1.1 Vorbemerkung: Zur Erweiterung der Perspektive

Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Frage, wie Deutsche Nation in der deutschen GesellschaftFootnote 1 definiert wird. Dabei verortet sie sich – als ethnologische Arbeit – im empirischen Feld der interdisziplinären NationalismusforschungFootnote 2. Sie verortet sich des Weiteren – als ethnologische Arbeit – im theoretisch-methodischen Paradigma der interdisziplinären Diskursforschung. Diese doppelte Verortung bedarf einer erläuternden Vorbemerkung, auch und gerade, weil – wie der Soziologe Rogers Brubaker feststellt – die Grenzen zwischen den Disziplinen in Auflösung begriffen sind.Footnote 3 Sein Artikel Ethnicity, Race and Nation im Annual Review of Sociology gibt einen guten, fächerübergreifenden Einblick in die rezente Nationalismusforschung. Das sich darin eröffnende Forschungsfeld wird als „comparative, global, cross-disciplinary, and multiparadigmatic“ beschrieben, mit einem besonderen Fokus auf den Konzepten Ethnizität, ‚Rasse‘ und Nation.Footnote 4 Da es sich hierbei um wichtige Konzepte ethnologischer Empirie und Theoriebildung handelt, ist es sinnvoll, den Anteil der Ethnologie an und ihren Beitrag zu diesem interdisziplinären Feld einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

Gruppenidentität, Gruppenzugehörigkeit und die soziale Aushandlung von Gruppengrenzen – v. a. in Form von Ethnizität – sind zentrale Untersuchungsgegenstände der Ethnologie. Namhafte Vertreter_innen wie Fredrik Barth, Thomas Hylland Eriksen und andere haben das Fach auf diesem Gebiet maßgeblich geprägt, aber auch Ansätze aus benachbarten Disziplinen, wie etwa den Cultural Studies (u. a. repräsentiert durch Stuart Hall), haben als wesentliche Bestandteile Eingang in die fachinterne Debatte gefunden.Footnote 5 In seinem Werk Ethnicity and Nationalism verweist Eriksen überdies auf das wachsende Interesse der Ethnologie am sozialen Konstrukt der Nation und dem damit in Verbindung stehenden Phänomen des Nationalismus.Footnote 6 Dieses Interesse rührt nicht zuletzt auch daher, dass Nation und Nationalismus untrennbar mit den Konzepten Identität und Ethnizität verwoben sind. Die Konzepte kommen insofern zur Deckung, als Ethnizität und Nationalismus gleichermaßen die (kulturelle) Ähnlichkeit und die daraus (vermeintlich) resultierende gemeinsame Identität von Gruppenmitgliedern gegenüber Außenstehenden betonen – mit dem wesentlichen Unterschied allerdings, dass die Begriffe Nation und Nationalismus ihren Rückbezug auf den Staat als grundlegenden Ankerpunkt ihres Selbstverständnisses nehmen, während Ethnizität dies nicht tut.Footnote 7 Georg Elwert definiert:

„Nation ist eine einen überzeitlichen Charakter beanspruchende und auf einen vorhandenen oder erstrebten Staat hin orientierte gedachte Ordnung mit höherrangigen reziproken Verpflichtungen und mit familienerfassenden Zugehörigkeitsregeln.“Footnote 8

Die fächerübergreifende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Nation und dem Phänomen des Nationalismus wurde vornehmlich in anderen wissenschaftlichen Disziplinen als der Ethnologie geprägt. Eine wesentliche Ausnahme bildet hier der Ethnologe Ernest Gellner, der sich seit den 1980er Jahren intensiv mit dem Phänomen Nationalismus befasst und weit über die Grenzen des Faches hinaus Einfluss auf die sozialwissenschaftliche Debatte genommen hat.Footnote 9 Ein zentrales Schlüsselwerk der Nationalismusforschung ist des Weiteren The Invention of Tradition der beiden Historiker Eric Hobsbawm und Terrence Ranger, sowie der Titel Imagined Communities des Politikwissenschaftlers Benedict Anderson. Beide Arbeiten (wie auch Gellners Hauptwerk Nations and Nationalism im Jahr 1983 erschienen) zählen zur Standardliteratur der interdisziplinären Nationalismusforschung und werden vielfach auch in ethnologischen Texten zitiert.Footnote 10 Obwohl die Ethnologie sich ihrerseits bereits spätestens seit den 1960er Jahren intensiv mit dem Begriff der Ethnizität beschäftigt hat, ist ihre Hinwendung zum Komplex Staat, Nation und Nationalismus deutlich späteren Datums. Vereinzelte frühe Beiträge wie etwa Lloyd A. Fallers Arbeit The Social Anthropology of the Nation-State von 1974 sind von dieser Beobachtung auszunehmen.Footnote 11 Abgesehen von solchen frühen Schlaglichtern konzentrierten ethnographische Untersuchungen von Gruppenidentität sich jedoch lange Zeit vornehmlich auf lokale, mehr oder weniger isolierte Kontexte, wohingegen der sie umfassende Staat – wenn überhaupt – nur als äußere Rahmenbedingung bedeutsam war.Footnote 12 Während etwa in der Politikwissenschaft schon 1953 mit Karl W. Deutschs Arbeit Nationalism and Social Communication ein zentrales Hauptwerk der Nationalismustheorie entstand, begannen Ethnolog_innen erst in den 1980er Jahren, sich intensiv mit dem Phänomen Nationalismus auseinanderzusetzen.Footnote 13 Michael Herzfeld bemerkt dazu:

„Anthropologists have hitherto largely shunned the state as a hostile and invasive presence in local social life and have seen nationalism as an embarrassing first cousin to the discipline itself, one distinctly prone to public excesses of essentialism and reification.“Footnote 14

Inzwischen gibt es eine Fülle an ethnologischen Forschungsarbeiten, die sich auf die eine oder andere Art mit den unterschiedlichen Spielarten des Nationalismus befassen. Als Beispiele seien hier u. a. die im Sammelband Neo-Nationalism in Europe and Beyond von Andre Gingrich und Marcus Banks versammelten Texte genannt,Footnote 15 die Untersuchung von Carola Lentz zur intersubjektiven Aushandlung von Staat und Nation im Rahmen afrikanischer UnabhängigkeitsjubiläenFootnote 16 oder die Überlegungen Thomas Bierschenks zum Zusammenhang zwischen staatlichem Steuerungsvermögen und nationaler Identität im postkolonialen Afrika.Footnote 17 Es ist ein wesentlicher Verdienst solcher und anderer ethnologischer Beiträge, dass sie der größtenteils makroperspektivisch ausgerichteten interdisziplinären Nationalismusforschung eine ethnographische Mikroperspektive als Korrektiv entgegensetzen. Zudem ergänzen sie die ansonsten stark auf den europäischen und US-amerikanischen Kontext verengte Diskussion um wichtige Einblicke aus anderen Regionen des Globus.

Ebenso bedeutsam wie ein vielfältiger Blick auf die Welt ist darüber hinaus auch der analytische Blick auf die eigene Gesellschaft. Für die Ethnologie, die in ihren Ursprüngen klassischerweise auf das Studium ‚fremder‘ Gesellschaften fokussiert war, ist diese Erweiterung ihrer Perspektive ebenfalls eine neuere Errungenschaft. Die zunehmende Ausdehnung des ethnologischen Forschungsfeldes auf Länder der sogenannten ‚westlichen Welt‘ – auch und gerade im Kontext der Ethnizitäts- und Nationalismusforschung – ist nur konsequent, da Identitäts- und Gruppenbildungsprozesse überall auf der Welt ähnlichen Gesetzen gehorchen.Footnote 18 Gleichwohl die programmatische Fokussierung auf das ‚exotische Andere‘ mittlerweile der Vergangenheit angehört (oder angehören sollte), kritisiert Oskar Verkaaik, dass sich das ethnologische Interesse an nationalistischen und allgemein identitätspolitischen Diskursen noch immer mehrheitlich auf die Analyse von (ethnischen) Minderheiten richte, während Eliten und Mehrheiten weitaus weniger Beachtung fänden.Footnote 19 In ihrer Untersuchung zur Produktion und Reproduktion von nationalistischer Ideologie durch italienische Sozialarbeiter_innen weist Flavia Stanley – analog zu Verkaaik – darauf hin, dass ethnologische Arbeiten für gewöhnlich die identifikative Auseinandersetzung ethnischer Minderheiten mit der sie umgebenden Mehrheit in den Fokus nehmen, während sie umgekehrt die Reaktion nationaler Mehrheiten auf migrantische Minderheiten vernachlässigen.Footnote 20 Diana Forsythe äußert sich auf ähnliche Weise in ihrer Arbeit German Identity and the Problem of History:

„The German case is interesting for a number of reasons. First, in contrast to the minority cultures that anthropologists usually seek out for study, German culture is unquestionably a majority tradition. Perhaps in part for this reason, it has received relatively little attention from Anglophone anthropologists. Second, studying German identity allows us to investigate ethnic majority status as it is perceived from within. As is well known, ethnic identity tends to be created through a process of opposition. Ethnic minorities typically construct their identity through contrast to some majority tradition. Because the anthropological literature tends to depict majority/minority conflicts from the standpoint of the latter, minority identities often appear as they define themselves – as threatened and vulnerable. Majority identities, on the other hand, appear as they are seen from without, seeming by the logic of the opposition to be strong and secure, if not outright aggressive. Certainly this is how Germanness is perceived in many parts of Europe.“Footnote 21

Zweifellos gibt es (neben der Untersuchung von Diana Forsythe, die in der Einführung zu der hier vorliegenden Arbeit detaillierter vorgestellt werden soll) durchaus ethnologische Arbeiten, die sich mit ‚den Deutschen‘ als (Mehrheits-)Gesellschaft befassen – wobei der weit überwiegende Teil dieser Arbeiten interessanter Weise von Nicht-Deutschen verfasst wurde. Louis Dumont etwa untersucht in seinem Werk German Ideology vermittels eines historischen sowie literarischen Ansatzes die Akkulturation ‚deutscher Ideologie‘ an die – wie er es nennt – universelle ‚Ideologie der Moderne‘. Er interessiert sich dabei insbesondere für das komplexe Wechselverhältnis von Holismus (z. B. in Form deutscher Vorstellungen von ‚Gemeinschaft‘) und Individualismus, welches ihm zufolge – in literarischen Schlüsseltexten von Goethe bis Thomas Mann – prominent im ideologischen Konzept der ‚Bildung‘ zur Geltung kommt und außerdem in Herders Begriff des ‚Volkes‘ und dem daraus hervorgegangenen Nationenkonzept angelegt ist.Footnote 22

