mit Macht und Machtgefälle zu tun (Abschnitt 2.4 wird auf diesen Umstand noch näher eingehen).Footnote 171 Damit schließt sich der Kreis zu den eingangs thematisierten Identitätskonzeptionen (Ethnie, ‚Rasse‘, Nation, Religion) und den sozialen Praktiken der Identitätskonstitution und Klassifizierung. Gruppenidentitäten sind keine natürliche Tatsache, sondern ein menschliches Konstrukt. Sie entstehen durch Abgrenzungsprozesse von innen und außen und sind insofern niemals statisch – obwohl es gerade der Anschein von Statik ist, der ihnen ihre ideologische Macht verleiht. Ansätze wie derjenige Benhabibs oder auch das pädagogische Konzept der Inklusion tragen diesem Umstand Rechnung. Ansätze wie die klassischen Assimilationstheorien oder auch der Multikulturalismus ignorieren ihn hingegen weitestgehend.

Im Anschluss an die sozialpsychologische Perspektive Amélie Mummendeys und Thomas Kesslers kann festgehalten werden, dass das Bild, das wir uns von der Beschaffenheit unserer Gesellschaft machen, unsere Erwartungshaltung an den Begriff der Integration maßgeblich vorprägt.Footnote 172 Hier sind die Folk Concepts von Integration angesprochen, die in der Einführung zu dieser Arbeit bereits kurz angerissen wurden. Die verschiedenen Haltungen zu Integration und Einbürgerung, wie sie in der Debatte vertreten sind, lassen sich unter Rückbezug auf ihre wissenschaftlichen Gegenstücke besser verstehen und einordnen. Denn ob wir uns Deutschland als arbiträres Konglomerat von relativ statischen ethnischen Gruppierungen im Schatten einer dominanten Leitkultur vorstellen oder aber als kosmopolitischen Spielplatz unterschiedlichster individueller und kollektiver Identitäten, zwischen denen mit Hilfe demokratischer Verfahren ein Ausgleich geschaffen werden muss, ist nicht nur eine rein theoretische Frage, es bestimmt auch die Art und Weise wie wir denken, handeln und unser Umfeld erleben.Footnote 173 Betrachten wir kulturelle Homogenität als idealen gesellschaftlichen Zustand, werden wir vielleicht eher geneigt sein, Einbürgerung als finalen Schlusspunkt einer umfassenden (insbesondere kulturellen) Assimilation zu begreifen. Wollen wir die Zukunft Deutschlands stattdessen durch die Möglichkeiten einer deliberativen Demokratie ausgestaltet sehen, werden wir dafür plädieren, staatsbürgerliche Rechte möglichst früh und möglichst umfänglich zu verleihen, ohne im Gegenzug dafür weitreichende kulturelle Anpassung zu fordern.

Die Darstellung der Untersuchungsergebnisse in Kapitel 4 dieser Arbeit wird Aufschluss darüber geben, inwiefern sich die hier präsentierten wissenschaftlichen Paradigmen in der öffentlichen Debatte widerspiegeln. Wie im vorliegenden Teilkapitel gezeigt werden konnte, hängen Vorstellungen von Integration nicht nur mit sozialen Konstruktionen von Identität, sondern v. a. auch mit sozialen Konstruktionen von Kultur zusammen. Daher wird es interessant sein nachzuverfolgen, ob und wenn ja auf welche Weise überdies auch ein Zusammenhang besteht zwischen wissenschaftlichen und populären Konzeptionen von Kultur. Das nachfolgende Unterkapitel wird deshalb einen umfassenden Überblick geben über den Kulturbegriff innerhalb und außerhalb der Ethnologie. Da die ideologische Auseinandersetzung mit Nation und Integration immer auch eine affektive Dimension in sich birgt, wird dabei außerdem auch auf die komplexe Verquickung von Kultur, Identität und Emotion einzugehen sein.

2.3 Kultur und Emotion: Die Verteidigung der rationalen Ordnung

Vorstellungen von Kultur – das wurde in den vorangegangenen Unterkapiteln deutlich – spielen im Kontext von Nation, Integration und Identität eine herausragende Rolle. Dies gilt nicht nur für die wissenschaftliche Ausformulierung entsprechender Theorieentwürfe, es gilt insbesondere auch für die Folk Concepts der öffentlichen Debatte. Was Kultur im Einzelnen bedeutet, das bleibt jedoch – sowohl in vielen wissenschaftlichen als auch in den meisten populären Diskursen – im Dunkeln.

Kultur ist – neben Ethnizität – eines der zentralen Kernkonzepte der Ethnologie. Trotzdem gibt es bis heute keine einheitliche Definition für das, was sich inhaltlich dahinter verbirgt. Um die Komplexität des Themas zu veranschaulichen, wird in der ethnologischen Fachliteratur gerne auf das Werk Culture – A Critical Review of Concepts and Definitions von Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn aus dem Jahr 1952 verwiesen. In diesem Buch listen die Autoren mehr als 150 verschiedene Varianten von Kulturdefinitionen auf (die genaue Anzahl variiert je nach Zählung).Footnote 174 Zwar hat das Fach seinen Kulturbegriff in der jüngeren Vergangenheit immer wieder kritisch beleuchtet und mehrfach grundlegend reformiert, zu einer allgemeinverbindlichen Definition ist die Ethnologie jedoch noch immer nicht gelangt. Das Bild wird umso komplexer, wenn man über den Horizont der Fächergrenzen hinausblickt. So merkt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Ansgar Nünning an:

„Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Verwendungsweisen des Wortes ‚Kultur‘ und der Vielfalt konkurrierender wissenschaftlicher Definitionen erscheint es sinnvoll, statt von einem Kulturbegriff besser von Kulturbegriffen im Plural zu sprechen. Zum einen verstehen unterschiedliche Disziplinen (z. B. die Anthropologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Religions- oder Erziehungswissenschaft) jeweils etwas anderes unter dem Begriff ‚Kultur‘. Zum anderen unterscheidet sich das Verständnis von ‚Kultur‘ sowohl innerhalb einzelner Disziplinen und der Kulturwissenschaften als auch in unterschiedlichen Gesellschaften und sozialen Gruppen. Dementsprechend groß ist inzwischen die Bedeutungsvielfalt des Kulturbegriffs, die durch das jeweilige Kulturverständnis der Akteure der politischen Bildung (z. B. Kulturstiftung des Bundes/der Länder, Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung) noch vergrößert wird.“Footnote 175

In der Ethnologie und anderen verwandten Fachbereichen (z. B. Volkskunde, Cultural Studies) ist traditionell ein totalitätsorientierter Kulturbegriff vorherrschend, der „die Gesamtheit der Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster von Kollektiven“ in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.Footnote 176 Dementgegen wurde in der Soziologie ein differenztheoretischer Kulturbegriff geprägt. Dieser versteht Kultur als Teilsystem der modernen Gesellschaft, das sich in erster Linie mit Formen der geistig-symbolischen Weltdeutung befasst (z. B. Kunst, Bildung, Wissenschaft).Footnote 177 Die populäre Definition von Kultur in der öffentlichen Debatte weicht von diesen beiden Deutungsvarianten z. T. erheblich ab. Bettina Beer identifiziert drei verschiedene Modelle der nicht-wissenschaftlichen Interpretation:

1.) Kultur als Hochkultur oder künstlerisch-ästhetische Ausdrucksform „im Sinne von Kultur-behörde (sic!) und Kultus-ministerium (sic!) oder im Sinne des Feuilletons als Musik, Theater, Literatur, Architektur und bildende Kunst. Die Auffassung von Kultur als Kunst führte noch im 19. Jahrhundert zu der Aussage, bestimmte Völker oder soziale Gruppen innerhalb der eigenen Gesellschaft hätten ‚mehr oder weniger Kultur‘“.Footnote 178 Nünning bezeichnet dieses heutzutage immer noch sehr präsente Kulturverständnis als normativen Kulturbegriff, da es verschiedene ästhetische Ausdrucksformen zueinander in eine hierarchische, auf- oder abwertende Beziehung setzt.Footnote 179

2.) Kultur als Container, der „eine Anzahl klar unterschiedener, beständiger und relativ statischer Merkmale von Menschen gemeinsamer Abstammung“ umfasst.Footnote 180 Beer zufolge wird Kultur in der öffentlichen, nicht-wissenschaftlichen Debatte oft als starres Kategoriesystem ausgelegt, als Schublade, in die man Menschen ihrer Herkunft und ihrer (äußeren) Eigenschaften nach zweifelsfrei einsortieren kann und die das gesamte Sein der betreffenden Person, ihr gesamtes Denken und Handeln, grundlegend vorprogrammiert.Footnote 181 Hierin zeigt sich eine Parallele zu dem, was in Abschnitt 2.2 als Kulturfundamentalismus (bzw. als neue Form des Rassismus) oder Herder’scher Commonsense bezeichnet wurde.Footnote 182

3.) Kultur als Gemeinschaft, beispielsweise im Sinne ethnischer Gruppen „mit gemeinsamen Merkmalen, wie Sitten, Bräuchen, Werten, Normen, Sprache etc.“.Footnote 183 Auch dieser Kulturbegriff weist einen gewissen Hang zum ‚Schubladendenken‘ und zur Annahme unveränderlicher, statischer Gruppengrenzen auf. In Abschnitt 2.2 wurde bereits auf das komplexe Verhältnis von kulturellem Inhalt und ethnischer Grenze eingegangen. Ähnliches gilt für jede beliebige andere Form der Gruppenbildung: Kulturelle Grenzen sind selten eindeutig, niemals statisch und schon gar nicht deckungsgleich mit sozialen oder identitären Grenzen. Dennoch hält sich der Glaube an solche feststehenden sozio-kulturellen Bruchlinien hartnäckig.

Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, Folk Concepts von Nation, Integration, Identität und Kultur in der öffentlichen Arena zu untersuchen, v. a. auch im Hinblick darauf, wie sie sich jeweils zu wissenschaftlichen – insbesondere ethnologischen – Theorieentwürfen verhalten. Wie kaum ein anderes Konzept hat gerade der Kulturbegriff die innerfachliche Debatte angeheizt und dabei einen enormen Wandel durchlaufen, der nicht zuletzt auch mit einem hochgradig selbstkritischen und selbstreflexiven Wandel des Faches als solchem einherging. Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, bei der Vorstellung dieses Begriffs etwas weiter auszuholen und gründlicher vorzugehen, als es unter anderen Umständen erforderlich wäre. Die ausschweifende (wenn auch keinesfalls abschließende) Darstellung wird sich insofern auszahlen, als Kultur im weiteren Verlauf dieser Arbeit in mehrfacher Hinsicht zu Prominenz gelangt. Um dieser besonderen Rolle Rechnung zu tragen, sollen im Folgenden zunächst einige zentrale Meilensteine der innerethnologischen Kulturdebatte dargestellt werden. Im Anschluss daran werden weitere Ansätze präsentiert, die zwar nicht aus ethnologischer Feder stammen, die jedoch interdisziplinär erheblichen Einfluss ausüben und die überdies auch für das Themenfeld Diskurs, Wissen und Macht von herausragender Relevanz sind (siehe Abschn. 2.4). Abschließend soll weiterführend auf populäre Folk Concepts von Kultur eingegangen werden. In diesem Zusammenhang wird außerdem das Zusammenspiel von Kultur, Identität und Emotion – auch und gerade im politisch-nationalistischen Kontext – einer genaueren Betrachtung unterzogen.

Meilensteine der ethnologischen Fachgeschichte

Die Ethnologie war die erste Wissenschaft, die versucht hat, Kultur analytisch zu fassen und zu definieren.Footnote 184 Als Vorreiterin auf dem Gebiet hat sie einen langen fachinternen Streit darüber ausgefochten, ob kulturelle ‚Mentalität‘ dem Menschen angeboren ist oder erst im Laufe des Lebens durch soziale Lernprozesse erworben wird. Bekannt wurde diese Auseinandersetzung als nature or nurture Debatte. Sie bewegt sich klassischerweise zwischen den diametralen Polen von Essentialismus und Konstruktivismus. Essentialistische (oder primordiale) Ansätze betonen „die Existenz eines unverrückbaren Wesenskerns, der z. B. ethn. Identität bestimmt“Footnote 185 – also einen statischen „Kern an Merkmalen wie Sprache, Kultur oder Abstammung“, an welchen kulturelle Gruppen jeweils gebunden und durch den sie klar voneinander abgrenzbar sind.Footnote 186 Konstruktivistische (oder situationalistische) Ansätze hingegen heben die Bedeutung von Situation und Kontext für die individuelle Ausgestaltung jedweden kulturellen Rahmens hervor und begreifen Kultur (wie auch Identität) als fluide soziale Konstrukte ohne feste Grenzen.Footnote 187

Die frühen essentialistischen Ansätze einer noch jungen Ethnologie weisen starke Ähnlichkeit mit dem Prinzip des Kulturfundamentalismus auf, das in Abschnitt 2.2 als Unterart des Rassismus etabliert wurde. Diese Ansätze waren noch dem aus der Biologie übernommenen Evolutionismus verhaftet und gingen von einer linearen Entwicklung der Menschheit aus, die sich über mehrere Zivilisationsstufen erstreckt und von primitiven Gesellschaften auf der einen, bis hin zu komplexen Gesellschaften auf der anderen Seite reicht – wobei der finale Höhepunkt dieser Entwicklung dem Idealbild europäischer Prägung entsprach. Verschiedene (zum damaligen Zeitpunkt zeitgenössische) Ausprägungen von Kultur wurden anhand jenes Maßstabs verglichen, kategorisiert und hierarchisiert, häufig ohne fundierte empirische Beweise.Footnote 188 Der auf den Evolutionismus folgende Diffusionismus brachte darüber hinaus die in der deutschen Öffentlichkeit bis heute weit verbreitete Auffassung von Kulturkreisen oder Kulturarealen hervor, welche geographische Räume nach ihren (vermeintlich) spezifischen Kulturerscheinungen gliedert und entlang von (vermeintlichen) Entwicklungsunterschieden hierarchisiert. Die gemeinsamen Kulturerscheinungen werden dabei ihrerseits (fälschlicherweise) als einheitlich begriffen sowie als einer gemeinsamen Quelle entsprungen, von der sie (etwa durch Migration) allmählich ‚diffundierten‘. Beide Denkmodelle sind nicht nur wegen ihrer mangelnden empirischen Grundlegung problematisch, sondern v. a. auch deshalb, weil sie auf koloniales Expansionsstreben und rassistische Vorannahmen zurückzuführen sind.Footnote 189 So fasst Leo Frobenius – seines Zeichens Urheber der Kulturkreislehre, „Einzelgesellschaften als Organismen auf. Kultur ist keine Zusammenballung von Merkmalen, wie es die Kulturhistoriker verstanden, sondern eine Einheit, die mit einer Kulturseele [Paideuma] ausgezeichnet ist und unabhängig von ihren Trägern als Form der Selbststilisierung […] existiert“.Footnote 190 Diese Argumentationslinie beinhaltet nicht nur gewisse Parallelen zu Herders Begriff des ‚Volkes‘Footnote 191, die Kulturvorstellungen der frühen Ethnologen nahmen zudem auch Einfluss auf die rassistischen Lehren der NS-Ideologie.Footnote 192 Essentialistische Kulturbegriffe, im Sinne von ‚Kultur als Container‘ oder ‚Kultur als Gemeinschaft‘, sind überdies bis heute ein wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Diskurslandschaft und lassen sich außerdem – das wurde in Abschnitt 2.2 ersichtlich – noch immer in den wissenschaftlichen Theorien und Modellen anderer Disziplinen wiederfinden (z. B. in Hartmut Essers Assimilationstheorie).Footnote 193 Ganz im Gegensatz dazu haben sich aktuelle ethnologische Ansätze entschieden von alten essentialistischen Zugängen distanziert und einer überwiegend konstruktivistischen Denkrichtung zugewandt. Die wissenschaftliche Odyssee der ethnologischen Kulturtheorie erschöpft sich allerdings nicht allein in einem diametralen Widerspruch zwischen Essentialismus und Konstruktivismus. Im Laufe der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte sind diverse Definitionen mit diversen Schwerpunkten für diverse Anwendungsfelder entwickelt worden. Leider ist es nicht möglich, alle wichtigen Vertreter und Vertreterinnen der fachgeschichtlichen Begriffsgenese an dieser Stelle gleichermaßen zu berücksichtigen.Footnote 194 Einige Meilensteine der ethnologischen Theoriebildung müssen jedoch Erwähnung finden, da sie fachintern – z. T. auch fächerübergreifend – eine außerordentlich prägende Wirkung entfaltet haben:

Clifford Geertz ist einer der wenigen Ethnolog_innen, deren theoretischer Einfluss weit über die Grenzen ihrer Disziplin hinausreicht. Seine in den 1960er und 1970er Jahren entstandene interpretative Ethnologie ist „untrennbar verknüpft mit dem cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften“, also der fächerübergreifenden Hinwendung zum Themenfeld Kultur als eigenständigem Forschungsgegenstand oder wenigstens als zentraler analytischer Variable.Footnote 195 Seine theoretischen Annahmen formuliert Geertz dabei als Gegenentwurf zu den frühen kognitiven Ansätzen der Ethnologie einerseits und dem insbesondere von Claude Lévi-Strauss repräsentierten Strukturalismus andererseits. Beide fokussieren Geertz zufolge auf die mentalen Aspekte von Kultur, ohne dabei jedoch die individuellen Interpretationsleistungen der jeweils handelnden Personen zu berücksichtigen. In Abgrenzung dazu betont Geertz, „dass die Bedeutung eines Symbols allein aus dem kulturellen Kontext seiner Verwendung ableitbar ist; im Mittelpunkt der Kulturanalyse müssen für Geertz deshalb die sozialen Handlungen der Akteure stehen“.Footnote 196

Kulturelle Schemata sind für Geertz kein Merkmal des einzelnen menschlichen Bewusstseins, „sondern ein Kollektivphänomen, das sich in öffentlich beobachtbaren Symbolen im Rahmen gemeinsamer Handlungspraxis manifestiert“.Footnote 197 Die Aufgabe des oder der Forschenden ist es demnach, die symbolische Bedeutung sozialer Handlungen interpretativ zu erfassen.Footnote 198 Ethnologische Forschung ist Geertz zufolge immer und zwangsläufig Interpretation, denn „that what we call our data are really our own constructions of other people’s constructions of what they and their compatriots are up to“.Footnote 199 Diese Form der Analyse, die sich die symbolische Unterfütterung jedweden kulturellen Handelns bewusst macht und sie gezielt in den wissenschaftlichen Fokus nimmt, nennt Geertz Dichte Beschreibung:Footnote 200

„Doing ethnography is like trying to read (in the sense of ‘construct a reading of’) a manuscript – foreign, faded, full of ellipses, incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shaped behaviour.“Footnote 201

Hier tritt Geertz’ Vorstellung von Kultur als Text zutage. Kulturelle Schemata existieren als impliziter Text und unterliegen als solcher einer fortwährenden Interpretation der handelnden Individuen. Allerdings können kulturelle Texte „nicht mehr über den Weg einer Rekonstruktion der Sinnmuster einzelner Akteure erschlossen werden, weil die untersuchten Texte Bedeutungen haben, die nicht notwendigerweise mit den Intentionen ihrer ‚Autoren‘, also den Akteuren, übereinstimmen“.Footnote 202 Kulturelle Muster generieren demnach eigenständig Bedeutung und es obliegt dem Ethnologen, bzw. der Ethnologin, diese tieferliegende Bedeutung zu entschlüsseln. Geertz selbst fasst seinen Ansatz wie folgt zusammen:

„The concept of culture I espouse […] is essentially a semiotic one. Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning. It is explication I am after, constructing social expressions on their surface enigma-tical.“Footnote 203

Auch wenn Geertz sich von den Modellentwürfen der frühen kognitiven Ethnologie distanzierte, fällt sein Ansatz doch genauso in die Sparte der mentalistischen Kulturtheorien. Diese räumen kulturellem Wissen sowie „Symbolen (Objekte, Handlungen oder sprachliche Äußerungen, die jeweils für etwas anderes stehen) einen zentralen Stellenwert“ ein.Footnote 204 So stellen Vertreter kognitiver Ansätze beispielsweise die Frage, „was ein Mensch wissen muss, um angemessen im Rahmen einer bestimmten Kultur zu handeln“.Footnote 205 Es geht ihnen also um den Erwerb und die Vorbedingungen kultureller Kompetenz, die sich in erster Linie aus der Existenz kollektiver Wissensbestände ergeben. Individuelle und Soziale Handlungen sind in diesem Sinne Ausdruck verinnerlichter Wissens- und Bedeutungsschemata, die innerhalb eines kulturellen Kommunikationszusammenhanges intersubjektiv geteilt werden.Footnote 206

Mentalistische Ansätze waren v. a. typisch für die US-amerikanische Cultural Anthropology. Ihre Vertreter_innen hatten (wie auch Geertz) die Tendenz, „Kultur als Bedeutungsgewebe zu betrachten, das aus sich selbst heraus verstehbar sei“.Footnote 207 Rahmenbedingungen der äußeren Umwelt wurden bei der Analyse indes zumeist vernachlässigt.Footnote 208 Auch aus diesem Grund musste sich Geertz’ Kulturverständnis im Laufe der Zeit einige Kritik gefallen lassen. Inzwischen hat die interpretative Ethnologie innerhalb des Faches weitgehend an Bedeutung verloren (in anderen Disziplinen – wie beispielsweise der Soziologie – ist sie jedoch nach wie vor noch äußerst einflussreich).Footnote 209 Karsten Kumoll fasst die wesentlichen Kritikpunkte anschaulich zusammen:

„Aus einer weltsystemtheoretischen und ideologiekritischen Sichtweise wird eingewandt, Geertz vernachlässige die Rolle historischer Kontexte, Auseinandersetzungen um Macht sowie soziale Ungleichheiten und reduziere Gesellschaften auf ihre ästhetische Dimension. Darüber hinaus wird Geertz’ Ansatz dafür kritisiert, deterministisch zu sein. Eng damit verknüpft ist die sozialtheoretische Kritik, dass ein latenter Widerspruch besteht zwischen einer handlungs- oder praxistheoretischen Perspektive einerseits und einer textualistischen Perspektive andererseits. Während Geertz nämlich […] den ‚Gebrauch‘ kultureller Muster im Rahmen sozialer Praxis analysiert, scheint er in seiner ‚Kultur-als-Text‘-Theorie die handelnden Akteure von den kulturellen ‚Texten‘ systematisch abzukoppeln. Zudem steht die symbolische Ethnologie dafür in der Kritik, das wissenschaftliche Kriterium der Überprüfbarkeit aufzugeben und die Ethnologie damit in Literatur zu verwandeln.“Footnote 210

Gerade der letzte Punkt führt zu einem anderen bedeutsamen Theoretiker, der sich insbesondere mit Fragen der ethnologischen Repräsentation von Kultur befasst und in diesem Zusammenhang die sogenannte Writing Culture Debatte angestoßen hat.

James Clifford ist eigentlich gar kein Ethnologe, sondern Historiker.Footnote 211 Der Grund dafür, dass er an dieser Stelle trotzdem in die Meilensteine der ethnologischen Theoriebildung eingereiht wird, ist seine enorme Wirkung auf die Entwicklungsgeschichte des Faches. Er nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Ethnologie ein, insofern er Ethnolog_innen zu seinem Forschungsgegenstand macht. Bekannt wurde er v. a. als Mitherausgeber von Writing Culture im Jahr 1986, einer der einflussreichsten ethnologischen Anthologien überhaupt. Seine beiden Beiträge innerhalb des Bandes (Partial Truths und On Ethnographic Allegory) wurden „zum Stichwortgeber einer Debatte […], die als ‚Writing Culture‘-Debatte in die jüngere Geschichte der Ethnologie eingegangen ist“.Footnote 212 Ursächlich dafür war insbesondere Cliffords berühmte These: „Ethnographic writings can properly be called fictions in the sense of ‘something made or fashioned’, the principal burden of the word’s Latin root fingere.“Footnote 213

Ethnographische Schriften sind Fiktionen, so Clifford, denn sie sind grundsätzlich literarischen Zwängen unterworfen, die den Rahmen dafür abstecken, was Wissenschaftlichkeit und Objektivität bedeuten, und die außerdem verbindliche Konventionen für deren Repräsentation festsetzen.Footnote 214 Clifford zufolge beruht die Glaubwürdigkeit ethnographischer Texte auf der Fähigkeit des Autors oder der Autorin, mit rhetorischen Mitteln Faktizität zu erzeugen. Diese Fähigkeit „besteht nicht zuletzt darin, bei der Beschreibung realer Ereignisse zugleich auch moralische, ideologische und kosmologische Aussagen zu treffen“, woraus der wissenschaftliche Text einen tiefergehenden, allegorischen Sinn erhält, welcher schließlich und endlich „als Bedingung seiner Bedeutsamkeit gilt“.Footnote 215

Die Autor_innen von Writing Culture, sowie auch viele andere Vertreter_innen der Postmoderne, wandten sich in erster Linie gegen das in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit bereits angesprochene Othering klassischer ethnographischer Texte. Sie kritisierten die statische Konservierung (und oft auch Exotisierung) ‚fremder‘ kultureller Lebenswelten aus der immer partiellen und immer auch subjektiven Sicht der Forschenden:

„They were uncomfortable with the reified ‘othering’ typical of classical modernist anthropology, and sought to redress this, often by advocating ‘experimental ethno-graphies’, where the informants participated as equal partners in the production of knowledge. They were critical of the Boasian (and, more recently, Geertzian) idea of cultures as integrated wholes with deep historical roots. Inspired by Foucault and cultural Marxists like Antonio Gramsci, they were also concerned with modes of re-presentation and the power implied by particular styles of writing.“Footnote 216

Clifford beispielsweise weist wiederholt darauf hin, dass wissenschaftliche Kulturrepräsentationen unauflöslich in das Spinnennetz weltweiter Machtbeziehungen verwickelt sind. Er hält fest: „Cultural analysis is always enmeshed in global movements of difference and power. However one defines it, and the phrase is here used loosely, a ‘world system’ now links the planet’s societies in a common historical process.“Footnote 217

Um diesen Machtbeziehungen sensibel begegnen zu können, plädiert Clifford für einen diskursiven Ansatz: „…who speaks? who writes? when and where? with or to whom? under what institutional and historical constraints?“Footnote 218. Ein solches Vorgehen empfiehlt sich besonders auch deshalb, weil Clifford Kultur als prozessuales Phänomen begreift, das in und durch Diskurse produziert wird:

„If ‘culture’ is not an object to be described, neither is it a unified corpus of symbols and meanings that can be definitely interpreted. Culture is contested, temporal, and emergent. Representation and explanation – both by insiders and outsiders – is implicated in this emergence.“Footnote 219

Kulturen sind ein Kaleidoskop, das überhaupt erst durch menschliche Interpretation manifest wird und sich außerdem ständig in Bewegung befindet. Anders als Geertz glaubt Clifford nicht daran, dass diese Interpretation abschließend durch einen ethnographischen Experten respektive eine ethnographische Expertin erfolgen könne. Aus seiner Sicht ist jede Interpretation immer bloß partiell und insofern subjektiv.

„‘Cultures’ do not hold still for their portraits. Attempts to make them do so always involve simplification and exclusion, selection of temporal focus, the construction of a particular self-other relationship, and the imposition or negotiation of a power relationship.“Footnote 220

Writing Culture hat in der ethnologischen Fachgemeinschaft eine weitreichende und streckenweise hitzige Debatte über Kultur und deren Repräsentation ausgelöst, über die Verantwortung und die Situiertheit jeder ethnographischen Forschung sowie über das Recht der Forschenden, andere Menschen und deren Lebensformen mit einem (vermeintlich) wissenschaftlich legitimierten Absolutheitsanspruch zu portraitieren. Die Gegenreaktionen fielen zum Teil heftig aus und es gab reichlich Kritik an der radikalen Perspektive Cliffords und seiner Co-Autor_innen.Footnote 221 Allem Widerstand zum Trotz hat die Debatte jedoch auch einige wesentliche Errungenschaften hervorgebracht und das Selbstverständnis des Faches nachhaltig gewandelt. Volker Gottowik listet ihre drei wichtigsten Auswirkungen auf:

„1. Das Fach hat sich im Hinblick auf das ethnographische Genre weitgehend von konventionellen Zwängen befreit. Ohne auf nennenswerten Widerspruch zu stoßen, lässt sich heute folgendes behaupten: Ethnographie ist, was Ethnographen schreiben.

2.Die Ethnologie stellt andere Kulturen nicht mehr als ahistorische, in sich homogene Einheiten dar. Es besteht mittlerweile Konsens darüber, dass der Gegenstand der Ethnologie einer Dynamik der Veränderung unterliegt und Kultur eigentlich immer im Plural stehen sollte.

3. Das Fach hat ein Maß an Selbstreflexivität an den Tag gelegt, das von anderen Fächern als beispielgebend empfunden wird.“Footnote 222

Im Zuge der Writing Culture Debatte – und darüberhinausgehend – haben sich nicht nur Stimmen erhoben, die auf eine reflexive Auseinandersetzung mit kultureller Repräsentation als solcher abzielen, sondern auch einige, die das Kulturkonzept von Grund auf ablehnen und es letztlich sogar vollends verwerfen wollen. Die folgende Autorin ist für eine derartige Sichtweise beispielhaft.

Lila Abu-Lughod hat dem ethnologischen Kulturbegriff in ihrem an die Writing Culture Debatte angeschlossenen Text Writing Against Culture (1991) eine Tendenz zu Spaltung und Hierarchisierung unterstellt.Footnote 223 Ihr zufolge wurde die gesamte ethnologische Disziplin auf der sozial konstruierten Bruchlinie zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Nicht-Westen‘ errichtet. An der Reproduktion dieser Bruchlinie wirke das Fach bis heute aktiv mit. Othering sei der Ethnologie immanent, ja, sogar ihre grundlegende Existenzbedingung:

„It has been and continues to be primarily the study of the non-Western other by Western self, even if in its new guise it seeks explicitly to give voice to the Other or to present a dialogue between self and other, either textually of through an explication of the fieldwork encounter […]. And the relationship between the West and the non-West, at least since the birth of anthropology, has been constituted by Western domination.“Footnote 224

Selbst Ethnolog_innen, die in der eigenen Gesellschaft forschen, versuchen laut Abu-Lughod, ihren Forschungsgegenstand ‚fremd‘ („other“) erscheinen zu lassen, um sich gegenüber anderen verwandten Disziplinen, wie etwa der Soziologie, abzugrenzen und damit am Ende ihre fachliche Daseinsberechtigung zu wahren. So werden etwa mit Vorliebe ethnische Minderheiten und ‚machtlose‘ Gruppen untersucht, anstatt sich etwa Phänomenen der dominanten ‚Mehrheitsbevölkerung‘ zu widmen (ein Phänomen, dass in der Vorbemerkung zu dieser Arbeit bereits eingehend problematisiert wurde).Footnote 225 Die eigene Positioniertheit der Forschenden, sowie das Machtgefälle zwischen Forschenden und Erforschten fällt dabei in der Regel unter den Tisch.Footnote 226 Der Kulturbegriff selbst trägt aus Abu-Lughods Sicht dazu bei, diese Spaltung noch zu befördern und ist daher mitursächlich für die fortbestehende Ungleichheit:

„The concept of culture is the hidden term in all that has just been said about anthropology. Most American anthropologists believe or act as if ‘culture’, notoriously resistant to definition and ambiguous of referent, is nevertheless the true object of anthropological inquiry. Yet it could also be argued that culture is important to anthropology because the anthropological distinction between self and other rests on it. Culture is the essential tool for making other. As a professional discourse that elaborates on the meaning of culture in order to account for, explain, and understand cultural difference, anthropology also helps construct, produce, and maintain it. Anthropological discourse gives cultural difference (and the separation between groups of people it implies) the air of the self-evident.“Footnote 227

In diesem Sinne vergleicht Abu-Lughod das Konzept Kultur mit dem Konzept der ‚Rasse‘. Kultur sei im Endeffekt tatsächlich eine Fortsetzung oder vielmehr eine neue Variante des alten, diskriminierenden Rassegedankens (etwa in Form von Kulturfundamentalismus und Herder’schem Commonsense) und berge aus diesem Grund auch ähnliche Gefahren.Footnote 228 Egal wie differenziert mit dem Kulturbegriff umgegangen werde, er trage immer schon den Hang zum Essentialismus in sich, da er äußere Abgrenzung einerseits und übersteigerte innere Homogenität andererseits proklamiere.Footnote 229 Vor diesem Hintergrund plädiert Abu-Lughod für ein Writing Against Culture, ein Schreiben gegen Kultur, beispielsweise indem andere, neuere Konzepte wie Diskurs oder Praxis an die Stelle des Kulturarguments tretenFootnote 230 oder indem die Interrelationen zwischen Forschenden und Erforschten sowie zwischen Erforschten und weiterem Weltsystem aktiv in den Blick genommen werden.Footnote 231 Weiterhin empfiehlt Abu-Lughod eine (wenigstens partielle) Abkehr vom wissenschaftlichen Versuch der Generalisierung und eine verstärkte Hinwendung zu Ethnographies of the ParticularFootnote 232 – „telling stories about particular individuals in time and space“:Footnote 233

„By focusing closely on particular individuals and their changing relationships, one would necessarily subvert the most problematic connotations of culture: homogeneity, coherence, and timelessness. Individuals are confronted with choices, struggle with others, make conflicting statements, argue about points of view on the same events, undergo ups and downs in various relationships and changes in their circumstances and desires, face new pressures, and fail to predict what will happen to them or those around them. So, for example, it becomes difficult to think that the term ‘Bedouin culture’ makes sense when one tries to piece together and convey what life is like for one old Bedouin matriarch.“Footnote 234

Der besondere Wert dieses Ansatzes liegt Abu-Lughod zufolge darin begründet, dass er, anstatt immerfort menschliche Unterschiede zu betonen, menschliche Gemeinsamkeiten zutage fördert und Verbindungen schafft, wo vorher Spaltung verortet wurde.Footnote 235 Überdies könne dadurch der ethnologischen (und überhaupt ‚westlichen‘) Verantwortung entsprochen werden, sich bestehende Machtstrukturen (und die eigene Rolle darin) bewusst zu machen, sowie einen Beitrag zu ihrer Überwindung zu leisten. Dies werde auch dem Anspruch des ‚westlichen‘ Humanismus gerecht, der die allgemeine Gleichheit aller Menschen propagiere.Footnote 236

Abu-Lughods Kritik an den essentialistischen Tendenzen des Kulturbegriffs (einschließlich ihres Verweises auf die sozio-historischen sowie politischen Rahmenbedingungen der Ethologie) ist durchaus gerechtfertigt – und sie ist auch beileibe nicht die einzige Vertreterin des Faches, die den Kulturbegriff inzwischen, wenn überhaupt noch, „in Anführungszeichen“ verwendet.Footnote 237 Ihr Gegenentwurf des Writing Against Culture bildet gewiss einen plausiblen Gegenpol zu überbordenden wissenschaftlichen Generalisierungsbestrebungen und etwaiger machtstruktureller Blindheit. Ob der Kulturbegriff allerdings wirklich verworfen werden muss, wie es ihre Ausführungen nahelegen, ist eine viel komplexere Frage und nicht leicht zu beantworten. Zwar beweist ‚Kultur‘ tatsächlich einen unbezweifelbaren Hang zur Essentialisierung, die simple Nicht-Benutzung des Wortes ist für dieses Problem jedoch keine umfassende Lösung. Essentialisierungen tauchen in der menschlichen Ideengeschichte immer wieder auf, mal in dieser, mal in jener Form, und letztlich ist jedes beliebige andere Konzept (z. B. Diskurs oder Praxis) für ihren Einfluss ebenso anfällig wie Kultur. So plädiert insbesondere auch Christoph Brumann in seinem Text Writing for Culture dafür, den Kulturbegriff zu erhalten und nennt hierfür mehrere plausible Gründe. Der Wichtigste davon ist wohl oder übel die Tatsache, dass der Begriff längst Eingang in die öffentliche Debatte gefunden hat und sein Einfluss dort irreversibel ist. Ein Austausch zwischen wissenschaftlicher und öffentlicher Sphäre – sowie die Korrektur von missverständlichen und essentialisierenden Gebräuchen in letzterer – sei leichter und effizienter möglich, wenn der Begriff beibehalten werde.Footnote 238 Vor diesem Hintergrund scheint der einzige Ausweg aus dem Dilemma eine umfassende und kritische Auseinandersetzung mit den Konnotationen und Implikationen dessen zu sein, was sich hinter dem Kulturbegriff und seinen artverwandten Konzepten verbirgt. Hierzu ist eine möglichst vielstimmige Diskussion erforderlich, die weit über einzelne Fächergrenzen hinausgeht. Im Folgenden soll daher versucht werden, einige Schlaglichter der interdisziplinären Theoriedebatte kurz und übersichtlich darzustellen.

