1 Vorbemerkung zur Methode

Der Formkalkül von George Spencer-Brown (1969, dt. 1997) erlaubt es, Bezeichnungen in Abhängigkeit von Kontexten anzuschreiben. Im Rahmen einer qualitativen Mathematik kann man Formen errechnen, die aus Unterscheidungen, , bestehen, die von Beobachtern getroffen werden: auf der Innenseite einer Unterscheidung wird bezeichnet, was durch die Unterscheidung von ihrer Außenseite unterschieden wird. Der Zusammenhang des Unterschiedenen wird als „Form“ bezeichnet. Eine „Form“ beschreibt einen kommunikativen Zusammenhang von Variablen, deren Zusammenspiel ein bestimmtes Phänomen erzeugt.

Ausgehend von der Frage, welchen Unterschied ein bestimmtes Vorhaben der Digitalisierung machen soll, wenn es einmal erfolgreich implementiert ist, werden in einem Workshop Schritt für Schritt („iterativ“) die Kontexte erfragt, die die Bedingungen beschreiben („indizieren“), unter denen diese erfolgreiche Implementation möglich ist.

Trotz der Corona-Pandemie konnten wir zwei unserer fünf Partnerfirmen besuchen, um eine Formanalyse durchzuführen. Das Verfahren ist wegen der Offenheit seiner Exploration und der Angewiesenheit auf wechselseitige Beobachtung darauf angewiesen, in Präsenz durchgeführt zu werden.

2 Die digitale Laufkarte bei MultiProfil

Die Firma MultiProfil in Verl, ein Hersteller von profilierten Möbelkomponenten, ist im Rahmen des KILPaD-Entwicklungs- und Forschungsprojekts mit der Umstellung von einer Laufkarte in Papierform auf eine digitale Laufkarte beschäftigt.

Am 25. Oktober 2021 hat das KILPaD-Forschungsteam die Firma besucht, um in einem Workshop mit einer Reihe von Mitarbeitern eine Analyse der Bedingungen vorzunehmen, unter denen die innovative Einführung einer digitalen Laufkarte erfolgreich sein kann.

Im Workshop bei MultiProfil kamen wir zu folgendem Ergebnis:

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Die Zielsetzung der erfolgreichen Implementation einer digitalen Laufkarte, die die gegenwärtig genutzte papierene Laufkarte ablösen kann, besteht darin, jedem Arbeitsschritt in der Erfüllung eines Auftrags die erforderliche Information zur Verfügung zu stellen.

Dies gelingt nur unter der Bedingung, dass die in der Produktion arbeitenden Menschen die Information lesen, die ihnen zur Verfügung gestellt wird, und aufschreiben, welche Schritte sie jeweils abgeschlossen haben. Das ist die erste Unterscheidung unserer Form: die Karte im Unterschied zu den Menschen, die sie Schritt für Schritt ausfüllen und zur Kenntnis nehmen.

Diese Menschen wiederum lesen und schreiben nur dann, wenn sie den Eindruck haben, dass die Informationen der Laufkarte in der Arbeit auf eine kontrollierte Art und Weise umgesetzt werden. Der Unterschied, der hier getroffen wird, ist nicht trivial. Parallel zu den Informationen der Laufkarte wird beobachtet und kontrolliert, ob die Produktion in den gewünschten Bahnen verläuft. Wir haben es bereits mit zwei Rückkopplungen zu tun, einer ersten Rückkopplung zwischen Karte und Lesen/Schreiben und einer zweiten Rückkopplung zwischen Produktionsprozess und einzelnem Arbeitsschritt.

Die Umsetzung der auf der Laufkarte verfügbaren Information im Arbeitsprozess ist wiederum nur möglich, wenn eine Struktur gegeben ist, die es erlaubt, mit den ungewissen Umständen und Zwischenergebnissen der Arbeit erfolgreich umzugehen. Den Teilnehmern am Workshop fiel es schwer, zu benennen, was sie unter der „Struktur“ verstehen, die sie für erforderlich halten. Schließlich fand sich die Formulierung, dass unter dieser Struktur ein Spielraum für Improvisation zu verstehen ist. Die digitale Laufkarte ist nur dann erfolgreich einzusetzen, wenn sie es erlaubt, zu improvisieren. Das gilt für jeden Arbeitsplatz.