Ähnlich wie Dumont stützt auch Robert H. Lowie sein Werk Toward Understanding Germany auf extensive Literaturanalysen, kombiniert diese jedoch mit der ethnographischen Betrachtung insbesondere von Studierenden und Hochschulpersonal in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu einer Erhebung von ‚deutscher Kultur‘, die nationale Grenzen transzendiert. Sein Fokus liegt dabei auf Aspekten der Gesellschaftsstruktur sowie der sozialen Stratifikation, er interessiert sich jedoch auch für Nationalbewusstsein und Demokratiefähigkeit der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg (1950/51) worin seine Perspektive als amerikanischer (wenn auch ursprünglich aus Österreich stammender) Forscher besonders zur Geltung kommt.Footnote 23

Renommiert ist des Weiteren John Bornemans Monographie Belonging in the Two Berlins. Kin, State, Nation in welcher er die unterschiedlichen Familienpolitiken von BRD und DDR (sowie deren diachrone Entwicklung) einander vergleichend gegenüberstellt und ihre Rezeption durch sowie ihren Einfluss auf zwei Generationen von Ost- und Westberliner_innen untersucht. Er argumentiert: „…kinship membership is the topos on which ‘nationness’ is mapped. Because kinship is a constitutive element of nationness, it indexes categories of belonging essential to a state’s claim to legitimacy in representing a nation.“Footnote 24

Bemerkenswert ist, dass Borneman sich in der Einführung zu seiner Arbeit sehr bewusst mit den Implikationen einer ethnographischen Erhebung in der – so wörtlich übersetzt – ‚privilegierten Ersten Welt‘ auseinandersetzt: „Thus „the field“ for anthropology no longer remains a particular place in the southern hemisphere inhabited by illiterate dark-skinned peoples, nor is it a space – in which we are forever confined – where past generations of ethnographers did their fieldwork.“Footnote 25 Er spricht damit auf plakative, provokante und in der (wenn auch sarkastischen) Anknüpfung an rassistische Topoi durchaus nicht ganz unproblematische Weise stereotype Konstellationen von Fremdheit im ethnographischen Feld an sowie deren Repräsentation in ethnologischen Forschungsarbeiten, für welche sich die jeweiligen Autor_innen – aufgrund ihrer privilegierten Position im globalen Machtgefällte – nur selten rechtfertigen mussten. Interessant ist des Weiteren, dass Borneman in die Narration seiner Erhebung einsteigt, indem er seinerseits die wechselseitig wahrgenommene Fremdheit charakterisiert, wie er sie – als amerikanischer Forscher – bei seinen Grenzübertritten nach Ost- respektive Westberlin jeweils unterschiedlich erlebt hat und wie sie jeweils auf spezifische Weise durch kontextuelle Diskurse gerahmt wurden. Er dekonstruiert diese wahrgenommene Fremdheit zwar im Folgenden, dennoch hat sie – als soziale Realität – seinen Forschungsprozess sowie seine Rolle im Feld wesentlich geprägt.Footnote 26

Für die wissenschaftliche – auch und gerade ethnologische – Erörterung des Themenkomplexes Identität und Nation sind Konzeptionen von Fremdheit ein maßgeblicher Faktor. Fremdheit ist dabei aus ethnologischer Perspektive ein überaus heikles Konzept, insofern es der kulturell geprägten, subjektiven Wahrnehmung – also dem Ethnozentrismus der Beobachtenden – entspringt und sich im analytischen Vergleich des vermeintlich Eigenen mit dem vermeintlich Fremden zumeist in Wohlgefallen auflöst. Nichtsdestoweniger kann festgehalten werden, dass es im öffentlichen Raum dominante Meinungen darüber gibt, was (kulturell) fremd sei und was nicht. ‚Fremd‘ in den Augen der Mehrheit sind zumeist und zuvorderst gesellschaftliche Minderheiten. Wie Wolfgang Kaschuba feststellt, werden v. a. Migrant_innen in Deutschland und Europa als Fremde betrachtet. Fremdheit kann dabei positiv konnotiert sein, etwa wenn Migration in den europäischen Metropolen „für den Transfer von Arbeitskraft und Wissen [steht], aber eben auch für kulturelle Vielfalt und exotische Lebensstile“, also für das Kosmopolitische in der Stadt.Footnote 27 Gleichsam kann sie aber auch negativ ausgelegt werden, wie es im Hinblick auf Migrant_innen in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Europa zunehmend geschieht. Kaschuba schreibt:

„[Migrant_innen] werden mit explizitem Misstrauen beobachtet und lösen offensichtlich ein existenzielles Bedrohungsgefühl aus. Ein Gefühl, das sie kulturell ‚gleich‘ macht, das sie als eine homogene Gruppe wahrnimmt, deren ‚Fremdheit‘ sie zum potentiellen Tätermilieu macht: Fremde als Feinde – bedrohlich für unsere Kultur, vielleicht sogar für unser Leben.“Footnote 28

Illustrierend führt Kaschuba hier Maßnahmen verschiedener europäischer Städte an, die darauf abzielen Migrant_innen von der ‚eigenen‘ Bevölkerung zu segregieren – so beispielsweise 2006 in der italienischen Stadt Padua, als deren sozialistische Regierung „über Nacht eine Art ‚Berliner Mauer‘ bauen“ ließ, welche den „Problemkiez ‚Serenissima‘, ein Viertel mit vorwiegend afrikanischen Migranten“, einschloss und nur wenige Zu- wie Ausgänge offenließ.Footnote 29 Kulturelle Fremdheit – egal ob in ihrer positiven Konnotation als Exotik oder in ihrer negativen Konnotation als Bedrohung – mag zwar aus wissenschaftlicher Sicht keine reale Grundlage haben, ihre kollektive Wahrnehmung und deren soziale wie politische Konsequenzen sind aber durchaus real. Der populären Kategorisierung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, wie sie die politische und öffentliche Debatte bestimmt, kann auch die wissenschaftliche Sphäre sich nicht ohne Weiteres entziehen. So argumentiert etwa Martin Sökefeld, „dass die Formen der Vergegenständlichung von Einwanderern in Wissenschaft und Politik bestimmte Parallelen aufweisen“, insofern sie Migrant_innen als ‚Fremde‘ klassifizieren.Footnote 30 Sökefeld bezieht seine These auf die interdisziplinäre deutsche Migrationsforschung, nicht unmittelbar auf die Ethnologie als solche. Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, dass auch die von Verkaaik, Stanley und Forsythe festgestellte Tendenz der ethnologischen Nationalismusforschung, Minderheiten (bzw. das Wechselverhältnis von Mehrheit und Minderheit) in den Fokus zu nehmen, vor diesem Hintergrund problematisiert werden muss. Die analytische Unterscheidung zwischen nationaler Mehrheit und ethnischer, nicht selten migrantischer Minderheit ist an und für sich bereits problematisch, weil sie unweigerlich der Proklamation von Fremdheit Vorschub leistet. Mit der expliziten oder impliziten Unterscheidung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ ist das sogenannte Othering angesprochen. „Othering meint, dass per kollektiv zugeschriebener kultureller Charakterisierung Individuen als anders, different dargestellt werden, und zwar unabhängig davon, ob sich diese Differenz tatsächlich in jedem einzelnen Fall nachweisen lässt.“Footnote 31 Der Begriff bezeichnet damit ein Bias, das der Ethnologie schon seit ihren Anfängen inhärent ist und – obgleich es in der innerfachlichen Debatte heftig kritisiert wurde – noch immer erheblichen Einfluss auszuwirken scheint.Footnote 32 Migrant_innen, so bringt es etwa Paul A. Silverstein auf den Punkt, sind das neue „exotische Andere“ der Ethnologie.Footnote 33

Indem viele ethnologische Arbeiten sich im Kontext europäischer oder nordamerikanischer Gesellschaften auf das Verhältnis von ethnisch definierten – und zumeist auch stigmatisierten – Minderheiten zum sie dominierenden Staat konzentrieren, essentialisieren sie die binäre Logik vom (‚eigenen‘) Unterdrücker und den (‚fremden‘) Unterdrückten. Dieser Fokus erleichtert sicher auch die Verknüpfung von Wissenschaft und Aktivismus wie etwa bei Caroline B. Brettell und ihrer Analyse einer migrantischen Online-Community in den USA. Als teilnehmende Beobachterin partizipierte sie an den politischen Aktionen der Gruppe, indem sie u. a. Briefe an Kongressabgeordnete schrieb und Geld spendete.Footnote 34 Es ist fraglich, ob die Autorin sich für die Ambitionen einer identitätspolitischen (etwa rechtspopulistischen) Bewegung der gesellschaftlichen ‚Mehrheit‘ (sei diese nun ethnisch, rassistisch, religiös oder national definiert) in ähnlicher Weise eingesetzt hätte. Nichtsdestoweniger wäre auch die Erforschung solcher Gruppierungen für das umfassende Verständnis identitärer Dynamiken essentiell. Die Dichotomisierung von (‚eigener‘) Mehrheit und (‚fremder‘) Minderheit klammert die gesellschaftliche Vielfältigkeit sowie die gesellschaftliche Vielstimmigkeit der nationalistischen Debatte weitgehend aus. Am Ende steht oft ein repressiv verstandenes staatlich-gesellschaftliches System einer um Emanzipation ringenden migrantischen (oder allgemeiner: ethnischen) Community gegenüber. Auch wenn dieses Bild in vielen Fällen sicher nicht ganz falsch ist, greift es doch letzten Endes zu kurz und verstellt den Blick für neue, andersgeartete Untersuchungsfragen.