Kulturtheorien mit fächerübergreifendem Einfluss

Es gibt kaum einen anderen Theoretiker, der eine solch breite, grenzübergreifende und nachhaltige Wirkung entfaltet hat, wie der Philosoph Michel Foucault. Besondere Bekanntheit erlangte er v. a. für sein Konzept des Diskurses, das Lila Abu-Lughod als heilsame Alternative zum ethnologischen Kulturbegriff anpreist. Diskurse im Foucault’schen Sinne konstituieren gesellschaftliche Wissensverhältnisse. Sie sind demnach keine „reine und einfache Verschränkung der Dinge und der Wörter“,sondern kommunikative Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.Footnote 239 Vor diesem Hintergrund will Foucault die Regeln und Regelhaftigkeiten des Diskurses begreifen, durch die Wesen, Sinn und Inhalt der Worte (oder der Dinge) überhaupt erst zu faktischer Geltung gelangen:Footnote 240

„Foucault showed, through historical studies of the treatment of deviance (insanity, criminality and sexuality) in Europe, how the taken-for-granted frameworks for understanding and acting upon the world have changed historically. He used the term discourse to delineate such frameworks. This term has been used by linguists for years, but in Foucault’s usage it meant specifically a public exchange of ideas, in which certain questions, agendas and definitions – so-called ‘discursive objects’ – evolved as the result of power struggles between participants, and imposed themselves on the sensual human body. In his ruthless, intensely beautiful prose […] Foucault spoke of the discourse as establishing a regime of knowledge.“Footnote 241

Wahrheit besitzt aus Foucaults Sicht keine eigenständige Faktizität, sondern ist eine bloße Funktion des Diskurses, die festlegt, was (von allem potentiell Sagbaren) gesagt, gehört und gewusst werden darf.Footnote 242 Mit dieser Reglementierung von Wissen in enger Verbindung steht überdies der Foucault’sche Begriff der Macht, denn „der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist […] nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“.Footnote 243 Wie Abschnitt 2.4 noch im Detail zeigen wird, ist Foucaults Machtbegriff dabei nicht hierarchisch (im Sinne von Herrschaft) angelegt. Vielmehr kämpfen in einer Gesellschaft immer mehrere Mächte miteinander und gegeneinander um (diskursive) Deutungshoheit.Footnote 244

Auch wenn Foucault sich hauptsächlich mit Spezialdiskursen (insbesondere den Wissenschaften) befasstFootnote 245 und sich weniger für öffentliche und allgemein zugängliche Diskurse interessiert, lassen sich seine Vorstellungen durchaus auf das Anwendungsgebiet des ethnologischen Kulturbegriffs übertragen. Kultur wäre demnach, analog zu Foucaults Diskurs, ein Konglomerat aus sozialen (insbesondere sprachlichen) Praktiken, die auf kollektiver Ebene Wissen generieren, Wahrheit definieren, Gegenstände konstituieren, Regeln für die soziale Interaktion festlegen und damit letztlich immer auch Macht ausüben. Sie wäre ein fluides, umkämpftes Regime, dass mit vielen anderen Regimen fortwährend um Dominanz ringt. Innerhalb einer jeden Gesellschaft gäbe es demnach nicht die eine Kultur, sondern viele, die sich in unentwegtem Streit befinden, manche davon einflussreich, andere weniger einflussreich, alle situativ, kontextgebunden und wandelbar.

Die Foucault‘sche Kulturtheorie (wenn man sie so nennen will) bringt sicherlich einige wichtige und kompatible Schnittstellen für die ethnologische Theoriebildung mit sich. Allerdings wurde sein Ansatz durchaus auch in manchen Punkten kritisiert. Ein Einwand ist beispielsweise, „dass Foucault einseitig den Kampf als Paradigma des Sozialen bestimmt habe und die vielfältigen Formen der Anerkennung zwischen Menschen nicht genügend berücksichtige“.Footnote 246 Ein anderer Einwand bezieht sich auf Foucaults relative Vernachlässigung der Rolle einzelner Akteur_innen. Die von ihm beschriebenen Diskurse erscheinen als weitgehend unabhängige, selbstständig Macht entfaltende Phänomene, daher könnte man seine Perspektive auch als „Diskurskonstruktivismus ohne Konstrukteure“ bezeichnen.Footnote 247 Um das Phänomen Kultur ganzheitlich zu betrachten, ist die Foucault’sche Perspektive daher für sich genommen nicht ausreichend.

Nahezu ebenso einflussreich wie Michel Foucault ist der französische Sozialtheoretiker Pierre Bourdieu. Die Geister scheiden sich bisweilen daran, ob er eher der Ethnologie oder der Soziologie zugerechnet werden kann. In der vorliegenden Zusammenfassung wird er jedoch bei den nicht-ethnologischen Kulturtheorien verortet, da sein Ansatz in vielerlei Hinsicht eher Kennzeichen einer soziologischen Perspektive trägt. Diese Kategorisierung erhebt allerdings keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Mit Bourdieu ist das zweite Konzept angesprochen, dass Abu-Lughod als Werkzeug eines Writing Against Culture anführt – Praxis. In Abkehr vom Strukturalismus früherer sozialwissenschaftlicher Ansätze nimmt Bourdieu nicht primär soziale Struktur als solche in den Blick, sondern untersucht die ständige Wechselwirkung von sozialer Struktur und sozialer Praxis. Das zentrale Element dieser Analyse ist der sogenannte Habitus:

„Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefaßt werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepaßt sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die, dies alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines ‚Dirigenten‘ zu sein“Footnote 248

Ähnlich wie Foucault beschäftigt Bourdieu sich mit dem Phänomen der Macht, welches auch bei ihm in enger Verbindung zum Aspekt des Wissens steht. Sein Machtbegriff ist allerdings deutlich hierarchischer und repressiver angelegt, als es bei Foucault der Fall ist. So interessiert er sich insbesondere für das Phänomen der symbolischen Herrschaft:

„Die symbolische Herrschaft […] ist vor allem […] über die symbolischen Dimensionen des sozialen Lebens, die Sinnbezüge, die Weltansichten und selbstverständlichen Denkweisen vermittelt. Zu ihren Grundeigenschaften gehört, dass ihr Repressionsgehalt weder unmittelbar bewusst wird noch offen zutage tritt.“Footnote 249

Stephan Moebius definiert symbolische Herrschaft im Anschluss an Lothar Peter als soziale Praxis, die „Menschen mit Hilfe symbolischer Bedeutungen, epistemischer Ordnungen und Sinnzuschreibungen, die sich in den meisten Fällen auf Personen, Dinge oder Verhaltensweisen beziehen, auf meistens unbewusste Weise zur Hinnahme, Verstetigung oder gar Befürwortung von Strukturen, Institutionen oder Akteuren gesellschaftlicher Herrschaft bewegt“.Footnote 250 Symbolische Herrschaft vermittelt demzufolge die Produktion und Reproduktion von Doxa, also von sozialen Ordnungen, die „stillschweigend als selbstverständlich hingenommen“ werden.Footnote 251 Auszuüben vermag symbolische Herrschaft indes nur, wer entsprechenden sozialen Einfluss geltend machen kann, denn „das Gewicht der jeweiligen Akteure hängt von ihrem symbolischen Kapital ab, das heißt von der – institutionalisierten oder nicht-institutionalisierten – Anerkennung durch eine soziale Gruppe“.Footnote 252 Symbolische Herrschaft beruht demnach auf gemeinsamen „Beurteilungs-, Denk- und Deutungsschemata“, die von Herrschenden und Beherrschten gleichermaßen geteilt werden.Footnote 253 Der Habitus ist dann die Einverleibung dieser gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse durch das Individuum und die Ausbildung korrespondierender Handlungsdispositionen.Footnote 254 Diese Einverleibung erfolgt – wie der Begriff an sich schon impliziert – nicht rein kognitiv (und schon gar nicht immer bewusst), sondern nimmt in Form einer körperlichen Hexis Einfluss auf den menschlichen Körper. In diesem Sinne produziert die Inkorporation der kulturellen Doxa „ein bestimmtes Gehen, eine spezifische Kopfhaltung, ein Verziehen des Gesichts, […] die jeweiligen Arten, sich zu setzen, mit Instrumenten umzugehen, dies alles in Verbindung mit einem jeweiligen Ton der Stimme, einer Redeweise und – wie könnte es anders sein? – mit einem spezifischen Bewußtseinsinhalt.“Footnote 255 Der menschliche Körper ist für Bourdieu ein soziales Konstrukt. Er beschreibt die körperliche Hexis daher auch als ‚einverleibten Mythos‘:

„Wie das Ethos oder der Geschmack – oder, wenn man will, die aisthesis – die wirklich gewordene Ethik oder Ästhetik darstellen, so ist auch die Hexis der wirklich gewordene, zur permanenten Disposition gewordene einverleibte Mythos, die dauerhafte Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen, und darin auch: zu fühlen und zu denken; dergestalt findet sich die gesamte Moral des Ehrverhaltens in der körperlichen Hexis zugleich symbolisiert und realisiert.“Footnote 256

Wenn man Bourdieus Konzept der Doxa als kulturelles Wissen auffasst und das Konzept des Habitus mit kultureller Prägung assoziiert, wird klar, dass Kultur nicht im Bereich der Kognition zu verorten ist. Vielmehr schreibt sie sich – in Form von sozialer Praxis – regelrecht in den menschlichen Körper ein und dirigiert dessen gesamte Selbst- und Weltwahrnehmung. Der Habitus nach Bourdieu ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem Prinzip der (vermeintlichen) kulturellen Homogenität innerhalb einer ethnischen Gruppe. Der Begriff der Ethnie zielt auf ideelle und identitäre Gruppengrenzen ab. Der Bourdieu’sche Begriff der Klasse (auf den sich sein Habituskonzept bezieht, s. o.) kategorisiert hingegen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nach ihren jeweiligen reellen Lebensverhältnissen. So können durchaus Angehörige derselben ethnischen Kategorie zugleich Angehörige unterschiedlicher sozialer Klassen sein (oder umgekehrt). Kulturelle Homogenität, wie Bourdieu sie oben anspricht, ist eine Konsequenz gleicher sozialer Lebensbedingungen. Diese gleichen Lebensbedingungen sind jedoch nicht zwingend an ethnische oder gar staatliche Grenzen gebunden. Sie können diese transzendieren oder aber zur Ausbildung von Subgruppen innerhalb einer Gesellschaft führen. Rein theoretisch können an sehr unterschiedlichen Orten der Welt zur selben Zeit (oder zu unterschiedlichen Zeiten) ähnliche Lebensverhältnisse zur Ausbildung ähnlicher Habitusformen führen. Nichts davon ist nach Bourdieus Logik ausgeschlossen.

Mit Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals (in Abgrenzung zum ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital) ist überdies ein weiteres Mal die Komponente Wissen angesprochen. Kulturelles Kapital bezeichnet kulturelle Güter (wie z. B. Bücher oder Gemälde) institutionalisierte Ausformungen wie etwa Bildungstitel sowie Bildung an sich, also sprich die Aneignung und Reproduktion sozial erwünschter Wissensbestände (z. B. schulisches / akademisches Wissen, Sozialkompetenz, Sprachkompetenz, Höflichkeitsformen, ‚Geschmack‘ u. v. m.).Kultur (hieran erkennt man seinen differenztheoretischen Kulturbegriff) ist für Bourdieu zu allererst Wissen, das durch den Habitus einverleibt wird und als solches in symbolisches Kapital, im Sinne von Prestige, transformiert werden kann, um die eigene Position im sozialen Feld zu behaupten oder zu verbessern. Der Zugang zu kulturellem (wie auch zu dem daraus resultierenden symbolischen) Kapital ist in jeder Gesellschaft zwangsläufig begrenzt. Seine ungleiche Verteilung ist durch die prägenden Strukturen der verschiedenen Klassenhabitus bedingt sowie durch die konkreten Machtverhältnisse und Zugangschancen im jeweiligen sozialen Feld der Interaktion. So kann unter Umständen unterschiedliches kulturelles Kapital von Nöten sein, um in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern Anerkennung zu finden (z. B. ökonomisches Feld vs. literarisches Feld). Auch hierin zeigt sich, dass Bourdieu keinesfalls von einer homogenen Kultur (im totalitätsorientierten Sinne) ausgeht, die der gesamten Gesellschaft gleichermaßen zu eigen wäre.Footnote 257

Bourdieus Theorie der Praxis und seinem Konzept des Habitus wurde des Öfteren ein gewisser Hang zur Statik unterstellt. Der Vorwurf lautet, dass sein Ansatz sozialen Wandel nicht adäquat erfassen oder erklären könne. Die Reproduktion sozialer Strukturen durch den Habitus werde als Zwangsläufigkeit konzipiert, obwohl sie sich in vielen Fällen tatsächlich eher durch ‚Unberechenbarkeit‘ auszeichne. Es sei diese ‚Unberechenbarkeit‘, die sozialen Wandel schließlich möglich mache.Footnote 258 Beate Krais und Gunter Gebauer halten diesem Einwand folgendes entgegen:

„In seiner Betonung von Erfahrung und praktischem Wissen knüpft Bourdieu […] an Aristoteles an. Der Habitus funktioniert nicht mechanistisch, sondern nach dem Modell lebender Systeme. Auf Lernprozesse bezogen bedeutet dies, dass Gelerntes verarbeitet wird. Danach hat man sich den Vorgang der Aneignung des Sozialen – wie überhaupt Lernprozesse – nicht so vorzustellen, als sei das Individuum eine Art Schrank, in dessen Fächer und Schubladen nun soziale Ordnungen, Vorstellungen, Klassifikationsschemata, Wissensbestände und so weiter einsortiert würden, gerade so, wie sie in der sozialen Wirklichkeit außerhalb des Individuums vorkommen. Vielmehr wird die Fülle der einzelnen Erfahrungen, die Menschen auf Grund ihrer Tätigkeit in der Welt machen, zu einem komplexen Erfahrungswissen zusammengearbeitet und immer wieder transformiert.“Footnote 259

Bourdieus Ansatz schließt eine gewisse ‚Unberechenbarkeit‘ – und damit letztlich auch die Möglichkeit zu sozialem Wandel – nicht notwendigerweise aus. Nichtsdestotrotz scheint sein Blick eher auf das große Ganze gerichtet zu sein und die Brüche und Widersprüchlichkeiten menschlicher Sozialisation streckenweise auszublenden. Seine Theorie der Praxis ist dennoch bis heute (zurecht) über Fächergrenzen hinaus renommiert und bietet durchaus das Potenzial, den ethnologischen Kulturbegriff in vielerlei Hinsicht zu bereichern. Kultur (als Dialektik aus Doxa und Habitus) wäre dann demzufolge ein aus dem steten Wechselspiel von Struktur und Praxis resultierendes Repertoire an kollektiv geteilten und individuell einverleibten Wissensbeständen und Dispositionen, welches dem oder der Einzelnen eine spezifische Position (sowie ggf. spezifische Aufstiegschancen) innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse zuweist. V. a. aber ist Kultur das Produkt realer Lebensumstände innerhalb einer spezifischen sozialen Umwelt und nicht etwa das quasi-natürliche Merkmal einer wie auch immer gearteten identitären Gruppierung.

Die Rolle handelnder Akteur_innen findet bei Bourdieu deutlich stärkere Beachtung als bei Foucault. Dennoch steht der kreative Umgang mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch bei ihm nicht unbedingt im Fokus des Interesses. Ihm geht es eher um die Regelungsstrukturen der sozialen Praxis, nicht so sehr um deren individuelle Auslegung. Ähnlich wie Foucault entwirft er ein Top-Down-ModellFootnote 260, das Akteur_innen als Produkt gesellschaftlicher Strukturen begreift. Es ist daher angezeigt, sich mit einem Theoretiker auseinanderzusetzen, dessen Ansatz sich nicht nur wachsender Beliebtheit in diversen Disziplinen erfreut, sondern dessen Hauptaugenmerk auch explizit auf die kreativen Interpretations- und Interaktionsleistungen der handelnden Akteur_innen ausgerichtet ist.

Erving Goffman ist ein kanadischer Soziologe und Schüler des symbolischen Interaktionismus der US-amerikanischen Chicago School. Fächerübergreifende Bekanntheit erlangte er v. a. durch sein Buch The Presentation of Self in Everyday Life – zu Deutsch: Wir alle spielen Theater – sowie den Entwurf seiner sogenannten Frame Analysis.Footnote 261 Seine ausgesprochene Popularität „geht auf seine Fähigkeit zurück, die kleinen Alltagssituationen zu analysieren, in denen wir oft beiläufig anderen begegnen. In der Tat nennt Goffman noch in seinem letzten Buch […] die (soziale) Situation als den Raum der Ko-Präsenz menschlicher Akteure den zentralen Gegenstand seiner Forschung“.Footnote 262 Auch wenn sein Interesse nicht dem Phänomen Kultur als solchem gilt, argumentiert Hubert Knoblauch, dass seinen Arbeiten „ein impliziter Begriff der Kultur“ zugrunde liegt, in dessen Zentrum zwischenmenschliche Prozesse der Kommunikation bzw. der Interaktion stehen.Footnote 263

Goffman geht davon aus, dass Beteiligte an einer Begegnungssituation immer Informationen über ihr jeweiliges Gegenüber benötigen, um dieses einerseits einschätzen und andererseits ihr eigenes Verhalten entsprechend anpassen zu können.Footnote 264 Nicht immer stehen jedoch, sozusagen ‚von Natur aus‘, genügend Informationen über die jeweils anderen zur Verfügung:

„Viele entscheidende Tatsachen liegen jenseits von Zeit und Raum der Interaktion oder bleiben in ihr verborgen. So können etwa die ‚wirklichen‘ oder ‚echten‘ Einstellungen, Überzeugungen und Gefühle des Einzelnen nur indirekt aus seinen Eingeständnissen oder seinem offenbar unabsichtlich sprechenden Verhalten erschlossen werden. Ebenso werden die anderen häufig, wenn der Einzelne ihnen eine Sache oder einen Dienst anbietet, die Verläßlichkeit seines Angebots nicht an Ort und Stelle überprüfen können. Sie werden dann gewisse Ereignisse als konventionelle oder natürliche Zeichen für etwas, das sie nicht unmittelbar wahrnehmen können, akzeptieren müssen. In der Terminologie G. Ichheisers gesprochen, wird der Einzelne so handeln müssen, daß er sich selbst absichtlich oder unabsichtlich ausdrückt und daß die anderen von ihm in bestimmter Weise beeindruckt werden.“Footnote 265

In seinem Frühwerk bedient sich Goffman der Metaphorik des Theaters und setzt den handelnden Akteur / die handelnde Akteurin mit einem Schauspieler / einer Schauspielerin gleich. Ihm zufolge ist die soziale Person „eine Maske, und was immer sich noch dahinter verbergen mag, gehört nicht zum gesellschaftlichen Leben. Die Maske ist das, womit ein Eindruck auf das jeweilige Publikum erzeugt werden soll“, um die Interaktion zu lenken und persönliche Vorteile zu erzielen.Footnote 266 Die interagierenden Personen kreieren demnach eine bestimmte Darstellung von sich selbst:

„Eine ‚Darstellung‘ (performance) kann als die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden, die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Wenn wir einen bestimmten Teilnehmer und seine Darstellung als Ausgangspunkt nehmen, können wir diejenigen, die die anderen Darstellungen beisteuern, als Publikum, Zuschauer oder Partner bezeichnen. Das vorbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder durchgespielt werden kann, können wir ‚Rolle‘ (part) nennen. […] Wenn wir soziale Rolle als die Ausübung von Rechten und Pflichten definieren, die mit einem bestimmten Status verknüpft sind, dann können wir sagen, daß eine soziale Rolle eine oder mehrere Teilrollen umfaßt und daß jede dieser verschiedenen Rollen von dem Darsteller bei einer Reihe von Gelegenheiten vor gleichartigem Publikum oder vor dem gleichen Publikum dargestellt werden kann.“Footnote 267

Um erfolgreich zu sein, müssen die Darstellenden bei ihrer Performance auf das jeweils zur Verfügung stehende, gemeinsam geteilte Repertoire an Ausdrucksformen zurückgreifen und ihr Handeln außerdem auf die gemeinhin akzeptierten Normen und Werte der fraglichen sozialen Umgebung abstimmen. Eine erfolgreiche Darstellung ist insbesondere deshalb wichtig, weil sie dazu dient, das eigene Selbst in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen und so einen etwaigen Gesichtsverlust zu vermeiden:Footnote 268

„Die Angst davor, das Selbst schädigende Informationen zu offenbaren, führt zu dem, was er als Eindrucksmanipulation (‚impression management‘) bezeichnet. Unangenehme Szenen werden vermieden, in denen das Selbst, das man darstellt, und das, das man darstellen möchte, auseinanderklaffen. Das Selbst ist damit immer auch eine Maske, die aktiv aufrechtzuerhalten ist. Goffman spricht hier von ‚face work‘, also der Arbeit daran, das Gesicht zu wahren. In jeder Interaktion wird vom Individuum erwartet, besondere Eigenschaften, Fähigkeiten und Informationen zu besitzen, die sich so zu einem Selbst ergeben, dass es zugleich als zusammenhängende und der Situation angepasste Einheit erscheint.“Footnote 269

Gespräche dienen, nach Goffmans Verständnis, also weniger der Vermittlung von Informationen als vielmehr der eigenen Selbstdarstellung im Sinne von Performance. Sie nehmen damit letztlich die Form von Ritualen an,Footnote 270 innerhalb derer Darstellende und Publikum auf Basis einer gemeinsamen kulturellen Wirklichkeitskonstruktion und daraus wechselseitig erwachsender Erwartungshaltungen ‚komplizenhaft‘ dazu beitragen, dass eben diese Wirklichkeitskonstruktion in Form sozial definierter Rollen reproduziert wird – die einen, indem sie die Rolle darstellen, die anderen, indem sie deren Darstellung akzeptieren.Footnote 271

Goffmans frühe Texte verorten sich gewissermaßen in der Nähe eines relativ eng ausgelegten handlungstheoretischen Rational Choice Ansatzes,Footnote 272 da sie implizieren, Akteur_innen seien rational agierende Subjekte, die mit strategischen Mitteln und aus strategischen Gründen heraus einen vorteilhaften Eindruck von sich selbst vermitteln. Von dieser Haltung weicht Goffman jedoch später deutlich ab.Footnote 273 Dies zeigt sich u. a. in seinem Konzept der Frames, das sich fächerübergreifend stetig wachsender Popularität erfreut. Ein Frame ist nach Goffmans Lesart ein „Organisationsprinzip menschlicher Erfahrung und Interaktion“.Footnote 274 Während andere Ansätze Frames „lediglich als Leistungen des subjektiven Bewusstseins ansehen […], sind die Rahmen, von denen Goffman spricht, Teil von sozialen Handlungen und kollektiven Aktivitäten“ und rücken damit unausweichlich in die Nähe von Kultur.Footnote 275 Goffman unterscheidet verschiedene Arten vom Frames, am bedeutendsten sind an dieser Stelle allerdings die von ihm definierten Primary Frameworks:

„I say primary because application of such framework or perspective is seen by those who apply it as not depending on or harking back to some prior or ‘original’ interpretation; indeed, a primary framework is one that is seen as rendering what would otherwise be a meaningless aspect of the scene into something that is meaningful.“Footnote 276

Solche Primary Frameworks untergliedern sich in Natural Frameworks einerseits und Social Frameworks andererseits:

„Natural frameworks identify occurrences seen as undirected, unoriented, unanimated, unguided, ‘purely physical’. Such unguided events are ones understood to be due totally, from start to finish, to ‘natural’ determinants. […]

Social frameworks, on the other hand, provide background understanding for events that incorporate the will, aim, and controlling effort of an intelligence, a live agency, the chief one being the human being. Such an agency is anything but implacable; it can be coaxed, flattered, affronted, and threatened. What it does can be described as ‘guided doings’. These doings subject the doer to ‘standards’, to social appraisal of his action based on its honesty, efficiency, economy, safety, elegance, tactfulness, good taste, and so forth.“Footnote 277

Beide Typen der Primary Frameworks, natürliche wie soziale, sind soziale Konstruktionen. Auch Natural Frameworks müssen demnach nicht im eigentlichen Sinne natürlich sein, sie müssen bloß gemeinhin als natürlich gelten (hier zeigt sich eine wesentliche Schnittstelle zum Konzept der Folk Concepts, wie es für diese Arbeit von besonderer Relevanz ist).Footnote 278

Alle Arten von Frames stellen gewisse Regeln für die Interaktion auf, auch wenn Form, Inhalt und Verbindlichkeit dieser Vorschriften je nach Frame und Kontext variieren (Goffman vergleicht hier die Regeln für eine Partie Dame mit den Regeln der Straßenverkehrsordnung). Frames sind überdies niemals eindimensional. In so gut wie jeder Situation kommen multiple Frames zur Anwendung und leiten (großenteils unbewusst) die jeweilige Interaktion der beteiligten Personen an, indem sie Informationen bereitstellen und die situative Wahrnehmung dirigieren:Footnote 279

„Taken all together, the primary frameworks of a particular social group constitute a central element of its culture, especially insofar as understandings emerge concerning principal classes of schemata, the relations of these classes to one another, and the sum total of forces and agents that these interpretive designs acknowledge to be loose in the world. One must try to form an image of a group’s framework of frameworks – its belief system, its ‘cosmology’ […]. And note that across a territory like the United States there is an incomplete sharing of these cognitive resources. Persons otherwise quite similar in their beliefs may yet differ in regard to a few assumptions, such as the existence of second sight, divine intervention and the like.“Footnote 280

Kultur nach Goffman ist demnach ein lose ineinander verstricktes Netzwerk aus Frames, welches sich in sozialen Praktiken der Kommunikation realisiert, ohne dabei jedoch jemals vollständige Homogenität herzustellen. Kultur hat für Goffman „ihren Ort in sozialen Situationen der Begegnung mit Anderen“, welche ihrerseits durch kulturelle Rahmungen koordiniert werden – dabei wird klar „dass wir keineswegs nur in einer Wirklichkeit leben. Schon wir selbst sind ja nur ein Produkt der Gesichtsarbeit, die wir in einer Situation investieren. […] Vermöge der Rahmungen kann die Situation selber wiederum mehrfach verschachtelt sein“; welche Wirklichkeit dabei letztlich in der Begegnung relevant wird, hängt von der Indizierung durch Frames und die damit in Verbindung stehende wechselseitige Eindrucksmanipulationen ab.Footnote 281

Auch wenn Goffmans Analyseebene eine andere ist, lassen sich doch deutliche Gemeinsamkeiten zwischen seinem Begriff der Frames, dem Bourdieu’schen Begriff des Habitus, und dem Foucault’schen Begriff des Diskurses ausmachen. Sie alle zielen letztlich auf die eine oder andere Weise auf die Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit ab – durch Macht, durch Wissen, durch soziale Praxis, durch Kommunikation. Während Foucault und Bourdieu in ihrer Analyse jedoch die interaktionistische Akteursperspektive vernachlässigen, bleibt bei Goffman die Frage danach, wie Frames eigentlich entstehen, weitgehend ungeklärt. Er beschäftigt sich eher mit den Konsequenzen der Existenz von Kultur und weniger mit ihrem Ursprung. Daher soll im Folgenden ein Theoretiker eingeführt werden, dessen Ansatz diesbezüglich in vielversprechenderweise Abhilfe schaffen kann.

Der Soziologe Thomas Luckmann steht der hohen Konjunktur des Kulturbegriffs in den Sozialwissenschaften eher skeptisch gegenüber. Nichtsdestoweniger argumentiert Bernt Schnettler, dass Kultur in seinem Ansatz implizit eine zentrale Rolle spielt.Footnote 282 Bezeichnend hierfür ist v. a. seine Unterscheidung zwischen Lebenswelt und Alltagswelt. Die Lebenswelt nach Luckmann „umfasst die gesamte Breite aller möglichen Sinnbezirke, die vom Bewusstsein erlebt werden können – von den Welten der Phantasievorstellungen über Traumwelten, die Welt ästhetischer Erfahrung, die Welt der Wissenschaft usw.“.Footnote 283 Sie ist zu unterscheiden von der jeweiligen Alltagswelt, also der intersubjektiv geteilten Welt, „in der die Gesellschaftsmitglieder ihre gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander aushandeln, aufbauen und fortlaufend bestätigend aufrechterhalten oder verändern“.Footnote 284 Die Vorbedingung der Lebenswelt ist die universale menschliche Fähigkeit zu Wahrnehmung, Deutung und Sinnbildung. Die Vorbedingung der Alltagswelt hingegen ist die kollektive Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit in konkreten sozialen Kontexten:

„Die Lebenswelt als Summe unterschiedlicher finiter Sinnprovinzen enthält also die Beschreibung allgemein menschlicher Universalien – und konstituiert sich bei Luckmann jenseits, oder besser: vor jeder Kultur. Diese Konzeption gründet sich auf der Annahme, dass es eine universal menschliche Grundlage für das Verstehen gibt. […] Während also die Konstitution [des Menschen] eine ‚mathesis universalis‘ für das Verstehen liefert, stellt der Umstand, dass Menschen immer in bestimmte und bereits vorexistierende historische und gesellschaftliche Strukturen hineingeboren werden, das ‚soziohistorische Apriori‘ dar. Die Analyse der Konstitution erfordert […] eine Ergänzung durch die der Konstruktion. […] Stehen also die Strukturen vor jeder Kultur, gerät nun mit der Konstruktion die Kultur in den Blick.“Footnote 285

Denkt man an Abu-Lughod und ihr Vorhaben, mittels ethnologischer Feldforschung menschliche Gemeinsamkeiten (anstatt immer neuer kultureller Unterschiede) in den Fokus der Betrachtung zu rücken, wird klar, dass Luckmanns zweischneidiger Ansatz hierfür einen äußerst brauchbaren Ausgangspunkt bietet: Die Universalien des menschlichen Kognitionsvermögens finden Berücksichtigung, ohne dabei den Faktor Kultur (und damit auch die Unterschiedlichkeit menschlicher Deutungssysteme) zu vernachlässigen.