Schließlich wurden zwei Kontextbedingungen genannt, die fast gleichwertig scheinen. Voraussetzung für eine Struktur der Improvisation in der Situation einer Befolgung der auf der Laufkarte verfügbaren Information ist die Reflexion auf die Kundenzufriedenheit (Erwartungen an Qualität, Schnelligkeit, Preis) zum einen und der Umgang mit dem vom Kunden ausgelösten Zeitdruck zum anderen.

Doch dies wiederum ist nur möglich, wenn man sich darauf verlassen kann, dass man es mit einer geprüften Qualität des Arbeitsmaterials zu tun hat.

Die Form wird geschlossen durch eine nicht-markierte Außenseite, n, auf der nicht-thematisierte Voraussetzungen zum Tragen kommen, die von konjunkturellen und klimatischen Bedingungen bis zum Betriebsklima, zur Arbeitszufriedenheit und zum Gottvertrauen reichen.

Durch eine Operation des Wiedereintritts, , wird die Form in sich derart reflektiert, dass alle getroffenen Unterscheidungen und Bezeichnungen auf die Ausgangsfrage, die Verfügbarkeit erforderlicher Information, einzahlen. Jede Kontextbedingung bestimmt mit, welche Information wo und wann erforderlich ist und welche Information umgekehrt zwar verfügbar, aber nicht erforderlich ist. Jede Kontextbedingung bestimmt überdies mit, was unter Verfügbarkeit zu verstehen ist. Die digitale Laufkarte steuert einen Produktionsprozess, der zugleich auch betrieblich, nämlich durch die Kommunikation und wechselseitige Beobachtung aller Beteiligten, gesteuert wird. Digitalität ersetzt die Kommunikation nicht, sondern setzt sie voraus. Und Kommunikation rechnet mit Erfahrung und Lernen.

In der Diskussion der Form der digitalen Laufkarte fiel uns auf, dass sogenannte harte und sogenannte weiche Faktoren sich abwechseln. Der harte Faktor der Verfügbarkeit steht im Kontext des weichen Faktors des Menschen, der wiederum auf den harten Faktor der tatsächlichen Umsetzung angewiesen ist, die jedoch eine Struktur des improvisierenden Umgangs mit Ungewissheit voraussetzt. Und dieser weiche Faktor ist auf den harten Faktor der Kundenerwartung angewiesen, der wiederum den eher weichen Faktor der Qualität des Arbeitsmaterials aufruft. Man sieht, dass die scheinbar „weichen“, weil nur situativ kontrollierbaren Faktoren tatsächlich mindestens so hart sind wie die harten, während die „harten“ Faktoren ihre Rolle nur spielen können, wenn und weil sie interpretierbar, also in diesem Sinne weich sind.

Die digitale Laufkarte kann nur erfolgreich implementiert werden, wenn sie in die kommunikativen Abläufe des Betriebs eingebettet ist (also nicht den Versuch macht, diese zu ersetzen) und das Lernen aller Beteiligten im Umgang mit Auftrag, Material und Situation unterstützt.

Dieses Ergebnis unseres Workshops muss nicht überraschen, es ist jedoch wichtig zu sehen, dass es aus der Beschreibung der betrieblichen Bedingungen der digitalen Laufkarte durch die Maschinenführer und Werker selbst resultiert.

3 MS Teams bei XENON

Die Firma XENON in Dresden, ein Unternehmen für die Entwicklung und den Bau von Montageanlagen und Prüfanlagen zur Automatisierung der Fertigung von mechatronischen Komponenten, ist am KILPaD-Entwicklungs- und Forschungsprojekts mit mehreren Projekten beteiligt. Eins dieser Projekte (SP1) besteht in der Einführung von MS Teams zur Sicherstellung einer weltweiten Kommunikation innerhalb und zwischen den drei Standorten in Dresden, Querétaro, Mexiko, und Jiangsu, China.