Die (ansonsten sehr lesenswerte) Arbeit Culturalist discourses on inclusion and exclusion: the Swiss citizenship debate von Susanne Wessendorf bildet ein anschauliches Beispiel für die beschriebene Problematik. Darin untersucht die Autorin zwei antagonistische Diskurse um ein Schweizer Referendum für erleichterte Einbürgerungen in 2008. Insbesondere interessiert sich Wessendorf für die Formation der sogenannten Secondo Bewegung, eine Bewegung von jungen, gebildeten, ökonomisch erfolgreichen Angehörigen der zweiten Zuwanderndengeneration. Diese Secondo Bewegung ist laut Wessendorf der Gegenentwurf zu einem dominanten Anti-Einwanderungsdiskurs, der sich mit seinen wechselnden Formen der Kulturalisierung seit dem Zweiten Weltkrieg durch die schweizerische Debattenlandschaft zieht und in neuerer Zeit v. a. von der rechtspopulistischen SVP mobilisiert wird.Footnote 35 Das zentrale Ergebnis der Arbeit – nämlich die Erkenntnis, dass rechter Abwehrdiskurs und Secondo-Gegendiskurs sich gleichermaßen Varianten des Kulturalismus (oder Kulturfundamentalismus, siehe Abschn. 2.2 / 2.3 in der vorliegenden Arbeit) bzw. der Essentialisierung von Gruppenidentität bedienen – ist äußerst interessant und im Hinblick auf die hier vorgelegte Untersuchung auch durchaus anschlussfähig. Das Problem liegt weniger im Ergebnis als vielmehr in der Perspektive: Dadurch, dass die Analyse ihren Ausgangspunkt bei den opponierenden Akteurinnen der Debatte nimmt, entsteht der Eindruck, die Secondo Bewegung stehe als migrantische Initiative einer einigermaßen monolithischen Schweizer Mehrheitsgesellschaft gegenüber. Diese Mehrheitsgesellschaft erscheint als mehr oder minder passiver Spielball der widerstreitenden Diskurse: Auf der einen Seite der emanzipatorische Minderheitendiskurs, vertreten durch die Secondos, auf der anderen Seite der xenophobe (Mehrheits-)Diskurs, repräsentiert durch die Kampagnen rechter Parteien und die essentialistischen Darstellungen etablierter Massenmedien. So schließt Wessendorf die Beschreibung ihrer Untersuchungsergebnisse mit folgenden Worten ab:

Unfortunately, the positive picture painted by the secondos, which temporarily reached a larger public and contributed to a more positive image of the second generation, by 2006 has once again been crushed by populist right-wing discourses which ascribe the increasing violence among youngsters in Switzerland to people of ex-Yugoslavian origin.“Footnote 36

Die analytische Gegenüberstellung von Mehrheit und Minderheit (mit tendenzieller Parteinahme für die Minderheit) hat, das konnte gezeigt werden, einige Tradition in der Ethnologie. Die komplexe Gesellschaft eines modernen Nationalstaats lässt sich jedoch nicht so leicht in Mehrheiten und Minderheiten aufgliedern. Wahrnehmungen von (legitimer) Zugehörigkeit und (oftmals gradueller) Fremdheit machen sich, wie im Verlauf dieser Arbeit noch vielfach deutlich werden wird, nicht allein an der Staatsangehörigkeit und auch nur sehr bedingt an Faktoren wie Kultur oder Abstammung fest. Wer zur Mehrheit gehört und wer zur Minderheit, wer Teil der Nation ist, wer dies nicht ist und wer es unter Umständen werden darf ist letzten Endes das fluide und vielfach situative Ergebnis eines fortwährenden gesamtgesellschaftlichen Definitionsprozesses. Vor diesem Hintergrund darf die ethnologische Nationalismusforschung nicht bei der binären Logik von Eigenem und Fremdem stehen bleiben, sondern muss ihren Blick auf die Gesellschaft als Ganzes richten. Sie muss nach der vielstimmigen Aushandlung von Nation in der allgemeinen, öffentlichen Debatte fragen sowie nach den nationalistischen Diskursen, die in dieser Debatte Dominanz beanspruchen – und zwar unabhängig davon, wer sie jeweils produziert. Es ist das sich Herausschälen der Diskurse aus den kollektiven Wissenssphären der Gesellschaft, die wechselseitige Interaktion in einem gemeinsamen Diskursfeld und der diskursive Kampf um die Definition von Nation, der im Fokus des wissenschaftlichen Interesses stehen muss.Footnote 37

Will man die beschriebene perspektivische Verzerrung vermeiden, hilft es nicht, den Blickwinkel einfach umzukehren, wie es etwa die weiter oben zitierte Flavia Stanley tut, indem sie dem Blick der gesellschaftlichen ‚Mehrheit‘ auf die zuwandernde ‚Minderheit‘ Rechnung trägt. Eine solche Umkehrung der Perspektive ist zweifellos ein wichtiger Schritt hin zu einem umfassenderen Verständnis des Phänomens Nationalismus in der Ethnologie. Die vorliegende Arbeit gründet jedoch auf der Überzeugung, dass die Perspektive weniger umgekehrt, denn vielmehr radikal erweitert werden sollte. Statt von den (vermeintlich) relevanten Akteur_innen und Diskursen auf die weitere gesellschaftliche Debatte zu schließen, sollten die relevanten Akteur_innen und Diskurse ihrerseits aus der Debatte selbst erschlossen werden. Ein solches Unterfangen lässt sich nicht allein anhand der ethnographischen Analyse einzelner, separierbarer Kontexte realisieren wie sie in der Ethnologie nach wie vor beliebt ist. Die Untersuchung politischer RitualeFootnote 38 sowie die Untersuchung abgrenzbarer PersonengruppenFootnote 39 sind ein wichtiger Ankerpunkt der innerfachlichen Debatte um Staat und Nation. Sie bilden jedoch nur einen von vielen denkbaren Bausteinen im tragenden Gerüst einer ethnologisch ausgerichteten Nationalismusforschung. Die hier vorliegende Arbeit bietet einen Weiteren an.

Ethnologische Forschungen haben in der Vergangenheit durch ihren ethnographischen Zugang einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, das Wirken und die Entstehung von Diskursen in lokalen Kontexten näher zu beleuchten und zu erklären. Viele Ethnolog_innen sehen gerade hierin die zentrale Aufgabe ihrer Disziplin.Footnote 40 Im Laufe der Zeit haben manche Vertreter_innen des Faches die analytische Mikroebene jedoch auch sehr erfolgreich verlassen und sich ihrerseits einer makroperspektivischen Betrachtung zugewandt. Als Beispiel kann hier u. a. das Werk Naturalizing Mexican Immigrants von Martha Menchaca genannt werden, welches einen historischen Ansatz verfolgt, um die Einbürgerungsgeschichte mexikanischer Migrant_innen in Texas nachzuzeichnen.Footnote 41 Damit steht die Autorin in der Tradition Eric Wolfs, der ebenfalls die Bedeutung eines geschichtsbewussten Zugangs herausgestrichen hat, für das Verständnis globaler Machtbeziehungen und ihren Einfluss auf isoliert erscheinende kulturelle Phänomene.Footnote 42 Die Suche nach verborgenen Hegemonien, Ideologien und Hierarchien ist nicht nur eine wesentliche Triebfeder dafür, dass historische Verstrickung und globale Vernetzung immer stärkeren Eingang in die ethnologische Forschung gefunden haben, sie ist außerdem auch mitursächlich für die hohe Konjunktur des Diskursbegriffs in neueren ethnologischen Arbeiten. So unterzieht z. B. Arturo Escobar in seinem Werk Encountering Development den internationalen Entwicklungsdiskurs einer hegemoniekritischen Betrachtung,Footnote 43 Paul A. Silverstein entwirft in seinem Artikel Immigrant Racialization and the New Savage Slot: Race, Migration, and Immigration in the New Europe eine Genealogie der Konzeptionalisierung von Zuwandernden in wissenschaftlichen DiskursenFootnote 44, und Charles L. Briggs ergründet mit seinem Konzept der Communicability das Zusammentreffen sozialer Konstruktionen von ‚Rasse‘ und Krankheit.Footnote 45

Es ist ein Problem vieler ethnologischer Arbeiten, die sich aus dem Repertoire der interdisziplinären Diskursforschung bedienen, dass ihnen die diskurstheoretische Tiefe und infolgedessen auch die methodische Transparenz fehlt, um wirklich als vollwertige Diskursanalysen gelten zu können. Sie arbeiten mit dem Diskursbegriff – der oft weitgehend undefiniert bleibt (etwa bei Escobar oder Silverstein) – ohne dabei systematische Ansätze eines robusten diskursanalytischen Vorgehens zu entwerfen. Linguistisch fokussierte, an der angloamerikanischen Discourse Analysis und der Critical Discourse Analysis orientierte Ansätze wie derjenige Charles L. Briggs’ sind von diesem Kritikpunkt ausgenommen. Diesen Zugängen, die zumeist in der Linguistic Anthropology beheimatet sind, liegt in der Regel ein solides theoretisches Fundament zugrunde – die Arbeiten von Peter Mühlhäusler und Adrian Peace zu Umweltdiskursen und von James M. Wilce zu medizinischem Diskurs illustrieren diesen Umstand anschaulichFootnote 46 – allerdings sind diese Ansätze perspektivisch auf die Analyse von Sprache und Sprachgebrauch bzw. auf Fragen der Ideologiekritik verengt und für das breite Spektrum potenzieller ethnologischer Fragestellungen daher nicht uneingeschränkt geeignet.Footnote 47 Eine methodische Verquickung von Ethnographie und Diskursanalyse, wie manche Forschungsdesigns sie entwerfen, birgt überdies häufig das Problem, dass der ethnographischen Betrachtung übermäßige Aufmerksamkeit gewidmet und der diskursanalytische Aspekt vernachlässigt wird – und zwar selbst dann, wenn Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit eine solche Gewichtung nicht rechtfertigen. Ein Beispiel bildet hier Jens Schneiders Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland (2001), welches der obenstehenden Liste der ethnologischen Identitäts- und Nationalismusforschung in und über Deutschland noch an prominenter Stelle hinzuzufügen ist. Ausgehend von der Tatsache nationalistisch motivierter (und in diesem Sinne symbolischer) Gewalttaten gegen „Ausländer“ setzt der Autor sich das Ziel, das diskursive Referenzsystem zu identifizieren, welches „gesellschaftliche Rede und symbolische Handlungen“ in den sinnstiftenden Kontext nationaler Identität stellt.Footnote 48 Gemeint ist „die Beschreibung des spezifischen Moments der Konstruktion bzw. Imagination der ‚Gemeinschaft der Deutschen‘“, welches sich in symbolischen Handlungen (wie etwa den kriminellen Gewaltakten), vor allem aber im „nationalen Diskurs“, als „grundlegendere[r] Form der Konstruktion“, manifestiert.Footnote 49