Renommiert ist Luckmann insbesondere für sein gemeinsam mit Peter L. Berger verfasstes Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und die darin entworfene Vision einer neuartigen Wissenssoziologie, die mit ihrer veränderten Ausrichtung erheblich in die Nähe des ethnologischen Erkenntnisinteresses rückt: „Sie reformuliert die Wissenssoziologie als eine Aufgabe, die nicht mehr primär der Analyse des intellektuellen Sonderwissens und der Ideengeschichte gewidmet ist, sondern den Strukturen des Wissens in der Welt des Alltags“.Footnote 286

Berger und Luckmann beginnen ihre Untersuchung, indem sie (unter Rückbezug auf die Ethnologie) nach den grundlegenden Entstehungsvoraussetzungen von Kultur fragen. Diese sind ihrer Ansicht nach darin zu sehen, dass der Mensch, anders als andere Spezies, keine artspezifische Umwelt habe, „deren Struktur ihm sein eigener Instinktapparat sichert“.Footnote 287 Hieraus folge eine größere Offenheit des Menschen gegenüber unterschiedlichen Lebensbedingungen und -formen:

„Für die Völkerkunde ist es ein Gemeinplatz, daß die Arten und Weisen, Mensch zu werden und zu sein, so zahlreich sind wie die menschlichen Kulturen. Menschsein ist sozio-kulturell variabel. Mit anderen Worten: Eine biologische Natur des Menschen, die als solche sozio-kulturelle Gebilde und ihre Mannigfaltigkeit bestimmte, gibt es nicht. Menschliche Natur gibt es nur in Form anthropologischer Konstanten – zum Beispiel Weltoffenheit und Bildbarkeit des Instinktapparates. Die anthropologischen Konstanten machen die sozio-kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich und beschränken sie zugleich. Die jeweilige Eigenart, in der Menschenhaftigkeit sich ausprägt, wird umgekehrt aber bestimmt durch eben diese sozio-kulturellen Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: der Mensch macht seine eigene Natur – oder, noch einfacher: der Mensch produziert sich selbst.“Footnote 288

Menschwerdung – und damit auch die Entwicklung eines eigenen Selbst – erfolgt immer innerhalb spezifischer sozialer Kontexte. Menschliche Identität entsteht durch die Sozialisation in einer sozio-kulturellen Umwelt. Sie umfasst nicht nur ein sozial vermitteltes Selbstbild, sondern ist eine regelrechte Einverleibung (man erkennt hier die Ähnlichkeit zur Bourdieus Habitus) von korrespondierenden psychologischen, emotionalen und sogar körperlichen Eigenschaften (z. B. somatischen Reaktionen):Footnote 289

„Damit dürfte deutlich geworden sein, daß die Behauptung, der Mensch produziere sich selbst, nichts mit einer prometheischen Vision vom einsamen Individuum zu tun hat. Die Selbstproduktion der Menschen ist notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat. Zusammen produzieren die Menschen eine menschliche Welt mit der ganzen Fülle ihrer sozio-kulturellen und psychologischen Gebilde. Keines dieser Gebilde darf als Produkt der biologischen Verfassung des Menschen aufgefaßt werden – die, wie gesagt, dem produktiven Tun des Menschen lediglich die äußeren Grenzen setzt. So unmöglich es dem Menschen ist, sich in völliger Vereinzelung zum Menschen zu entwickeln, so unmöglich ist es ihm auch, in der Vereinzelung eine menschliche Umwelt zu produzieren. Vereinzeltes Menschsein wäre ein Sein auf animalischem Niveau – ,das der Mensch selbstverständlich mit anderen Lebewesen gemein hat.“Footnote 290

Im Zentrum von Bergers und Luckmanns Werk steht die Frage, wie aus subjektivem menschlichen Erleben eine soziale Wirklichkeit entstehen kann, die den Eindruck objektiver Faktizität erweckt.Footnote 291 Die Antwort auf diese Frage hat v. a. mit dem Begriff der Institution zu tun. Berger und Luckmann gehen davon aus, dass Menschen eine grundsätzliche Tendenz zur Habitualisierung aufweisen, sprich eine Tendenz zu gewohnheitsmäßigem Handeln. Solche Habitualisierungen sind die grundlegende Voraussetzung für die Entstehung von Institutionen, welche wiederum eine Grundvoraussetzung für die Entstehung von Gesellschaft überhaupt bilden. Institutionalisierung bezeichnet die soziale Typisierung habitualisierter Handlungen sowie deren sozial konstruierte Zuordnung zu bestimmten Typen von Handelnden. Institutionen machen „aus individuellen Akteuren und individuellen Akten Typen“, postulieren also, dass „Handlungen des Typus X von Handelnden des Typus X ausgeführt werden“:Footnote 292

„Durch bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle. Sie stellen Verhaltensmuster auf, welche es in eine Richtung lenken, ohne ‚Rücksicht‘ auf die Richtungen, die theoretisch möglich wären. Dieser Kontrollcharakter ist der Institutionalisierung als solcher eigen.“Footnote 293

Der Gedanke, dass soziale Institutionen menschliches Denken und Handeln anleiten findet sich in ähnlicher Weise auch bei Mary Douglas. Sie verweist darauf, dass Institutionen sich durch ihre Verankerung „in reason and in nature“ legitimieren und auf diese Weise einerseits aus menschlicher Kognition hervorgehen, diese kognitiven Prozesse andererseits aber auch maßgeblich vorbestimmen.Footnote 294 Weitgehend parallel dazu halten Berger und Luckmann fest, dass Institutionen durch ihre Historizität den Anschein objektiver Geltung generieren, denn sie gehen dem einzelnen Individuum immer schon voraus. Zusätzlich gefestigt werden sie durch Mittel der Tradition und Legitimation sowie durch Maßnahmen der sozialen Kontrolle.Footnote 295 Des Weiteren sind Institutionen untrennbar mit dem Aspekt des Wissens verknüpft. Wissen über Institutionen und deren Regeln definiert die soziale Wirklichkeit und damit die gesamte Weltordnung, wie sie von den Mitgliedern einer Gesellschaft kollektiv erfahren wird. Dabei ist Wissen über die Welt (und damit die Welt selbst) einerseits ein menschliches Produkt, andererseits produziert dieses Wissen auch den Menschen als soziales Geschöpf:Footnote 296

„Da dieses Wissen als Wissen gesellschaftlich objektiviert ist, das heißt, da es das Allgemeingut an gültigen Wahrheiten über die Wirklichkeit darstellt, muß jede radikale Abweichung von der institutionalen Ordnung als Ausscheren aus der Wirklichkeit erscheinen. Man kann derartige Abweichungen als moralische Verworfenheit, Geisteskrankheit oder bloße Ignoranz ansehen. Für die Behandlung dessen, der abweicht, mögen solche feinen Unterscheidungen durchaus ihre Folgen haben. Gemeinsam ist ihnen jedoch allen ein geringer kognitiver Status in der sozialen Welt. So wird eine bestimmte gesellschaftliche Welt zur Welt schlechthin. Was in der Gesellschaft für Wissen gehalten wird, wird gleichbedeutend mit dem Wißbaren oder ist wenigstens der Rahmen für alles Noch-nicht-Gewußte, das in Zukunft gewußt werden könnte.“Footnote 297

Institutionen, im Sinne Bergers und Luckmanns, sind keinesfalls statisch, auch wenn sie in der Tat einen gewissen Hang zur Verstetigung aufweisen. Zum einen können sich unter bestimmten Umständen gesellschaftliche Prozesse der Entinstitutionalisierung vollziehen,Footnote 298 zum anderen existieren in der menschlichen Lebenswelt multiple (und nicht selten konkurrierende) Wirklichkeiten nebeneinander (so z. B. die Wirklichkeit des Alltags vs. die Wirklichkeit des Traums). Sie werden zwar mittels sogenannter tradierter symbolischer Sinnwelten zu einer Hierarchie der Wirklichkeiten integriert, innerhalb derer die Wirklichkeit der Alltagswelt den höchsten Rang einnimmt, dennoch ist in der Grenzerfahrung widerstreitender Wirklichkeiten immer auch die Möglichkeit des Bruchs, des Wandels und der Abkehr vom gewiss Geglaubten angelegt:Footnote 299

„Die Legitimation der institutionalen Ordnung ist also mit der ständigen Notwendigkeit konfrontiert, ein Chaos in Schach zu halten. Jede gesellschaftliche Wirklichkeit ist gefährdet und jede Gesellschaft eine Konstruktion am Rande des Chaos. Der gesetzlose Terror ist eine konstante Möglichkeit, deren Verwirklichung sich nähert, wann immer Legitimationen, die die Gefahr verdecken, bedroht sind oder zerbrechen. […] Es ist sehr begreiflich, daß solchen Ereignissen die feierlichste Versicherung der überlebenden Wirklichkeit schützender Symbole auf dem Fuße folgen.“Footnote 300

Hierin läge auch eine Erklärung für das Aufflackern des Nationalismus in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs, wie es in Abschnitt 2.1 bereits diskutiert wurde. Symbolische Sinnwelten tendieren grundsätzlich dazu, sich selbst bewahren zu wollen, auch und gerade in Situationen des Widerspruchs. Problematisch wird die Aufrechterhaltung von Wirklichkeit, „sobald ganze Gruppen von ‚Bewohnern‘ symbolischer Sinnwelten sich auf eine abweichende Version ihrer Auslegung einlassen“, weil diese „abweichende Version dann zu einer Wirklichkeit eigenen Rechts [erstarrt], die durch ihr bloßes Vorhandensein in der Gesellschaft den ursprünglich gesetzten Wirklichkeitsstatus der symbolischen Sinnwelt in die Schranken fordert“.Footnote 301 Der Kampf gegen oder die versuchte Unterdrückung von abweichenden Wirklichkeitskonzeptionen ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, die sich aus einer solchen Ambivalenz ergibt. Vielmehr zeichnen sich moderne Gesellschaften in der Regel durch einen gewissen Pluralismus aus, in der Form, dass „sie alle bestimmte gemeinsame Grundelemente einer Sinnwelt aufweisen, die als solche Gewißheitscharakter haben, daß aber zusätzlich verschiedene Teilsinnwelten bestehen, die im Status gegenseitiger Übereinkunft koexistieren“, ohne dabei ständig in offenen oder sogar gewaltsamen Konflikt auszubrechen.Footnote 302 „Toleranz oder gar Kooperation“ treten hier an die Stelle ideologischer AushandlungskämpfeFootnote 303 – ein Gedanke, der sowohl Foucault als auch Bourdieu mit ihrer Grundannahme antagonistischer Machtbeziehungen eher fern liegt.

Wandel ist überdies auch auf individueller Ebene möglich. Berger und Luckmann unterscheiden hier die primäre Sozialisation – als erstmalige „Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft“Footnote 304 – von Prozessen der sekundären Sozialisation – als „Internalisierung institutionaler oder in Institutionalisierung gründender ‚Subwelten‘“Footnote 305 – sowie vom Prozess der Resozialisation – als das völlige oder auch nur teilweise ‚Umschalten‘ „von einer Welt zur anderen“ (z. B. im Rahmen von Migrationsprozessen):Footnote 306

„Die primäre Sozialisation endet damit, daß sich die Vorstellung des generalisierten Anderen – und alles, was damit zusammenhängt – im Bewußtsein der Person angesiedelt hat. Ist dieser Punkt erreicht, so ist der Mensch ein nützliches Mitglied der Gesellschaft und subjektiv im Besitz eines Selbst und einer Welt. Seine Internalisierung von Gesellschaft, Identität und Wirklichkeit gilt jedoch nicht für allemal. Sozialisation ist niemals total und niemals zu Ende.“Footnote 307

So, wie die Gesellschaft durch ihre Brüche und ineinander verschachtelten Wirklichkeiten ständig in Bewegung ist, ist es also auch die menschliche Persönlichkeit. Jede Institutionalisierung bietet gleichermaßen das Potenzial zu Verstetigung oder Veränderung, je nach Konstellation, Situation und Kontext.

Berger und Luckmann entwerfen in ihrem Werk eine umfangreiche und detaillierte Vision der Entstehung von Kultur (im Sinne von institutionalisiertem Wissen und institutionalisierter Praxis) durch menschliches Handeln, sowie von der Prägung und Lenkung menschlichen Handelns und menschlicher Wahrnehmung durch die Ordnungsprinzipien von Kultur. Ihr Fokus auf Wissen und Institutionen erinnert einerseits an Foucaults Variante des Diskurses sowie (in einer interaktionistischen Lesart) an Goffmans Frames. Mit dem Hinweis auf die Kontrollfunktion von Institutionen sowie auf den dialektischen Prozess der Internalisierung und Externalisierung von gesellschaftlicher Wirklichkeit wird überdies eine Parallele zu Bourdieus Symbolischer Herrschaft und seinem Modell des Habitus sichtbar. Die Kompatibilität dieser vier Theoretiker liegt (auch wenn sie alle unterschiedliche Perspektiven einnehmen) klar auf der Hand. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit überwindet dabei aber einige Schwierigkeiten, die im Hinblick auf die anderen Ansätze bereits kritisiert worden sind: Sie integriert sowohl eine gesellschaftstheoretische als auch eine handlungstheoretische Sichtweise, die weder einzelne Akteur_innen noch den sie umgebenden sozialen Rahmen hintenanstellt.Footnote 308 Außerdem räumt sie nicht nur die potenzielle Möglichkeit zu sozialem Wandel ein, sondern formuliert diesen systematisch aus. Letztens beschäftigt sie sich nicht allein mit den Konsequenzen und Funktionsweisen einer irgendwie gearteten kulturellen Ordnung, sondern fragt zuallererst nach deren grundlegenden Existenzbedingungen. Ihr Ansatz kann also in mancherlei Hinsicht als deutlich holistischer bewertet werden als die der vorgenannten Autoren (auch wenn er andersherum sicherlich in manchen Punkten Schwächen aufweist, die durch Rückbezug auf eben diese Autoren sinnvoll ausgeglichen werden können. So wird z. B. das Prinzip der Sozialisation durch das Bourdieu’sche Konzept des Habitus deutlich umfassender ausformuliert, als dies bei Berger und Luckmann der Fall istFootnote 309).

Innerhalb der Soziologie haben Luckmanns theoretische Arbeiten weitreichenden Nachhall erzielt und auf viele sehr unterschiedliche Bereiche der Theoriebildung prägenden Einfluss genommen. Seine Überlegungen sind darüber hinaus auch für die Ethnologie äußert fruchtbar. Denkt man an Abu-Lughods Appell eines Writing Against Culture, bietet Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit einen vielversprechenden Ansatzpunkt. Gleichzeitig bietet sie allerdings auch einen vielversprechenden Ansatzpunkt dafür, den Kulturbegriff weiter zu denken, anstatt ihn abzuschaffen. Folgt man Luckmanns impliziter These, dass das Verständnis des Kulturellen sowie des Nicht-Kulturellen, des Universalen wie des Partikularen einander zwangsläufig bedingen, ergeben sich daraus weitreichende Anwendungsmöglichkeiten und neue Fragestellungen für die ethnologische Forschungspraxis.

Folk Concepts von Kultur

Die oben vorgestellten Theorieentwürfe, von Foucault bis Luckmann, sind auf die eine oder andere Art dem wissenschaftlichen Konstruktivismus zuzuordnen. Insgesamt ist nicht nur in der Ethnologie, sondern gleichsam in den gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften ein Trend weg vom Essentialismus früherer Jahrzehnte und hin zu konstruktivistischen Argumentationsweisen zu beobachten. Dieser Trend ist aber durchaus nicht ungebrochen. So ist eines der (v. a. auch im öffentlichen Raum) meistrezipierten kulturtheoretischen Werke der jüngeren Zeitgeschichte das dem Essentialismus (oder vielmehr Kulturfundamentalismus) verhaftete Buch Kampf der Kulturen (Originaltitel: Clash of Civilizations) des Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington aus dem Jahr 1996. Er schreibt:

„In der Welt nach dem Kalten Krieg ist die Weltpolitik zum erstenmal (sic!) in der Geschichte multipolar und multikulturell geworden. Für die längste Zeit menschlichen Daseins auf Erden waren Kontakte zwischen den Kulturen sporadisch oder nicht existent. […] In der Welt nach dem Kalten Krieg sind die wichtigsten Unterscheidungen zwischen Völkern nicht mehr ideologischer, politischer oder ökonomischer Art. Sie sind kultureller Art. […] Nationalstaaten bleiben die Hauptakteure des Weltgeschehens. Die wichtigsten Gruppierungen von Staaten sind jedoch nicht mehr die drei Blöcke aus der Zeit des Kalten Krieges, sondern die sieben oder acht großen Kulturen der Welt…“Footnote 310

Aus (heutiger) ethnologischer Sicht ist Huntingtons Argumentation äußerst befremdlich. Nicht nur scheint seine Behauptung von der historischen Isolation unterschiedlicher kultureller Gruppen jeglicher empirischer Grundlage zu entbehren, genauso erstaunt seine Einteilung der Welt in sieben oder acht große ‚Kulturen‘ (er benutzt hierfür auch das weiter oben bereits problematisierte Wort ‚Kulturkreise‘) denen er letztlich einen geradezu zwingenden Antagonismus unterstellt. Soziale Zugehörigkeit (beispielsweise im Sinne von nationaler Identität) scheint für ihn gleichbedeutend zu sein mit kulturellem Inhalt – auch wenn in Abschnitt 2.2 bereits mehr als ersichtlich geworden ist, dass kulturelle und identitäre Grenzen weitgehend voneinander entkoppelt sind. Im weiteren Verlauf seines Buches, sowie in weiterführenden Texten, entwickelt Huntington überdies die These von der Bedrohung der USA durch rezente Migrationsprozesse (v. a. aus Lateinamerika) und rekurriert auf eine statische und angeblich historisch vorbedingte angelsächsische Leitkultur, die insbesondere an den christlichen Protestantismus gebunden sei und die es, dem Fortbestand der Nation zuliebe, um jeden Preis zu schützen gelte (hier zeigen sich gewisse Anklänge an Colemans Konzept der Civil Religion, siehe Abschn. 2.2). Dabei mobilisiert er, wie Berndt Ostendorf anschaulich zeigt, alte US-amerikanische Diskurse der Angst vor Krisen und wechselnden Feindbildern, vor der Globalisierung und einem Untergang des Nationalen, vor der Machtübernahme kosmopolitischer Eliten und der Überfremdung durch kulturelle und ‚rassische‘ Heterogenität. Seine Argumentationslinie folgt einer binären Logik von ‚gut‘ und ‚böse‘ und misst die moralische Wertigkeit einer Kultur nicht zuletzt an ihrem wirtschaftlichen Erfolg. Die Folge ist ein ‚Ranking‘ der Zivilisationen und eine ethnozentrische Essentialisierung (oder Rassifizierung) nationaler Kultur, deren Ausformulierung deutlich an Spielarten des kulturfundamentalistischen New Racism erinnert:Footnote 311

„Es wird bei ihm deutlich, dass er sich vom eigentlich klassischen amerikanischen Konzept der Staatsnation in Richtung Kulturnation bewegt. Während er global durchaus das multikulturelle Nebeneinander und die Eigenarten der jeweiligen Zivilisationen unterstützt, bleibt er zu Hause Monokulturalist. Huntington betreibt also eine radikale Identitätspolitik auf der Basis einer recht engen und statischen Definition seiner anglo-amerikanischen, protestantischen Leitkultur. […] Huntington, so möchte ein Anthropologe wohl sagen, gehört zur Schule der cultural developmentalists, der den Gedanken der Kultur mit Entwicklung zusammendenkt.“Footnote 312

Mit Huntington schließt sich der Kreis zu den eingangs vorgestellten früh-ethnologischen Theorien des Evolutionismus und Diffusionismus. Auch wenn das Fach selbst diese Phase längst überwunden hat, hat sie andernorts ganz offensichtlich bleibenden Eindruck hinterlassen. Dies gilt nicht nur für fachfremde Theoretiker_innen wie Huntington, sondern v. a. auch für die dominanten Deutungsmuster der öffentlichen Debatte, die, besonders in den letzten Jahren, wachsende Ähnlichkeit zu Huntingtons Argumentationslinie aufweisen. Andreas Reckwitz identifiziert zwei gegenläufige soziale Prozesse der Kulturalisierung von Gesellschaft, sprich also der Interpretation von sozialer Wirklichkeit entlang populärer Definitionsmodelle von Kultur:

1.) Die erste Variante der Kulturalisierung ist durch und durch konstruktivistischer Natur und wird hauptsächlich von der Klientel des globalen Kulturkapitalismus sowie von der gesellschaftlichen Mittelklasse getragen – also von eben jenen kosmopolitischen Eliten, die Huntington in seinem Werk als Feindbild ausmacht:Footnote 313

„Kultur ist hier gewissermaßen Hyperkultur, in der potenziell alles in höchstvariabler Weise kulturell wertvoll werden kann. Entscheidend für die abstrakte Form dieser Kulturalisierung sind einerseits Objekte, die sich auf kulturellen Märkten bewegen, andererseits Subjekte, die den Objekten mit einem Wunsch nach Selbstverwirklichung gegenüberstehen. Kultur findet in dieser Konstellation immer auf kulturellen Märkten statt, in denen kulturelle Güter miteinander im Wettbewerb stehen. […] Die Kultursphäre bildet hier gewissermaßen einen Attraktions- und Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Wettbewerb um Anziehungskraft und das Urteil des Wertvollen ausgetragen wird.“Footnote 314

Handelnde Subjekte spielen eine besondere Rolle im Gesellschaftsmodell der Hyperkultur. Die Objekte, die auf den kulturellen Märkten zur Verfügung stehen, sind für sie in erster Linie „potenzielle kulturelle Ressourcen zur Entfaltung ihrer Besonderheit und Expressivität, kurz: Ihrer Selbstverwirklichung“.Footnote 315 Kultur wird zum Konsumgut und zum variablen Baustein des eigenen Selbst. „Die valorisierten Gegenstände der Kultur – seien es attraktive urbane Umgebungen, Berufe mit intrinsischer Motivation, Designobjekte, Reiseziele oder selbst die spirituellen Offerten auf dem Markt der Religionen – bilden nun Versatzstücke, in denen sich das Individuum seine subjektive Kultur zusammensetzt. Die kulturellen Güter zeichnen sich in der Hyperkultur folglich durch Kombinierbarkeit und Hybrisierbarkeit aus“.Footnote 316 Hyperkultur bezeichnet damit eine Form des Kosmopolitismus, wie er in Abschnitt 2.2 bereits kritisch hinterfragt wurde – ein Kosmopolitismus der Entlokalisierung und der wachsenden sozialen Beliebigkeit, in dem jede Form der Diversität grundsätzlich als unproblematisch vorausgesetzt wird und durch den die Menschen sich letztlich zu ewigen Touristen entwickeln.Footnote 317 Mit ihrer Überbetonung von menschlicher Agency begeht die populäre Konstruktion der Hyperkultur (wenigstens aus ethnologischer Sicht) überdies einen logischen Fehler, der auch im Hinblick auf einige wissenschaftliche Varianten des Konstruktivismus kritisiert wurde. So sind Menschen keine rein strategischen Akteur_innen ohne jedwede soziale Vorstrukturierung, die völlig frei in ihren Wahlmöglichkeiten und allein ihrem eigenen Willen verpflichtet selbstständig Entscheidungen treffen. Wie Seyla Benhabib sagt: „In menschlichen Angelegenheiten ist nicht alles möglich“.Footnote 318 Kultur erschöpft sich nicht bloß in endlosen Kombinations- und Konsumoptionen. Sie leitet, wie man weiter oben gesehen hat, menschliche Weltwahrnehmung an, bringt Brüche, Widersprüche und Konflikte hervor, erzeugt Macht und übt soziale Kontrolle aus. All das fällt bei einer Konzeption von Kultur als Hyperkultur stillschweigend unter den Tisch.

2.) Die zweite Variante der Kulturalisierung zeichnet sich, im Gegensatz zum radikalen Konstruktivismus der ersten, durch einen extremen Essentialismus aus und hat überdies deutliche Parallelen zu einem ethnonationalen Gesellschaftsentwurf. Getragen wird sie vor allem von den neuen Bewegungen und Gruppierungen kollektiver Identitätspolitik:

„Es handelt sich mithin um die Kultur der Identitären. Dies betrifft in gemäßigterer Form Teile des Feldes der identity politics in den USA, in denen sich Herkunftsgemeinschaften (Schwarze, Hispanics, Italo-Amerikaner etc.) imaginieren. Es gilt für die neuen Nationalismen etwa in Russland, China oder Indien und für neue sogenannte fundamentalistische religiöse Bewegungen wie Salafisten oder Pfingstkirchler. Man muss dem Vorurteil deutlich entgegentreten [...], diese Kultur-Communities reaktivierten lediglich Alltagskulturen aus der Vorzeit der Moderne, das heißt aus traditionalen Gesellschaften. Faktisch betreiben sie, ganz im Gegenteil, eine ausgesprochen aktive, gegen die in der Moderne ‚vorgefundenen‘ Lebenswelten gerichtete Umwertung. Frühe Formen dieser Kulturalisierungsform finden sich bereits im 19. Jahrhundert, vor allem in den nationalistischen Bewegungen. In ihrer heutigen Fassung sind sie jedoch als Reaktionen auf das kulturelle Vakuum des Rationalismus der organisierten Moderne und auf die seit den 1980er Jahren global expandierende Hyperkultur zu verstehen.“Footnote 319

Reckwitz’ Entwurf des Kulturessenzialismus (oder auch Kulturfundamentalismus, um bei der bereits etablierten Terminologie zu bleiben) hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Konzept der cultural anxiety nach R. D. Grillo. Damit ist die Angst vor dem Verlust einer essentialistisch konzipierten ‚eigenen Kultur‘ durch den Kontakt mit ebenfalls essentialistisch imaginierten ‚fremden Kulturen‘ gemeint.Footnote 320 Ähnlich wie Huntingtons Kampf der Kulturen (und weitgehend parallel zu dessen Argumentationslinie) wendet sich der populäre Kulturfundamentalismus dann auch in diametraler Weise gegen die oben nachgezeichneten Annahmen der Hyperkultur:

„Erstens ist Kultur hier nicht als ein unendliches Spiel der Differenzen auf einem offenen Bewertungsmarkt organisiert, sondern modelliert die Welt in Form eines jeweiligen Antagonismus, eines Antagonismus zwischen Innen und Außen, zwischen ingroup und outgroup, der zugleich ein Dualismus zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen ist. Dieser Prozess verläuft also nicht dynamisch und mobil, sondern arbeitet vielmehr daran, die Eindeutigkeit der wertvollen Güter – der Glaubenssätze, der Symbole, der nationalen Geschichte, der Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft – nach innen aufrechtzuerhalten und zugleich nach außen eine konsequente Devalorisierung zu betreiben […]. Zweitens ist diejenige Instanz, die gewissermaßen in den Genuss der Kultur kommt und damit den Referenzpunkt der Kultursphäre bildet, nun nicht das sich selbst verwirklichende Individuum, sondern das Kollektiv, die community, die sich über die Sphäre des als wertvoll Anerkannten ihrer Gemeinschaftlichkeit versichert. Drittens schließlich arbeitet […][diese Art der Kulturalisierung] nicht mehr mit einem Regime der Innovation und des Neuen, der ständigen Selbstüberbietung […], sondern mit einer Prämierung des ‚Alten‘, der vermeintlichen ‚Tradition‘, was sich in einem entsprechenden Bezug auf Narrationen der Geschichte oder auf historische Moralkodizes niederschlägt. Kollektiv und Geschichte tragen hier dazu bei, Kultur gewissermaßen zu essenzialisieren.“Footnote 321

In dieser fundamentalistischen Lesart von Kultur spiegelt sich zum einen eine klassische Variante des ethnologischen Essentialismus wider, die von einem unverrückbaren kulturellen ‚Wesenskern‘ ausgeht und durchaus auch durch (überkommene) wissenschaftliche Modelle inspiriert ist.Footnote 322 Zum anderen wird darin ein Mechanismus offenbar, den Berger und Luckmann in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit anschaulich beschrieben haben: Wird die symbolische Sinnwelt der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch anderslautende Auslegungen bedroht, versucht sie sich durch Rückbesinnung auf tradierte Symbole und Strukturen ihrer selbst zu vergewissern, was häufig im Kampf um Deutungshoheit und dem Versuch der Unterdrückung ‚des Anderen‘ mündet. Reckwitz merkt an: „Was wir in der Spätmoderne vielerorts beobachten, ist nur sehr vordergründig ein Huntington’scher Kampf der Kulturen, sondern letztlich ein Widerstreit zwischen diesen beiden Kulturalisierungsregimen […], zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus.“Footnote 323

Am Beispiel der von Reckwitz beschriebenen Kulturalisierungsregime und insbesondere auch am Beispiel nationalistischer Identitätspolitiken lässt sich anschaulich beobachten, dass Kultur und Politik nahtlos ineinanderfließen. Kulturelle Deutungen leiten politische Struktur und politisches Handeln an. Politische Strukturen wiederum finden in kulturellen Wirklichkeitskonstitutionen ihren Ausdruck. Auch Abner Cohen hat ausdrücklich auf diese Wechselwirkung hingewiesen und ihre Bedeutung für die ethnologische Forschungsarbeit herausgestrichen:

„The cultural is continuously interpenetrated by the political and is thereby transformed into ideology, whether of the so-called ‘dominant class’ or of a collectivity opposing it. Meanwhile the political is constantly expressed, articulated and objectified in terms of cultural forms and performances. There is no pure culture. There is no pure politics. That is why the analysis of the relation between culture and politics is so fundamental – and so complex.“Footnote 324

Kultur und (politische) Macht bedingen einander gegenseitig. Kulturelle Ordnung speist ihre Legitimation immer aus einem irgendwie gearteten Machtbezug (z. B. in Form von symbolischem Kapital und symbolischer Herrschaft). Macht wiederum entsteht durch die Bezugnahme auf kulturelle Konventionen. Dabei spielen Emotionen eine wesentliche Rolle. Abweichungen von der bzw. Angriffe auf die kollektiv als wahr und richtig akzeptierte Norm (z. B. auf Kulturalisierungsregime oder nationalistische Prinzipien) provozieren für gewöhnlich heftige emotionale Gegenwehr, weil damit die gemeinhin als Realität anerkannte soziale Wirklichkeitskonstruktion ins Wanken gerät: „The apparent rationality of the world is threatened and emotional responses are attempts (‚magically‘) to reassert rational order […] In such cases emotion provides a magical […] negation of the cause of disruption“.Footnote 325 In diesem Sinne sind Emotion und rationale Ordnung keine antagonistischen Prinzipien, vielmehr hängen sie unmittelbar miteinander zusammen.Footnote 326 Emotionen entstehen überdies nicht nur als stabilisierende Abwehrreaktion auf eine konkurrierende Wirklichkeitswahrnehmung, sie sind außerdem auch ein entscheidender Teil der Macht, mit welcher Akteur_innen versuchen, ihre jeweilige Wirklichkeitswahrnehmung gegen andere durchzusetzen.Footnote 327

In diesem Zusammenhang tritt u. a. die Bedeutung von Ritualen in den Vordergrund. David I. Kertzer fasst Rituale als „symbolic behavior that is socially standardized and repetitive“.Footnote 328 Gerade dieser repetitive Charakter ist es auch, der ihnen einen Großteil ihre Macht verleiht, indem er eine (immer auch emotionale) Aura des Besonderen schafft und sie auf diese Weise aus dem Alltag der Akteur_innen herauslöst. So bemerkt Verkaaik, dass Rituale kulturelle Wirklichkeitsdeutungen (oder auch politische Botschaften) leichter transportabel machen, weil weniger fassbar und losgelöst vom ggf. korrigierenden Gegengewicht der Alltagserfahrung:Footnote 329 „…the repetitive form is crucial in bringing about a register of experience quite distinct from the ordinary that can both sanctify the status quo and open up new subject positions.“Footnote 330

Durch Unterbrechung des Alltäglichen, durch ihre Separation von der Alltagswelt, entfalten Rituale Macht – zur Konsolidierung einer wie auch immer gearteten rationalen Ordnung einerseits und zu ihrer Transformation andererseits.Footnote 331 Dies tun sie v. a. indem sie – im Anschluss an Victor Turner – durch ihre symbolische Dimension, dem „cultural weave […] of symbolic warf and thematic weft“, in komplexer Weise auf die kollektive Alltagswelt zurückverweisen.Footnote 332 Egal ob sie eine existierende symbolische Weltordnung aktualisieren oder eine neue Ordnung etablieren wollen, Rituale müssen (wenigstens teilweise) auf konventionalisierte Symbole zurückgreifen, um Legitimität und damit Macht zu erzeugen.Footnote 333 Diese Symbole können ihrerseits sehr wohl mehrdeutig sein (und sind es in der Regel auch). Es ist gerade die unweigerliche Polysemie der Wörter (oder der Dinge) die, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, politischen und religiösen Ideologien ihre Macht verleiht.Footnote 334

Im Kontext von Staat und Nation nehmen Rituale für gewöhnlich die Form von Invented Traditions nach Hobsbawm an, insofern sie durch Wiederholung und Anknüpfung an eine ‚mythische‘ Vergangenheit, kulturelle Kontinuität und Stabilität suggerieren. Zu diesem Zweck können Rituale zum einen tradierte Sinnzusammenhänge auf neue Kontexte anwenden, oder aber (erfundene) Traditionen (wenigstens partiell) aus alten Bausteinen neu zusammensetzen:Footnote 335

„More interesting, from our point of view, is the use of ancient materials to construct invented traditions of a novel type for quite novel purposes. A large store of such materials is accumulated in the past of any society, and an elaborate language of symbolic practice and communication is always available. Sometimes new traditions could be readily grafted on old ones, sometimes they could be devised by borrowing from the well-supplied warehouses of official ritual, symbolism and moral exhortation…“Footnote 336

Rituale und Symbole sprechen dabei nicht nur eine rein kognitive Ebene an, sie nehmen überdies auch Einfluss auf den menschlichen Körper, indem sie emotionale Reaktionen erzeugen. Gerade diese emotionale Wirkung ist ein wesentlicher Teil der Macht, die von ihnen ausgeht, und derer sich Diskurse – wie etwa die von Hobsbawm beschriebenen Nationalismen oder die obengenannten Kulturalisierungsregime – bei der Durchsetzung ihrer Weltdeutungen bedienen.Footnote 337 Verkaaik beispielsweise stellt in Bezug auf die von ihm untersuchten Einbürgerungsfeiern fest, dass Rituale, um wirklich erfolgreich zu sein, die Emotionen der Teilnehmenden ansprechen müssen und dies gelingt ihnen am besten mit Hilfe von Ressourcen der Ästhetisierung – „color, beauty, significance, and dignity“.Footnote 338 Ian D. Edgewater zeigt das u. a. am Beispiel von Musik. Diese lasse kulturelle Aussagen bedeutungsvoll erscheinen, weil der menschliche Körper die Prädisposition mitbringe, auf Töne emotional anzusprechen. Die genaue Ausformung der emotionalen Reaktion wiederum sei kulturell vorgeprägt und werde sozusagen antrainiert.Footnote 339