Am 4. November 2021 hat das KILPaD-Forschungsteam das Unternehmen besucht, um in einem Workshop mit einer Reihe von Mitarbeitern eine Analyse der Bedingungen vorzunehmen, unter denen die innovative Einführung von MS-Teams erfolgreich sein kann.

Wir haben zunächst eine Reihe von Gesprächen geführt, um eine allgemeine Einschätzung zur Einführung von MS Teams zu erhalten.

  • Dabei wurde darauf hingewiesen, dass MS Teams für das am Standort Dresden und international gewachsene Unternehmen zunächst einmal sicherstellen soll, dass der Austausch zwischen Vertrieb, Entwicklung und Konstruktion annähernd die Qualität behält, die in früheren Zeiten die Präsenz weniger Konstrukteure vor Ort im mündlichen Austausch miteinander hatte. Die Führung behält der Vertrieb, dessen „verantwortlicher Konstrukteur“ entsprechende Anfragen an die Konstruktion stellt und die Spezialisten auswählt. Mit MS Teams sei man auf der Suche nach einem übergreifenden Kommunikationstool, denn man verfüge zwar über zahlreiche Projekttools, aber nur über wenige Konstruktionstools, die mit Versionskontrolle und Regelung der Zugangsberechtigung den Überblick herzustellen erlauben. Ob ein PLM/Product Lifecycle Management-System hier dereinst leisten könne, was historisch gewachsene Programme einschließlich Outlook und Excel geleistet haben, müsse man noch sehen. So oder so müsse man damit rechnen, dass die ohnehin vorhandenen Prozessunsicherheiten durch Kommunikationsprobleme bedenklich verschärft werden.

  • Auch für die Einführung von MS Teams gilt die allgemeine Fragestellung, die sich bei allen Apps stellt, ob man die Prozesse des Betriebs den Apps oder die Apps den Prozessen anzupassen versuche. Häufig gelte beides, doch verlange die Abstimmung ein hohes Maß an Moderation und Verständnis für die sozialen und technischen Seiten der Problemstellung.

  • So oder so werde die Kommunikation immer wichtiger, weil man es mit zunehmend selbstbewussten Mitarbeiter:innen zu tun hat. Kommunikationstools bewähren sich jedoch nur dann, wenn sie eine hinreichende Schnelligkeit aufweisen. SharePoint etwa verlangsame sich bei Mehrfachnutzung. Da es keine übergreifende Suchfunktion gibt, benötigt man auch im Umgang mit Kommunikationstools Erfahrung. Erst wenn die Daten vernetzt werden, könne man sinnvoll von „Digitalisierung“ sprechen. Fraglich sei überdies, wie man einzelne Projekte für Externe freischalten könne, ohne gleich einen Zugriff auf das ganze System zu ermöglichen.

  • Insgesamt stelle man fest, dass Digitalisierung kein Allheilmittel ist. Da gibt es noch etwas „drumherum“. Das stelle man vor allem vor dem Hintergrund fest, dass man bereits sehr viel mit der Digitalisierung erreicht habe. Eine zentrale Kompetenz von Management und Mitarbeiter:innen besteht darin, zwischen Online- und Offline-Kommunikation sinnvoll zu wechseln. Ein Allheilmittel sei die Digitalisierung schon deswegen nicht, weil das Transparenzversprechen, das mit ihr häufig einhergehe, illusorisch sei. Schon deswegen müsse man auf dem Weg einer Selbstüberprüfung laufend herausfinden, was man sinnvoll erwarten könne und was nicht. Der Trend zur Spezialisierung hat sich in den letzten Jahren eher verstärkt als abgeschwächt. Ob sich „systemische Kompetenzen“ ausgebildet hätten, die den Betrieb prozessübergreifend in den Blick zu nehmen erlauben, sei eher fraglich. Es fehlt an den Generalisten, die es früher gab. Die etwas chaotische Oberfläche eines Tools wie MS Teams sei nur begrenzt hilfreich, um die Kontextabhängigkeit der eigenen Spezialisierung jeweils im Blick zu behalten. Eine gewisse Überforderung durch die Inhalte des Bildschirms ist funktional, um das Bewusstsein mitlaufender Kontexte zu schärfen, doch müsse sich diese Überforderung in bewältigbaren Grenzen halten. Kann man aus diesem Verhältnis von Funktionalität und Überforderung eine Gestaltungsaufgabe ableiten? Immerhin hat sich die Schnelligkeit der Entscheidungen enorm erhöht und sei daher auch der Bedarf an Kontextreflexion gestiegen. Das Thema „Entscheidung“, des decision-making, sei daher auch forschungsseitig verstärkt in den Blick zu nehmen.