Schneiders Untersuchung weist in ihrer Zielsetzung starke Ähnlichkeit mit der hier vorgelegten Arbeit auf, geht jedoch einen radikal anderen Weg, indem sie den nationalen Diskurs nicht aus der öffentlichen Arena als solcher sondern anhand von Interviews mit 35 „Diskurseliten“ herausarbeiten will.Footnote 50 Als Diskurseliten wiederum begreift Schneider Personen, „die aktiv an der Produktion öffentlicher Diskurse beteiligt sind“.Footnote 51 Ausgewählt wurden in Berlin ansässige Angehörige der sogenannten ‚Babyboomer-Generation‘ aus den gesellschaftlichen Sphären „Politik, Medien und Kultur“.Footnote 52 Sowohl die Zielgruppe als auch die zentralen Variablen der Analyse wurden dabei anhand von theoretischen Vorannahmen über den nationalen Diskurs bzw. dessen Produzent_innen und Publika identifiziert. Einzelne diskursive Ereignisse sowie demographische und historische Konstellationen wurden – u. a. basierend auf den Vorarbeiten von Lowie, Forsythe und Borneman – als prägendes Moment angenommen und insofern der Analyse vorausgestellt.Footnote 53 Während der ethnographische Teil der Arbeit prominent und umfänglich sowohl methodisch als auch inhaltlich ausgeführt wird, steht die eigentliche Betrachtung des massenmedial vermittelten Diskurses dagegen relativ knapp und methodisch kaum ausformuliert am Ende. Sie dient, so scheint es, v. a. der Kontextualisierung der Interviewdaten.Footnote 54

Jens Schneider orientiert sein methodisches Vorgehen u. a. am Zugang der Critical Discourse Analysis, wie sie in Abschnitt 2.4 der vorliegenden Arbeit vorgestellt wird, sowie an der Interpretativen Ethnologie nach Clifford Geertz, auf die ihrerseits in Abschnitt 2.3 noch näher eingegangen werden soll.Footnote 55 In beiden Teilkapiteln werden auch jeweils die spezifischen Probleme dieser Ansätze anzusprechen sein. Überdies wird anhand der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit noch ersichtlich werden, dass ein kollektives Referenzsystem auf der gesellschaftlichen Makroebene unter keinen Umständen anhand von Interviews mit einer sehr kleinen Gruppe von Menschen erschlossen werden kann, die in sich auch noch recht homogen ist – wenigstens was das ungefähre Alter der Befragten, ihren Lebensmittelpunkt und ihre soziale Position in der Gesellschaft anbelangt. Schneider begründet die Relevanz der von ihm ausgewählten Zielgruppe u. a. mit ihrer Rolle als Diskursproduzent_innen in der öffentlichen Arena. Wie Abschnitt 5.1 dieser Arbeit jedoch noch anschaulich demonstrieren wird, ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der Diskursproduzent_innen keinesfalls ein Garant dafür, dass das gesellschaftliche Bedeutungsgewebe – in all seiner Komplexität – aus den Aussagen dieser Personen auch unproblematisch und unverzerrt als ‚kultureller Text‘ im Geertz’schen Sinne abgelesen werden kann.Footnote 56 Hier gilt – wenn auch in leicht abgewandelter Form – dieselbe Kritik, die weiter oben bereits ins Feld geführt wurde: Der Rückschluss von (nach welchen Kriterien auch immer) abgrenzbaren Gruppen auf gesamtgesellschaftliche Sinngebungsprozesse verengt die Perspektive und verzerrt die vielstimmige öffentliche Debatte entsprechend einer (mehr oder minder willkürlich) ausgewählten Forschungslinse. So kommt der Autor dann auch zu dem Schluss, dass die von ihm – im Anschluss an Borneman – eingenommene generationale Perspektive das wesentliche Moment sei, welches die Erfahrung des Nationalen auf jeweils spezifische Weise rahme.Footnote 57 Hier stellt sich die Frage, inwiefern ein bestimmter Betrachtungswinkel nicht auch von vornherein gewisse Ergebnisse diktiert und inwiefern ein veränderter Fokus (etwa auf soziale Schicht, Bildungsstand oder andere biographische Faktoren des individuellen Lebensweges) die gleichen – oder eben wohlmöglich auch gänzlich andere – Schlussfolgerungen nahelegen würde. Vor dem Hintergrund, dass Schneider nach einem übergeordneten nationalistischen Referenzsystem fragt und zur Beantwortung dieser Frage eine diskursanalytische Untersuchung anstrebt, ist nicht ersichtlich, warum er ethnographischen Methoden wie Interviews und Teilnehmender Beobachtung Vorrang gibt vor einem makroperspektivischen Ansatz der Diskursanalyse, welcher das zu untersuchende „Formationssystem“Footnote 58 systematisch aus der öffentlichen Debatte herausarbeitet und dabei die oben genannten Probleme leicht hätte vermeiden können.

Schneider gibt an, dass seine flankierende Feldforschung hauptsächlich zur Kontextualisierung der Interviews gedient habe und deshalb „in die weitere Analyse nicht unmittelbar eingeflossen“ sei.Footnote 59 Er bedauert, dass „diese Studie ihren spezifisch ethnologischen Charakter damit weitgehend aufgibt“.Footnote 60 Ethnologie wird hier mit Ethnographie gleichgesetzt – eine Einschätzung, die viele Ethnolog_innen im Wesentlichen teilen. Gemeinhin gilt der Charakter der Ethnologie als untrennbar ethnographisch. Angesichts ihrer theoretischen Errungenschaften, ihres vielfältigen und ständig in Entwicklung befindlichen methodischen Repertoires und ihrer Expertise in Themenfeldern von enormer gesellschaftlicher (sowie globaler) Relevanz steht jedoch außer Zweifel, dass die Ethnologie Fragen zu stellen vermag, die über die Möglichkeiten einer (alleinigen) ethnographischen Bearbeitung weit hinausreichen. Zu klären bleibt, ob unsere Disziplin sich durch (ggf. auch überkommene?) Vorstellungen von Fächergrenzen und Zuständigkeitsbereichen davon abhalten lassen sollte, diese Fragen zu stellen oder aber sich andersherum dazu verleiten lassen darf, sie mit Mitteln zu beantworten, die zwar ihrerseits dem sozial konstruierten Referenzsystem ‚Ethnologie‘ entsprechen, jedoch für die Erreichung ihrer Ziele offensichtlich nicht ideal sind. Die umfassende Erforschung nationaler, ethnischer oder anderer identitärer IdeologienFootnote 61 sowie die Herausarbeitung dieser Ideologien aus dem multivokalen Sinngebungsprozess erfordert – insbesondere in den komplexen, massenmedial strukturierten Gesellschaften der heutigen Zeit – einen (bezogen auf klassische Ethnographie) deutlich innovativeren Ansatz.Footnote 62 Ein diskursanalytischer, auch und gerade makroperspektivischer Zugang ist für diese Art der Untersuchung in besonderem Maße geeignet. Er sollte sich nicht hinter Vorstellungen davon, was Ethnologie sein darf und was nicht, verstecken müssen.

Die vorliegende Arbeit will ihren Beitrag leisten zu einer neuerlichen Erweiterung der ethnologischen Perspektive in diskursanalytischer Richtung – v. a. (aber nicht ausschließlich) im Forschungsfeld Nation und Nationalismus. Aus diesem Grund hat sie es sich zum Ziel gesetzt, einen theoretisch fundierten Ansatz der ethnologischen Diskursanalyse – oder vielmehr der Diskursethnologie – zu entwerfen und für die breite Anwendung nutzbar zu machen. Um dieses Vorhaben zu verwirklichen, wird es an mancher Stelle erforderlich sein, tiefer in die theoretischen Grundlagen vorzudringen, als dies für die Beantwortung der inhaltlichen Fragestellung allein notwendig wäre. Insbesondere ist es geboten, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen – die sich ihrerseits schon deutlich länger und intensiver mit diskursanalytischen (wie auch mit nationalismustheoretischen) Überlegungen befassen – an prominenter Stelle in die Betrachtung miteinzubeziehen. Ihre Herangehensweisen sollen systematisch erschlossen, aus ethnologischer Perspektive beurteilt und für die ethnologische Arbeit verwertbar gemacht werden. Am Ende dieses Prozesses wird der Entwurf eines fundierten, theoretisch-methodischen Forschungsprogrammes stehen, welches am Beispiel der hier zu untersuchenden Fragestellung exemplarisch zum Einsatz kommt. Da Ansatz und Inhalt in zwingender Wechselwirkung stehen und die empirische Zielsetzung nicht hinter der theoretischen zurückbleiben darf, ist es allerdings zunächst erforderlich, das inhaltliche Forschungsinteresse genauer abzustecken. Was also ist konkret gemeint, wenn in dieser Arbeit nach der diskursiven Definition von Deutscher Nation in der deutschen Gesellschaft gefragt wird? Eine erste, vorläufige Antwort gibt die nun folgende Einführung.