Im Rahmen der von Verkaaik und Edgewater beschriebenen Emotionalisierung kultureller Botschaften spielen nicht nur Rituale, sondern in besonderem Maße auch moderne Massenmedien eine entscheidende Rolle. Massenmedien wie Fernsehen, Radio, Film, Printmedien und nicht zuletzt das Internet sind in modernen Gesellschaften wesentlich an Prozessen der kulturellen Produktion und Reproduktion von Wirklichkeit sowie der damit einhergehenden Imagination von (nationaler) Gemeinschaft beteiligtFootnote 340 (die Bedeutung dieses Umstands für die Ausbreitung nationalistischer Ideologien wurde bereits in Abschnitt 2.1 beleuchtet). Dabei bedienen sie sich einerseits extensiver Emotionalisierungstechniken (z. B. in Form von Werbung und Marketing) und machen andererseits die emotionalen Äußerungen anderer Individuen immer und überall erlebbar bzw. ‚konsumierbar‘ (z. B. über soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Twitter, über Online-Dienste wie Youtube, über Berichte und Interviews in Radio, Zeitungen und Fernsehen oder aber über emotionale Inszenierungen in Filmen, Liedern und Romanen).Footnote 341 Die Erzeugung von Macht durch mediale Emotionsvermittlung ist dabei gerade auch im politischen (und / oder nationalistischen) Kontext relevant:

„Emotions reinforce arbitrary conventions and boundaries. They give them a sense of meaning or reality and necessity. And political processes, symbols and rituals function to call up those emotions and utilize them. The political uses of patriotic sentiment would be one good example of this, as would be the use of flags, anthems and slogans to ‘whip’ it up. […] Through marches, dances and songs we call up the emotional magic that reinforces and supports our (contingent) ways of acting and thinking. Again, this is important in relation to questions of social integration and order.“Footnote 342

James M. Wilce listet verschiedene Techniken der emotionalen Einflussnahme auf, wie sie in der politischen (sowie in der medial vermittelten öffentlichen) Arena – und insbesondere im Rahmen von (kultureller / nationaler) Identitätspolitik – anzutreffen sind. Das zentrale Element sind dabei Formen der Gruppenbildung durch rhetorische Mittel. So sei es für Politiker_innen (aber auch für alle anderen Sprecher_innen mit einer ideologischen Agenda) entscheidend, ihrem Publikum den Eindruck zu vermitteln (im Sinne Goffman’scher Eindrucksmanipulation), dass sie zentrale emotionale Erfahrungswerte mit ihren Anhänger_innen teilten. Auf diese Weise kreieren sie Imaginationen von kollektiver Identität und (emotionaler) Gemeinschaft.Footnote 343 Dieses Gemeinschaftsgefühl werde weitergehend durch die Nutzung persönlicher Erfahrungsberichte und individueller Fallbeispiele bestärkt, welche geeignet sind, die Empathie der Zuhörer_innen zu mobilisieren, indem sie emotionale Anknüpfungspunkte liefern. Wilce beobachtet dieses Phänomen u. a. am Beispiel des (nationalistischen) USS Arizona Memorial zum Gedenken an den Angriff auf Pearl Harbour, das erst durch die Zeitzeugenberichte der dort arbeitenden Voluntär_innen seine volle identitätsstiftende Wirkung entfalte.Footnote 344

Als bedeutendes Mittel der politischen (wie auch der poetischen) Rhetorik identifiziert Wilce überdies an rituelle Rede gemahnende Formen von Satz-, Wort- oder Satzstrukturwiederholungen:

„The textuality of the most effective examples of political rhetoric […] inevitably involves various forms and levels of parallelism, complete and partial repititions. […] Such parallelistic structure […] has its own emotional effect, whether through sheer force of repetition or through complex patterns of emergent textual movement.“Footnote 345

Tanja Petrović untersucht in diesem Zusammenhang, wie gerade der repetitive, ritualisierte Sprachgebrauch der politischen Sphäre im Rahmen von Parodien genutzt wird, um dominante Wirklichkeitskonstruktionen zu hinterfragen.Footnote 346 Zitation wird damit zum Mittel des Protests und des Widerstands. Zitation im klassischen Sinne wiederum dient dazu, den eigenen Aussagen Autorität zu verleihen, indem an dominante Wirklichkeitskonstruktionen (und deren Repräsentant_innen) angeknüpft wird.Footnote 347

Rhetorische Strukturen, die – wie etwa Repetition oder Zitation – dazu angetan sind, emotionale Reaktionen hervorzurufen, dienen in politischen Reden häufig als sogenannte claptrap, also als Aussage, die gezielt dazu eingesetzt wird, beim Publikum Applaus, Gelächter oder eine beliebige andere emotionale Äußerung zu provozieren.Footnote 348 Wilce Argumentation ist insofern kompatibel mit Goffmans Vorstellungen von zwischenmenschlicher Interaktion, als auch Wilce davon ausgeht, dass diesem Vorgang eine inhärente Intersubjektivität zugrunde liegt. Bestimmte kulturell vordefinierte Emotionalisierungsformen (oder Frames) indizieren spezifische, ebenfalls kulturell antrainierte Affektreaktionen. Die emotionale Macht entsteht somit aus dem impliziten Zusammenwirken zwischen Darstellenden und Publikum:Footnote 349

„Thus, the denotational text constituting a speaker’s applause line indexes an orientation to the stance and feelings of the audience; its rhythm, intonational contour, and unfolding structure signal to them when to add their emotive ‘second’ to the speaker’s (e)motion.“Footnote 350

Als wichtigstes Element der hier beschriebenen claptrap nennt Wilce darüber hinaus die sprachliche Vergemeinschaftung durch Worte wie WIR und UNSER, aber auch die rhetorische Abgrenzung gegenüber Außenstehenden, Fremden oder gar (vermeintlichen) Feinden.Footnote 351 Er sieht darin „the political system’s need to create common sentiment, loyalty, and – arising out of this – commitment to national causes that are seldom if ever completely innocent.“Footnote 352

Unabhängig davon, ob man annimmt, dass die Nutzung emotionaler Mittel eine aktive Strategie rationaler Akteur_innen ist, oder ob man davon ausgeht, dass menschliche Interaktion immer auch eine emotionale Komponente aufweist und eine klare Trennung zwischen Rationalität und Emotionalität nicht möglich ist,Footnote 353 wird anhand der obigen Beispiele deutlich, dass Emotionen im Spannungsfeld unterschiedlicher kultureller Wirklichkeitswahrnehmungen eine entscheidende Rolle spielen – sowohl bei deren Erzeugung, als auch als Reaktion auf ihre Bedrohung von außen. Im Kontext des oben dargestellten Kampfes zwischen Hyperkultur und Kulturfundamentalismus ist außerdem das in Online-Communities und Sozialen Netzwerken mittlerweile sehr verbreitete Phänomen der Hate Speech relevant. Hate Speech – also eine emotional stark aufgeladene sprachliche Abwehrreaktion gegenüber Nicht-Mitgliedern der eigenen Gruppe – ist häufig gerade auch in Kontexten zu beobachten, in denen die eigene Wirklichkeitskonstruktion durch andere, konkurrierende Konstruktionen erschüttert wird – also z. B. in Fällen von cultural anxiety nach Grillo.Footnote 354 Für die USA konstatiert Wilce in diesem Zusammenhang ein Phänomen, dass auch in der deutschen öffentlichen Debatte zu beobachten ist. Demnach werden xenophobe und rassistische Äußerungen von denjenigen, die sie tätigen, häufig damit entschuldigt, dass sie nicht so gemeint gewesen seien. Die Benutzung von rassistischem oder in anderer Form beleidigendem Vokabular werde nicht als Problem an sich aufgefasst. Problematisch sei eine solche Rhetorik erst, wenn auch wirklich eine ‚böse Absicht‘ dahinterstecke. Wenn eine derartige Äußerung trotz ‚guter Absicht‘ als beleidigend (miss)verstanden werde und eine entsprechende emotionale Gegenreaktion hervorrufe, dann liege das Problem in erster Linie bei denjenigen, die die Botschaft empfangen, nicht aber bei denjenigen, die sie senden. Die Emotion der Sprechenden wird in diesem Fall ganz offensichtlich höher bewertet als die Emotion der Adressat_innen. Wilce weist daraufhin, dass dieser Haltung eine sehr spezifische Sprachideologie (im Sinne von kollektiv anerkannten Vorstellungen über richtigen Sprachgebrauch) zugrunde liegt. Die Bedeutung des Gesagten wird demnach in der Emotion verortet, die hinter der Aussage steht, und nicht etwa in der Aussage selbst (während beispielsweise – wie Wilce kontrastierend anführt – in Samoa Aussage und Bedeutung eine untrennbare Einheit bilden). Durch die kulturell akzeptierte Distanzierung vom Gesagten, können rassistische, xenophobe, kulturfundamentalistische oder in anderer Weise diskriminierende Konnotationen quasi ungebremst (und unsanktioniert) reproduziert werden. Das, was aus analytischer Sicht als Hate Speech gelten muss, und das, was in der Öffentlichkeit (oder zumindest innerhalb einer spezifischen kollektiven Wirklichkeitskonstitution) als Hate Speech wahrgenommen wird, weicht demnach z. T. erheblich voneinander ab.Footnote 355 Auch hierin zeigt sich, dass es, wie Birgitt Röttger-Rössler schreibt, kein „vom Denken unabhängiges Fühlen/Erleben“ gibt und Emotionen, genauso wie deren Deutung und Gewichtung, immer kulturell vermittelt sind.Footnote 356

Sprachideologien, wie die hier beschriebene, sowie auch der emotionale Schutzmechanismus, der kulturelle Wirklichkeitsdefinitionen gegeneinander abschirmt, lassen nationalistische Ideologien – und ihre etwaigen Kulturalisierungsregime – in der öffentlichen Debatte als diametrale und unversöhnliche Pole erscheinen. Vor dem Hintergrund, dass populäre und wissenschaftliche Definitionen von Nation, Identität und Kultur – so unterschiedlich sie auch im Einzelnen ausfallen mögen – nicht unabhängig voneinander existieren, bringt dieser Umstand einige Implikationen für die analytische Betrachtung mit sich: Intuitive Kulturdeutungen – Hyperkultur genauso wie Kulturfundamentalismus – sind, mit all ihren offensichtlichen Unzulänglichkeiten, Überbleibsel der wissenschaftlichen Theoriebildung früherer Jahrzehnte. Wenn in Europa neuerdings ein wiedererstarkender Nationalismus um sich greift, der sich in seiner Argumentation auf essentialistische Auslegungen von Kultur und Identität stützt,Footnote 357 dann ist die wissenschaftliche Sphäre daran nicht unbeteiligt. Ihre Beteiligung beschränkt sich auch nicht allein auf Provokateure wie Huntington, die wahllos und unreflektiert Ideen und Konzepte anderer Disziplinen instrumentalisieren. Sie umfasst durchaus auch die frühen Ansätze der Ethnologie, die in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor präsent sind, ohne dass ihr Ursprung der breiten Masse bewusst wäre (man denke nur an den Begriff des Kulturkreises wie ihn u. a. auch Huntington benutztFootnote 358).Footnote 359 Daraus folgt eine Verantwortung der Sozial- und Geisteswissenschaften – und insbesondere der Ethnologie als Mutterdisziplin des Kulturbegriffs – sich in die öffentliche Debatte einzubringen und irrige Kulturvorstellungen, wenn nicht ‚gewaltsam gerade zu rücken‘ (was weder möglich, ratsam noch angemessen wäre), so doch zumindest durch eine wissenschaftlich fundierte Gegenperspektive aufzuwiegen und aktuelle Erkenntnisse über Fächergrenzen hinaus transparent zu machen.Footnote 360 In diesem Zusammenhang stellen Mijal Gandelsman-Trier und Astrid Wonneberger fest: „Die Ethnologie ist in Deutschland kaum sichtbar.“Footnote 361 Auch Michael Schönhut beklagt, dass in der öffentlichen Debatte um Kultur und kulturelle Differenz, ethnologische Stimmen versäumen, sich in adäquater Weise Gehör zu verschaffen:

„Besonders die deutsche Ethnologie tut sich bis heute schwer mit der Einmischung in den öffentlichen Diskurs. Die Last der Nazizeit, in der einige angesehene Fachkollegen offen mit der Rassenpolitik des faschistischen Regimes sympathisierten, andere dagegen für immer emigrierten, führte nach dem Weltkrieg zu einer kulturhistorischen Rückbesinnung. Bis in die 1980er blieb die Frage der gesellschaftlichen Rolle der Ethnologie auf einzelne Beiträge beschränkt. […] Bis heute gelingt der Spagat zwischen Wissenschaft und Praxis den wenigsten. Es gibt keine Institutionen, die einen Wechsel oder einen Austausch an den Schnittstellen gewährleisten würden. Es gibt (außer in Trier [und Tübingen]) keine Professur, die einen Anwendungsbezug in der Widmung hat und es gibt wenige Fachvertreter, die daran auch nur ein Interesse hätten – auch wenn es in letzter Zeit Anzeichen für eine Veränderung gibt.“Footnote 362

Viele (gerade auch junge) Vertreter_innen der deutschsprachigen Ethnologie sind auf der Suche nach neuen Wegen in die Öffentlichkeit.Footnote 363 Dieser Schritt ist – v. a. im Hinblick auf die hier beschriebenen populären Kulturkonstruktionen und ihre machtvolle emotionale Verselbstständigung – mehr als wichtig. Die kollektive Konstruktion von Kultur steht in enger Verbindung mit der kollektiven Imagination von Identität im Allgemeinen und Nation im Besonderen und bringt letztlich – das hat Abschnitt 2.2 anschaulich gezeigt – reale Konsequenzen für das politische Handlungsfeld von Integration und Einbürgerung mit sich. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit darf in einem solch konfliktbeladenen und gesellschaftlich hochgradig relevanten Feld nicht allein den extremen Polen unwissenschaftlicher Deutung (und Emotionalisierung) überlassen bleiben. Die Wissenschaft, und v. a. die Ethnologie, muss sich – schon allein aus ihrer historischen Verantwortung heraus – in diese die Gegenwart prägende und die Zukunft entscheidende Diskussion miteinmischen. Dies gilt umso mehr, da die deutsche Ethnologie Teil eines demokratischen Systems ist, zu dessen unabdingbaren Grundvoraussetzungen „eine aufgeklärte Öffentlichkeit“ gehört.Footnote 364 Autor_innen wie Habermas oder Benhabib betonen die Bedeutung von Debatten für die Funktionsfähigkeit und Legitimation demokratisch verfasster Gesellschaften.Footnote 365 Debatten können (wie die Präsentation der Untersuchungsergebnisse in Kapitel 4 und 5 dieser Arbeit noch ausführlich veranschaulichen wird) jedoch nur zu konstruktiven Ergebnissen führen, wenn Klarheit über ihre zentralen Grundbegriffe herrscht. Hier hat die Wissenschaft – und insbesondere auch die Ethnologie – zweifelsohne einen wesentlichen Beitrag zu leisten.

2.4 Diskurs, Wissen und Macht: Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit

In Abschnitt 2.3 sind wesentliche Querverbindungen zwischen den Konzepten Kultur, Wissen und Macht offenbar geworden. Wissen und Macht sind als zentrale Komponenten jedweder kulturellen Wirklichkeitskonstruktion hervorgetreten – auch und gerade im Hinblick auf die dominanten Folk Concepts von Kultur, Identität, Nation und Integration. Wissen und Macht finden ihre Vereinigung überdies im Begriff des Diskurses, wie ihn Michel Foucault einführte. In Abschnitt 2.3 ist der Diskursbegriff bereits als Variante des Kulturkonzepts diskutiert worden. Seine Bedeutung für das ethnologische Erkenntnisinteresse steht damit außer Frage. Diskurs – im Foucault’schen Sinne – und Kultur – im ethnologischen Sinne – sind artverwandte Theoriegebilde. Das Foucault’sche Diskursverständnis ist allerdings nur eines unter vielen. Die wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche Definition von Diskurs gestaltet sich annähernd so facettenreich wie diejenige des Kulturbegriffs. Vor dem Hintergrund einer solch heterogenen Debatte – und der in der Vorbemerkung bereits angesprochenen mangelnden Verortung der Ethnologie in dieser Debatte – ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, eine ethnologische Methodik der Diskursanalyse zu entwerfen und diese sinnvoll theoretisch zu fundieren. Um diesen Schritt im zweiten Teil der Arbeit unternehmen zu können, ist es zunächst erforderlich, den Diskursbegriff zu definieren, der solch einer diskursanalytischen Perspektive zugrunde liegen soll. Zu diesem Zweck wird im Folgenden ein kurzer Überblick über die verschiedenen theoretischen Ansätze der Diskursforschung gegeben, wie sie in unterschiedlichen Disziplinen derzeit Anwendung finden.Footnote 366 In einem zweiten Schritt wird dann die insbesondere von Reiner Keller initialisierte Verschmelzung von Diskurstheorie und Wissenssoziologie zur Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorgestellt, deren Zugang vielversprechende Ansatzpunkte auch für ethnologische Forschungsfragen bietet. Anknüpfend an Kellers Modell – und unter Rückbezug auf die zuvor erörterten Ansätze – wird schließlich der Versuch einer Neuformulierung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als (Wissens)ethnologische Diskursanalyse (oder auch Diskursethnologie) unternommen, welche gleichermaßen die theoretische Grundlegung der hier vorzustellenden Untersuchung bildet.

Der Diskursbegriff in den Sozial- und Geisteswissenschaften

Dem Wort Diskurs kommen in der französischen, englischen und deutschen Alltagssprache gänzlich unterschiedliche Bedeutungen zu. So beschreibt discourse im englischsprachigen Raum eine einfache Unterhaltung, während das französische Wort discours zur Bezeichnung wissenschaftlicher oder intellektueller Rede in Form von Vorträgen oder Abhandlungen (u. a.) genutzt wird. Im Deutschen wiederum umfasst Diskurs „ein öffentlich diskutiertes Thema (z. B. der Hochschulreformdiskurs), eine spezifische Argumentationskette (z. B. der neoliberale Diskurs) oder die Position / Äußerung eines Politikers, eines Verbandssprechers usw. (z. B. der Gewerkschaftsdiskurs) in einer aktuellen Debatte“.Footnote 367 Die unterschiedliche Verwendung des Begriffs im allgemeinen Sprachgebrauch spiegelt sich gleichsam in seiner heterogenen wissenschaftlichen Auslegung und den jeweils daran anschließenden Forschungstraditionen wider. Die prominentesten hiervon sind die angloamerikanische Discourse Analysis sowie die französische Variante der Diskursanalyse nach Foucault:

„Während die angelsächsische Tradition der Diskursforschung innerhalb der Sprachwissenschaften entstand und entsprechend dem anglo-amerikanischen Alltagsverständnis von ,discourse‘ als ,discourse analysis‘ unterschiedlichste Prozesse des alltagspraktischen Sprachgebrauchs unter Fragestellungen der Linguistik untersucht, greifen die (zunächst) französischen Diskurstheorien auf die Bedeutungsassoziationen der institutionellen Regulierung und des Öffentlichkeitsbezugs zurück, die in Vorstellungen wie ,Rede‘ oder ,Abhandlung‘ usw. anklingen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere – aber nicht nur – von Michel Foucault ein Diskurskonzept entwickelt, das sich unter gesellschaftstheoretischen, philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten mit Diskursen als Erscheinungs- und Zirkulationsformen des Wissens beschäftigt.“Footnote 368

Für das wissenschaftliche Verständnis des Diskursbegriffs war im deutschen Sprachraum überdies Jürgen Habermas prägend.Footnote 369 Sein Entwurf einer normativen Diskursethik wurde weiter oben im Zusammenhang mit Seyla Benhabibs deliberativer Demokratie bereits kurz angerissen. Um einen Überblick über die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze sowie über deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu gewinnen, sollen die wichtigsten von ihnen im Folgenden kurz skizziert werden.

Hinter dem Schlagwort Discourse Analysis verbirgt sich ein Sammelsurium verschiedenster Ansätze, „die sich aus linguistischen, soziologischen und psychologischen [sowie ethnologischenFootnote 370] Perspektiven mit der Analyse von ‚natürlichen‘ Kommunikationsprozessen in unterschiedlichen Kontexten beschäftigen“.Footnote 371 Reiner Keller empfiehlt daher auch die Bezeichnung Qualitative Sprachgebrauchsforschung oder Empirische Gesprächsforschung, um Verwechslungen mit anderen Varianten der Diskursanalyse, etwa nach Foucault, zu vermeiden.Footnote 372 Das disziplinübergreifende Ziel der Discourse Analysis besteht in der „Analyse von Sprachgebrauch – Reden oder Schreiben […] – als Realprozess im gesellschaftlichen Kontext […]. Zentrale Fragen richten sich darauf, wer in einem kommunikativen Ereignis wie, warum und wann Sprache gebraucht“.Footnote 373 Unter Diskurs versteht die Discourse Analysis dabei soziale Praktiken der Kommunikation zwischen Einzelnen oder Gruppen, insbesondere in Form von face-to-face Interaktionen, die einerseits Bestandteil des alltäglichen Sprachhandelns sind, zugleich aber auch in institutionalisierten Kontexten auftreten können. Jenseits dieses gemeinsamen Diskursbegriffs unterscheiden sich die einzelnen Ansätze der Discourse Analysis je nach Fachrichtung, Forschungsfrage und Zugang zum Teil erheblich und vertreten zuweilen gar unvereinbare theoretische Positionen.Footnote 374

Während die Discourse Analysis sich sozusagen mit sozialer „Ordnung von unten“ befasst, interessiert sich die Diskurstheorie nach Michel Foucault für soziale „Ordnung von oben“.Footnote 375 Obwohl Foucault wohl der Prominenteste unter den Diskurstheoretiker_innen ist und sein diskursanalytisches Werk diverse Disziplinen beeinflusst hat, hat er seine Diskurstheorie nur in wenigen Fällen konsequent (und niemals abschließend) ausformuliert.Footnote 376 Bei seinen Arbeiten handelt es sich eher „um ein Ensemble konzeptueller Vorschläge zur Bearbeitung von Fragen, die sich auf die gesellschaftliche Genese und Wirkungen von Macht-Wissens-Komplexen richten“, nicht um den systematischen Entwurf einer „Foucaultschen Theorie und Methode“.Footnote 377

Foucault, der (wie in Abschnitt 2.3 bereits erläutert wurde) Diskurse als Faktizität konstituierende Sprachpraktiken begreift, versteht sich als Ethnologe der eigenen Kultur, insofern er bemüht ist, den kulturellen Eigenlogiken der europäischen / französischen Gesellschaft nachzuspüren. Dafür unternimmt er den Versuch, „sein eigenes kulturell eingespieltes Vorverständnis auszublenden. Er nähert sich den Phänomenen in einer Weise, als bliebe ihm ihr Sinn verschlossen und als müsste er sich […] darauf beschränken, Gesetzmäßigkeiten in den Abläufen zu konstatieren“.Footnote 378 Sein Ziel ist es dabei, „das System oder Regelwerk aufzudecken, das, den Teilnehmenden selber oft gar nicht bewusst, dem Geschehen zugrunde liegt“.Footnote 379 Sein Werk lässt sich grob in zwei aufeinander aufbauende Phasen einteilen: 1.) Die archäologische Phase 2.) Die genealogische Phase.

1.) Die archäologische Phase des Foucault’schen Wirkens bezeichnet seine Analyse gesellschaftlicher Wissensregime als ausschnitthafte Betrachtung von sozialer Ordnung zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt:

„Foucault fragt danach, welches Grundmuster des Wissens (‚episteme‘) in spezifischen historischen Epochen den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Klassifikationsprozessen zugrunde liegt. Verschiedene Epochen lassen sich durch die Prinzipien beschreiben, nach denen sie quer zu den disziplinären Grenzen von Einzelwissenschaften die weltlichen Dinge ordnen. Foucault schließt von empirisch beobachtbaren Regelmäßigkeiten in wissenschaftlichen Texten auf eine Regel, einen Code des wissenschaftlichen Deutens. Seine Vorgehensweise gilt ihm als ‚Archäologie‘: Er gräbt die Wissensordnungen vergangener Zeitalter aus, ohne Stellung zu deren Wahrheits- und Sinngehalten zu nehmen. […] Im Sinne einer quantitativen oder seriellen Geschichte gehe es, so Foucault, um die Untersuchung dessen, was ‚tatsächlich‘ gesagt wurde, d. h. um die Beschreibung und Analyse der materialen Existenz von Diskursen in Gestalt seriöser Sprechakte.“Footnote 380

Foucault interessiert sich v. a. für die sprachlichen Regeln sowie für die institutionalisierten Praktiken der Bedeutungs- und Diskursproduktion. Es geht ihm „um die Rekonstruktion der institutionell-praktischen, symbolisch-semantischen Verknappungsmechanismen [oder Formationsregeln], die zum Auftauchen spezifischer Aussagen an bestimmten Stellen führen“.Footnote 381 Diese „Ausschließungssysteme“Footnote 382, denen der Diskurs jeweils unterworfen ist, definieren (darauf wurde in Abschnitt 2.2 bereits hingewiesen), was gesagt werden darf, wer dies sagen darf und was – von allem Gesagten – als wahr gelten kann. Foucault demonstriert dies u. a. am Beispiel des Augustinermönchs Gregor Johann Mendel, Urheber der Mendel’schen Gesetze. Mendels wissenschaftliche Erkenntnisse sind von der institutionalisierten Biologie und Botanik des 19. Jahrhunderts nicht ernst genommen worden. Dieser Umstand ist laut Foucault darauf zurückzuführen, dass „Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwendete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd waren“.Footnote 383 Mendels Erkenntnisse konnten nicht als wahr anerkannt werden, denn „im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß“.Footnote 384

2.) Etwa in den 1970er Jahren vollzieht Foucault den gedanklichen Übertritt von einer Archäologie zu einer Genealogie des Diskurses. Damit einher geht für ihn auch eine graduelle Abkehr vom Paradigma des wissenschaftlichen Strukturalismus. Statt einzelne historische Ausschnitte als quasi-statische Weltordnungen zu betrachten, beschäftigt er sich jetzt zusehends mit dem Diskursiven als Prozess. So werden Diskurse von nun an „sehr entschieden als Sprechakte und Sprachspiele, als strategisch-taktische Auseinandersetzungen und Kämpfe betrachtet“.Footnote 385 Damit erfährt nicht nur das Konzept der sozialen Praktiken eine erhebliche Aufwertung, auch der weitere Kontext der Diskursproduktion – das Dispositiv – rückt ins Blickfeld:

„Mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet Foucault nunmehr das MaßnahmenbündeI, das Gefüge institutioneller Materialisierungen, das einen Diskurs trägt und in weltliche Konsequenzen umsetzt. Dazu zählen Gesetze, architektonische Manifestationen wie der Gefängnisbau nach Jeremy Benthams Panoptikum, Redepraktiken wie die Beichte u. a. Praktiken, d. h. konventionalisierte bzw. institutionalisierte Verhaltens- und Handlungsmuster erhalten generell einen neuen Stellenwert. Dies gilt nicht nur für diskursive (im Sinne von sprachlichen) und nicht-diskursive Praktiken (wie bspw. symbolisch aufgeladene Gesten) innerhalb eines Dispositivs, sondern auch für die eigensinnigen tradierten Praktiken in institutionellen Settings bzw. gesellschaftlichen Praxisfeldern, die für soziale Akteure einen spezifischen routinisierten Sinn besitzen, der oft gerade nicht mit den Erwartungen der Diskurse übereinstimmt.“Footnote 386

Im Zuge des genealogischen Ansatzes tritt überdies das Foucault’sche Verständnis von Macht – die Fähigkeit, Einfluss auf menschliches Denken, Handeln und Fühlen (und damit auch und v. a. auf den menschlichen Körper) zu nehmenFootnote 387 – sowie die Verknüpfung von Macht und Wissen hervor. Foucaults Machtbegriff ist (wie in Abschnitt 2.3 bereits angemerkt wurde) nicht hierarchisch angelegt. Macht ist für ihn „die Gesamtheit der Kräfteverhältnisse, die in einem sozialen Feld wirksam sind,“ und immer wieder in lokalen Kämpfen ausgefochten werden müssen.Footnote 388 Machtverhältnisse sind grundsätzlich relational, denn „jede Macht erzeugt eine Gegenmacht in Gestalt von Widerstand“.Footnote 389

„…der Begriff der Macht […][erhält] eine positive Konnotation: im Unterschied zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, deren Herrschaftsbegriff überwiegend repressiv angelegt war, versteht Foucault die Macht als etwas Produktives. Er geht davon aus, dass Machtstrategien, um erfolgreich zu sein, Wissen produzieren müssen, auf das sie sich bei ihren Manövern stützen können. Dadurch sind Wissen und Macht ineinander verschränkt.“Footnote 390

Überdies unterscheidet Foucault zwischen Formen der Macht und Formen der Herrschaft, wobei letztere „durch eine feste Asymmetrie der ‚Führungsverhältnisse‘ bestimmt sind und dem alltagssprachlichen – und Weberschen – Machtbegriff entsprechen. ‚Herrschaft‘ ist die konkret beschreibbare Strukturierung des Führungsverhältnisses als der – bezogen auf diese Beziehung – Führung letztlich ‚unfreier‘ Anderer“.Footnote 391

Im Hinblick auf die Bedeutung sozialer Praktiken sowie auch im Hinblick auf seinen innovativen Entwurf von diskursiver Macht weist Foucault außerdem auf den engen Zusammenhang zwischen Diskursen und Ritualen hin. Rituale gehören zu den Verknappungsmechanismen der Diskursproduktion und spielen für deren Ausgestaltung daher eine entscheidende Rolle:

„Das Ritual definiert die Qualifikationen, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen (wobei diese Individuen im Dialog, in der Frage, im Vortrag bestimmte Positionen einnehmen und bestimmte Aussagen formulieren müssen) ; es definiert die Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen, welche den Diskurs begleiten müssen ; es fixiert schließlich die vorausgesetzte oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf ihre Adressaten und die Grenzen ihrer zwingenden Kräfte.“Footnote 392

Mit der Verknüpfung von Ritual und Diskurs, wie Foucault sie hier beschreibt, schließt sich der Kreis zu Goffmans Vorstellungen von zwischenmenschlicher Interaktion und kollektiver Inszenierung sowie zu den Erkenntnissen der ethnologischen Emotionsforschung, die das kulturell indizierte Zusammenwirken von Darstellenden und Publikum bei der Erzeugung affektiver Macht beschreibt.Footnote 393 Sie ist überdies auch nicht so weit entfernt vom Geertz’schen Bedeutungsgewebe, innerhalb dessen die handelnden Individuen sich bewegen, es für sich nutzen, es fortwährend interpretieren und dabei doch immer auch und zuvorderst durch seine Gesetzmäßigkeiten determiniert werden.Footnote 394 Angesichts der besonderen Rolle von Ritualen im Spannungsfeld von Diskurs, Wissen, Macht und Emotion, wird Abschnitt 3.5 der vorliegenden Arbeit dem Phänomen der Einbürgerungsrituale – als bedeutsamem Teil von (nationalistischen) Einbürgerungsdiskursen – weitergehend Rechnung tragen.

Nachdem Foucaults komplexes Theoriegebäude hier in knapper Form umrissen wurde, sollen im Folgenden einige weiterführende Ansätze präsentiert werden, die auf die eine oder andere Art an die obigen Konzepte anschließen. Da der Fundus diskursanalytischer Zugänge sehr groß und heterogen ist, muss die Darstellung sich dabei zwangsweise auf einige zentrale Beispiele beschränken.

Die Kritische Diskursforschung hat in ihren verschiedenen Ausformungen eine Paarung von Foucault’scher Diskurstheorie mit methodischen Aspekten der empirischen Gesprächsforschung (Discourse Analysis) vollzogen und ihren Blick dabei v. a. auf „das Ziel einer emanzipatorischen Aufklärung durch Ideologie- und Praxiskritik“ gerichtet.Footnote 395 Das Ideologieverständnis der Kritischen Diskursforschung weicht dabei deutlich von der Art und Weise ab, wie dieser Begriff ansonsten in der vorliegenden Arbeit gebraucht wird. Während diese Arbeit Ideologien wertfrei als kollektive Glaubenssysteme begreift, die Macht im Foucault’schen (dezentralen) Sinne ausüben, stellt die Kritische Diskursforschung ihren Ideologiebegriff in den Kontext von Macht in Form von Herrschafts- oder Hegemoniebeziehungen.