In einem abschließenden Gespräch haben wir mit dem Formkalkül von George Spencer-Brown gearbeitet.

Im Workshop bei XENON kamen wir zu folgendem Ergebnis:

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Die wichtigste Aufgabe, die MS Teams bei XENON zu erfüllen hat, ist die Sicherstellung des Austauschs von Information. Das ist nur möglich, wenn das Instrument oder Programm hinreichend leistungsfähig ist. Leistungsfähig ist es jedoch nur dann, wenn ein gemeinsames Anliegen vorliegt und wenn Management und Mitarbeiter:innen die Abhängigkeit voneinander klar vor Augen stehe. Denn man habe es zur Bewältigung von komplexen Aufgaben mit einem zunehmenden Grad an Spezialisierung zu tun.

Die Außenseite der Form, n, bleibt unmarkiert und vertritt je nach Bedarf die Marktlage, technologische Alternativen zu MS Teams oder auch Faktoren wie das Betriebsklima und die internationale Abstimmung, die eine mehr oder minder große Bereitschaft, sich an MS Teams aktiv und passiv zu beteiligen, mit sich bringen.

Auffällig ist, dass die Form hinter der Bezeichnung der Variablen Spezialisierung geschlossen ist und das Wissen um die komplexen Aufgaben zwar mitläuft, dazu aber in MS Teams kein hinreichender Austausch von Information stattfindet. Für die Bearbeitung der komplexen Aufgabe, das heißt letztlich des eigentlichen Auftrags einer Sondermaschine, seien andere Tools inklusive der direkten Interaktion zwischen den Mitarbeiter:innen erforderlich.

Diese Einsicht führt zurück auf die in einem der vorgängigen Gespräche betonten wichtige Rolle der Selbstüberprüfung im Umgang mit den Erwartungen an digitale Tools. Die Tools weder zu unterschätzen noch sie zu überschätzen, wird zu einer zentralen Kompetenz im Umgang mit der technischen ebenso wie sozialen Komplexität eines Betriebs. Die Vielzahl der verfügbaren Apps steigert zwar das Gefühl der Überforderung, trainiert aber auch die Fähigkeit des Wechsels und der Relativierung.

Aus Sicht der Forschung ist dem nur hinzuzufügen, dass die Firma XENON mit jeder neuen App, die sie einführt, nicht nur ihre Prozesse effizienter gestaltet und optimiert, sondern auch lernt, ihre Erwartungen an die Tools zu differenzieren. Enttäuschte Erwartungen, fehlerhafte Einführungen (etwa der zu rasche Übergang von einer Pilotstudie zu einem Roll-out) oder auch die Entdeckung mangelnder Funktionalität sind Teil einer bemerkenswerten Lernkurve, die nicht zuletzt der Beobachtung eines nach wie vor „menschlichen“ Anteils an der Gestaltung, Steuerung und Kontrolle der Arbeit im Betrieb in die Hände spielt.

Projekte der Digitalisierung, so wären die Gespräche an diesem Tag zusammenzufassen, werden zur Aufgabe eines post-digitalen Managements. Die zentrale Aufgabe eines post-digitalen Managements besteht darin, digitale Prozesse in analoge Prozesse einzubetten. Analoge Prozesse sind Prozesse physischer, mentaler, körperlicher, sozialer und kultureller Art.