1.2 Einführung: Deutschland – eine Kulturnation?

Im Jahr 1908 prägte der deutsche Historiker Friedrich Meinecke zwei analytische Kategorien für die Klassifizierung moderner Nationen – Kulturnation und Staatsnation

„…solche, die vorzugsweise auf einem […] gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung vor allem beruhen“.Footnote 63

Meinecke zufolge bildet die Schweiz eine Staatsnation, innerhalb derer mehrere Kulturnationen miteinander koexistieren. Im Gegensatz dazu zeige „das Beispiel der großen deutschen Nation“ eine Kulturnation, die sich in der Vergangenheit auf mehrere Staatsnationen aufgespalten habe.Footnote 64

Die kulturelle Homogenität, die Meinecke für seinen Entwurf der deutschen Nation proklamiert, ist aus ethnologischer Sicht überaus kritisch zu beurteilen. Wie an späterer Stelle noch zu demonstrieren sein wird, ist das Verhältnis zwischen Kultur und Ethnizität von komplexer und selten eindeutiger Natur. Es beruht auf der selektiven Wahrnehmung und der selektiven Betonung von Homogenität, nicht auf Homogenität als solcher.Footnote 65 Gleiches gilt in vielleicht noch stärkerem Maße für das Verhältnis zwischen Kultur und Nation – v. a. wenn man der einflussreichen These Benedict Andersons folgt, dass nationale Gemeinschaften sich durch die kollektive Imagination ihrer Mitglieder konstituieren,Footnote 66 sowie der nicht minder einflussreichen These Eric Hobsbawms, dass Nationen in einem kontinuierlichen Prozess ihre eigenen (kulturellen) Traditionen erfinden.Footnote 67

Meineckes Theoriegebilde wird vor dem historischen Hintergrund seiner Entstehung einerseits erklärbar, andererseits umso problematischer. Tatsächlich war das Deutsche Kaiserreich von 1871, zu dessen Ende hin Meinecke sein Werk verfasste, ein föderativer Bundesstaat, bestehend aus verschiedenen Teilstaaten mit je eigener Staatsangehörigkeit (sowie verschiedensten religiösen, sprachlichen und ethnischen Bevölkerungsanteilen). Eine gemeinsame deutsche (Bundes-)Staatsangehörigkeit gab es zwar bereits seit 1870, diese wurde jedoch bis in die 1930er Jahre hinein über die Staatsangehörigkeiten der einzelnen Teilstaaten vermittelt. Nur wer also die Staatsangehörigkeit eines Teilstaates innehatte, konnte in der Regel auch die gemeinsame Staatsangehörigkeit des Bundes besitzen.Footnote 68 Die Gleichschaltung der unterschiedlichen Teilstaatsangehörigkeiten zu einer einzigen, unteilbaren Staats- bzw. Reichsangehörigkeit erfolgte erst 1934 durch ein Dekret der Nationalsozialisten.Footnote 69

Vor der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, zur Zeit des Deutschen Bundes von 1815, war das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland (zuzüglich weiterer Gebiete, so z. B. der östlichen Provinzen Preußens sowie Teilen des Habsburger Reichs) in ein lockeres Bündnis eigenständiger Territorialstaaten gegliedert, die einander wechselseitig als Ausland betrachteten. Die Entstehung eines modernen deutschen Nationalstaats war letztlich die Folge eines langwierigen und von wiederholten Aushandlungskämpfen gezeichneten Nationalisierungsprozesses.Footnote 70 Anders als in anderen europäischen Ländern, wie z. B. in Frankreich, wo ein bereits existierender Territorialstaat die Grundlage für das wachsende Nationalgefühl bildete, waren es im deutschen Fall v. a. nationalistische Kräfte aus der Bevölkerung, welche umgekehrt die Gründung eines gemeinsamen Staates vorantrieben.Footnote 71 Diesen besonderen historischen Umstand nimmt Meinecke als Ausgangspunkt für seine Behauptung von der (natürlich gewachsenen) deutschen Kulturnation, wobei er Hinweise auf kulturelle, ethnische, linguistische sowie religiöse Vielfalt vollkommen außer Acht lässt.Footnote 72 In Relation dazu folgert Rogers Brubaker:

„Da sich bereits vor Entstehen des Nationalstaates ein Nationalgefühl herausgebildet hatte, war das deutsche Verständnis von Nation ursprünglich weder politisch noch an die abstrakte Idee der Staatsangehörigkeit gebunden. Diese prä-politische deutsche Nation, diese Nation auf der Suche nach einem Staat, wurde nicht als Träger universaler politischer Werte begriffen, sondern als eine organisch kulturelle, sprachliche oder rassische Gemeinschaft – als eine irreduzible besondere Volksgemeinschaft. In diesem Sinne ist Nationalität eine ethnisch-kulturelle, keine politische Tatsache.“Footnote 73

In seiner Unterscheidung zwischen einer staatszentrierten französischen Nation, deren Fokus auf politischer Gemeinschaft und politischen Werten liegt, und einer volkszentrierten deutschen Nation, die sich durch Abstammung und kulturelle Gemeinsamkeit definiert, greift Brubaker die prototypische Zweiteilung Meineckes in Staats- und Kulturnation wieder auf – mit dem wesentlichen Unterschied allerdings, dass er wahrgenommene und nicht tatsächliche kulturelle Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.Footnote 74 Verschiedene kulturelle Idiome, das heißt verschiedene kollektive Muster oder Konventionen „über das Nationale nachzudenken und zu sprechen“ – nämlich in Frankreich eher staatszentriert und in Deutschland eher ethnisch-kulturell – ziehen sich Brubaker zufolge als historische Konstanten durch die Entwicklungsgeschichte dieser beiden Länder.Footnote 75 Sie prägen politische Entscheidungen, Debatten und Interessenlagen und begründen dadurch für Frankreich ein staatsnationales sowie für Deutschland ein ethnonationales Verständnis von Staat und Gesellschaft.Footnote 76

Brubakers plakative Kontrastierung ist in Literatur und Öffentlichkeit weitreichend rezipiert, allerdings auch von verschiedener Seite her kritisiert worden. Dabei sind sowohl die historische Kontinuität als auch die relative Homogenität hinterfragt worden, die er den kulturellen Idiomen und ihren realpolitischen Auswirkungen in Bezug auf Deutschland zuschreibt.Footnote 77 Diese Kritik ist durchaus berechtigt, zumal Brubaker seinen Blick nahezu ausschließlich auf die diskursive Positionierung politischer Eliten richtet.Footnote 78 Nicht zuletzt auch die in der vorangegangenen Vorbemerkung bereits erwähnte ethnographische Erhebung von Diana Forsythe lässt gewisse Zweifel an seiner These aufkommen. So untersucht Forsythe Konzeptionen von ‚Deutscher Identität‘ in der BRD der 1970er und 1980er Jahre und deckt dabei ein komplexes taxonomisches Kontinuum an Kategorien des Ein- und Ausschlusses auf, des Deutschseins und Nicht-Deutschseins mit diversen Formen der Zugehörigkeit und Graden des Fremdseins. Sie unterscheidet im Wesentlichen sechs ethnonational anmutende Kategorien des Deutschseins – von eindeutig Deutschstämmigen in BRD und DDR sowie ‚Restdeutschen‘ in den ehemals deutschen Gebieten des ‚Ostblocks‘ über bundesdeutsche Ausgewanderte in anderen Ländern bis hin zu deutschstämmigen und/oder deutschsprachigen Menschen fremder Nationalität (z. B. in der Schweiz und Österreich). Sie differenziert des Weiteren zwischen verschiedenen Typen von ‚Ausländer_innen‘, wobei insbesondere muslimische sowie jüdische Menschen und People of Color den äußersten Rand der Fremdheitsskala bilden, während weiße, christliche Europäer_innen oder US-Amerikaner_innen eine ambivalente Position zwischen Deutschen und ‚echten‘ Ausländer_innen einnehmen.Footnote 79 Die ethnonationale Identifikation und die damit eng verzahnten diffusionistischen Vorstellungen von KulturFootnote 80 werden, so Forsythe, flankiert (und das ist essentiell) von z. T. diametralen Bewertungen des Deutschseins als solchem. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Identifikation der Deutschen mit ihrem Staat, ihrer Nation und ihrer Geschichte zutiefst fragil und zutiefst gespalten sei. Während nämlich manche Deutsche sich in klassischer (ethnonationaler) Abgrenzung zu den genannten Typen von Fremden definieren und deutsche Identität dabei positiv überhöhen, verwehren sich andere jedweder Identifikation mit einem wie auch immer gearteten Deutschsein, weil eben dieses Deutschsein unauflöslich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verquickt scheint. Deutschsein wird hier mit Nationalismus und Nationalismus seinerseits mit Nationalsozialismus assoziiert und damit als Makel empfunden:Footnote 81

„…it leads them to deny that they are German: in dissociating themselves from the Nazi past, they reject their own German identity as well. Asked whether they feel German, these individuals tend to say no.“Footnote 82

Viele Deutsche, so Forsythe, lehnen die nationale Identifikation zu Gunsten einer Identifikation mit der regionalen Ebene einerseits und der europäischen Ebene andererseits ab. Ein legitimes Deutschsein ist für sie auf die politische Zugehörigkeit zum deutschen Staat sowie auf die gemeinsame sprachliche Basis beschränkt. Zugleich negieren sie aber jeglichen Einfluss, den diese Faktoren (etwa auch im staatsnationalen Sinne) auf ihre persönliche Identität haben könnten.Footnote 83 Ihre Identifikation weist damit eher transnationale bzw. postnationale oder aber lokalpatriotische Züge auf und fällt gänzlich aus der Dichotomie von staatsnational und ethnonational heraus.

Forsythes Untersuchung stammt aus einer Zeit, in der Deutschland noch geteilt und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerade 30 bis 40 Jahre vergangen waren. Trotz aller (durchaus berechtigten) Einwände gegen Brubaker stellt sich daher angesichts der neuesten sozio-politischen Entwicklungen während und nach der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015 und insbesondere angesichts des allgemeinen Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen, Medien und Parteien in wachsendem Maße die Frage, wie sich die deutsche Gesellschaft (auch und gerade jenseits der politischen Entscheidungsebene) innerhalb (und außerhalb) der Dichotomie von staatsnationalem und ethnonationalem Selbstverständnis verortet.Footnote 84

Bei der Bundestagswahl im September 2017 hat die Alternative für Deutschland 12,6 % der Stimmen für sich gewinnen können und wurde damit zur drittstärksten Kraft im deutschen Bundestag.Footnote 85 In ihrem Wahlprogramm vertrat sie ein ethnisch orientiertes Konzept von Nation, demzufolge gemeinsame kulturelle Wurzeln nicht nur einen souveränen Staat bedingen, sondern seine Existenz sogar geradezu einfordern:

„Kulturen, Sprachen und nationale Identitäten sind durch Jahrhunderte dauernde geschichtliche Entwicklungen entstanden. Sie stellen für ihre Angehörigen unverzichtbare Identifikationsräume dar, die nur in nationalen Staaten mit demokratischer Verfassung wirkungsvoll ausgestaltet werden können.“Footnote 86

In der Sonntagsfrage von Infratest dimap erzielte die AFD am 21.09.2018 beachtliche 18 % der Stimmen.Footnote 87 Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen (2019) erreichte sie sogar 27,5 %.Footnote 88 Zieht man diese jüngsten Erfolge in Betracht, so könnte man sich in der Tat zu der Annahme hinreißen lassen, dass die von der AFD beworbene ethnonationale Ideologie für einen beträchtlichen Anteil der deutschen Bevölkerung repräsentativ ist. Um jedoch nicht den gleichen Fehler wie Brubaker (und andere) zu machen und die gesellschaftliche Vielstimmigkeit vorzeitig auf einen vorgefassten (Eliten-)Diskurs zu reduzieren, unterlässt die vorliegende Arbeit einen solchen Kurzschluss und fragt stattdessen offen:

Wie wird Deutsche Nation in der öffentlichen Debatte definiert? Gibt es dominante nationalistische Ideologien – das heißt (im wertfreien Sinne) kollektive Wissensregime, welche die identifikative Bedeutung von Staat und Nation propagieren – und wenn ja, welcher Art sind diese?