Zwei Hauptstränge der Kritischen Diskursforschung sind zu unterscheiden und sollen im weiteren Verlauf kurz erläutert werden: 1.) Die aus dem deutschen Sprachraum stammende Kritische Diskursanalyse; 2.) die an die angloamerikanische Discourse Analysis anschließende Critical Discourse Analysis, die u. a. auch in ethnologischen Kreisen – insbesondere im Bereich der Linguistic Anthropology – Verbreitung findet.Footnote 396

1.) Die Kritische Diskursanalyse wurde federführend von dem deutschen Sprachwissenschaftler Sigfried Jäger entwickelt und ist aus diesem Grund auch primär sprachwissenschaftlich ausgerichtet. Von der Critical Discourse Analysis unterscheidet sie sich maßgeblich durch ihre theoretische Orientierung, die in erster Linie auf den Arbeiten Michel Foucaults aufbaut sowie auf deren Weiterentwicklung durch den Literaturwissenschaftler Jürgen Link. Des Weiteren stützt sie sich auf die marxistisch-psychologische Tätigkeitstheorie des russischen Psychologen A. N. Leontjew.Footnote 397 War die Kritische Diskursanalyse ursprünglich auf eine rein linguistische Perspektive verengt, beschäftigt sie sich inzwischen auch mit der Analyse von Dispositiven. „Hauptgegenstände bisheriger Untersuchungen waren Analysen ‚rassistischen‘ Sprachgebrauchs anhand von Interviews und Medientexten“.Footnote 398 Siegfried Jäger beschreibt das Vorhaben der Kritischen Diskursanalyse wie folgt:

„Im Zentrum einer an Michel Foucaults Diskurstheorie orientierten Kritischen Diskursanalyse (KDA) stehen die Fragen, was (jeweils gültiges) Wissen überhaupt ist, wie jeweils gültiges Wissen zustandekommt (sic!), wie es weitergegeben wird, welche Funktion es für die Konstituierung von Subjekten und die Gestaltung von Gesellschaft hat und welche Auswirkungen dieses Wissen für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung hat. ‚Wissen‘ meint hier alle Arten von Bewußtseinsinhalten bzw. von Bedeutungen, mit denen jeweils historische Menschen die sie umgebende Wirklichkeit deuten und gestalten. Dieses ‚Wissen‘ beziehen die Menschen aus den jeweiligen diskursiven Zusammenhängen, in die sie hineingeboren sind und in die verstrickt sie während ihres gesamten Daseins leben. Diskursanalyse, erweitert zur Dispositivanalyse, zielt darauf ab, das (jeweils gültige) Wissen der Diskurse bzw. der Dispositive zu ermitteln, den konkreten jeweiligen Zusammenhang von Wissen/Macht zu erkunden und einer Kritik zu unterziehen.“Footnote 399

Der Diskursbegriff der Kritischen Diskursanalyse ist eng an denjenigen Foucaults angeschlossen,Footnote 400 allerdings in mancherlei Hinsicht weiter ausdifferenziert. So unterscheidet Jäger u. a. die Konzepte Spezialdiskurs (= Wissenschaften) und Interdiskurs (= gesamtgesellschaftlicher Diskurs) und bestimmt beide gleichermaßen zum Forschungsobjekt seiner Kritischen Diskursanalyse. Überdies führt er noch eine ganze Reihe weiterer analytischer Kategorien ein, die hier jedoch nicht im Detail behandelt werden müssen.Footnote 401

Erklärtes Ziel der Kritischen Diskursanalyse ist die Formulierung einer gesellschaftlichen Ideologiekritik. Dabei „wird in der Analysepraxis die Existenz bestimmter gesellschaftlicher, in der Regel als ideologisch begriffener Diskurse vorausgesetzt“.Footnote 402 Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die „semantisch-rhetorischen Mittel, mit denen diese Diskurse arbeiten“, als „Resultat einer kritikwürdigen ideologischen Überformung“ aus den Äußerungen „der Protagonisten rekonstruiert werden“ können.Footnote 403 Das Hauptaugenmerk – und damit auch die eigentliche Kritik – zielt auf „die Massenmedien als Zirkulationsagenturen ideologischer Diskurse“.Footnote 404

Die Kritische Diskursanalyse wurde u. a. für ihren durchgängigen Ideologieverdacht kritisiert, sowie für die daraus resultierende Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und empirischer Umsetzung. So weist Reiner Keller beispielsweise darauf hin, dass die Kritische Diskursanalyse sich durch ihre wertende Haltung gegenüber den als Ideologien verstandenen Argumentationsweisen entschieden von Foucault entfernt, der seinerseits stets eine neutrale und (vor-)urteilsfreie Haltung gegenüber allen gesellschaftlichen Wissensregimen eingefordert hatte.Footnote 405

2.) Die Critical Discourse Analysis, deren bedeutendster Theoretiker der britische Sprachforscher Norman Fairclough ist und die im deutschsprachigen Raum u. a. von der österreichischen Soziolinguistin Ruth Wodak vertreten wird, unterscheidet sich von der Kritischen Diskursanalyse v. a. durch ihre Verknüpfung der Foucault’schen Diskurstheorie „mit praxisphilosophischen Elementen der soziologischen Theorieentwicklung, insbesondere mit Konzepten von Bourdieus Theorie sozialer Felder und Giddens Theorie der Strukturierung.“Footnote 406 Bezeichnend für die in sich äußerst heterogenen Ansätze der Critical Discourse Analysis ist u. a. ihr dreifacher Diskursbegriff: Diskurs bezeichnet 1.) „den Sprachgebrauch als soziale Praxis“; 2.) „den Sprachgebrauch innerhalb eines abgrenzbaren sozialen Feldes“ (im Sinne von wirtschaftlichem / politischem / wissenschaftlichem Diskurs); 3.) eine „standortgebundene Sprechweise, die Erfahrung in spezifischer Weise mit Bedeutung versorgt“.Footnote 407

Genau wie die Kritische Diskursanalyse verfolgt auch die Critical Discourse Analysis das Ziel individueller Emanzipation und gesellschaftlicher Ideologiekritik.Footnote 408 Norman Fairclough charakterisiert sein Programm deshalb wie folgt:

„Der Fokus der ‚kritischen Diskursanalyse‘ [= Critical Discourse Analysis] richtet sich auf zwei Arten von Problemstellungen: zum einen geht es um bedürfnisbezogene Probleme, d. h. diskursive Praktiken, die in irgendeiner Weise menschlichen Bedürfnissen entgegenstehen (z. B. Formen der Arzt-Patient-Kommunikation, die es Patienten nicht gestattet, alle aus ihrer Sicht wichtigen Aspekte ihrer Gesundheitsprobleme zu erzählen); zum anderen geht es um Probleme, die sich aus sozialen Repräsentationen ergeben (etwa sozial konstruierte Vorstellungen über spezifische soziale Gruppen wie z. B. Frauen oder kulturelle Minderheiten, die nachteilige gesellschaftliche Folgen für diese haben).“Footnote 409

Diskurse gelten der Critical Discourse Analysis insofern als ideologisch, als sie „aus Sicht der kritischen Maßstäbe der Diskursanalytiker etablierte soziale Macht- und Herrschaftsbeziehungen verstärken“.Footnote 410 Gegen die Critical Discourse Analysis lassen sich daher ähnliche Einwände anbringen, wie sie weiter oben schon gegen die Kritische Diskursanalyse ins Feld geführt wurden:

„Auch hier bleibt die empirische Umsetzung hinter der eigenen theoretischen Grundlegung zurück und erweckt häufig den Eindruck einer vor-urteilenden Betrachtung der empirischen Daten, die das sucht, was sie schon zu kennen glaubt. Dies äußert sich darin, dass trotz der komplexen Grundannahmen über die Funktion von Sprache, Kommunikation und Bedeutung für die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion die konkreten Analysen immer wieder sehr schnell in den untersuchten Materialen – etwa in Interviews oder Zeitungstexten – Elemente wiederfinden, die als ‚rassistisch‘, ‚ideologisch‘, ‚fundamentalistisch‘ u. a. enttarnt werden, ohne dass begründet wird, wie dieser Erkenntnis- bzw. Zurechnungsprozess erfolgt.“Footnote 411

Des Weiteren merkt Reiner Keller im Hinblick auf die Foucault’sche Theorievorlage an, dass (allen theoretischen Absichtserklärungen zum Trotz) weder die Critical Discourse Analysis noch die Kritische Diskursanalyse den Aspekt des Wissens sowie der Macht/Wissen-Regime empirisch in den Blick nehmen, obwohl beide für Foucault ein solch zentrales Element seines Theoriegebäudes bilden.Footnote 412 Insgesamt vernachlässigen sie den Foucault’schen Begriff der Macht (als produktive Gewalt im Kontext heterogener Kräfteverhältnisse) zugunsten einer deutlich restriktiveren und hierarchisch angelegten Idee von Herrschaft (im Sinne des Führens unfreier Anderer).

Die postmarxistische Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe verfolgt aufgrund ihrer politikwissenschaftlichen Perspektive einen etwas anderen Ansatz als die oben beschriebene, sprachwissenschaftlich geprägte Kritische Diskursforschung. Während letztere sich „mit der Analyse einzelner Sprachereignisse [beschäftigt] und die sprechenden Subjekte als unproblematisch gegebene Akteure [voraussetzt]“, betrachtet die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe Diskurse auf der gesellschaftlichen Makroebene.Footnote 413 Ausgehend von Marx‘ Modell des Klassenkampfes, begreifen sie gesellschaftliche Antagonismen als konstitutive Kraft. Diese gesellschaftlichen Antagonismen verstehen sie allerdings nicht als „objektive Relationen […] zwischen begrifflichen […][oder] realen Objekten“, sondern als „eine Art Relation, in der sich die Grenzen jeder Objektivitätskonstituierung anzeigen“.Footnote 414 Das Diskursive, als Terrain, in welchem gesellschaftliche Antagonismen ihre Wirkung entfalten, wird vor diesem Hintergrund mit dem Sozialen gleichgesetzt.Footnote 415 Der Diskursbegriff von Laclau und Mouffe unterscheidet sich demnach maßgeblich von allen vorgenannten, die allesamt diskursive Praktiken als sprachliche Praktiken auffassen. Für Laclau und Mouffe hingegen gibt es keine nicht-diskursiven Praktiken, da letztlich jede Form der sozialen Praxis Sinn transportiert und damit Trägerin von Diskursen ist.Footnote 416 Zwar definieren sie das Phänomen Diskurs im Anschluss an den Diskursbegriff bei Foucault, gehen aber deutlich über dessen Konzeption hinaus. So stellen Diskurse für sie „ein spezifisches System von Differenzen, von Unterscheidungen dar, die eine diskursspezifische Sinnwelt, eine ‚Ordnung der Dinge‘ produzieren, in deren Zusammenhang den Dingen erst bestimmte Bedeutungen zugeschrieben wird (sic!) und bestimmtes Handeln möglich ist“.Footnote 417 Auf diese Weise kreieren Diskurse Rollenbilder oder Subjektpositionen „von spezifischen Formen dessen, wie der Einzelne sich zu definieren und zu modellieren hat, um ein normales, kompetentes Subjekt zu werden“.Footnote 418 Menschliche Subjekte sind insofern nicht die Produzent_innen der Diskurse, sondern im Gegenteil deren Produkt. Die Entstehung von Subjektpositionen aus dem Diskurs heraus erfolgt jedoch keineswegs automatisch oder einheitlich, etwa im Sinne einer statischen Struktur, die klar umrissene Identitäten hervorbringt. Vielmehr sind die einzelnen Subjekte einem stetigen Zwang ausgesetzt, sich – innerhalb der heterogenen Differenzsysteme (oder Antagonismen), die multiple Diskurse entwerfen – zwischen verschiedenen Identitätsangeboten zu entscheiden:Footnote 419

„Demnach ist das ‚Subjekt‘ grundlegend fragmentiert, dezentriert, aufgesplittert und nie in irgend einem (sic) Sinne mit ‚sich selbst‘ identisch. Seine Identität(en) erhält es vielmehr in Prozessen der diskursiven Repräsentation in den unterschiedlichen Diskursen, in die es eingebunden ist. […] Die diskursive Konstitution von Identität erfolgt über Äquivalenzketten, die Zeichen miteinander verknüpfen und in Opposition zu anderen Zeichenverkettungen setzen. Dadurch wird definiert, wie ein Subjekt, das die Subjektposition einnimmt, ist bzw. wie es nicht ist. Identität ist dann immer ein Verhältnisbegriff, der seinen positiven Gehalt nur über eine entsprechende Negativ-Differenz erfährt. Eine solche Identität wandelt sich mit den Diskursen. In einem bestimmten Sinne ist das Subjekt damit überdeterminiert: das breite Angebot der Subjektpositionen gibt ihm die Möglichkeit, sich in konkreten Situationen je anders zu identifizieren. Jede gegebene Identität ist eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit.“Footnote 420

Im Zuge dieser immanenten Fragmentierung erlebt das Individuum einen fortwährenden Mangel, da es sich niemals vollständig mit einer Subjektposition identifizieren kann.Footnote 421 Subjektpositionen – oder Identitäten – werden als leere Signifikanten begriffen, insofern sie „von innerhalb des Beziehungsprozesses die diskursive Gegenwärtigkeit [ihrer] Grenze [anzeigen]“.Footnote 422 Das (‚echte‘) Subjekt existiert im Moment der ‚Unentscheidbarkeit‘ zwischen verschiedenen Subjektpositionen und löst sich in dem Moment auf, da es sich für eine dieser Positionen entschieden hat. Das (‚echte‘) Subjekt wird durch seine Identifikation ausgelöscht, wobei jede Identifikation zwangsweise partiell und insofern zum Scheitern verurteilt ist.Footnote 423 Dieses psychoanalytisch inspirierte Modell eines vorkulturellen und vorsozialen (‚echten‘) Subjekts ist aus ethnologischer Sicht fragwürdig und wurde auch von anderer Seite bereits für seine mangelnde Plausibilität kritisiert (zumal die Idee einer unausweichlichen Fragmentierung von Identitäten durchaus auch ohne eine solche psychoanalytische Grundlegung auskommt).Footnote 424 Die Auflösung der Unterscheidung von Diskursivem und Nicht-Diskursivem, sowie der soziale Prozess der Herstellung von Identität mittels diskursiver Differenzsysteme, ist nichtsdestoweniger anschlussfähig auch für die ethnologische Theoriebildung.

Eine andere, der Ethnologie nahestehende Perspektive auf Diskurse ist diejenige der Cultural Studies. Ähnlich wie die postmarxistische Diskurstheorie von Laclau und Mouffe interessiert sie sich für die Rolle von Akteur_innen im Prozess der gesellschaftlichen Konstitution von Wissensverhältnissen. Sie richtet ihren Fokus dabei insbesondere auf die „Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit im Wechselverhältnis zwischen aneignenden Alltagspraktiken und institutionell-organisatorischen Feldern der Wissens- und Kulturproduktion“.Footnote 425 In diesem Sinne nehmen die Cultural Studies eine „herrschafts- und kulturindustrie-kritische Perspektive“ ein und weisen insofern auch Schnittmengen mit der Kritischen Diskursforschung auf.Footnote 426 Der Diskursbegriff wird von den verschiedenen Theoretiker_innen der Cultural Studies z. T. sehr unterschiedlich gefasst. Stuart Hall, einer ihrer prominentesten Vertreter_innen, bietet – im Anschluss an Michel Foucault – folgende Definition an:

„A discourse is a way of talking about or representing something. It produces knowledge that shapes perceptions and practice. It is part of the way in which power operates. Therefore, it has consequences for both those who employ it and those who are ‘subjected’ to it.“Footnote 427

Interessant ist, dass der Diskursbegriff von Hall in explizite Verbindung zu Kultur gesetzt wird. So geht er davon aus, dass Diskurse Codes bereitstellen, die es Mitgliedern einer gemeinsamen kulturellen Wirklichkeit ermöglichen, „sich mit der Welt in weitgehend gleicher Weise interpretierend und erfahrend auseinander zu setzen“.Footnote 428 Kultur ist aus Sicht der Cultural Studies ein konflikthafter Prozess, der sich maßgebend in den Praktiken des Alltags manifestiert. Diese Alltagspraktiken wiederum sind ihrerseits Ausdruck kollektiver Wissensbestände und konventionalisierter Interpretationsschemata. Charakteristisch für das Kulturkonzept der Cultural Studies ist überdies die Immanenz von Brüchen, Widersprüchen und Wandel:Footnote 429 „Die Rede von Kultur zielt also nicht länger auf ein stabiles oder homogenes Bedeutungsgewebe, sondern auf Deutungsmacht-Kämpfe und die kulturelle Prozessierung sozialer Ungleichheiten.“Footnote 430 Besonderes Augenmerk widmen die Cultural Studies der ‚Populärkultur‘ und dem Phänomen der Massenmedien als wesentlichem „Motor zur Produktion und Aufrechterhaltung symbolischer Wissensordnungen in der Moderne“.Footnote 431 Exemplarisch für diesen Ansatz ist insbesondere Halls Encoding/Decoding Modell, mit welchem er die Analyse sozialer Prozesse mit der Analyse symbolischer Strukturen zu versöhnen sucht:

„My purpose is to suggest that, in the analysis of culture, the inter-connection between societal structures and processes and formal or symbolic structures is absolutely pivotal. I propose to organize my reflections around the question of the encoding/decoding moments in the communicative process: and, from this base, to argue that, in societies like ours, communication between the production elites in broadcasting and their audiences is necessarily a form of ‘systematically distorted communication’.“Footnote 432

Hall geht davon aus – ähnlich wie Foucault es im Hinblick auf die Formation von Wissensregimen tut –, dass das Enkodieren einer medial vermittelten Botschaft im Kontext moderner Massenmedien durch kulturell vorbestimmte Codes (oder Formationsregeln) determiniert ist. Die Dekodierung der medialen Botschaft erfolgt dann durch das jeweilige Publikum ebenfalls anhand eingelernter kultureller Codes sowie anhand von spezifischen sozialen Kontextbedingungen. „Der Encoding-Prozess erscheint mithin als komplexe soziale Praxis, die keine zufälligen Ergebnisse hervorbringt, sondern zugleich Wirklichkeit produziert und Kultur reproduziert.“Footnote 433 Diese kulturelle Wirklichkeit wird jedoch nicht eins zu eins vom Publikum ‚ausgelesen‘, sondern immer auch in irgendeiner Form interpretiert. Es ergeben sich drei potentielle ‚Lesarten‘ medialer Botschaften: 1.) Das Publikum akzeptiert den Code der Diskursproduzent_innen und teilt dessen hegemoniale Bedeutungsinterpretation. 2.) Das Publikum vermittelt bei seiner Interpretation der Botschaft zwischen hegemonialem Code und persönlicher Erfahrung. 3.) Das Publikum lehnt den hegemonialen Code ab und interpretiert die Nachricht entlang alternativer Deutungsschemata. In jedem der drei Fälle sind Encoding und Decoding in einem kulturvermittelten (sprich diskursiven) Kreislauf unauflöslich miteinander verbunden.Footnote 434 Vor diesem Hintergrund entwerfen die Cultural Studies einen Subjektbegriff, der demjenigen von Laclau und Mouffe sehr nahe kommt, allerdings ohne dabei auf die bereits kritisierte Annahme eines vorkulturellen Selbst zu rekurrieren: „Subjekte haben vielmehr eine serielle Struktur oder Existenzweise – das Subjekt konstituiert sich vor, im und durch den Moment der Wahl zwischen den in Diskursen angebotenen Subjektpositionen, also in der Abfolge seiner Artikulationspraktiken“.Footnote 435 Das Subjekt ist demnach auch hier in unaufhörlicher Fragmentierung begriffen. Identitäten sind nie endgültig festgelegt, „sondern notwendigerweise arbiträr, kontingent und hybrid“.Footnote 436 Gleiches gilt für das Phänomen Kultur:

„Es gibt keine authentische britische Kultur, keine Populärkultur, die sich nicht von der dominanten Kultur abgrenzt, und auch keine Jugendkultur, die von der Kultur der Eltern unberührt wäre. Kulturen sind nicht in sich ruhend, sondern werden durch die Identität anderer Kulturen mitbestimmt.“Footnote 437

Die obigen Überlegungen zum Verhältnis von Kultur, Identität und Diskurs sind für die Ethnologie durchaus anschlussfähig. Allerdings haben die Cultural Studies nie eine kohärente, eigenständige Diskurstheorie entwickelt, die über Fächergrenzen hinweg übertragbar wäre.Footnote 438 Für die Ausformulierung einer ethnologischen Diskursperspektive bedarf es daher eines anderen, weitergehenden Blickwinkels, wie ihn u. a. die in Abschnitt 2.3 bereits angesprochene Wissenssoziologie anbietet. Bevor allerdings im nächsten Abschnitt Reiner Kellers Vorschlag einer Paarung von Wissenssoziologie und Diskurstheorie erläutert werden kann, bleibt abschließend im Kanon der prominenten Diskurstheoretiker_innen noch eine weitere Stimme anzuhören.

Die Diskursethik von Jürgen Habermas unterscheidet sich grundlegend von allen anderen hier vorgestellten Varianten der Diskurstheorie und hat sich zudem gänzlich unabhängig von diesen entwickelt. Sein normativer Ansatz beschäftigt sich mit der argumentativen Aushandlung kontroverser Themen in zivilgesellschaftlichen Debatten. Als solche ist die Diskursethik Teil der umfänglichen Habermas’schen Theorie des kommunikativen HandelnsFootnote 439, welche ihrerseits die Vision einer kommunikativen Vernunft entwirft:

„Die kommunikative unterscheidet sich von der praktischen Vernunft zunächst dadurch, daß sie nicht länger dem einzelnen Aktor oder einem staatlich-gesellschaftlichen Makrosubjekt zugeschrieben wird. Es ist vielmehr das sprachliche Medium, durch das sich Interaktionen vernetzen und Lebensformen strukturieren, welches kommunikative Vernunft ermöglicht. Diese Rationalität ist dem sprachlichen Telos der Verständigung eingeschrieben und bildet ein Ensemble zugleich ermöglichender und beschränkender Bedingungen. Wer immer sich einer natürlichen Sprache bedient, um sich mit einem Adressaten über etwas in der Welt zu verständigen, sieht sich genötigt, eine performative Einstellung einzunehmen und sich auf bestimmte Präsuppositionen einzulassen. Er muß unter anderem davon ausgehen, daß die Beteiligten ihre illokutionären Ziele ohne Vorbehalte verfolgen, ihr Einverständnis an die intersubjektive Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen binden und die Bereitschaft zeigen, interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten, die sich aus einem Konsens ergeben, zu übernehmen.“Footnote 440

Die kommunikative Vernunft nach Jürgen Habermas ist das, was menschliche Kommunikation überhaupt erst möglich macht und grundlegende Bedingungen dafür schafft, dass wechselseitige Verständigung funktionieren kann. Sie sagt den handelnden Akteur_innen jedoch nicht „was sie tun sollen“.Footnote 441 Über das Konzept der kommunikativen Vernunft erschließt sich überdies der Habermas’sche Diskursbegriff. Ein Diskurs ist demzufolge als organisierter Argumentationsprozess im Rahmen einer kommunikativen Auseinandersetzung zu begreifen und somit Fortsetzung „des normalen kommunikativen Handelns mit anderen Mitteln“:Footnote 442

„Der Diskurs läßt sich als diejenige erfahrungsfreie und handlungsentlastete Form der Kommunikation verstehen, deren Struktur sicherstellt, […] daß Teilnehmer, Themen und Beiträge nicht […] beschränkt werden, daß kein Zwang außer dem des besseren Arguments ausgeübt wird: daß infolgedessen alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche ausgeschlossen sind. Wenn unter diesen Bedingungen über die Empfehlung, eine Norm anzunehmen, argumentativ, d. h. aufgrund von hypothetisch vorgeschlagenen alternativenreichen Rechtfertigungen, ein Konsensus zustande kommt, dann drückt dieser Konsensus einen ‚vernünftigen Willen‘ aus.“Footnote 443

Der Diskurs stellt demnach Verfahrensregeln für die intersubjektive Debatte auf und garantiert bei Einhaltung dieser Regeln ein ‚vernünftiges‘ Ergebnis. Vergleichbare Auffassungen des Diskursiven finden sich in verschiedenen anderen, an Habermas anschließenden Ansätzen der Deliberation oder Deliberativen Politik, so u. a. in Seyla Benhabibs weiter oben vorgestelltem Entwurf einer Deliberativen Demokratie. Zudem wird der Habermas’sche Diskursbegriff als „Messlatte für reale Kommunikationsprozesse“ auch in empirischen Forschungsprojekten angewendet.Footnote 444 Für ethnologische Fragestellungen ist eine derart normative Vorstellung von Diskurs nicht wirklich zweckdienlich. Nichtsdestoweniger ist die Habermas’sche Diskursethik im Kontext dieser Arbeit insofern relevant, als sie eine neue und andere Perspektive auf den demokratischen Prozess der öffentlichen Meinungsbildung wirft, der letztlich Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Bei der späteren Betrachtung der Daten und Ergebnisse wird es daher sinnvoll sein, Habermas‘ normativen Anspruch an einen rationalen zivilgesellschaftlichen Diskurs im Hinterkopf zu behalten.

Die Wissenssoziologische Diskursanalyse

Um Reiner Kellers Entwurf einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse systematisch nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll, zunächst einige Grundzüge der weiteren Wissenssoziologie zu erläutern. Der Begriff Wissenssoziologie bezieht sich dabei „auf heterogene theoretische Positionen und unterschiedliche Forschungsinteressen, die sich mit der sozialen Genese, Zirkulation und den Effekten von Wissen beschäftigen“, wobei davon ausgegangen wird, „dass die Beziehungen der Menschen zur Welt durch kollektiv erzeugte symbolische Sinnsysteme oder Wissensordnungen vermittelt werden“.Footnote 445

Unter dem Begriff Wissen, werden aus wissenssoziologischer Perspektive eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Dinge verstanden: „elaborierte gesellschaftliche Ideensysteme wie Religionen oder politische Weltanschauungen, naturwissenschaftliche Faktizitätsbestimmungen, implizites, inkorporiertes Können, alltägliche Klassifikationsschemata“Footnote 446 genauso wie „Gefühle und Empfindungen, Routine- und Referenzwissen“.Footnote 447 Demzufolge bezeichnet Wissen nicht bloß „sach- oder faktizitätsbezogene, durch Erfahrung gewonnene und revidierbare Kognitionen, sondern auch Glaubensvorstellungen, Körperpraktiken, Routinen alltäglicher Lebensführung usw., die als Kenntnisse aufgezeichnet sein können, als Vermögen den Individuen zukommen oder als gesellschaftlicher Bestand bspw. in Institutionen tradiert werden“.Footnote 448 Während sich die Wissenssoziologie in den 1960er Jahren v. a. mit der sozialen Konstruktion des Wissens befasste, erfolgte in den 1970er Jahren eine Akzentverschiebung hin zur kommunikativen Konstruktion des Wissens, wobei Kommunikationsprozesse und soziale Praktiken vermehrt ins Zentrum des Interesses rückten.Footnote 449

Ein maßgebliches Schlüsselwerk für die Phase der sozialen Konstruktion von Wissen ist Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Berger und Luckmann, wie es in Abschnitt 2.3 bereits eingeführt wurde. Es ist nicht sinnvoll, die Darstellung an dieser Stelle zu wiederholen. Lediglich sollen hier noch einmal die zentralen Konzepte vergegenwärtigt werden, um weiterführend darauf aufbauen zu können:

  1. 1)

    Der Unterschied zwischen Lebenswelt (= Gesamtheit aller vom Menschen wahrgenommenen ‚Wirklichkeiten‘) und Alltagswelt (= intersubjektiv geteilte Welt der sozio-kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit).

  2. 2)

    Das menschliche Selbst (oder Subjekt) als soziales (und kulturelles) Produkt.

  3. 3)

    Sozialisation als fortwährender Prozess der ‚Einverleibung‘ (Internalisierung) von sozialer Wirklichkeit (weitgehend parallel zu Bourdieus Habitus).

  4. 4)

    Die Externalisierung von Wirklichkeit via Habitualisierung und Institutionalisierung (im Sinne der sozialen Typisierung von Praktiken und zugehörigen Akteur_innen), sowie deren Rückwirken auf Prozesse der Internalisierung von Wirklichkeit via Tradierung und sozialer Kontrolle.

  5. 5)

    Des Weiteren die individuelle Einverleibung institutioneller Strukturen in Form von Rollen, welche ihrerseits durch ihr Rollenspiel die jeweiligen Institutionen verwirklichen, reproduzieren und transformieren.Footnote 450

  6. 6)

    Schließlich das kollektive Wissen, welches über, in und durch Institutionen produziert wird und welches seinerseits die Grenzen des Wissbaren, der Wahrheit und damit letztlich der objektiv geteilten Wirklichkeit absteckt.

  7. 7)

    Zu guter Letzt dann noch die Möglichkeit des Bruchs und des Wandels, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, welche aufgrund der bestehenden Vielfalt an konkurrierenden subjektiven und objektiven Wirklichkeiten immerfort gegeben ist.

Hinzufügen lässt sich außerdem noch das Element der Sprache, denn: „Der permanente Gebrauch einer gemeinsamen Sprache bildet den Grundmodus der permanenten Konstitution von Wirklichkeit. Die subjektive Wirklichkeit bedarf der beständigen gesellschaftlichen Vergegenwärtigung ihrer Plausibilitätsstrukturen, obwohl sie immer auch in gewissen Grenzen im Fluss ist…“.Footnote 451 Damit rückt die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit unweigerlich in die Nähe einer kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit.Footnote 452

Im Anschluss an Reiner Keller ist auch Pierre Bourdieu in die Reihen wissenssoziologischer Theoriebildung einzuordnen.Footnote 453 Diese Zuordnung gründet v. a. auf den Bourdieu’schen Konzepten Habitus und Doxa, wie sie in Abschnitt 2.3 bereits vorgestellt wurden. Beide beziehen sich letztlich auf kollektive Wissensverhältnisse, einmal in struktureller (Doxa) und einmal in inkorporierter Form (Habitus). Darüberhinausgehend hebt Keller auch Bourdieus Interesse für Sprache und Sprachgebrauch hervor:

„Sprachgebrauch gilt im Werk Bourdieus als Bestandteil des Kampfes um Symbole, Repräsentationen bzw. Klassifikationsweisen in spezifischen sozialen Feldern. Die Praxis des Sprechens und Schreibens ist einerseits durch den je erworbenen Habitus geprägt. Jede Aussage ist darüber hinaus ein Beitrag – eine Aktualisierung oder Transformation – einer spezifischen symbolischen Ordnung, innerhalb derer sie ihre Bedeutung erhält. Der gesellschaftliche Stellenwert von Aussagen hängt von dem institutionellen Ort, der sozialen Position in einem Feld und der damit verknüpften Kapitalienstruktur ab, von der aus sie formuliert wird. Diese Position reguliert sowohl die Möglichkeiten der Herstellung wie auch die Formen der Rezeption von Aussagen.“Footnote 454

Im Zentrum von Bourdieus Sozialtheorie steht „die Bedeutung sozialer Kämpfe zwischen gesellschaftlichen Klassen [und deren Mitgliedern] um die Durchsetzung legitimer symbolischer Ordnungen bzw. Repräsentationen der Wirklichkeit“.Footnote 455 Maßgebliche Ressource in diesen Kämpfen sind die verschiedenen Kapitalsorten (sozial, ökonomisch, kulturell, symbolisch). „Im Kern der Theorie, so kann festgehalten werden, geht es um Machtverteilungen, welche die Strukturen des Feldes [also des jeweiligen Teilbereichs der sozialen Wirklichkeit] und die dort vorfindlichen Positionen festlegen und die Akteure mit unterschiedlichen Voraussetzungen ausstatten, um auf dem Feld ihre Ziele zu verfolgen“.Footnote 456 Dabei berücksichtigt Bourdieus Machtbegriff zwar die Existenz konkurrierender Machtinstanzen, bleibt jedoch im Wesentlichen auf den Staatsapparat zentriert.Footnote 457 Diese Reduktion des Sozialen auf Macht- und Herrschaftskämpfe zwischen Klassen sowie der damit einhergehende „Strukturdeterminismus“ sind u. a. auch Anlass für Kritik, weil sie die „soziale Konstruktion des Wissens […] ausschließlich als Herrschaftsfunktion“ erscheinen lassen.Footnote 458 Nichtsdestoweniger kann gerade Bourdieus Entwurf von Habitus und Doxa als sinnvolle Ergänzung des Sozialisationskonzepts von Berger und Luckmann verstanden werden.Footnote 459 Das gilt v. a. auch im Hinblick auf die Bourdieu’schen Überlegungen zur Einverleibung von Wissen als körperliche Hexis. Auch sein Konzept der Kapitalien, wie es in Abschnitt 2.3 angerissen wurde, und darin insbesondere das symbolische Kapital hat hohen analytischen Wert, wenn man es etwa mit Foucaults dezentralem Machtkonzept paart. Insofern kann Bourdieus Theoriegebäude durchaus dazu beitragen, Prozesse der Produktion und Durchsetzung von sowie der Teilhabe an sozial konstruierter Wirklichkeit umfänglicher zu begreifen.

Letztens darf auch der hier schon mehrfach erwähnte Michel Foucault bei der Betrachtung wissenssoziologischer Fragestellungen nicht außer Acht gelassen werden. Er ist für die Wissenssoziologie v. a. deswegen interessant, weil im Zentrum seiner Betrachtungen der Zusammenhang zwischen Wissen und Macht steht:

„Foucault nimmt Abschied von der Idee einer genuin emanzipatorischen Vorstellung des Wissens, wie sie noch in der Epoche der Aufklärung vertreten wurde. Er möchte Wissen immer unter dem Einfluss und mit der Produktion von Macht verbunden sehen. […] Damit distanziert er sich in postmoderner Manier von einer universellen Auffassung einer objektiven Wahrheit. Wahrheit wird […] zu einer ausgehandelten Norm, ein vorläufiges Ergebnis einer historischen Machtrelation. […] Die Kontingenz des Handelns eines Subjekts wird eingeschränkt durch Machtausübung anderer Akteure. Wie ein Netz legt sich Macht als umfassende, aber dynamische – da handlungsbasierte, wandlungsfähige – Struktur über die Gesellschaft, ist aus dieser Sicht ubiquitär […]. Macht ist aber auch […] untrennbar verbunden mit der Möglichkeit der Freiheit bzw. des Widerstandes gegen die Einschränkung der Handlungsalternativen durch die Handlungen anderer Akteure.“Footnote 460

Das einzelne Subjekt ist für Foucault letztlich ein Produkt des Macht/Wissen-Komplexes, nicht aber dessen Produzent(in). Macht und Wissen entwickeln vielmehr eine Eigendynamik und tendieren dazu, fortwährend mehr Macht und Wissen zu produzieren.Footnote 461 Diese Vorstellung einer quasi-automatischen Verselbstständigung des allgemeinen Sinngebungsprozesses, welcher einzelne Individuen in ihrem Denken und Handeln unterworfen sind, erinnert wiederum an den Ansatz von Clifford Geertz, wie er in Abschnitt 2.3 beschrieben wurde. Das dezentrale Machtkonzept des Foucault’schen Denkmodells wirkt jedoch dessen problematischem Determinismus sowie der ihm vorgeworfenen Macht- und Ideologieblindheit entgegen, indem es mehr als ein kulturelles Deutungsschema zulässt und gerade den Kampf zwischen den unterschiedlichen Macht-Wissen-Komplexen in den Fokus nimmt. Die Produktion und Reproduktion von Wissen und Macht erfolgt dabei vermittels von Diskursen. Reiner Keller identifiziert hier eine Reihe von anschlussfähigen Punkten für die Wissenssoziologie:

„• Die Bestimmung von Diskursen als gegenstandskonstituierende Praktiken, denen ein (sic!) gemeinsame Struktur zugrunde liegt; […]

• das Verständnis von ‚Wissen‘ und ‚Wahrheit‘ als diskursiven Konstruktionen;

• das Interesse für Diskurse als strukturierende Praktiken gesellschaftlicher Wissensverhältnisse; […]

• die Idee der Machtwirkungen von Diskursen bzw. der Macht/Wissen-Kopplung;

[…]

• die Idee des Dispositivs als Sammelbegriff für das Gefüge von Diskursproduktion und als Grundlage der Machteffekte von Diskursen (durch ‚Weltintervention‘);

• die Trennung zwischen Diskursen und diskurs-externen Praktiken bzw. Praxisfeldern und die Untersuchung der Beziehungen zwischen beiden; und

• die Hinweise auf Akteure, Kämpfe, Strategien und Taktiken in und zwischen Diskursen.“Footnote 462

Ausgehend von diesem kurzen wissenssoziologischen Überblick sowie den Anknüpfungspunkten an Foucaults Theoriegebäude (und v. a. an seine Vision der Diskursanalyse), kann nun im Folgenden die Wissenssoziologische Diskursanalyse nach Reiner Keller vorgestellt werden.

Der Zusammenschluss von Wissenssoziologie und Foucault’scher Diskurstheorie ergibt sich aus der Kompatibilität und gegenseitigen Bereicherung beider Ansätze: Die Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann enthält „eine Grundlagentheorie zur Erklärung der Entstehung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Wissensvorräte“ – sprich gesellschaftlicher ‚Wirklichkeit‘ – deren institutionelle Strukturierung „von den Individuen sozialisatorisch angeeignet und als Rollenangebot mehr oder weniger eigensinnig übernommen“ wird.Footnote 463 Damit korrespondiert „in der diskurstheoretischen Perspektive die emergente Strukturierung der Wissensregime bei Foucault“.Footnote 464 Weitergehend erlaubt die „handlungs- und prozessorientierte Perspektive von Berger/Luckmann […] gegenüber Foucault die Betonung der Rolle gesellschaftlicher Akteure in den Machtspielen des Wissens, ohne dabei in einen naiven Subjektivismus zu verfallen“.Footnote 465 Ihr zweischneidiges Akteurskonzept wirkt überdies der problematischen Verdinglichung von Diskursen – wie sie u. a. bei Foucault zu beobachten ist – entgegen, indem es der Internalisierung und Externalisierung, also der Rezeption, (kreativen) Dekodierung und Produktion von Wirklichkeit durch handelnde Akteur_innen Rechnung trägt.Footnote 466 Aus diesen Schnittpunkten ergeben sich die Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA), wie Reiner Keller sie vorschlägt. Diese ist, anders als die Bezeichnung Diskursanalyse vielleicht vermuten lässt, keine Methode (obwohl sie sehr wohl auch Vorschläge zur methodischen Umsetzung macht) sondern in erster Linie ein theoretisch fundiertes, sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm, welches sich in der Tradition der Hermeneutischen Wissenssoziologie verortet.Footnote 467 Dieses Forschungsprogramm lässt sich durch einige zentrale Kernaspekte charakterisieren und gleichsam von anderen Spielarten der Diskursanalyse unterscheiden:

  1. 1)

    Die WDA spricht dem Phänomen des Wissens und der Idee der „diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit“ einen zentralen Stellenwert zu.Footnote 468

  2. 2)

    Sie betont die „Rolle von Akteuren […] und Strukturierungsprozessen in der Produktion und Veränderung von konkreten, aus Aussagepraxen und weiteren dispositiven Elementen bestehenden Diskursen“.Footnote 469

  3. 3)

    Sie begreift Diskursanalyse als inhärent interpretative Arbeit, die „einer Reflexion und Lehre der Auslegung, also einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bedarf“.Footnote 470

  4. 4)

    Letztens orientiert sich die WDA „am Kritikverständnis, wie das Michel Foucault vertreten hatte und wie es auch Vorhaben der soziologischen ‚Aufklärung‘ zugrunde liegt, d. h. Gesellschaften die Art und Weise der Herstellung ihres gewordenen Wirklichkeitsverständnisses zu ‚spiegeln‘ und dadurch Spielräume“ für die Erweiterung des kritischen Bewusstseins und der Handlungsoptionen zu öffnen.Footnote 471 Zusammenfassend beschreibt Keller sein diskursanalytisches Vorhaben wie folgt:

„‚Wissenssoziologische Diskursanalyse‘ (WDA) bezeichnet ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm zur Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken. In und vermittels von Diskursen wird von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert. Der Wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es um die Erforschung dieser Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen (Wissens-Regimen, Wissenspolitiken) auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteuren und um die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse.“Footnote 472

Die WDA begreift Diskurse, im Anschluss an Foucault, „als historisch entstandene und situierte, geregelte Aussagepraktiken, welche die Gegenstände konstituieren, von denen sie handeln“.Footnote 473 Indem sie Bedeutung erzeugen, erschaffen und festigen sie kollektive (immer auch begrenzte) symbolische Ordnungen.Footnote 474 Unter einem diskursiven Ereignis versteht die WDA „die typisierbare materiale Gestalt von Äußerungen, in der ein Diskurs in Erscheinung tritt“.Footnote 475 Eine diskursive Äußerung wiederum ist „das konkrete, für sich genommen je einmalige Aussageereignis“.Footnote 476 Im Gegensatz dazu bewegt sich eine diskursive Aussage bereits auf der „Ebene des Typischen und Typisierbaren“, in dem Sinne, dass „die gleiche Aussage […] in ganz unterschiedlichen Äußerungen und situativ-singulären Gestalten getroffen werden“ kann, wobei sie dennoch jeweils den selben Sinngehalt, die gleiche Botschaft transportiert.Footnote 477

Foucaults Interesse an (wissenschaftlichen) Spezialdiskursen verknüpft die WDA mit einem gesteigerten Interesse an öffentlichen Diskursen.Footnote 478 Dementgegen wird die Mikroebene alltäglicher Interaktion ihrerseits nicht als aus sich selbst heraus diskursiv gefasst, „obwohl sie natürlich durch und durch von Deutungsfiguren und Bausteinen diskursiver Formationen durchzogen ist […].“Footnote 479 Genauso wie die WDA eine Grenze zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Ebenen der gesellschaftlichen Kommunikation zieht, trennt sie auch allgemein zwischen diskursiven (sprachlichen) und nicht-diskursiven Praktiken:

„Das Soziale und das Diskursive sind nicht identisch. Wissenssoziologische Diskursforschung bietet einen spezifischen theoretisch, methodologisch und methodisch angeleiteten Blick auf Prozesse der (eben) diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit neben anderen möglichen und legitimen sozialwissenschaftlichen Zugängen. […] Gleichwohl kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Forderungen, Implikationen, Vorhaben, die in Diskursarenen entstehen, eins zu eins in Prozesse der Weltintervention oder Weltformierung umgesetzt werden […]. Auch Diskurse zeitigen intendierte und nicht-intendierte Effekte – das deutlich zu machen, ist vielleicht einer der wichtigsten Einsätze der empirischen Diskursforschung.“Footnote 480

Vor diesem Hintergrund hat die WDA ein vielschichtiges Modell für die Rolle und Funktion individueller Akteur_innen bei der Produktion, Rezeption, Reproduktion und Transformation von Diskursen entwickelt. Dieses Modell unterscheidet zwischen:

  1. 1)

    Sozialen Akteur_innen, die einerseits individueller, andererseits kollektiver Natur sein können, „die sozial konstituiert sind und in ihren Tätigkeiten Soziales hervorbringen sowie (vorübergehend) als Sprecher/innen oder Adressat/innen von Diskursen fungieren“.Footnote 481

  2. 2)

    Sprecher_innenpositionen, die (im Sinne einer sozialen Rolle) von Diskursen für die Akteur_innen bereitgestellt, zumeist exklusiv begrenzt und mit einem jeweiligen legitimen, oft auch hierarchischen Status ausgestattet werden.Footnote 482

  3. 3)

    Dem „Personal der Diskursproduktion und Weltintervention“, das im Dispositiv eines beliebigen Diskurses eingesetzt ist und dort diskursive Inhalte in nicht-diskursive Praxis oder Materialität umsetzt.Footnote 483

  4. 4)

    Den von Diskursen angebotenen Subjektpositionen, welche den sozialen Akteur_innen Rollen- und Identifikationsangebote machen und korrespondierende Kategorisierungen, Bewertungsmaßstäbe oder Verhaltenskodizes definieren.Footnote 484

  5. 5)

    Den „konkreten Subjektivierungsweisen, mit denen soziale Akteure als Adressat/innen sich die bereit gehaltenen Subjektpositionen (teilweise und eigensinnig) aneignen“.Footnote 485

Neben diesen auf Akteur_innen bezogenen Kategorien etabliert Keller überdies eine ganze Reihe anderer Konzepte und Begrifflichkeiten, die für die inhaltliche Interpretation von Diskursen maßgeblich sind:

  1. 1)

    Die WDA interessiert sich für die Analyse von Deutungsmustern, die ihrerseits Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrats sind und im Rahmen von Diskursen zu mehr oder minder komplexen Erzählungen verwoben werden. Deutungsmuster sind kollektive „Interpretationsschemata für weltliche Phänomene, Situationen, Ereignisse und Handlungen“, wobei das „Element des Musters […] auf den Aspekt des Typischen [verweist] – es handelt sich um allgemeine Deutungsfiguren nicht nur für Sachverhalte, sondern bspw. auch für Subjektpositionen, die in konkreten Deutungsakten und Handlungen zum Einsatz kommen und dabei in unterschiedlicher symbolisch-materialer Gestalt manifest werden“.Footnote 486

  2. 2)

    Des Weiteren interessiert sich die WDA für Klassifikationen – „mehr oder weniger ausgearbeitete, formalisierte und institutionell stabilisierte Formen sozialer Typisierungsprozesse“ – welche in und durch Diskurse vorgenommen werden und welche die Phänomene der Welt nicht nur in ein sozial konstruiertes Ordnungssystem einsortieren, sondern die soziale Wirklichkeit vielmehr überhaupt erst konstituieren (wobei sie immer auch „handlungspraktische Konsequenzen“ hervorbringen).Footnote 487 Klassifikationen sind niemals unproblematisch und immer umkämpft, denn: „Zwischen Diskursen finden Wettstreite um solche Klassifikationen statt, bspw. darüber, wie (potenzielle) technische Katastrophen zu interpretieren sind, welche Identitätsangebote als legitim gelten können, was korrektes und verwerfliches Verhalten ist, […] usw.“.Footnote 488

  3. 3)

    Diskurse benennen bei der Ausformulierung ihres Themas „unterschiedliche Elemente oder Dimensionen ihres Gegenstandes“ (z. B. Klassifikationen, Subjektpositionen), machen also entsprechende Zuschreibungen und verknüpfen diese zu einer spezifischen Phänomenstruktur.Footnote 489 Diese kann einerseits auf die einzelnen Dimensionen ihrer Zusammensetzung hin untersucht werden und andererseits auf deren jeweilige Inhalte. Beide Aspekte können innerhalb der Diskurse eines beliebigen Diskursfeldes (also einer Arena der Koexistenz und des Widerstreits multipler DiskurseFootnote 490) äußerst unterschiedlich gestaltet sein.

  4. 4)

    In engem Zusammenhang mit der Phänomenstruktur steht überdies die narrative Struktur eines Diskurses. Damit sind „diejenigen strukturierenden Momente von Aussagen und Diskursen bezeichnet […], durch die verschiedene Deutungsmuster, Klassifikationen und Dimensionen der Phänomenstruktur zueinander in spezifischer Weise in Beziehung gesetzt werden“ – man könnte sie daher auch als ‚Plot‘, ‚Story Line‘ oder ‚roten Faden‘ bezeichnen.Footnote 491 Narrative Strukturen „konstituieren (bestreitbare) Weltzustände als Erzählungen, in denen es handelnde Akteure und Aktanten, Ereignisse, Herausforderungen, Erfolge und Niederlagen, ‚Gute‘ und ‚Böse‘ etc. gibt“.Footnote 492

Die Wissenssoziologische Diskursanalyse hat trotz ihrer Verortung in der Wissenssoziologie ein breites und interdisziplinäres Anwendungsfeld und eignet sich durchaus auch für die Beantwortung ethnologischer Fragestellungen.Footnote 493 Dennoch ist es im Zuge der vorliegenden Arbeit angeraten, Kellers umfängliches Modell einer ethnologisch-kritischen Betrachtung zu unterziehen und es in einigen Punkten auf die spezifischen Bedürfnisse ethnologischer Forschung hin anzupassen. Dies soll nun im folgenden Abschnitt geschehen.

Grundlegung einer Diskursethnologie

Der Entwurf einer ethnologischen Variante der Diskursanalyse kann sich in weiten Teilen an Kellers theoretisch äußerst fundierter und darüber hinaus empirisch praktikabler Vorlage orientieren, muss jedoch hier und da einige Erweiterungen vornehmen. So sollte sie sich z. B. unbedingt in einer kulturtheoretischen Perspektive verorten und daher mit der Definition ihres jeweiligen Kulturbegriffs beginnen:

Kultur kann mit Berger und Luckmann (oder auch mit Bourdieu) als das Zusammenspiel von Wissen und Praxis begriffen werden, oder vielmehr als Vorrat kollektiver Wissensbestände, der aus sozialer Praxis (im Sinne konventionalisierter Handlungsweisen) entsteht, sich in dieser manifestiert sowie von ihr reproduziert und transformiert wird. Wissen ist dabei keinesfalls rein kognitivistisch gefasst. Vielmehr ist es als sozial konstruierte Wirklichkeit zu begreifen, die nicht nur Grenzen des Wahren und Richtigen absteckt und auf diese Weise objektive Faktizität herstellt, sondern sich darüber hinaus auch in Form von Gefühlen, Haltungen und somatischen Reaktionen (sprich als körperliche Hexis) in den menschlichen Körper einschreibt. Kultur als Dialektik aus Wissen und Praxis entfaltet sich in einem Prozess, der, im Anschluss an den Kulturbegriff der Cultural Studies sowie an die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe, als inhärent konflikthaft beschrieben werden kann. Einzelne Akteur_innen bringen diesen Prozess einerseits durch ihr Handeln hervor und internalisieren andererseits dessen Produkte, wobei diese Internalisierung durch die ständige Möglichkeit und den Zwang zur Wahl zwischen verschiedenen Subjektpositionen, Identifikationsangeboten und Wirklichkeitsauslegungen charakterisiert ist. Die angebotenen Identitäten und Rollen werden – ganz entsprechend der ethnologischen Auffassung von sozialer Identität – immer auch durch das definiert, was sie jeweils nicht sind, nämlich durch die Differenzkonstruktion zu Gegenangeboten die parallel und in Konkurrenz zu ihnen auf dem kulturellen ‚Markt‘ zur Verfügung stehen. Das kulturelle Subjekt entsteht im und durch den Prozess der Wahl, welcher sowohl bewusst als auch unbewusst erfolgen kann. Weitgehend (jedoch nicht zwingend) bewusst erfolgt er im Rahmen kreativer Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse, entlang beispielsweise des Encoding/Decoding Modells von Stuart Hall oder der Eindrucksmanipulation nach Goffman. Weitgehend (jedoch nicht zwingend) unbewusst erfolgt er im Rahmen von Prozessen der Sozialisation nach Berger und Luckmann, die im Einklang mit Bourdieus Habitusmodell als Einschreibung realer Lebensbedingungen und sozial konstruierter Wirklichkeiten in das jeweilige Individuum gefasst werden können. ‚Wahl‘ ist in diesem Sinne auch nicht als Akt des uneingeschränkt freien und strategischen Willens misszuverstehen. Vielmehr bezeichnet sie das sich Positionieren in und Arrangieren mit kulturell konstituierten Zwängen, Erwartungen und Konventionen. Diese Positionierung kann den kulturell vorgegebenen Mustern folgen oder von ihnen abweichen (letzteres geht jedoch immer auch mit gewissen Sanktionen einher). Ein vorkulturelles Subjekt gibt es indes nur insofern als der menschliche Körper, wiederum im Anschluss an Berger und Luckmann, gewisse physische und kognitive Ausgangsbedingungen der Menschwerdung vorgibt, die den Spielräumen der Kulturation Grenzen setzen. Menschwerdung selbst ist jedoch unweigerlich sozialer und kultureller Natur und daher immer prozesshaft und fragmentarisch.

Wie passt nun die Idee des Diskurses zu dem hier vorgeschlagenen Kulturbegriff? Diskurse sind Praktiken, mittels derer kulturelles Wissen produziert, reproduziert und transformiert wird. Eine ethnologische Diskursanalyse kann Kellers an Foucault angelehnten Diskursbegriff im Großen und Ganzen übernehmen, muss allerdings dabei einige Abstriche machen: So macht die Unterscheidung zwischen diskursiven (kommunikativen) und nicht-diskursiven (nicht-kommunikativen) Praktiken sowie zwischen diskursiver (Makro-) und nicht-diskursiver (Mikro-)Ebene der Kommunikation aus ethnologischer Sicht keinen Sinn. Ein totalitätsorientierter ethnologischer Kulturbegriff differenziert nicht zwischen kulturellen und nicht-kulturellen Sphären der Gesellschaft. Geht man, wie oben beschrieben, davon aus, dass Kultur als kollektives Ordnungssystem von Wirklichkeit charakterisiert werden kann, welches in und durch Diskurse entsteht, wird schnell klar, dass Kultur nicht allein durch Kommunikation oder etwa gar durch Sprache herzustellen ist. Sie entsteht durch jede Form des sozialen Handelns sowie durch dessen Materialisierung in Gegenständen: Die materielle Beschaffenheit eines ärztlichen Sprechzimmers reproduziert den sozio-medizinischen Diskurs und das dazugehörige Verhältnis zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin. Ein Händedruck zur Begrüßung reproduziert einen spezifischen Höflichkeitsdiskurs und eine Verweigerung desselben wird – sofern sie nicht durch die Bezugnahme auf andere, ebenso akzeptierte Diskurse gerechtfertigt werden kann – als Verstoß gewertet. Kein Ding, keine Geste ist ohne Bedeutung – ganz im Sinne der Geertz’schen webs of significance. Aus soziologischer Perspektive mag es gewiss sinnvoll sein, diskursive und nicht-diskursiven Praktiken analytisch voneinander zu trennen. Aus ethnologischer Sicht erscheint diese Trennung jedoch künstlich. Mit Laclau und Mouffe nehme ich daher an, dass das Soziale mit dem Diskursiven identisch ist. Zu berücksichtigen bleibt allerdings, dass Menschen mit ihren Handlungen und/oder Kognitionen nicht quasi-automatisch diesen oder jenen Diskurs reproduzieren. Vielmehr bilden sie einen Knoten- oder Schnittpunkt unterschiedlicher Diskurse, zwischen denen sie immerzu vermitteln, verhandeln und wählen müssen, um damit ihr eigenes Selbst zu erschaffen bzw. zu positionieren (s. o.). Diskurse entwerfen Muster der Weltdeutung. Subjektive Sinnwelten speisen sich einerseits aus diesen Mustern und produzieren diese andererseits durch Prozesse der Externalisierung. Sie sind jedoch nicht mit kollektiven Sinnwelten, wie sie durch Diskurse erschaffen werden, identisch, da sie die kollektiven Wissensbestände und konventionalisierten Deutungsmuster nicht eins zu eins abbilden, sondern – im Zuge individueller Dekodierung – in einen eigenständigen Zusammenhang setzen. Die Externalisierung und das ‚öffentlich Machen‘ von individuellen Sinnwelten gegenüber einem beliebigen menschlichen Publikum, lässt diese wiederum in den Bereich des Diskursiven eintreten – nicht jedoch zwingenderweise in den Sinnzusammenhang des- oder derjenigen Diskurse, aus dem oder denen ihre Bestandteile ursprünglich entlehnt worden sind. Wie in ähnlicher Weise schon Clifford Geertz feststellte, können Diskurse oder ‚kulturelle Muster‘ (als kollektive Sinnwelt) und deren individuelle Interpretation (als subjektive Sinnwelt) – obwohl sie einander sehr wohl bedingen – nicht ohne Weiteres in eins gesetzt werden.Footnote 494

Diskurse sind Praktiken, die soziale Wirklichkeit(en) konstituieren. Dies tun sie in einem heterogenen Machtgefüge, in dem unterschiedliche Diskurse fortwährend miteinander um Deutungshoheit ringen und dabei den Rezipient_innen verschiedene (Teil-)Wirklichkeiten zur Verfügung stellen. Macht ist nach Foucault als dezentrale, produktive Kraft zu verstehen, die – um sich gegen konkurrierende Mächte zu behaupten – stetig neues Wissen produzieren, bzw. vorhandenes Wissen aktualisieren und mithilfe emotionaler Einflussnahme (siehe Abschn. 2.3) in Geist und Körper ihrer Adressat_innen einschreiben muss. In Anlehnung an Bourdieus symbolisches Kapital wird also davon ausgegangen, das Macht sich aus der sozialen Akzeptanz diskursiver Wirklichkeitsangebote speist. Macht entsteht durch Diskurse, deren Produktion, Verbreitung und die kontingente Tatsache ihrer kollektiven Anerkennung. Diskurse wiederum entstehen aus dem Deutungshandeln individueller und kollektiver sozialer Akteur_innen. Einerseits sind die Akteur_innen also dem Spiel der Mächte unterworfen, andererseits produzieren sie Macht und nutzen diese als Ressource (in Form von symbolischem Kapital), um ihre Wirklichkeitskonzeptionen in der Welt durchzusetzen. Letzten Endes erschaffen also in einem kontinuierlichen Kreislauf Diskurse Macht und Macht erschafft Diskurse. Das handelnde Subjekt ist einerseits Produzent(in), andererseits aber immer auch unweigerlich Produkt dieses Kreislaufes.

Diskurse können sich in unterschiedlichen Formen ausdrücken: z. B. im Kontext medial vermittelter Debatten, in Form von Alltagshandeln, in Form von Symbolen und Ritualen, etc.. Eine besondere Form der diskursiven Weltintervention sind – in Anlehnung an Foucault und Keller – Dispositive, also Agglomerationen von diskursivem Wissen, diskursiven Praktiken, diskursivem Personal sowie diskursiven Symbolen, welche in besonderem Maße Macht auf sich konzentrieren und die Wissensproduktion daher maßgeblich anleiten. Neben dem Dispositivbegriff kann auch Kellers weitergehendes akteurs- wie interpretationsbezogenes Vokabular für eine ethnologische Variante der Diskursanalyse übernommen werden (= soziale Akteur_innen, Sprecher_innenpositionen, Personal des Dispositivs, Subjektpositionen, Subjektivierungsweisen; Deutungsmuster, Klassifikationen, Phänomenstruktur, narrative Struktur). Übernommen werden können ebenso Kellers Vorschläge zum methodischen Vorgehen, die in Kapitel 3 dieser Arbeit genauer vorgestellt und – vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen ethnologischen Umdeutung des Diskursbegriffs – um einige Bausteine erweitert werden.

Im Hinblick auf das theoretische Grundgerüst einer ethnologisch fokussierten Diskursanalyse muss an dieser Stelle noch ein Thema behandelt werden, das bereits gegen Ende von Abschnitt 2.3 aufgeworfen wurde. Dort wurde gefordert, die Ethnologie müsse sich stärker in die öffentliche Debatte um das Thema Kultur einbringen, als sie dies (wenigstens im deutschsprachigen Raum) bisher getan hat, und sie müsse überdies zur ‚Richtigstellung‘ überkommener Kulturdefinitionen beitragen, deren Verbreitung sie zum Teil selbst mit verschuldet hat. Wie haltbar ist dieser Appell angesichts der Ausführungen im hier vorliegenden Abschnitt 2.4?

Nimmt man mit Foucault an, dass es keine Wahrheit jenseits von Diskursen gibt, dass Wahrheit notwendigerweise immer sozial konstruiert ist und es daher keine objektiven Maßstäbe der rationalen oder moralischen Bewertung von Aussagen geben kann, muss meine Forderung sicherlich zurückgenommen werden. Geht man jedoch mit Berger und Luckmann davon aus, dass sehr wohl eine materielle Welt jenseits der sozialen existiert und dass diese Materialität die natürlichen Grenzen kollektiver Wirklichkeitskonzeptionen absteckt; denkt man weiterhin an Seyla Benhabibs Einwand gegen den radikalen Konstruktivismus (dass nämlich in menschlichen Angelegenheiten nicht alles möglich istFootnote 495), so stellt sich die Situation in einem gänzlich anderen Licht dar. Selbstverständlich muss sich die Ethnologie der Tatsache bewusst sein, dass ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse letztlich immer auch Teil eines spezifischen Diskurses sind – und damit zwangsläufig Teil einer spezifischen kulturellen Wirklichkeitskonstruktion und eines spezifischen kulturellen Machtgefüges. Dennoch darf angesichts einer real existierenden Umwelt durchaus angenommen werden, dass sich solche kulturellen Wirklichkeitskonstruktionen sehr wohl auf ihre jeweilige Robustheit testen lassen. Echte, real begründete Wahrheit werden wir vielleicht niemals vollständig erfassen können, wir können (und müssen!) uns ihrer jedoch annähern. Eine solche Annäherung kann nur in einem Prozess fortwährender Diskussion und Aushandlung zwischen unterschiedlichen (immer auch kulturellen) Wissensangeboten vonstattengehen und ist deshalb zwingend auf Vielstimmigkeit angewiesen. Sicherlich ist die Frage berechtigt, ob die Ethnologie mit ihren Varianten des Kulturbegriffs ‚recht‘ hat. Sich aus dieser Unsicherheit heraus jedoch aus der öffentlichen Debatte zurückzuziehen, wäre kontraproduktiv und würde der Annäherung an Wahrheit unweigerlich im Wege stehen. Die Beteiligung an der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit ist also zweifellos wichtig. Noch wichtiger allerdings ist umfassende, emanzipatorische Aufklärung in Kellers Sinne: Um unsere eigenen kulturellen Wirklichkeitskonzeptionen zu hinterfragen, müssen wir den Mechanismus ihrer Entstehung begreifen. Hierzu kann die wissenssoziologische Diskursanalyse wie auch die Diskursethnologie einen unschätzbaren Beitrag leisten.

2.5 Staatsangehörigkeit und Einbürgerung: Die Grenzen der Nation

Bevor, wie in Abschnitt 2.4 angekündigt, die Vorstellung der diskursanalytischen Methodik dieser Untersuchung erfolgen kann, bleibt abschließend ein letzter zentraler Begriff im theoretischen Gerüst der vorliegenden Arbeit zu klären. Hierbei handelt es sich um den Begriff der Staatsangehörigkeit (bzw. der Staatsbürgerschaft), dessen jeweilige politische Ausformulierung letztlich auch die rechtliche (und diskursive) Grundlage für das gesamte Themenfeld der Einbürgerung bildet. Im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch werden die Konzepte Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft weitgehend synonym gebraucht. Im Zuge einer wissenschaftlichen Betrachtung ist jedoch ihre trennscharfe juristische Unterscheidung erforderlich.

Die Zweiteilung von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft ist eine Besonderheit der deutschen Sprache und drückt als solche unterschiedliche „Nuancen der Teilhabe“ aus.Footnote 496 So ist „‚Staatsangehörigkeit‘ […] der allgemeinere Begriff, wohingegen ‚Staatsbürgerschaft‘ im engeren Sinne nur die Staatsangehörigkeit inklusive der vollen politischen Rechte bezeichnet“.Footnote 497 Demgegenüber benennt der englische Begriff citizenship „die inhaltlichen Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers“.Footnote 498 Von seinem Sinngehalt her ist er also identisch mit der deutschen Staatsbürgerschaft, birgt aber, genauso wie die französische citoyenneté, sprachlich eine etwas andere Konnotation. Ganz ähnlich verhält es sich überdies mit dem englischen (nationality) sowie dem französischen (nationalité) Äquivalent zu Staatsangehörigkeit:

„Das liegt unter anderem daran, daß die entsprechenden Bezeichnungen citoyenneté und nationalité ganz andere Assoziationen wecken. Während citoyenneté Konnotationen an die cité und das vie civique hervorruft, ist die deutsche Bezeichnung sehr auf den Staat ausgerichtet. […] Im Geiste von 1789 und noch stärker von 1793 [Phase der Französischen Revolution] wird die citoyenneté als sozialer Vertrag angesehen, eine politische Zugehörigkeit ohne ethnische Elemente, die eine unklare Beziehung mit der nationalité unterhält. Die nationalité bezeichnet im Gegenzug die Existenz oder den Willen zur Existenz einer Gruppe, die vereint ist durch ein gemeinsames Territorium, eine Sprache, gleiche Traditionen und Aspirationen. Nationalité enthält also eine Anspielung auf Kultur und Ethnizität.“Footnote 499

Erschwerend kommt hinzu, dass im Deutschen (neben Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft) außerdem auch das mit nationality und nationalité verwandte Wort Nationalität existiert. Dieses wird zumeist synonym mit Staatsangehörigkeit verwendet, hat jedoch, gerade auch in Abgrenzung zum Konzept der Nation, noch eine andere Bedeutung: „Während [nämlich] als Nationen im Allgemeinen diejenigen Völker bezeichnet werden, die einen Nationalstaat herausgebildet haben, heißen die übrigen Völker, die innerhalb eines Staates eine sprachlich oder kulturell abgrenzbare Einheit bilden und einen eigenen Nationalstaat anstreben, ‚Nationalitäten‘“.Footnote 500

Der Begriff der Nationalität involviert demnach immer auch die Idee einer (zumeist ethnisch konnotierten) Identifikation mit einer Gruppe und deren nationalistischer Agenda, während dies bei den rein rechtlichen Kategorien der Staatsangehörigkeit und der Staatsbürgerschaft nicht zwingend der Fall ist. Staatsbürgerschaft beschreibt, neben der simplen Zugehörigkeit zu einem Staatswesen, einen Kanon an sozialen und insbesondere politischen Rechten, die allerdings oft nicht allen Staatsangehörigen im gleichen Maße zustehen (so sind Minderjährige vom politischen Recht der Wahl weitgehend ausgenommen und gleiches galt in der Vergangenheit z. B. auch für Frauen). Der Einfachheit halber werde ich mich im Folgenden daher auf den weniger komplexen Begriff der Staatsangehörigkeit konzentrieren sowie an gegebener Stelle auf das Wechselverhältnis zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft eingehen.

Staatsangehörigkeit (und damit letztlich auch Staatsbürgerschaft) kann auf unterschiedliche Arten erworben werden. Zunächst wäre da die Unterscheidung zwischen der Askription per Geburt und der nachträglichen Naturalisation oder Einbürgerung. Die Askription per Geburt kann auf zwei verschiedenen Grundsätzen beruhen: Zum einen kann ein ius soli zur Anwendung kommen, also die Verleihung der Staatsangehörigkeit auf Grundlage des Territorialprinzips, demgemäß alle auf staatlichem Territorium Geborenen automatisch als Staatsangehörige anerkannt werden. Demgegenüber steht das sogenannte ius sanguinis, welches als Abstammungsprinzip rechtliche Zugehörigkeit an die Abstammung von staatsangehörigen Eltern (oder auch nur eines Elternteils) knüpft, völlig unabhängig vom jeweiligen Ort der Geburt. In vielen (wenn nicht sogar den meisten) Staaten dieser Welt verbindet das Staatsangehörigkeitsrecht inzwischen Elemente beider Prinzipien, wobei mal der eine und mal der andere Grundsatz mehr im Vordergrund steht. In Deutschland fällt die Betonung des ius sanguinis (wie man später noch sehen wird) traditionell deutlich stärker aus, obwohl mittlerweile auch hier beiderlei Elemente zur Anwendung kommen.Footnote 501

Im Hinblick auf den Akt der Einbürgerung kann des Weiteren zwischen Anspruchs- und Ermessenseinbürgerungen unterschieden werden. Beide knüpfen den Erwerb der Staatsangehörigkeit an bestimmte Voraussetzungen, so z. B. an einen Wohnsitz im Inland und eine gewisse Aufenthaltsdauer (hier wird eine Orientierung am ius soli deutlich) oder etwa auch an die Eheschließung mit einem / einer Staatsangehörigen (hierin zeigen sich Anklänge eines ius sanguinis). Der wesentliche Unterschied zwischen Anspruchs- und Ermessenseinbürgerung besteht allerdings darin, dass erstere bei Erfüllen aller Einbürgerungskriterien einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung etabliert, während letztere die finale Einbürgerungsentscheidung dem Ermessen der zuständigen Behörden überlässt. Theoretisch können hier also alle Kriterien erfüllt sein und die Einbürgerung dennoch (z. B. aus politischen Gründen) verweigert werden. Bis 1993 hatten in Deutschland nur die sogenannten Aussiedler_innen (die gemeinhin als ‚deutsche Volksangehörige‘ angesehen werden) einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Alle anderen Einbürgerungswilligen unterlagen zwangsläufig dem behördlichen Ermessen.Footnote 502

In der Literatur wird an verschiedenster Stelle darauf hingewiesen, dass die Praxis der Askription von Staatsangehörigkeit (und damit auch Staatsbürgerschaft) im Zuge der Geburt, dem Grundgedanken liberaler Demokratien diametral zuwiderläuft. So erhebt Rogers Brubaker beispielsweise folgenden Einwand:

„Die Zuschreibung der Staatsangehörigkeit bei Geburt ist eine auffällige Ausnahme des säkularen Trends unseres Jahrhunderts weg von jeglichem zugeschriebenen Status. Und sie ist schwer mit einer Grundforderung – mutmaßlich der zentralen Forderung überhaupt – liberaler politischer Theorie zu vereinbaren: der Idee, daß politische Mitgliedschaft auf individueller Einwilligung beruhen sollte.“Footnote 503

Weitgehend parallel dazu schreibt Seyla Benhabib:

„Das Konsensprinzip ist theoretisch gesehen das zentrale Prinzip der demokratischen Staatsbürgerschaft. Dieses Prinzip besagt, daß wir das politische Gemeinwesen im weiteren und den Staat im engeren Sinne als einen Zusammenschluß von freiwilligen Mitgliedern sehen müssen. Die Zugehörigkeit zu einem demokratischen Souverän beinhaltet die Idee, daß wir uns freiwillig und im vollen Wissen auf allgemeine Regeln verpflichten, die unsere Gemeinschaft organisieren. Als Folge dieser Verpflichtung sind wir genötigt, daraus resultierende weitere Rechte und Pflichten einzuhalten.