Im Kern geht es also darum zu erörtern, welches Wissen über Staat und Nation in der gesellschaftlichen Debatte zur Verfügung steht, welche Wissenssysteme sich gegen andere durchsetzen – also mit anderen Worten Macht ausüben – und mit welchen Mitteln sie dies jeweils tun. In diesem Kontext von Wissen und Macht wird es natürlich von besonderem Interesse sein zu prüfen, inwiefern das von Meinecke (und der AFD) essentialisierte und von Brubaker dekonstruierte ethnisch-kulturelle Nationenkonzept repräsentativ ist für die Selbstimagination der deutschen Gesellschaft und / oder ob sich ggf. auch Hinweise auf eine (oder mehrere) staatsnationale Deutungslinien herauskristallisieren. Des Weiteren wird es wichtig sein, den Blick offen zu halten für andere kollektive Ideologien, die um den Komplex von Staat und Nation kreisen und nicht in die hier etablierte Dichotomie von staatsnational und ethnonational hineinpassen. So könnten selbstverständlich auch transnationale oder postnationale Perspektiven, gänzlich nicht-nationale (z. B. lokalpatriotische) Vorstellungen oder Mischformen zum Tragen kommen.

Die Frage nach dem Selbstverständnis einer Nation ist gerade deswegen hochgradig relevant, weil sie – je nachdem wie die Antwort ausfällt – grundlegende Weichen für deren soziale, kulturelle und politische Entwicklung stellt. Ob ein Staat ideologisch auf einem gemeinsamen politischen Konsens oder einem gemeinsamen ethnischen Ursprung aufbaut, hat reale lebenspraktische Konsequenzen. Eine solche Positionierung entscheidet maßgeblich darüber, welche gesellschaftlichen Kräfte, Ideen und Handlungsoptionen dem kollektiven Repertoire zur Verfügung stehen und sich langfristig gegen andere durchsetzen – insbesondere (aber nicht ausschließlich) in den Handlungsfeldern Migration, Integration und Nation(alismus).

Obwohl politischeFootnote 89 Implikationen in dieser Arbeit durchaus eine entscheidende Rolle spielen, soll die politische Debatte (im Sinne einer Diskussion, die innerhalb politischer Institutionen wie dem Bundestag bzw. zwischen politischen Akteur_innen wie etwa Parteien geführt wird) explizit nicht im Fokus der Untersuchung stehen. Natürlich werden auch Äußerungen aus dem politischen Komplex für die Analyse bedeutsam sein, ihr Schwerpunkt liegt jedoch vielmehr auf der öffentlichen Debatte. Damit ist diejenige Debatte gemeint, die im öffentlichen Raum stattfindet, allgemein zugänglich ist und durch moderne Massenmedien (Presse, Fernsehen, Radio, Internet) vermittelt wird.Footnote 90 Die sich darin abzeichnenden Diskurse (hier vorerst vereinfachend gefasst als kollektive Praktiken der kulturellen Wissensproduktion) sind ihrer Definition nach öffentliche Diskurse. Sie stehen zwar ohne Zweifel mit institutionellen Spezialdiskursen (etwa aus der politischen Sphäre oder der Wissenschaft) in steter Wechselwirkung, sind jedoch keinesfalls mit diesen gleichzusetzen. Um die Frage danach zu beantworten, wie eine Nation sich selbst imaginiert, ist es nicht sinnvoll, den Blick (allein) auf institutionelle Spezialdiskurse zu lenken, die durch strenge Formationsregeln und mehr oder minder geschlossene Adressat_innenkreise von der Mehrheit der Bevölkerung abgeschottet sind.Footnote 91 Viel eher muss eine fundierte Antwort die ganze Bandbreite der Gesellschaft berücksichtigen. Öffentliche Diskurse hierfür als Ausgangspunkt zu nehmen ist die aussichtsreichste Herangehensweise. Da öffentliche Diskurse jedoch zumeist äußerst komplex, umfangreich und über diverse Arenen zersplittert sind, ist es für die Zwecke der hier vorliegenden Arbeit erforderlich, zunächst ein konkretes Diskursfeld abzustecken, innerhalb dessen die Dynamiken der Debatte exemplarisch betrachtet werden können.

Das identitäre Konzept der Nation ist (wenigstens in modernen Nationalstaaten) unweigerlich mit dem juristischen Konzept der Staatsangehörigkeit verwoben. Staat und Nation bedingen sich gegenseitig. Zugang zum einen setzt in der Regel Zugang zum anderen voraus bzw. wird von diesem her abgeleitet. Vor diesem Hintergrund ist Staatsangehörigkeit ein „mächtiges Instrument sozialer Schließung“.Footnote 92 Der Begriff der sozialen Schließung geht auf Max Weber zurück, demzufolge „[soziale] Interaktion […] für alle Hinzukommenden offen oder geschlossen sein [kann]“.Footnote 93 Weber schreibt:

„Eine soziale Beziehung […] soll nach außen ‚offen‘ heißen, wenn und insoweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen ‚geschlossen‘ dann, insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen.“Footnote 94

Des Weiteren unterscheidet Weber verschiedene Formen, Grade und Motive der Schließung.Footnote 95

Der moderne Nationalstaat basiert auf einer ganzen Reihe sozialer Schließungsmechanismen. So hat er beispielsweise territoriale Grenzen, innerhalb derer sich nur bestimmte Personen aufhalten oder frei bewegen dürfen. Sein allgemeines Wahlrecht ist insofern nicht allgemein, als dass es nur einer sehr spezifischen Gruppe von Menschen, nämlich den Staatsbürger_innen (und unter diesen auch nur den rechtsmündigen Staatsbürger_innen), zur Verfügung steht. Darüber hinaus steht auch der Militärdienst nicht jedem offen, wie die rezente Debatte über die Zulassung von Ausländer_innen zur deutschen Bundeswehr zeigt.Footnote 96

Alle hier genannten Schließungsmechanismen basieren letztlich auf der zugrundeliegenden Institution der Staatsangehörigkeit. In dieser Hinsicht ist die wichtigste Form der sozialen Schließung in Nationalstaaten jene, die den Erwerb der Staatsangehörigkeit als solche regelt. Für alle diejenigen, welche die betreffende Staatsangehörigkeit nicht schon im Zuge ihrer Geburt erworben haben, ist dies in der Regel die Einbürgerung. Die Einbürgerung wiederum ist ihrerseits an bestimmte Voraussetzungen geknüpft und nicht jedem beliebig zugänglich.Footnote 97 In diesem Sinne fungiert sie gleichermaßen als „Instrument und Gegenstand der Schließung“.Footnote 98

Im Angesicht der Globalisierung und dem zunehmenden Bedeutungsgewinn transnationaler Normen – wie v. a. den universellen Menschenrechten, die nicht an die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Nationalstaat geknüpft sind – hat Staatsangehörigkeit, zumindest aus völkerrechtlicher Perspektive, an Relevanz verloren.Footnote 99 Nichtsdestoweniger garantiert ihr Besitz eine ganze Reihe an Rechten und Freiheiten, die sonst kein anderer juristischer Status gewähren kann. So verleiht die deutsche Staatsangehörigkeit beispielsweise das „uneingeschränkte Recht auf Einreise und Aufenthalt“ und gebietet damit zugleich auch „das Verbot von Ausweisung, Abschiebung und Auslieferung“ also das Recht auf Freizügigkeit und Schutz durch den Staat.Footnote 100 Weiterhin ist „die Staatsangehörigkeit […] Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Grundrechts auf Berufsfreiheit, das den gleichberechtigten und in der Regel uneingeschränkten Zugang zu jeder Erwerbstätigkeit im Staatsgebiet gewährleistet“.Footnote 101 Zwar sind Ausländer_innen – insbesondere EU-Ausländer_innen – den deutschen Staatsangehörigen diesbezüglich in weiten Teilen gleichgestellt, aber von „bestimmten Berufen, z. B. im öffentlichen Dienst, sind viele von ihnen nach wie vor ausgeschlossen“.Footnote 102 Die deutsche Staatsangehörigkeit ermöglicht überdies einen erwerbsunabhängigen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und nicht zuletzt auch das Recht auf politische Beteiligung in passiver (Wahlen) und aktiver Form (politisches Amt).Footnote 103 Auch wenn sich die jeweiligen Rechtstellungen von Staatsangehörigen und Ausländer_innen mit gesichertem Aufenthaltstitel einander über die Jahre hinweg immer weiter angenähert haben, ist und bleibt gerade das zentrale Moment der (institutionalisierten) demokratischen Willensbildung ausschließlich den Staatsangehörigen vorbehalten.Footnote 104

Der Einbürgerung kommt als Grenzübertritt eine besondere Bedeutung zu, nicht nur weil sie das juristische Verhältnis zum Staat neu ordnet und den Übertretenden (als nunmehr Staatsangehörigen) gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht. In einem Nationalstaat wie der Bundesrepublik Deutschland begründet sie zugleich auch die offizielle Zugehörigkeit zur imaginierten Gemeinschaft der Nation. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass etwaige nationalistische Vorstellungen ihren Niederschlag gerade auch in der Einbürgerungspolitik bzw. in der Einbürgerungspraxis des betreffenden Staates finden. Sie finden ihren Niederschlag überdies in den öffentlichen Debatten, die an Einbürgerungspolitik und Einbürgerungspraxis anknüpfen. Insofern sind Debatten um Einbürgerung ein ideales Anschauungsbeispiel für die Erforschung eines (wie auch immer gearteten) kollektiven Nationalbewusstseins in öffentlichen Arenen.