Die Ironie dieses Konsensprinzips liegt nun darin, daß nicht die gewöhnlichen Staatsbürger demokratischer Staaten, sondern nur Ausländer, die eingebürgert werden wollen, dieses Prinzip praktizieren. […] Unter dem theoretischen Gesichtspunkt ist das Konsensprinzip das konsequenteste Einbürgerungsprinzip in einer Demokratie. In der Praxis sind es nun Ausländer, die dieses Prinzip nachweislich erfüllen müssen. Sowohl das ius sanguinis als auch das ius soli beruhen immerhin implizit auf dem Konsensprinzip. Die Voraussetzungen des ius soli ist, daß man durch Geburt und Sozialisation in einem Land zu einem Mitglied des betreffenden politischen Gemeinwesens wird. Das ius sanguinis geht davon aus, daß die ethnische Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe eine bestimmte Kultur und Sozialisation mit sich bringt und diese kulturellen Voraussetzungen wiederum den Anspruch auf Staatsbürgerschaft begründen. Beide Argumentationsstränge sind problematisch.“Footnote 504

Benhabib hat hier bereits einige Gründe dafür angeführt, dass ius soli und ius sanguinis weiterhin mit solch großer Selbstverständlichkeit zum Einsatz kommen, obwohl sie der Logik des demokratischen Wertesystems ganz offensichtlich widersprechen. In beiden Fällen geht man davon aus, dass die betreffende Person in Folge ihrer Geburt eine quasi automatische Zustimmung zum gesellschaftlich etablierten Konsens entwickeln wird – entweder auf der Grundlage einer (vermeintlich angeborenen) kulturellen Prägung, oder aber auf der Grundlage einer (vermeintlich homogenen) gesellschaftlichen Sozialisation. Ein weiterer wichtiger Grund für die Prominenz von ius soli und ius sanguinis ist demgegenüber allerdings rein pragmatischer Natur. Aus administrativen Gründen ist es erforderlich, dass der rechtliche Status sowie die politische Zugehörigkeit eines Menschen schnell und unzweifelhaft festgestellt werden kann und das möglichst schon im Augenblick der Geburt. Territorial- und oder Abstammungsprinzip bieten hierfür schlichtweg die einfachste Option.Footnote 505

Nachdem nun die wichtigsten Begriffe und rechtlichen Prinzipien im Kontext von Staatsangehörigkeit und Einbürgerung erläutert wurden, werde ich im Folgenden einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung dieser beiden Konzepte in Deutschland geben. Dieser Überblick muss zwangsweise lückenhaft bleiben und kann nicht dem Anspruch einer umfassenden Abhandlung genügen.Footnote 506 Für das Verständnis des methodischen Vorgehens sowie der Untersuchungsergebnisse als solcher ist es dennoch sinnvoll, zumindest einen groben Einblick in die geschichtlichen Abläufe zu gewinnen, um das Thema der vorliegenden Arbeit in seinem weiteren sozio-historischen Kontext angemessen verorten zu können.

Die Entwicklung von Staatsangehörigkeit und Einbürgerung in Deutschland

Nachdem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Jahr 1806 nach langsamem Zerfall endgültig aufgelöst wurde, hinterließ es in Mitteleuropa einen heterogenen Flickenteppich von Klein- und Kleinststaaten, der nicht dazu geeignet war, sich zu einem gemeinsamen Staatswesen zusammenzuschließen.Footnote 507 Statt eines übergreifenden (deutschen) Nationalstaates „setzte sich das Prinzip monarchischer Legitimität in einem lockeren, bündisch gegliederten Staatengefüge durch“.Footnote 508 So zählte der Deutsche Bund von 1815 „41 souveräne, grundsätzlich gleichberechtigte Staaten und Städte“.Footnote 509 Er stellte in erster Linie ein Schutz- und Sicherheitsbündnis dar (ohne Eingriffsrechte in die jeweilige einzelstaatliche Souveränität) und begründete weder eine gemeinsame (Bundes-)Staatsangehörigkeit noch beruhte er auf einer wie auch immer gearteten Vorstellung von ‚Deutscher Nation‘:Footnote 510 „Die Staaten des völkerrechtlichen Deutschen Bundes blieben füreinander Ausland, ihre Angehörigen Ausländer und – im staatsrechtlichen Sinn – gerade nicht ‚Deutsche‘“.Footnote 511

Noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, orientierte sich die staatliche Ordnung der deutschen Gebiete am „Prinzip der Territorialität“.Footnote 512 Im Fokus stand also die Herstellung klar umgrenzter, souveräner Herrschaftsterritorien, nicht etwa die politische Repräsentation mehr oder weniger homogener Nationen. Staatliche Zugehörigkeit bedeutete Zugehörigkeit zu (bzw. Ansässigkeit in) einem staatlichen Territorium und wurde für gewöhnlich über die lokale Zugehörigkeit zu einer Stadt oder einer Gemeinde vermittelt. Bürgerliche Rechte korrespondierten in den zumeist monarchisch regierten Staaten mit der jeweiligen Standes- und / oder Gemeindezugehörigkeit und basierten nicht auf Staatsangehörigkeit als solcher. Vorstellungen von egalitärer Staatsbürgerschaft konnten sich in den einzelnen Territorien (mit Ausnahme von Österreich) nur sehr allmählich durchsetzen. Die Etablierung einer juristisch kodifizierten Staatsangehörigkeit mit allgemeinen, gleichen Rechten und Pflichten war v. a. deshalb problematisch, weil der Adel dadurch seine Interessen und Freiheiten beschnitten sah.Footnote 513 Nichtsdestoweniger machten starke Wanderungsbewegungen zwischen den Staaten (oft und gerade auch Armenwanderungen) eine Entscheidung darüber, was Staatsangehörigkeit sei, welche Rechte mit ihr einhergingen und wie man sie erwerben (oder auch wieder verlieren) könne zusehends erforderlich.Footnote 514

Bei der Entstehung einer modernen Staatsangehörigkeitskonzeption in den deutschen Gebieten nimmt das preußische Untertanengesetz von 1842 eine Sonderstellung ein. Einerseits entstand es (im Vergleich zu den Gesetzen anderer deutscher Staaten) relativ spät sowie „unabhängig von einer Verfassung und dem konstitutionellen Leitbild des Staatsbürgers“, andererseits entfaltete es jedoch eine überaus prägende Wirkung für die weitere deutsche Staatsangehörigkeitspolitik und brachte gar ein „politisches Leitbild“ hervor, welches richtungsgebend war für die erst deutlich später verwirklichte Vision einer gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit.Footnote 515

Ein wesentlicher Faktor für die rechtliche Ausformulierung von Staatsangehörigkeit in Preußen (sowie für die Festlegung von Erwerb und Verlust derselben) war das staatliche Interesse an der Einhaltung militärischer Dienstpflichten, derer sich viele junge Männer durch vorübergehende Auswanderung zu entziehen suchten. Die zentrale Bedeutung der Wehrpflicht zeigte sich im Rechtstext des Untertanengesetzes v. a. daran, dass diejenigen, die den Militärdienst verweigerten, gleichsam ihr Recht auf Zugehörigkeit zum Staat verloren. Militärpflicht und Staatsangehörigkeit waren damit untrennbar miteinander verbunden und die Bürgergemeinschaft offiziell als Wehrgemeinschaft konzipiert.Footnote 516

Erwerb und Besitz der preußischen Staatsangehörigkeit war überdies nicht individuell, sondern familiär und dabei v. a. patrilinear geregelt:

„Die Staatsangehörigkeit der Ehefrau und der ehelichen Kinder folgte der des Mannes. Die unehelichen Kinder erhielten die Staatsangehörigkeit der Mutter. Diese klaren Regeln durchschnitt lediglich eine Ausnahme, an der erneut die prägende Kraft des Militärischen zum Vorschein kam: Hatte ein Familienvater, der ohne Auswanderungskonsens ausgewandert war, dadurch seine Staatsangehörigkeit verloren, blieben gleichwohl seine Söhne wehrpflichtig in Preußen. Mit der Wehrpflicht aber blieb die Kernpflicht der Staatsangehörigkeit bestehen.“Footnote 517

Die Askription der Staatsangehörigkeit bei Geburt folgte dem ius sanguinis. Gleichzeitig allerdings führte ein mehrjähriger Aufenthalt im Ausland zum Verlust der Staatsangehörigkeit. Mehrstaatigkeit wurde zwar offiziell abgelehnt, konnte vermittels individueller Ausnahmeregelungen aber dennoch gewährt werden. Die Einbürgerung von ausländischen Zuwanderern erfolgte zudem nicht mehr über die vermittelnde Instanz des Stadtbürgerrechts (also durch Aufnahme in eine Stadtgemeinschaft). Im Gegenteil wurde für den Erwerb von Stadtbürgerrechten jetzt der Besitz der Staatsangehörigkeit vorausgesetzt.Footnote 518

Die vom preußischen Untertanengesetz angeführten Einbürgerungsbedingungen entsprachen nach Form und Inhalt allgemeinen Standards, wie sie in vielen Teilen des deutschen Bundes verbreitet waren:

„Neben der Dispositionsfähigkeit standen ein unbescholtener Lebenswandel, die Ernährungsfähigkeit des Antragstellers für sich und seine Angehörigen, schließlich der Nachweis über die Erfüllung der Militärpflicht in einem anderen deutschen Bundesstaat und der Nachweis einer Wohnung am Ort der Aufnahme. Einen besonderen Aufnahmegrund stellte die ‚Bestallung‘ im preußischen Staatsdienst dar. Ein Ausländer erwarb damit automatisch […] die preußische Staatsangehörigkeit. Das besondere, in der Pflichtenstellung gründende Näheverhältnis des Staatsdieners zum Staat hob ihn zugleich hervor aus der Menge der übrigen Staatsangehörigen und erübrigte gesonderte Naturalisationsverfahren.“Footnote 519

Die Einbürgerung von Juden und Jüdinnen bedurfte indes „der gesonderten Zustimmung des Innenministers“, womit der ansonsten egalitäre Anspruch des Gesetzes wesentlich durchbrochen wurde.Footnote 520 Zudem blieb die Erhebung zusätzlicher Einbürgerungskriterien den breiten Ermessensspielräumen der Verwaltungen überlassen. Einen tatsächlichen Rechtsanspruch auf Einbürgerung gab es nicht. „Die inhaltlichen Kriterien der Einbürgerung blieben im Arkanbereich der Verwaltung. Sie machten aus der Einbürgerung einen Akt staatlicher Gnade, der aus dem Recht des Absolutismus im Zeitalter des entstehenden bürgerlichen Rechtsdenkens Bestand behielt“.Footnote 521 Demgegenüber „sollte der Widerruf von Naturalisationen grundsätzlich ausgeschlossen sein“ – ererbte und erworbene Staatsangehörigkeit waren demnach von Rechts wegen gleichwertig.Footnote 522

Das preußische Untertanengesetz war für die damaligen deutschen Staaten eines der bedeutsamsten Rechtsdokumente seiner Zeit – was sich u. a. auch daran zeigt, dass seine Regelungen im Jahr 1870 nahezu vollständig in die Gesetze des Norddeutschen Bundes übernommen wurden. Es war damit der „Prototyp des modernen Staatsangehörigkeitsgesetzes in Deutschland schlechthin“.Footnote 523 Zu beachten ist allerdings, dass es sich in keiner Weise auf Vorstellungen von einer preußischen ‚Nation‘ berief. Es entstand in erster Linie aus staatspraktischen, weniger aus nationalistischen Erwägungen heraus. Der Gedanke einer nationalstaatlich verfassten Zugehörigkeit kam flächendeckend erst im Zuge der Revolution von 1848 auf.Footnote 524 Wesentlich älter hingegen ist die zivilgesellschaftliche Vision einer ‚nationalen deutschen Einheit‘, die ihren ideologischen Anspruch auf Herders weiter oben bereits diskutierten Volksbegriff gründete:

„Herders Ideal einer getrennten Entwicklung der Nationen stieß unter den deutschen Intellektuellen um 1800 auf große Resonanz. Der vielfache Appell nicht allein deutscher Nationalisten, die Völker gegeneinander abzuschotten, kann interpretiert werden als der Versuch, der zunehmenden Mobilität und sozialen Differenzierung, die zur Auflösung älterer Bindungen führte, durch neue Inklusionscodes entgegenzuwirken. Im deutschen Sprachraum gab es, anders als in Westeuropa, keine Staatlichkeit, die in einen Nationalstaat umdefiniert werden konnte. Es existierten auch sonst keine massenwirksamen Identifikationsangebote (wie etwa eine Revolution), auf die etwa ein Verfassungspatriotismus sich hätte beziehen können. Deshalb mussten im deutschen Sprachraum wirksame Inklusionscodes fast zwangsläufig auf Sprache und Abstammung, also auf ethnischen Gemeinsamkeiten aufbauen.“Footnote 525

Eric Hobsbawm stellt klar, dass die Vorstellung von ethnischer und sprachlicher Homogenität, auf die sich die emergente Ideologie der Nationalist_innen stützte, von jeher eine fiktive Konstruktion war. Demnach war „Deutschland im 18. Jahrhundert ein reiner Kulturbegriff, und dennoch hatte allein darin ‚Deutschland‘ sein Dasein, im Unterschied zu der Vielfalt von Groß- und Kleinstaaten, die nach Religion und politischer Orientierung gespalten waren und mit Hilfe der deutschen Sprache verwaltet wurden. Deutschland bestand aus höchstens dreihundert bis fünfhunderttausend Personen, die literarische Werke in der Landessprache lasen, und der höchstwahrscheinlich wesentlich kleineren Zahl derjenigen, die tatsächlich die Hoch- oder Bildungssprache für alltägliche Zwecke benutzten.“Footnote 526 In ganz ähnlicher Weise äußert sich überdies Georg Elwert und entlarvt damit die deutsche Homogenitätsvorstellung als imaginiertes Konstrukt.Footnote 527

Der organisierte deutsche Nationalismus, der sich seit 1808 auf Basis der hier beschriebenen Homogenitätskonstruktion entwickelte, wurde in erster Linie von intellektuellen Eliten getragen. Er stützte sich auf politische Vereinigungen einerseits sowie auf das Engagement ziviler Organisationen andererseits. Dabei nahmen insbesondere Vereine und Verbände eine zentrale Rolle ein.Footnote 528 Ausgehend von den intellektuellen Eliten verbreitete sich das nationalistische Gedankengut nach und nach auch in Teilen der Studierendenschaft, „die sich in den seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Burschenschaften neue, erstmals explizit nationalistische Organisationen schufen“.Footnote 529 Obwohl (oder gerade weil) die nationalistischen Vereinigungen mit erheblichen staatlichen Repressionen zu kämpfen hatten, kam es in den Folgejahren zu einer schleichenden Radikalisierung ihrer Ideologie. Diese Radikalisierung war maßgeblich von der Enttäuschung darüber getrieben, „dass die Fürsten die deutsche Einigung nicht voranbrachten und ihre Freiheitsversprechen großenteils brachen“.Footnote 530 Weiterhin bestärkt wurde sie außerdem durch die Julirevolution in Frankreich im Jahr 1830. In Form von Männergesangs- und Turnvereinen konnte sich der organisierte Nationalismus neuformieren, während er „unter dem Deckmantel der Geselligkeit von unmittelbarer Repression verschont“ blieb.Footnote 531 Die deutschen Revolutionen von 1848/49, in denen v. a. „die von sozialem Protest getriebenen unterbürgerlichen Schichten“ rebellierten, schufen neue Räume für die Artikulation des nationalistischen Gedankenguts auch in den politischen Parteien.Footnote 532 Vornehmliches Ziel der Nationalist_innen war dabei die Beendigung der verächtlich gemachten „Kleinstaaterei“ in den deutschen Territorien.Footnote 533 Im Rahmen der Revolutionsphase bestimmten nationalistische Ideen dann auch die „Debatten in der ersten demokratisch gewählten Vertretung des deutschen Volkes, der in der Frankfurter Paulskirche tagenden deutschen Nationalversammlung“Footnote 534. Die Auseinandersetzung oszillierte dabei immer wieder zwischen einem politischen und einem ethnischen Verständnis von ‚deutscher Nation‘, wobei die ethnonationale Perspektive im Großen und Ganzen dominierte:Footnote 535

„Die in der Paulskirchendebatte über die Grenzen des künftigen Nationalstaats vorgebrachten Argumente sind äußerst widersprüchlich. Sie verband vor allem das Bestreben, das künftige Reich so zu gestalten, dass es zu der in Mitteleuropa dominanten Macht und – wie man auch bereits sagte – zur Weltmacht wurde. Breite Einigkeit bestand dahingehend, dass dem künftigen Nationalstaat das gesamte Territorium des Deutschen Bundes sowie Schleswig, Ost- und Westpreußen und der größte Teil der Provinz Posen angehören sollten. Durch die Attraktivität einer freiheitlichen Verfassung und wirtschaftliche Prosperität sollte dieses Kerngebiet allmählich wie ein Magnet weitere Territorien, in denen ‚Deutsche‘ wohnten, anziehen. Gedacht wurde dabei an das Elsass, die Niederlande, die deutschsprachigen Kantone der Schweiz und die russischen Ostseeprovinzen. Durch die Schaffung einer starken Flotte sollten außerdem weltweit Kolonien erobert werden. Die große Mehrheit in der Paulskirche wünschte, abgesehen von England, Skandinavien und der iberischen Halbinsel, in Europa nur drei Großstaaten: Frankreich, Deutschland und Russland, die zugleich die drei großen Völker der Romanen, Germanen und Slawen verkörpern würden.“Footnote 536

Bei dem oben geschilderten Vorhaben standen die Abgeordneten vor dem rein praktischen Problem, dass sich die ‚deutschen‘ Gebiete durch große (kulturelle, sprachliche, ethnische) Heterogenität auszeichneten. Sie argumentierten deshalb opportunistisch: „Territorien, in denen es keine deutschsprachige Bevölkerungsmehrheit gab, […] wurden mit dem Argument historisch gewachsener Zugehörigkeit […] für den künftigen Nationalstaat reklamiert“.Footnote 537 Andererseits wurde mit dem Argument der ethnischen Zugehörigkeit aber auch Anspruch erhoben auf „die preußischen Ostprovinzen und Schleswig, die nicht zum Deutschen Bund gehörten und mehrheitlich von Polen bzw. Dänen bewohnt wurden“.Footnote 538 Ein Konflikt entspann sich überdies zwischen den Vertretern einer kleindeutschen Lösung „unter Führung des protestantischen Preußens“ sowie den Vertretern einer großdeutschen Lösung „unter Einbeziehung der katholischen Führungsmacht Österreich“.Footnote 539

Letzten Endes blieben alle in der Paulskirchenversammlung geführten Debatten ohne Ergebnis. Die nationalistischen Bestrebungen scheiterten am reaktionären Gegenschlag und an der Reinstitutionalisierung des Deutschen Bundes im Jahr 1851. Auf das erfolglose Ende der Revolutionsphase folgte das Verbot der nationalistischen Organisationen und die politische Verfolgung ihrer Anhängerschaft.Footnote 540 Mundtot war der Nationalismus damit allerdings noch lange nicht:

„Etwas zugespitzt kann man sagen: Einer der größten Erfolge der 48er Revolution im Deutschen Bund war es, verhindert zu haben, dass Preußen wie Frankreich, Großbritannien, Schweden und andere zu einem Nationalstaat umdefiniert werden konnte. Die ethnische Definition der Nation war spätestens 1848 so tief verankert, dass ein preußischer Nationalstaat undenkbar war. Die Auffassung, die Muttersprache schaffe den Sinn fürs Vaterland, der Hang des deutschen Idealismus zu einer organologischen Metaphorik, der Doppelsinn des deutschen Wortes ‚Volk‘ – dies alles trug in Verbindung mit den spezifischen historischen Bedingungen zu einer frühen Ethnisierung des deutschen Nationalbewusstseins bei. Gesamteuropäische Entwicklungen wie der Paradigmenwechsel zu naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen verstärkten diese Tendenzen zu einer Biologisierung des Politischen, die zum Kern des völkischen Denkens gehört.“Footnote 541

Im Anschluss an die Revolutionsphase kam es in den Teilstaaten des Deutschen Bundes zu einer fortschreitenden „Homogenisierung der staatlichen Regelungen“.Footnote 542 „Diese Entwicklung vollzog sich zum einen in den Staaten selbst, zum anderen wurde sie vorangetrieben durch den Ausbau und die Verdichtung zwischenstaatlicher Regelungen der Staatsangehörigkeit“.Footnote 543 Ursächlich hierfür waren v. a. ökonomische Beweggründe. So führte die allmähliche Industrialisierung zu wachsender Arbeitsmigration über staatliche Grenzen hinweg.Footnote 544 Eine unmittelbare Folge dessen war nicht nur ein politisches Erstarken der Bundesebene – welche mittels zentralisierter Gesetze immer öfter in die Souveränität der einzelnen Teilstaaten eingriff – sondern außerdem auch eine zunehmende Nationalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit. Einen bedeutenden Meilenstein auf diesem Weg bildete die nach preußischem Vorbild entworfene Gothaer Konvention, der bis 1861 nach und nach alle deutschen Staaten beitraten. Durch sie wurde das Primat des ius sanguinis bestärkt und das Territorialprinzip, demgemäß Zugewanderte bisher nach gewisser Aufenthaltszeit mehr oder weniger automatisch die Staatsangehörigkeit ihres jeweiligen Gaststaates erlangt hatten, weitgehend abgeschafft.Footnote 545

Durch den Krieg zwischen Preußen und Österreich im Jahr 1866, den Sieg Preußens und den damit einhergehenden Zerfall des Deutschen Bundes kamen die deutschen Staaten schließlich – in Form des Norddeutschen Bundes von 1866/67 – ihrer nationalen Einigung näher.Footnote 546 Beim Norddeutschen Bund handelte es sich um ein Bündnis souveräner Monarchien und Städte. „Damit war eine föderative Grundstruktur der nationalen Staatsangehörigkeit vorgeprägt, die über mehr als ein halbes Jahrhundert bestehen blieb“.Footnote 547 Dem föderativen Credo folgend blieb die Bundesangehörigkeit auch weiterhin über die Zugehörigkeit zu einem Teilstaat vermittelt, legte jedoch gleichsam fest, dass jeder Mitgliedsstaat die Angehörigen jedes beliebigen anderen Mitgliedstaates auf dem eigenen Territorium als Inländer zu behandeln hatte – mit gleichen staatsbürgerlichen Rechten. Damit war erstmals ein gemeinsames Konzept von Staatsbürgerschaft etabliert (auch wenn dieses, den jeweiligen einzelstaatlichen Maßstäben entsprechend, natürlich äußerst unterschiedlich ausgestaltet wurde). Der Erlass eines Gesetzes zur Herstellung einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit erfolgte dagegen erst 1870 und orientierte sich (darauf wurde bereits hingewiesen) in weiten Teilen am preußischen Vorbild. Zentrale Elemente waren das ius sanguinis sowie der patrilinear geregelte Erwerb (und Verlust) von Staatsangehörigkeit. Der Militärdienst wurde abermals als Kernelement staatsbürgerlicher Pflichten ausgemacht. Eine Neuerung betraf indes die staatsbürgerliche Gleichstellung von Juden und Jüdinnen, für die nun jegliche Sonderbestimmungen in Bezug auf das Einbürgerungsverfahren abgeschafft wurden.Footnote 548 Die allgemeinen Einbürgerungskriterien umfassten „Geschäftsfähigkeit“, einen „[unbescholtenen] Lebenswandel“, „eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen an dem Ort der beabsichtigten Niederlassung“ sowie „die Fähigkeit, an diesem Ort nach den bestehenden Verhältnissen sich und seine Angehörigen zu ernähren“.Footnote 549 Einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung gab es allerdings auch weiterhin nicht. Zugewanderte „mussten auf eine Einbürgerung gnadenweise hoffen, sofern sie nicht durch eine Anstellung im Staatsdienst automatisch eingebürgert wurden“.Footnote 550 Bemerkenswert ist hingegen, dass zur Beantragung der Einbürgerung „keine Mindestaufenthaltsfrist einzuhalten war. Nach dem Gesetz genügte allein der ausdrückliche Wille, sich in einer Gemeinde niederzulassen“.Footnote 551

Mit dem militärischen Sieg über Frankreich und der anschließenden Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1870/71, erlebte das nationalistische PrinzipFootnote 552 eine weitergehende Festigung. Zwar war das Deutsche Kaiserreich rein verfassungsrechtlich immer noch ein Fürstenbund, denn ihm fehlten wesentliche nationalstaatliche Elemente, wie etwa eine einheitliche Staatsangehörigkeit mit korrespondierenden staatsbürgerlichen Rechten. Aber ungeachtet dessen avancierte der deutsche Nationalismus im Zuge der Reichsgründung von einer „Oppositionsideologie“, die er bis dato immer gewesen war, zur „Legitimitätsideologie“ des neuen deutschen Staates:Footnote 553

„Viele Nationalisten rückten in Regierungsfunktionen ein. Die wachsende Bismarck-Begeisterung verstärkte die Identifikation und lud sie religiös in dem Sinne auf, dass der bestehende Nationalstaat das Ziel der deutschen Geschichte gewesen sei. Hinzu kam, dass die legitimistischen und deshalb dem Nationalismus kritisch gegenüberstehenden Konservativen nun ihrerseits die neue Integrationsideologie übernahmen. Nationalistische Forderungen, etwa eine konsequente Germanisierungspolitik gegenüber den ethnischen Minderheiten und eine imperialistische Weltpolitik, wurden Teil der Politik des Deutschen Reichs.“Footnote 554

Die Staatsangehörigkeitspolitik im Deutschen Kaiserreich war (wenigstens vorläufig) geprägt durch eine starke und andauernde Wanderungsbewegung in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Kaiserreich war insofern zunächst ein Auswanderungsland. In Folge dessen „wuchs die Unzufriedenheit über die im Gesetz [von 1870] enthaltene Bestimmung, daß ein fortdauernder Auslandsaufenthalt zwangsläufig den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nach sich zog“.Footnote 555 Erst nach 1885 „kehrte sich die kontinentale Wanderungsbilanz des Deutschen Reiches um“, welches sich fortan nicht mehr nur allein mit Binnenwanderungen, sondern in zunehmendem Maße auch mit Zuwanderung aus dem Ausland konfrontiert sah.Footnote 556 Beides – sowohl die Abwanderung und der damit einhergehende Verlust der (ererbten) deutschen Staatsangehörigkeit, als auch die Zuwanderung und die damit verbundene wachsende Nachfrage nach Einbürgerungen – stellte das deutsche Kaiserreich nicht bloß vor ökonomische und politische Herausforderungen, sondern lief auch einer nationalistischen Auffassung vom ‚deutsch Sein‘ grundsätzlich zuwider.Footnote 557 Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden nationalen Aufladung von Staatsangehörigkeit entwickelte sich (v. a. in Preußen aber auch darüber hinaus) eine zunehmend restriktive Einbürgerungspraxis gegenüber ‚unerwünschten‘ Fremden (in erster Linie polnischen und jüdischen Migrant_innen). Außerdem wurden im großen Maßstab sogenannte ‚Reichsfeinde‘ ausgemacht (z. B. Katholik_innen und Sozialdemokrat_innen). Im Extremfall hatten diese Personengruppen flächendeckende Ausbürgerungen (z. B. im Falle katholischer Geistlicher) und / oder Ausweisungen (v. a. von Menschen mit polnischer Nationalität) zu fürchten. Der Ausländer_innenstatus erfuhr gegenüber der Zeit des Deutschen Bundes überdies eine erhebliche Abwertung, insofern er nun von weitgehender Rechtlosigkeit und Rechtsunsicherheit gekennzeichnet war.Footnote 558 Zugleich entstanden neue, z. T. äußerst radikale nationalistische Organisationen und Verbände, von denen der Alldeutsche Verband (1891 gegründet als Allgemeiner Deutscher Verband) der bedeutendste war.Footnote 559 Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass (u. a. auch seitens des Alldeutschen Verbandes) bald schon Forderungen nach einem neuen, restriktiven Staatsangehörigkeitsrecht laut wurden, welches sowohl den Verlust der Staatsangehörigkeit durch Auswanderung, als auch den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung wesentlich beschränken sollte. „Die Staatsangehörigkeit wurde zum nationalpolitischen Instrument, das in zweifacher Hinsicht konservativ wirkte: Sie sollte das ‚Deutschtum‘ im Staatsinnern wie im Ausland gegen den Andrang ‚Fremder‘, gegen Vermischung und Auflösung schützen und es ausbauen“, wobei dieser Anspruch insbesondere durch die Verbreitung von antisemitischen und antislawischen Bedrohungs- und Überfremdungsszenarien gestützt wurde.Footnote 560

Mit dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 kam es schließlich zu einer umfassenden Kodifizierung deutscher Staatsangehörigkeit auf Bundesebene. In seinem ersten Paragraphen legte das Gesetz fest: „Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit besitzt“.Footnote 561 Die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat wiederum konnte erworben werden durch „Geburt“ (und Abstammung von einem deutschen Vater), durch „Legitimation“ (eines unehelichen Kindes durch einen deutschen Vater), durch „Eheschließung“ (einer nicht-deutschen Frau mit einem deutschen Mann), durch „Aufnahme“ (eines Staatsangehörigen aus einem deutschen Bundesstaat in einen anderen), sowie durch „Einbürgerung“ (von nicht-staatsangehörigen Personen).Footnote 562 Ein automatischer Verlust der Staatsangehörigkeit durch Auswanderung war dementgegen nicht mehr möglich.Footnote 563 In Bezug auf die Einbürgerung von Zugewanderten legte das Gesetz außerdem fest:

„Ein Ausländer, der sich im Inland niedergelassen hat, kann von dem Bundesstaat, in dessen Gebiete [die] Niederlassung erfolgt ist, auf seinen Antrag eingebürgert werden, wenn er

1. nach den Gesetzen seiner bisherigen Heimat unbeschränkt geschäftsfähig ist oder nach den deutschen Gesetzen unbeschränkt geschäftsfähig sein würde oder der Antrag […] von seinem gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zustimmung gestellt wird,

2. einen unbescholtenen Lebenswandel geführt hat,

3. an dem Orte seiner Niederlassung eine eigene Wohnung oder ein Un-terkommen gefunden hat und

4. an diesem Orte sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist.“Footnote 564

Bezüglich der Einbürgerungsrichtlinien scheinen hier gegenüber dem Stand von 1870 keine bedeutenden Neuerungen oder gar Verschärfungen eingeführt worden zu sein. Dieser Eindruck täuscht allerdings, denn die eigentliche Änderung folgt in Paragraph 9. Dort steht festgeschrieben, dass „die Einbürgerung in einem Bundesstaat […] erst erfolgen [darf], nachdem durch den Reichskanzler festgestellt worden [ist], daß keiner der übrigen Bundesstaaten dagegen Bedenken erhoben [hat].“Footnote 565 Bemerkenswert erscheint dabei v. a. folgender Zusatz: „Die Bedenken können nur auf Tatsachen gestützt werden, welche die Besorgnis rechtfertigen, daß die Einbürgerung des Antragstellers das Wohl des Reichs oder eines Bundesstaats gefährden würde“.Footnote 566 Mit dieser allgemeinen Formulierung wurde „eine Generalklausel geschaffen, aufgrund deren sich die Einbürgerungspolitik des Deutschen Reiches an dem politischen Ermessen eines einzelnen Bundesstaates ausrichtete, der die Befürchtung einer Gefährdung anmeldete“.Footnote 567 Da diesbezüglich „die letzte Entscheidung beim Bundesrat lag, war ausschlaggebend, ob sich [der entsprechende] Bundesstaat mit seinen Bedenken dort“ durchsetzen konnte.Footnote 568 Dies wiederum traf insbesondere auf die Hegemonialmacht Preußen zu. Durch eine gesetzgeberische Hintertür erlangte Preußen somit die Möglichkeit, seine eigene diskriminierende Einbürgerungspraxis weiterhin fort- und auch über die Grenzen des eigenen Territoriums hinaus durchzusetzen, ohne diese Diskriminierung ausdrücklich im Gesetzestext offenlegen zu müssen.Footnote 569 Dieter Gosewinkel hält zusammenfassend fest:

„Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 war ein gesetzgeberisches Jahrhundertwerk. Es kodifizierte den säkularen Wandel der deutschen Staatsangehörigkeit des 19. Jahrhunderts, verkörpert im Übergang vom Territorial- zum Abstammungsprinzip, und schrieb diesen Paradigmenwechsel für das 20. Jahrhundert fest. Das Gesetz beruhte auf einer konkreten Abwehrvorstellung gegenüber ‚Ostausländern‘ und Juden und verfestigte sie. Es legitimierte und begünstigte Diskriminierungen nach ethnisch-kulturellen Kriterien, doch es erzwang sie nicht. Das Gesetz ließ auch Spielräume für eine liberale Einbürgerungspolitik. Letztlich entscheidend für die restriktive oder liberale Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit blieben auch nach 1913 politische Entscheidungen und Mentalitäten, denen das neue Gesetz nur mehr einen institutionellen Rahmen gab.“Footnote 570