Deutschlands Einbürgerungszahlen fallen (im Kontrast zu den Statistiken vieler anderer Länder Europas und Nordamerikas) vergleichsweise niedrig aus.Footnote 105 Das ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial (aEP), also der prozentuale Anteil der erfolgten Einbürgerungen bezogen auf die Anzahl von Ausländer_innen, die laut Ausländer(_innen)zentralregister seit 10 oder mehr Jahren in Deutschland leben,Footnote 106 bleibt deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurück.Footnote 107 Im Jahr 2017 lag das aEP bei insgesamt gerade einmal 2,22 %.Footnote 108 Diese verhältnismäßig schwache Einbürgerungsbilanz und das demgegenüber weitaus liberalere Abschneiden Frankreichs, bildete für Rogers Brubaker schon in den 1990er Jahren eine wichtige Grundlage für seine Klassifizierung Deutschlands als ethnisch orientierte Nation.Footnote 109 Doch nicht nur im internationalen Vergleich, auch zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es gravierende Unterschiede.Footnote 110 Hamburg erreichte im Jahr 2017 ein aEP, das mit 3,6 % weit über dem Bundesdurchschnitt liegt, wohingegen Berlin und Bayern mit je nur 1,9 % das Schlusslicht der Einbürgerungsstatistik bilden. Zwischen 2000 und 2008 waren die deutschlandweiten Einbürgerungszahlen außerdem insgesamt stark rückläufig. Von 186.672 Einbürgerungen im Jahr 2000 sanken sie um knapp die Hälfte, auf einen Tiefstand von 94.474 Einbürgerungen im Jahr 2008.Footnote 111 In Hamburg gingen die Zahlen im selben Zeitraum sogar noch drastischer zurück. Von ursprünglich 8.640 Einbürgerungen (2000) schrumpften sie auf weniger als ein Drittel, nämlich auf nur noch 2.799 Nenner in 2008.Footnote 112 Als Reaktion auf diese geringen Fallzahlen (und mit dem Ziel die Bilanz langfristig zu steigern), hat der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg – zunächst unter Führung von CDU und Bündnis 90 / Die Grünen, später dann mit absoluter Mehrheit der SPD – eine politische Einbürgerungsinitiative ins Leben gerufen. Besagte Initiative war wiederum ihrerseits Gegenstand einer kontroversen öffentlichen Diskussion über die Rolle der Einbürgerung im allgemeinen Integrationsprozess sowie über das ideologische Verständnis von Deutscher Nation, das den unterschiedlichen Integrationsvorstellungen und -ansprüchen jeweils zugrunde liegt. Diese Diskussion dient der hier darzustellenden Untersuchung als Forschungsobjekt. Anhand ihres Beispiels soll ausschnitthaft demonstriert werden, wie in der deutschen Gesellschaft (im öffentlichen, massenmedial vermittelten Raum) über das Nationale gesprochen und nachgedacht wird. Auch die Initiative selbst (als wesentlicher, diskursiver Teil der Debatte) wird dabei von besonderem Interesse sein. Ohne zu viel von der Analyse vorwegnehmen zu wollen, bedürfen beide an dieser Stelle einer kurzen Vorstellung.

Die Initiative: Regelmäßige Einbürgerungsfeiern werden im Hamburger Rathaus bereits seit Ende des Jahres 2006 abgehalten.Footnote 113 In Ergänzung dazu startete im November 2010 unter dem Titel Hamburg. Mein Hafen. Deutschland. Mein Zuhause. eine aufwändige Werbe- und Plakatkampagne unter Mitwirkung von Hamburger Prominenten wie der Boxerin Susianna Kentikian und dem Sternekoch Ali Güngörmüş. Zentraler Bestandteil dieser Kampagne war (bzw. ist bis heute) eine breite Informations- und Aufklärungsinitiative, deren Herzstück das Projekt Einbürgerungslotsen der Türkischen Gemeinde Hamburg und Umgebung e. V. (TGH) bildet. Im Rahmen dieses Projektes sollen potenzielle Einbürgerungsinteressierte durch ehrenamtliche Lotsen und Lotsinnen zu einer Antragstellung motiviert, zu etwaigen Fragen beraten und nötigenfalls durch das gesamte Einbürgerungsverfahren hindurch begleitet werden.Footnote 114 In 2011, ein Jahr nach dem erstmaligen Beginn der Hamburger Einbürgerungsinitiative, wurde das Maßnahmenpaket außerdem um einige zusätzliche Bausteine erweitert. Die öffentlich Meistbeachtete dieser Maßnahmen war ohne Zweifel eine umfangreiche Briefkampagne des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Ziel der Briefaktion war es, alle in Hamburg lebenden Ausländer_innen, die für eine Einbürgerung potenziell in Frage kommen, persönlich anzuschreiben, um sie auf die Möglichkeit sowie auf die Vorteile einer Einbürgerung hinzuweisen und ihnen die Antragstellung nahezulegen.Footnote 115 Sowohl von Seiten Scholz’ selbst als auch in der massenmedialen Berichterstattung wurde wiederholt betont, dass diese Form und das Ausmaß der politischen Initiative Hamburgs in der gesamten Bundesrepublik einmalig sei.Footnote 116

Die Debatte: Die Hamburger Einbürgerungsinitiative löste in Medien, Politik und ZivilgesellschaftFootnote 117 äußerst unterschiedliche Reaktionen aus. Während sie von einigen enthusiastisch begrüßt wurde, reagierten andere im höchsten Maße ablehnend. Beispielhaft lassen sich die widerstreitenden Logiken der Argumentation anhand eines Artikels der überregionalen Berliner Tageszeitung Tagesspiegel vom 12.04.2012 nachvollziehen. Dieser stellt die beiden dominanten Positionen einander anschaulich gegenüber. Hierbei wird die eine Seite vertreten durch Hamburgs damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz sowie durch Bilkay Öney, die ehemalige Landesministerin für Integration in Baden-Württemberg (dessen Landeshauptstadt Stuttgart begann bereits im Jahr 2009 mit einer ähnlichen Einbürgerungsinitiative). Die Gegenseite vertritt Alexander Dobrindt, zum damaligen Zeitpunkt Generalsekretär der bayrischen CSU.

In dem Artikel rechtfertigt Bilkay Öney das politische Werben für die Einbürgerung wie folgt:

„Öney sagte dem Tagesspiegel, sie werbe für Einbürgerung, weil sich Integration und Teilhabe nur über die deutsche Staatsbürgerschaft erreichen ließen: „Der Pass gibt den Migranten eine zusätzliche Integrationsmotivation.““Footnote 118

Alexander Dobrindt teilt diese Auffassung nicht. Er übt heftige Kritik an der Einbürgerungspolitik in Stuttgart und Hamburg:

„CSU-Generalsekretär Dobrindt sieht sowohl in der Hamburger wie in der Stuttgarter Politik eine verhängnisvolle Fehlentwicklung. „Solche wirren Einbürgerungsthesen setzen ein völlig falsches Signal“, warnt er. Der deutsche Pass könne nur am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen, nicht am Anfang. „Statt über Fantasiequoten für Einbürgerungen zu schwadronieren, sollten wir gemeinsam die immer noch bestehenden Integrationsdefizite in Deutschland lösen“, fordert der CSU-Mann. Wer die Staatsbürgerschaft als Lockmittel benutze, der entwerte sie und erschwere „alle ehrlichen Integrationsbemühungen““.Footnote 119

Während die Einbürgerung Öney zufolge also eine grundlegende Voraussetzung für gelungene Integration darstellt, weil nur durch sie gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglicht wird, sieht Dobrindt darin vielmehr ein Ergebnis bereits erbrachter Integrationsleistungen seitens der Migrant_innen. Hier scheint sich ein unvereinbarer Widerspruch aufzutun: Ist die Einbürgerung ein wichtiger Schritt im Integrationsprozess oder deren krönender Abschluss, eine Belohnung für geleistete Integrationsbemühungen oder ein unerlässliches Erfordernis, damit Integration überhaupt vollumfänglich funktionieren kann?

Die vorliegende Arbeit untersucht die diskursive Definition von Deutscher Nation im Diskursfeld der Hamburger Einbürgerungsinitiative. Um diese Definition(en) herausarbeiten zu können, ist ein umfassendes Verständnis der Debatte, ihrer theoretischen Hintergründe und zentralen Grundbegriffe erforderlich. Die Bedeutsamkeit der Konzepte Diskurs, Wissen, Macht, Nation, Nationalismus und Staatsangehörigkeit wurde weiter oben bereits herausgestrichen. Wie sich an dem hier abgebildeten kleinen Debattenpartikel zeigt, ist der Begriff der Integration von ebensolch zentraler Bedeutung. Konträre Konzeptionen von Integration sind ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt des Diskursfeldes. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da die Einbürgerung (als Mechanismus der sozialen Schließung) unmittelbar mit Vorstellungen von Integration (in den Staat / in die Nation) in Verbindung steht. Vorstellungen von Integration wiederum stehen – das wird noch an mehreren Stellen dieser Arbeit deutlich werden – in engem Zusammenhang mit Vorstellungen von sozialer Identität. Damit die Teilnehmenden an der Debatte untereinander und miteinander aushandeln können, welche Rolle die Einbürgerung im Integrationsprozess einnehmen soll (und was Integration im Kern überhaupt bedeutet), müssen zwangsläufig Form und Inhalt der gemeinsamen (nationalen) Identität definiert werden, in welche der oder die Fremde schlussendlich integriert werden kann. Die Abgrenzung von Eigenem und Fremdem ist dabei ein wechselseitiger Prozess – das eine kann ohne das andere nicht erklärt werden. Thomas Hylland Eriksen stellt fest:

„Group identities must always be defined in relation to that which they are not – in other words, in relation to non-members of the group.“Footnote 120

Identität entsteht also durch Abgrenzung und diese Abgrenzung wird (gerade auch in nationalistischen Kontexten) allzu oft kulturell gefasst.Footnote 121 Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass Kultur ein weiterer wichtiger Bestandteil der diskursiven Auseinandersetzung sein wird. Der Kulturbegriff ist für die Konzeption von Nation ebenso relevant wie für die Konzeption von Integration. Geht man davon aus, dass Wissen ein wesentlicher Bestandteil von Kultur ist, birgt dieser Umstand außerdem auch Konsequenzen für den in dieser Arbeit zu entwerfenden Diskursbegriff.

Wo Konstruktionen von Identität und Konstruktionen von Kultur als Ideologie zusammenwirken, da werden unweigerlich Emotionen generiert. Praktiken der sozialen Abgrenzung – auch und gerade im Rahmen nationalistischer Diskurse – haben, wie noch zu zeigen sein wird, immer eine starke affektive Komponente. So formuliert Simon Clarke:

„Identity is emotional, imagined and concrete, marked by ethnicity, gender and class, but the real focus of these factors is ‘difference’. The question of difference is emotive; we start to hear ideas about ‘us’ and ‘them’, friend and foe, belonging and not belonging, in-groups and out-groups, which define ‘us’ in relation to other, or the Other. From this we get ideas about communities, even imagined communities and ethno-national boundaries.“Footnote 122

Für die Ethnologie, die Kultur und Identität als zentrale Grundpfeiler ihres Forschungsinteresses begreift, ist die Analyse (und kritische Dekonstruktion) populärer Konzeptionen dieser Begriffe – besonders auch im Hinblick auf ihre jeweilige emotionale Wirkung im Kontext nationalistischer Ideologien – von herausragender Relevanz. Vor diesem Hintergrund ist es ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Arbeit, die innerfachliche Diskussion und ihre zentralen theoretischen Konzepte zu den empirisch zu erhebenden Folk Concepts der öffentlichen Arena in Beziehung zu setzen.

Begriffe wie Folk Concepts, Folk Ideas oder Folk BeliefsFootnote 123 dienen in ethnologischen Untersuchungen zur Differenzierung von emischer und etischer Perspektive. Während die emische Perspektive kulturelle Logiken aus der (durchaus subjektiven) Innensicht ihrer Anhänger_innen heraus erschließen will, ordnet und interpretiert die etische Perspektive die gemachten Beobachtungen entlang allgemeiner (und als objektiv geltender) wissenschaftlicher Konzepte bzw. leitet anhand selbiger das methodische Vorgehen an. In ethnographischen Arbeiten ergänzen emische und etische Forschungsperspektive einander für gewöhnlich wechselseitig, da sie komplementäre Daten liefern und gleichermaßen für das Verständnis kultureller Phänomene bedeutsam sind.Footnote 124 Die Definition von Folk Concepts als ethnologischem Konzept und Untersuchungsgegenstand hat ihren Ursprung in der kognitiven und symbolischen Ethnologie der 1960er und 1970er Jahre. In diesem Kontext zeichnete sich der Begriff allerdings durch einen übermäßigen Fokus auf linguistische Modelle (kognitive Ethnologie) und kulturelle Schlüsselsymbole (symbolische Ethnologie) aus.Footnote 125 Dementgegen hat sich die Perspektive inzwischen erweitert. Ein Folk Concept gilt heute – in Jay H. Bernsteins Worten – als: „…a notion that has a general, popularly understood meaning particular to a sociocultural grouping, but which has not been formally defined or standardized“.Footnote 126 Als solche bewegen sich Folk Concepts oft im Bereich des Unbewussten. Sie sind nicht selten vage und werden zumeist auch nicht umfassend verbalisiert. Im Rahmen ethnologischer Empirie sind sie daher untrennbar verbunden mit den klassisch ethnographischen Methoden der Feldforschung: qualitative Interviews und Teilnehmende Beobachtung.Footnote 127 So schreibt Bernstein:

„Folk concepts are encoded in discourse, nonverbal behavior, and social practices rather than in published texts (such as newspapers, magazines, or books) or other media. They could, however, arise from folk interpretations of texts or other media. Folk concepts and other kinds of concepts penetrate each other in many ways. […] Once folk concepts are recorded in writing or other media, they are no longer undocumented; but unless such documentation causes a change in meaning and affects the way people know the concept, they remain folk concepts.“Footnote 128

Bernsteins Kategorisierung von Folk Concepts als nicht-schriftlichem bzw. nicht-massenmedial-vermitteltem Ausdruck ist vor dem Hintergrund seiner Ausführungen unklar – zumal er selbst anführt, dass sich in Zeiten von moderner Informationstechnologie und Social Media kulturelle Aushandlungsprozesse mehr und mehr in den virtuellen Raum des Internets verlagern.Footnote 129 Dieser wiederum wird seinerseits in weiten Teilen durch schriftliche Kommunikation dominiert und macht – als ethnologisches Forschungsfeld – neue und andersartige Untersuchungsansätze erforderlich, die sich zum Teil weit vom klassischen Repertoire ethnographischer Feldforschung entfernen. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum sinnvoll, die ohnehin recht künstlich anmutende Unterscheidung zwischen ‚direkter‘ und ‚medial vermittelter‘ Interaktion aufrechtzuerhalten. Wie die vorliegende Arbeit noch zeigen wird, sind moderne Massenmedien in der heutigen Zeit entscheidend an der (Re)Produktion kultureller Eigenlogiken – und somit an der (Re)Produktion von Folk Concepts – beteiligt. Deren (diskursanalytische) Untersuchung muss keine zwingende Unterscheidung treffen zwischen schriftlichen und nicht-schriftlichen Ausdrucksformen, sehr wohl aber muss sie sensibel sein für den unscharfen, impliziten, bisweilen non-verbalen und (wenigstens in Teilen) undefinierten Charakter populärer Konzepte – sowie auch (und vor allem) für deren weiter oben bereits angesprochene affektive Dimension:

„In understanding a cultural concept, it is not enough to know only what it identifies; one must also know the expectations, feelings, and motivations regarding it. In other words, part of the meaning of a cultural concept concerns associations causing happiness, anxiety, and other emotions.“Footnote 130

Folk Concepts spielen nicht nur eine wichtige Rolle für die Entschlüsselung kultureller (und diskursiver) Logiken, sie stehen auch unweigerlich in enger Wechselwirkung mit den fachlichen Konzepten der wissenschaftlichen Sphäre. Die Unterscheidung zwischen ‚emisch‘ und ‚etisch‘ gelangt vor diesem Hintergrund – sowohl für die Ethnologie als auch für viele andere sozialwissenschaftliche Disziplinen – zu weiterführender Relevanz, v. a. da in heutigen massenmedial vernetzten Gesellschaften die Trennlinie zwischen populären und wissenschaftlichen Konzeptionen zunehmend unscharf wird. Michael Banton gibt hierfür ein anschauliches Beispiel:

„When a word is used by ordinary people in the explanation of events in their experience, it may be called a folk concept and contrasted to an analytical one which is part of a set of terms with technical meanings. In industrial societies ‘class’ is a folk concept; most sociologists would contend that it is also an analytical concept, and that problems arise because of the word’s many associations in popular usage. These difficulties could not be reduced by trying to outlaw what to the specialist may seem popular misconceptions, for the technical terms of social science are constantly borrowed by the media and any precision they may originally have possessed is soon blurred.“Footnote 131

Je nachdem, wie die – laut Banton – unausweichliche Verkoppelung von emischen und etischen Konzepten im Einzelfall ausgestaltet ist und welche etwaigen gesellschaftlichen Konsequenzen daraus erwachsen, muss aus der interdiskursiven Verstrickung zwischen Spezialdiskurs und öffentlichem Diskurs eine weiterführende wissenschaftliche – und insbesondere ethnologische – Verantwortung abgeleitet werden. Die Verzerrung wissenschaftlicher Begriffe durch populäre Appropriation mag zwar als solche nicht vermeidbar sein, das bedeutet jedoch nicht, dass sie auch zwangsläufig unhinterfragt und unkommentiert bleiben sollte.

Die vorliegende Dissertation ist in sechs aufeinanderfolgende Kapitel untergliedert. Im nachfolgenden Kapitel 2 sollen die theoretischen Grundbegriffe des Feldes und der Analyse erläutert werden. Die Unterkapitel orientieren sich an den oben etablierten Konzepten: 2.1 Nation und Nationalismus 2.2 Identität und Integration 2.3 Kultur und Emotion 2.4 Diskurs, Wissen und Macht sowie 2.5 Staatsangehörigkeit und Einbürgerung. Auf Basis der im zweiten Teil erarbeiteten Grundbegriffe folgt dann im 3. Kapitel dieser Arbeit der bereits in der Vorbemerkung angekündigte Entwurf einer tragfähigen Diskursethnologie. Anhand einzelner Ausschnitte des zu untersuchenden Diskursfeldes – 3.1 Einbürgerungsinitiative; 3.2 öffentliche Debatte; 3.3 TGH-Lotsenprojekt; 3.4 Grenzgänger_innen im Diskursfeld 3.5 Einbürgerungsfeiern – werden die Bausteine des Ansatzes identifiziert, theoretisch begründet und methodisch ausformuliert. Die gewonnenen Daten werden sortiert und für die weitere Auswertung transparent gemacht. Anschließend werden die zentralen Untersuchungsergebnisse vorgestellt: Kapitel 4 befasst sich mit den beiden dominanten Diskursströmungen (4.1, 4.2) und stellt diese einander analytisch gegenüber (4.3). In Kapitel 5 werden weitere wichtige Facetten des Diskursfeldes beleuchtet (5.1 Diskursrezeption, 5.2 Diskursproduktion, 5.3 andere Deutungslinien im Diskursfeld, 5.4 Machttechniken). Kapitel 6 schließlich fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen und entwickelt aus den verschiedenen Puzzleteilen der Ergebnisse eine Antwort auf die zentrale Fragestellung sowie auf die sich daran anschließenden Teilfragen. Im Sinne eines weiterführenden Ausblicks wird überdies die Rolle beleuchtet werden, welche die Ethnologie (als verkoppelter Spezialdiskurs) im Hinblick auf das hier untersuchte Diskursfeld (sowie in der / für die weitere gesellschaftliche Debatte) einnimmt oder in der Zukunft vielleicht noch einnehmen könnte. Die Arbeit schließt mit einem (auf die Disputation dieser Dissertationsschrift zurückgehenden) persönlichen Nachwort, welches sich der – um mit Pierre Bourdieu zu sprechen – Participant ObjectivationFootnote 132 der Autorin und Forscherin widmet und vor dem Hintergrund ihrer soziokulturellen – wie wissenschaftlichen – Situiertheit die Implikationen (und Vorbedingungen) der hier vorgestellten Untersuchung sowohl transparent macht als auch anwendungsorientiert weiterdenkt.