Ein Jahr nach dem Gesetzeserlass von 1913 brach der Erste Weltkrieg aus. Befördert wurde der Kriegsausbruch u. a. durch das populistische Engagement sowie die (para-)militärischen Mobilisierungsbestrebungen der nationalistischen Vereinigungen, allen voran des Alldeutschen Verbandes.Footnote 571 Unter dem Gesichtspunkt militärischer Dienstpflicht gelangte die Staatsangehörigkeit in Kriegszeiten zu neuerlicher Bedeutung. „Auf dem Höhepunkt der Mobilisierung standen mehr als dreizehn Millionen deutscher Männer aller Altersklassen und Schichten unter Waffen“ – zum Wehrdienst verpflichtet aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit.Footnote 572 Eine Verweigerung der Wehrpflicht hatte die konsequente Ausbürgerung zur Folge, ebenso die Wehrflucht durch Ausreise oder aber das Überlaufen in feindliches Gebiet. Selbst nach Kriegsende führte eine „Amnestierung der Wehrpflichtvergehen“ nicht zu einer Wiedereinbürgerung.Footnote 573 Während des Krieges erfolgte überdies eine radikale „Aufspaltung in Freund und Feind [entlang] der Staatsangehörigkeit“, nicht bloß im Deutschen Kaiserreich, sondern auch darüber hinaus.Footnote 574 So „wurden deutsche Staatsangehörige – Männer wie Frauen – in ausländischen Staaten, die sich mit Deutschland im Krieg befanden, als ‚feindliche Ausländer‘ (‚enemy aliens‘) behandelt […,] in ihren Rechten beschnitten, ausgewiesen oder auch interniert“.Footnote 575 Gleiches galt umgekehrt für ausländische Staatsangehörige, die im Deutschen Kaiserreich ansässig waren. Einbürgerungsanträge wurden (insbesondere in Preußen) nur noch in Ausnahmefällen bearbeitet. Von der Einbürgerung ausgeschlossen waren nicht nur ‚feindliche Ausländer und Ausländerinnen‘ (v. a. Personen englischer Nationalität), sondern insbesondere auch ehemalige Deutsche, die sich im Ausland der Wehrpflicht entzogen hatten.Footnote 576

Das Ende des Ersten Weltkriegs und die damit verbundene Niederlage des Deutschen Kaiserreiches brachte einige schwerwiegende Einschnitte für das Selbstbild der ‚deutschen Nation‘ mit sich. Ganz besonders deutlich offenbarte sich diese zunehmende Verzerrung des eigenen nationalen Selbstbildes in Zeiten der Weimarer Republik:

„Der Friedensvertrag von Versailles erlegte dem besiegten Deutschen Reich den Verlust all seiner Kolonien auf, die an die Siegermächte fielen. Mehr als 13 % des europäischen Reichsgebietes fielen […] an die Nachbarstaaten. […] Insgesamt verlor das Reich dadurch beinahe ein Zehntel seiner Bevölkerung. […] Aus der wirtschaftlichen und militärischen Großmacht in der Mitte Europas war nach dem Krieg eine territorial und politisch beschnittene Mittelmacht geworden, welcher der Friedensvertrag nur mehr eine militärische Reststreitmacht zugestand und langfristige Reparationslasten auferlegte. […] Die aus der Revolution von 1918/19 hervorgegangene Staatsform der Demokratie stand deshalb an ihrem Beginn offen, später dann bis zu ihrem Untergang latent unter der Bedrohung durch die nationale Gegenrevolution. Wurden militärische Revancheforderungen zunächst nur von einer radikalnationalen Minderheit propagiert, verfügte die Forderung nach territorialer Revision der Gebietsabtretung […] während der gesamten Dauer der Weimarer Republik über eine politische und parlamentarische Mehrheit, die bis weit hinein in das linksliberale und sozialdemokratische Parteilager reichte.“Footnote 577

Migration spielte in den Jahren der Nachkriegszeit nur eine geringfügige Rolle. Die Weimarer Republik war kein attraktives Einwanderungsland. Stattdessen kam es zu starken Rückwanderungsbewegungen ausländischer Arbeitskräfte in ihre jeweiligen Heimatländer.Footnote 578 Fragen der Zuwanderung waren daher weniger von allgemeinem Interesse als vielmehr Fragen nach deutschen Staats- und ‚Volksangehörigen‘ im Ausland. Im Fokus standen dabei zum einen als ethnische Deutsche begriffene Bevölkerungsteile im „ostmitteleuropäischen Raum, die der Krieg ins Blickfeld der nationalen Vorstellungen und Propaganda rückte“, zum anderen (und vor allem) aber auch die knapp sechseinhalb Millionen Einwohner der Abtretungsgebiete, von denen „mehr als die Hälfte deutsch [sprach]. Sie waren nicht nur der Nationalität, sondern ganz überwiegend auch der Staatsangehörigkeit nach Deutsche, und dies in Gebieten, die vielfach seit mehr als einem Jahrhundert zu einem deutschen Staat gehört hatten.“Footnote 579 In diesem Zusammenhang erfuhr die Kategorie der Nationalität gegenüber derjenigen der Staatsangehörigkeit eine starke ideelle Aufwertung – und das nicht nur in der politischen oder der allgemeinöffentlichen, sondern v. a. auch in der wissenschaftlichen Debatte. So wurde beispielsweise dafür plädiert, den Begriff ‚Deutsche‘ im Gesetzestext von 1913 durch das Wort ‚Reichsangehörige‘ zu ersetzen, um die Diskrepanz zwischen tatsächlichen staatlichen Grenzen und antizipierter nationaler Ausdehnung lexikalisch zu fassen.Footnote 580

„Eine polemische Wendung schließlich erhielt die Gegenüberstellung von Staatsnation und Volksnation in neuen, antidemokratischen und nationalistischen Vereinigungen, welche die Verbände des ‚alten‘ Nationalismus und deren Staatsangehörigkeitspolitik an Radikalität weit übertrafen. Das Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei von 1920 spielte die Volkszugehörigkeit gegen die Staatsangehörigkeit aus und verlangte, daß nur ‚Volksgenossen‘ auch deutsche ‚Staatsbürger‘ werden durften. Volksgenossen aber konnten ausschließlich Menschen ‚deutschen Blutes‘ sein. Der völkische ‚Deutsche Hochschulring‘, ein von radikalnationalen Angehörigen der Kriegsgeneration geführter studentischer Verband, ließ für seine Mitgliedschaft nicht mehr die formale deutsche Staatsangehörigkeit genügen, sondern schloß nicht ‚Deutschstämmige‘, unter denen vor allem Juden verstanden wurden, von seiner Mitgliedschaft aus.“Footnote 581

Zeitgleich zu ihrem ideologischen Bedeutungsverlust erfolgte indessen die rechtliche Stärkung der deutschen Staatsangehörigkeit im demokratischen Staat der Weimarer Republik. Erstmals waren Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft weitgehend deckungsgleich, insofern als das „allgemeine, gleiche Wahlrecht […] nunmehr sowohl auf der Ebene des Reiches als auch der Länder allen volljährigen Staatsangehörigen“ – inklusive auch der Frauen – gleichermaßen zustand.Footnote 582 „Angesichts des erheblich erweiterten Gehalts der staatsbürgerlichen Rechte wuchs damit die Bedeutung der Staatsangehörigkeit als Schlüsselinstitution, die über den Zugang zur Staatsbürgerschaft Partizipations- und Lebenschancen eröffnete“.Footnote 583 Dementgegen blieben Nicht-Staatsangehörige von politischen wie bürgerlichen Grundrechten nahezu vollständig ausgeschlossen.Footnote 584 Die Weimarer Republik war demnach also gekennzeichnet durch eine erhebliche rechtliche Aufwertung der Staatsangehörigkeit gegenüber Nicht-Staatsangehörigen und eine zeitgleiche ideologische Abwertung der Staatsangehörigkeit gegenüber völkischen Vorstellungen von Nationalität, die in der breiten Masse wachsenden Anklang fanden:

„Nicht die Auflösung, wohl aber die Relativierung und Bedeutungsminderung des Begriffs Staatsangehörigkeit gegenüber dem der Volkszughörigkeit – in der Publizistik wie in der öffentlichen Wahrnehmung – zeichnete die Weimarer Republik aus. Indem die völkische Substanz gegen die formale staatliche Begrenzung ausgespielt wurde, war die Bestandskraft der Institution Staatsangehörigkeit erodiert, bevor das NS-Regime zu ihrer radikalen Aushebung schritt.“Footnote 585

Im Rahmen des NS-Regimes ab 1933 zeichnete sich die deutsche Staatsangehörigkeitspolitik durch eine erhebliche Radikalisierung und Rassifizierung aus. Vom bislang dominierenden Abstammungsprinzip, welches nicht zwingend ethnisch auszulegen war oder ausgelegt wurde, vollzog sie eine Wende hin zu einem völkischen wie rassistisch-biologisch orientierten Zugehörigkeitsbegriff. Vor diesem Hintergrund wurden bereits erfolgte Einbürgerungen widerrufen und breiten Personenkreisen (insbesondere solchen, die man als ‚jüdisch‘ kategorisierte) die Staatsangehörigkeit entzogen. Hieraus folgte nicht bloß in der Regel ein Zustand der völlig entrechteten Staatenlosigkeit, sondern in vielen Fällen auch die massenhafte Ausweisung von unerwünschten Personen und ‚Staatsfeinden‘ (u. a. auch Wortführende aus Politik und Kunst sowie intellektuelle Eliten). Der Rechtsstaat löste sich nach und nach im rechtlichen Vakuum weitreichender Ermessensspielräume auf. Das rechtfertigende Argument, das hinter alledem stand, war die Annahme, dass nur ‚echte Volksdeutsche‘ die kulturellen, ethnischen und psycho-biologischen Kriterien aufweisen würden, die sie als Staatsbürger_innen des nationalsozialistischen Reiches qualifizierten. Die Krönung dieser Doktrin und ihrer praktischen Umsetzung waren letztlich die bekannten weitreichenden ‚Säuberungsmaßnahmen‘ in Form von Konzentrationslagern und Gaskammern.Footnote 586

Im Jahr 1934 wurde die deutsche Staatsangehörigkeit gleichgeschaltet: „Die eigene Staatsangehörigkeit der Länder, die mit dem deutschen Föderalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden und bis in die Weimarer Republik hinein als ein Kernstück der föderativen Souveränität verteidigt worden war, wurde von der zentralisierenden Diktatur des nationalsozialistischen Staates beseitigt“.Footnote 587 Das Prinzip einer einheitlichen, eigenständigen deutschen Staatsangehörigkeit, die nicht über die Staatsangehörigkeit eines Bundeslandes vermittelt wird, ist somit ein Ergebnis der Ära des Nationalsozialismus. Allerdings erfuhr diese gemeinsame deutsche Staatsangehörigkeit im Zuge des 1935 erlassenen Reichsbürgergesetzes eine erhebliche Abwertung und Umdeutung:Footnote 588

„Das Reichsbürgergesetz behielt nominell den Begriff der deutschen ‚Staatsangehörigkeit‘ bei, die auch weiterhin nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 erworben wurde. In einem zweiten entscheidenden Schritt spaltete der Text die Staatsangehörigen in einer Weise auf, die einen fundamentalen Wandel im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bedeutete. Er schuf eine besondere Gruppe Staatsangehöriger: die ‚Reichsbürger‘. Vor den übrigen deutschen Staatsangehörigen zeichneten sie sich dadurch aus, daß sie zum einen „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren, zum anderen durch ihr Verhalten bewiesen, daß sie „gewillt und geeignet“ waren, „in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen“. Allein ‚Reichsbürger‘ sollten die Träger der vollen politischen Rechte und Pflichten sein. […] (Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, RGBL I, S. 1146).“Footnote 589

Erstmals in der deutschen Geschichte (abgesehen natürlich von der althergebrachten rechtlichen Diskriminierung der Frauen) waren damit zwei Klassen von Staatsangehörigen geschaffen. Überdies verbot ein weiteres Gesetz fortan die Eheschließung zwischen Reichsbürger_innen und als jüdisch klassifizierten Personen – selbst dann, wenn letztere deutsche Staatsangehörige waren. Gleichermaßen verbot es den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen diesen Gruppen sowie „die Beschäftigung fortpflanzungsfähiger weiblicher Staatsangehöriger deutschen oder artverwandten Blutes bei Juden“.Footnote 590 Staatsangehörigkeit diente damit fortan nicht mehr der „Integration in den Staat“, sondern vielmehr der „Stigmatisierung durch den Staat“.Footnote 591 Nach und nach folgte darauf die weitgehende Abschaffung staatsbürgerlicher Rechte selbst für Reichsbürger_innen. Auch die Migrationspolitik erlebte eine allmähliche Verschärfung, wobei bezeichnend ist, dass sich die Sanktionen weniger am Kriterium der Staatsangehörigkeit, sondern vielmehr an der jeweils zugeschriebenen ‚Rasse‘-Kategorie orientierten.Footnote 592

Politische Bestrebungen zur Revision des Versailler Vertrages, verkoppelt mit der völkisch-nationalistischen Idee, im Ausland lebende ‚deutsche‘ Minderheiten ins Dritte Reich zu integrieren, mündeten schließlich in den Zweiten Weltkrieg.Footnote 593 Rassistische Klassifizierungen waren auch im Kontext des Krieges entscheidend für die Eingliederung annektierter Bevölkerungsgruppen. Unterschieden wurde zwischen diversen biologisierenden Kategorien des ‚deutsch‘ bzw. ‚fremd‘ Seins, was letztlich zu weiteren Abstufungen in Bezug auf den jeweils zuerkannten Zugehörigkeits- und Rechtsstatus führte. „Je nach Grad der staatlichen Eingliederung und der ethnischen Mischlage des besetzten Gebietes, nach der Loyalität zum deutschen Volkstum und entsprechenden Rücksichtnahmen auf außenpolitische und militärische Gegebenheiten wurden territorial verschiedene Regelungen eingeführt“.Footnote 594 Parallel dazu wurden sogenannte ‚Volksdeutsche‘ aus den Ostgebieten (auch gegen ihren Willen) in massenhaften Zwangsumsiedlungen ins Territorium des deutschen Staates umverteilt.Footnote 595 Alle jüdisch-klassifizierten Staatsangehörigen verloren indessen spätestens im Jahr 1943 flächendeckend ihre deutsche Staatsangehörigkeit.Footnote 596

In der Nachkriegszeit nach 1945 erfuhr Deutschland eine neuerliche Teilung, zunächst in Form der Besatzungszonen, später dann in Form von DDR und BRD. Noch unter den Alliierten wurde das nationalsozialistische Reichsbürgergesetz außer Kraft gesetzt. Deutschland kehrte bezüglich seiner Staatsangehörigkeitsregelungen zu seinem ursprünglichen Rechtszustand von vor 1933 zurück – und damit zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. Einzig die gemeinsame deutsche Staatsangehörigkeit wurde aus Zeiten des Nationalsozialismus beibehalten. In der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland konstituierte schließlich das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 den Begriff des bzw. der ‚Deutschen‘:Footnote 597

„Demzufolge war zunächst ‚Deutscher‘, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Mit diesem tautologisch anmutenden Rückverweis auf den Status der rechtlich tradierten deutschen Staatsangehörigkeit bekräftigte das Grundgesetz die Fortgeltung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 […]. Die zweite Kategorie des ‚Deutschen‘ hingegen verkörperte den paradigmatischen Wandel der Weltkriegszeit, den die deutsche Staatsangehörigkeit durchgemacht hatte. Danach sollte auch ‚Deutscher‘ sein, wer ‚als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit‘ Aufnahme im Gebiet des Deutschen Reiches gefunden hatte. […] Die Aufnahme des Begriffs ‚deutsche Volkszugehörigkeit‘ in das Grundgesetz lag zunächst in der Konsequenz einer ethnisch-kulturellen Konzeption, die mit der Fortgeltung des Reichsgesetzes von 1913 bekräftigt wurde. Zugleich aber übernahm die Bundesrepublik damit die historische Verantwortung für die Taten des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Die Zuschreibung deutscher ‚Volkszugehörigkeit‘ an Menschen in den eroberten Gebieten Osteuropas, ihre Selektion zur Bildung einer privilegierten Herrenschicht nach nationalsozialistischen Rassekriterien, hatte nach der Befreiung dieser Gebiete von nationalsozialistischer Herrschaft Revanchemaßnahmen in großem Ausmaß ausgelöst. Die millionenfache Entrechtung und Vertreibung jener Menschen, die zu ‚Volksdeutschen‘ qua Zuschreibung durch den deutschen Staat geworden waren, nahm den deutschen Nachfolgestaat in die Pflicht. Einer historischen Verpflichtung entsprach es auch, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Ausbürgerungen rückgängig machte, die das nationalsozialistische Regime aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen vorgenommen hatte.“Footnote 598

Der Artikel 116 des Grundgesetzes, der neben der formalen Staatsangehörigkeit die deutsche Volkszugehörigkeit etablierte, war zunächst „provisorisch gedacht und wurde entsprechend in das Kapitel der ‚Übergangsbestimmungen‘ aufgenommen, allerdings ohne zeitliche Befristung“.Footnote 599 Neuerliche Bedeutung erlangte er daher nach „dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 80er Jahre […], als sich die (deutschstämmigen) Aussiedler und ihre Nachkommen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion darauf beriefen“.Footnote 600

Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 blieb bis zum Jahr 2000 mehr oder weniger unverändert in Kraft, abgesehen von einigen kleineren und größeren Reformen, die insbesondere die Gleichstellung von Mann und Frau betrafen. So darf seit 1957 „einer deutschen Frau nach Heirat mit einem Ausländer nicht mehr automatisch die Staatsangehörigkeit entzogen werden. Genauso wenig darf [seit 1969] nach einer Eheschließung die deutsche Staatsangehörigkeit des Mannes [automatisch] auf die ausländische Frau übertragen werden.“Footnote 601 Dieser Gleichstellungsgrundsatz betrifft außerdem auch Kinder aus binationalen Ehen:

„Traditionellerweise konnte die Staatsangehörigkeit nur vom Vater geerbt werden. 1963 ergänzte man diese Regelung und erlaubte die Weitergabe durch die Mutter, wenn das Kind ansonsten staatenlos wäre. Diese Erweiterung war jedoch noch immer unbefriedigend und seit 1974 erwerben alle Kinder mit einem deutschen Elternteil – egal ob Vater oder Mutter – die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt. Gleichzeitig wurden nichteheliche Kinder deutscher Väter den ehelichen gleichgestellt und können nach der wirksamen Feststellung der Vaterschaft eingebürgert werden. Die Gleichstellungsdebatte hatte für das Staatsangehörigkeitsrecht also zwei wesentliche Konsequenzen:

  1. 1)

    Die einheitliche Staatsangehörigkeit in der Familie ist nicht mehr automatisch gegeben.

  2. 2)

    Kinder aus binationalen Ehen sind in der Regel Doppelstaatler.“Footnote 602

Weiterer Reformbedarf begann sich in den 1980er Jahren abzuzeichnen, als langsam offensichtlich wurde, dass viele der zuvor als ‚Gastarbeiter_innen‘ angeworbenen Arbeitskräfte nicht wie erwartet in ihre jeweiligen Herkunftsstaaten zurückkehren würden. Dem ansteigenden Einbürgerungsinteresse konnte das bisherige Staatsangehörigkeitsgesetz, das auf die Bearbeitung von Einzelfällen ausgerichtet war und dementsprechend weite Ermessensspielräume gewährte, nicht gerecht werden. Überdies folgte aus der wachsenden Zuwanderung, dass auf deutschem Boden zunehmend Kinder geboren wurden, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und langfristig (z. T. über Generationen hinweg) von jeglicher politischer Teilhabe ausgeschlossen blieben. Diese Tatsache stand dem Bedürfnis nach Integration wesentlich entgegen. Mit dem 1990 erlassenen Ausländergesetz erfolgte daher immerhin eine partielle Erleichterung der Einbürgerung: Für junge Zugewanderte im Alter zwischen 16 und 23 Jahren wurde die erforderliche Mindestaufenthaltszeit auf acht Jahre verkürzte (für alle anderen betrug sie 15 Jahre). Dies trug allerdings nicht zu einem nennenswerten Anstieg der Einbürgerungszahlen bei, weshalb schließlich im Jahr 1993 – erstmals in der deutschen Geschichte des Einbürgerungsrechts – ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung festgeschrieben wurde. 1999 erklärte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dann die umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zum prioritären Projekt: „Im Vordergrund stand die Verkürzung der Mindestaufenthaltszeiten, die automatische Einbürgerung der zweiten bzw. dritten Generation und die generelle Hinnahme der Mehrstaatigkeit“.Footnote 603 Letztere machte die CDU/CSU daraufhin zum zentralen Streitpunkt im hessischen Landtagswahlkampf und initiierte diesbezüglich am 15. Januar 1999 eine öffentliche Unterschriftenaktion. Darin betonte sie die Unverzichtbarkeit eines klaren und exklusiven Bekenntnisses zum deutschen Staat und das ihrer Ansicht nach damit unbedingt einhergehende Gebot zur Vermeidung von Mehrstaatigkeit:Footnote 604

„Mit groben Argumenten wurde an Überfremdungsängste in der deutschen Bevölkerung appelliert. Nicht zuletzt aufgrund dieser ‚Doppelpass-Kampagne‘ konnten CDU und FDP im Frühjahr 1999 die Landtagswahlen in Hessen gewinnen und eine Regierung bilden. Durch den Regierungswechsel in Hessen änderten sich die Mehrheitsverhältnisse auch im Bundesrat, dessen Zustimmung zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erforderlich war. Daher wurde ein neuer Gesetzesentwurf in Form eines ‚Gruppenantrags‘ von Mitgliedern der Koalitionsfraktionen und der oppositionellen FDP-Fraktion eingebracht – allerdings um den Preis, dass das Prinzip der Vermeidung der doppelten Staatsbürgerschaft festgeschrieben wurde. Nach sehr kontroversen Debatten im Bundestag und im Bundesrat wurde das neue Staatsangehörigkeitsgesetz 1999 verabschiedet und trat am 1. Januar 2000 in Kraft.“Footnote 605

Mit der Gesetzesreform von 1999/2000 wurden für die Askription der Staatsangehörigkeit bei Geburt erstmals Elemente des ius soli etabliert. Seither kann jedes Kind ausländischer Eltern, das in Deutschland geboren wurde, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, zusätzlich zur jeweiligen Staatsangehörigkeit (oder den Staatsangehörigkeiten) der Eltern. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass mindestens ein Elternteil bestimmte Kriterien in Bezug auf seine Aufenthaltsdauer (mindestens acht Jahre) und die Art seines Aufenthaltsstatus‘ (Aufenthaltsberechtigung oder unbefristete Aufenthaltserlaubnis) erfüllt. „In einer Übergangsregelung erhielten auch ausländische Kinder einen entsprechenden Einbürgerungsanspruch, die zum 1. Januar 2000 das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten“.Footnote 606

Das Recht auf Askription der deutschen Staatsangehörigkeit war für Kinder ausländischer Eltern unweigerlich mit der Pflicht zur Option verbunden, welcher die Betroffenen im Alter zwischen 18 und 23 Jahren nachkommen mussten. Das heißt, sie waren in diesem Zeitraum verpflichtet, zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern zu wählen. Versäumten sie es, rechtzeitig eine entsprechende Erklärung abzugeben und ggf. den Verlust ihrer jeweils anderen Staatsangehörigkeit offiziell nachzuweisen, verloren sie die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch. Dauerhafte Mehrstaatigkeit wurde nur in solchen Fällen toleriert, in denen die Abgabe der anderen Staatsangehörigkeit entweder nicht möglich oder (z. B. aufgrund sehr hoher Gebühren) nicht zumutbar war. Hierfür musste allerdings bis zum 21. Lebensjahr eine entsprechende Beibehaltungsgenehmigung beantragt werden.Footnote 607

Die Regelung zur Optionspflicht blieb bis zum 19. Januar 2014 bestehen und wurde dann – wiederum nach hitziger Debatte – weitestgehend abgeschafft. Alle Kinder (auch diejenigen ausländischer Eltern), die die deutsche Staatsangehörigkeit per Askription bei Geburt erwerben, können diese nun dauerhaft behalten (ungeachtet einer etwaigen, daraus resultierenden Mehrstaatigkeit). Für Kinder ausländischer Eltern gilt dies allerdings nur insofern sie auch tatsächlich in Deutschland aufgewachsen sind (sprich sich mindestens 8 Jahre dort aufgehalten haben oder mindestens 6 Jahre dort zur Schule gegangen sind oder ihren Schulabschluss / ihre Berufsausbildung in Deutschland absolviert haben).Footnote 608

Neben der Einführung des neuartigen Optionsmodells reformierte die Gesetzesänderung aus dem Jahr 2000 außerdem die Pflichtkriterien für die Anspruchseinbürgerung. Nunmehr sind 8 (nicht 15) Jahre Mindestaufenthalt für eine Einbürgerung erforderlich. Darüber hinaus müssen ‚ausreichende Kenntnisse‘ der deutschen Sprache nachgewiesen werden. Es gelten weiterhin die Kriterien der Straffreiheit (wobei kleinere Geld- und Bewährungsstrafen ausgenommen sind) sowie der Fähigkeit zur Existenzsicherung (über Arbeitslosen- und Sozialhilfebezug wird hinweggesehen, insofern er nicht selbst zu vertreten ist). Allgemein besteht die Pflicht zur Abgabe aller bisherigen Staatsangehörigkeiten (wobei diverse Ausnahmeregelungen in vielen Fällen sehr wohl Mehrstaatigkeit zulassen). Abschließend muss ein Bekenntnis zur Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung erfolgen, verbunden mit der ausdrücklichen Erklärung, keine verfassungsfeindlichen Ziele zu verfolgen oder in der Vergangenheit verfolgt zu haben (damit einher geht die standardmäßige Sicherheitsüberprüfung der Einzubürgernden durch den Verfassungsschutz, von der – bemerkenswerterweise – nur im Falle der sogenannten Spätaussiedler_innen grundsätzlich abgesehen wird).Footnote 609

Die Gesetzesreform aus dem Jahr 2000 ließ den Verwaltungen der einzelnen Bundesländer weiterhin erhebliche Ermessensspielräume, was z. B. die Auslegung ‚ausreichender Sprachkenntnisse‘ anbetraf. Dies führte zu deutlichen Diskrepanzen in der tatsächlichen Einbürgerungspraxis. Anfang 2005 wurde das Staatsangehörigkeitsgesetz deswegen durch einige Bestimmungen im neuen Zuwanderungsgesetz ergänzt. Diese begründeten u. a. die Einrichtung bundesweiter Integrationskurse welche sich aus 600 Stunden Sprachkurs und 30 Stunden Orientierungskurs zu Grundkenntnissen der ‚Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland‘ zusammensetzen. Einen Anreiz für die freiwillige Kursteilnahme bietet v. a. die mögliche Verkürzung der für die Einbürgerung erforderlichen Mindestaufenthaltszeit von 8 auf 7 Jahre. Im Falle einer verpflichtenden Teilnahme können überdies seit 2007 finanzielle Sanktionen erhoben werden.Footnote 610

Da das Zuwanderungsgesetz nicht wesentlich zur Homogenisierung der Einbürgerungspraxis beitrug, und die Teilnehmenden der Innenminister_innenkonferenz 2006 zudem einstimmig beschlossen, die Einbürgerungsbestimmungen wenigstens teilweise zu verschärfen, kam es im Jahr 2007 zu einer neuerlichen Reform des Zuwanderungsgesetzes.Footnote 611 Diese betraf, neben der Umsetzung einiger EU-Richtlinien in deutsches Recht, v. a. auch die deutliche Erschwerung der Anspruchseinbürgerung.Footnote 612 So müssen nun (anders als zuvor üblich) auch junge Ausländer_innen unter 23 Jahren ihren Lebensunterhalt selbstständig sichern können, um einen Anspruch auf Einbürgerung geltend zu machen. Die Bagatellgrenzen der für die Einbürgerung erforderlichen Straffreiheit wurden außerdem erheblich herabgesetzt. Seit 2007 wird zudem verlangt, dass Einbürgerungswillige Kenntnisse der Verfassungs- und Rechtsordnung nachweisen (Folge dessen war die umstrittene Etablierung eines allgemeinen Einbürgerungstests zu Fragen der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung im Jahr 2008).Footnote 613 Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft schließlich die Festlegung des Niveaus B1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen als Maßstab für den Nachweis ‚ausreichender Sprachkenntnisse‘.Footnote 614 Dieser Nachweis erfolgt seither in der Regel durch standardisierte Sprachtests.

Im Jahr 2019 kam es zu einer weitergehenden Verschärfung des Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsrechts. Mit der nochmaligen Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes wurde „die Frist für die Rücknahme rechtswidriger Einbürgerungen von fünf auf zehn Jahre verlängert“.Footnote 615 Überdies wurde mit der Anforderung „zur Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ eine Regelung geschaffen, die eine Einbürgerung in Fällen von Polygamie grundsätzlich untersagt.Footnote 616 Zentral ist überdies eine Änderung, welche den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit in Fällen der Beteiligung an Kampfhandlungen terroristischer Vereinigungen im Ausland vorsieht, diesen Verlust allerdings an die Voraussetzung von Mehrstaatigkeit knüpft (die Mehrstaatigkeit der Betroffenen ist insofern eine existenzielle Grundbedingung, als in Deutschland das Prinzip zur Vermeidung von Staatenlosigkeit gilt).Footnote 617 Diese Regelung, die als Reaktion auf die Beteiligung deutscher Staatsangehöriger an Kampfhandlungen des IS entstand, ist (auch wenn die zugrundeliegende Motivation durchaus nachvollzogen werden kann) insofern problematisch, als sie letztlich zwischen zwei verschiedenen (qualitativen) Kategorien von Staatsangehörigen differenziert. Staatsangehörige mit nur einer Staatsangehörigkeit (dies sind in der Regel – wenn auch nicht immer – Deutsche per Askription qua Geburt) müssen keinen Verlust ihrer Staatsangehörigkeit fürchten, selbst wenn sie sich verfassungsfeindlichen Zielen zuwenden. Staatsangehörige mit mehreren Staatsangehörigkeiten (dies sind für gewöhnlich eingebürgerte Deutsche oder Kinder langansässiger Migrant_innen) können sich hingegen nicht auf dieses Privileg berufen. Ihre staatsbürgerlichen Rechte sind in diesem Sinne eingeschränkt. Eine solche Aufteilung in verschiedene Klassen von Staatsangehörigen gab es in Deutschland ansonsten – wie weiter oben gezeigt wurde – nur zur Zeit des Nationalsozialismus.Footnote 618

In seinem Buch Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich von 1994 (in der englischsprachigen Originalfassung von 1992) hat Rogers Brubaker prophezeit, dass die Etablierung eines ius soli, welches Kindern ausländischer Eltern bei der Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit verleiht, aufgrund des dominanten ethnonationalen Diskurses in Deutschland auch auf lange Sicht undenkbar wäre.Footnote 619 Die Einführung des Optionsmodells im Jahr 2000 und v. a. die spätere Abschaffung der Optionspflicht im Jahr 2014 haben gezeigt, dass diese Einschätzung falsch war. Heike Hagedorn hat durchaus recht, wenn sie, in ihrer Kritik an Brubaker, darauf verweist, dass in Deutschland von jeher unterschiedliche Diskurse zum Thema Staatsangehörigkeit / Einbürgerung und Nation / Nationalismus miteinander konkurrierten und dass die Durchsetzung der einen oder der anderen Seite letztlich eine Frage des jeweiligen politischen Klimas war bzw. ist. Wenn sie jedoch aus ihrer Analyse schließt, dass historisch gewachsene Traditionen der nationalen Selbstimagination hierbei keine Rolle spielen, dass überdies staatsnationale und ethnonationale Standpunkte sich auf der ‚normalen‘ Skala zwischen politisch linken und politisch rechten Polen bewegen und Deutschland sich diesbezüglich kaum von anderen Ländern unterscheidet, ist das – in Anbetracht der oben dargelegten historischen Zusammenhänge – ebenfalls zu kurz gegriffen.Footnote 620 Hagedorn unterschätzt die enorme Wirkung des außerparlamentarischen Nationalismus, der in Deutschland traditionell stark und überdies radikal ethnokulturell (sowie z. T. offen rassistisch) ausgerichtet ist. Der Fokus auf politische Spezialdiskurse, den sowohl Brubakers als auch Hagedorns Perspektive gemein haben, verstellt den Blick auf die weiteren sozio-kulturellen Rahmenbedingungen. Gewiss kann man nicht von einem homogenen Nationenbegriff der gesamten deutschen Gesellschaft ausgehen (wie Brubakers These es zeitweilig zu implizieren scheint). Genauso wenig aber lässt sich die historische (oder auch die derzeitige) Entwicklung des deutschen Selbstverständnisses allein als Ergebnis kontingenter politischer Gewinne und Verluste abtun, die von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit weitgehend entkoppelt sind. Es wurde gezeigt, dass ethnonationale Tendenzen und damit in Verbindung stehende essentialistische Vorstellungen von Kultur und Identität in der öffentlichen deutschen Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsdebatte schon immer eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ebenso steht außer Frage, dass es immer auch staatsnationale Gegendiskurse gab. Inwiefern sich diese antagonistischen Diskurse in der aktuellen öffentlichen Diskussion um die Hamburger Einbürgerungsinitiative widerspiegeln, inwiefern sie inzwischen transformiert oder mit anderen Diskursen konfrontiert worden sind, das muss die diskursanalytische Untersuchung zeigen, die im nachfolgenden dritten Kapitel dieser Arbeit methodisch vorbereitet wird.