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1 Einleitende Betrachtung

Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse im China der letzten Jahrzehnte werden als enorm beschleunigte Modernisierung wahrgenommen. China wird so zu einem prägenden Faktor wirtschaftlicher und politischer Globalisierung im 21. Jahrhundert. Dadurch verändert sich die Basis für die Zusammenarbeit, auf die sich alle Seiten neu einstellen müssen.

Bevorstehende Veränderungen lösen Ängste aus. Die Warnungen davor, China kaufe sich die Welt und das chinesische System werde uns dominieren, sind in Europa unüberhörbar. Neue Kampfzonen scheinen sich aufzutun. Welche Rolle spielt dabei die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKP)? Auch stellt sich die grundsätzliche Frage: Teilen Europa und China eine ähnliche Vision einer lebenswerten Zukunft? Aufgrund der grundsätzlichen Ähnlichkeit aller Menschen sollte jedenfalls eine Verständigung über Grundlagen für ein gelingendes Leben möglich sein.

Nun sind die Transformations- und Modernisierungsprozesse bereits seit Jahrhunderten in globalem Maßstab miteinander verknüpft, und zwar in zunehmender Verdichtung. In einer Zeit, in der die Länder der Welt in vielfältiger Weise voneinander abhängen, ist eine einfache Gegenüberstellung daher kaum mehr möglich. Dies gilt nicht nur materiell, sondern auch im Hinblick auf Konzepte, Werte und Normen. „Demokratie“ und „Wissenschaft“ etwa waren seit dem frühen 20. Jahrhundert Leitbegriffe für die Reformer und Revolutionäre in China und werden dort weiter erörtert. Auch Konzepte von Freiheit und Selbstbestimmung werden inzwischen weltweit geteilt, aber es gibt durchaus unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle und Aufgabe des Staates.

Da wir inzwischen von einer allgemeinen Anerkennung der Menschenrechte und von dem Interesse aller an Wohlstand und Gerechtigkeit für alle Menschen ausgehen – und damit von einer Weltgesellschaft mit gemeinsamer und geteilter Verantwortung –, eignet jeder „Auswärtigen Kulturpolitik“ auch die Anerkennung eines Grenzen und Unterschiede transzendierenden Innenraums, jedenfalls als langfristiges Ziel, worauf am Ende nochmals eingegangen werden soll.

Seit sich die Lebensstandards immer schneller angleichen, stellt sich hinsichtlich China und Europa die Frage, wie eine sich fortsetzende Moderne nachhaltig, verträglich und unter Einbeziehung möglichst jedes Einzelnen realisiert werden kann. Sicher und wünschenswert ist, dass es trotz aller Angleichung weiterhin viele Modernen geben wird. China wird, wie auch andere Staaten in der Welt, die von Europa ausgehenden Modernisierungsschritte nicht alle nachvollziehen wollen und aus ökologischen wie sozialen Gründen auch nicht können. In mancher Hinsicht jedoch scheint China bereits heute gegenüber vielen Teilen der Welt vorne zu liegen. Doch eine der Menschheit ebenso wie den Umwelt- und Klimabedingungen zuträgliche Lösung der Energie- und allgemein der Ressourcenfrage ist weder in China noch irgendwo sonst in Sicht.

Nun ist es aber so, dass es auch in den europäischen Gesellschaften viel Fantasie, Eigensinn und mannigfache Antworten auf Fragen der Zeit gibt, etwa auf dem Feld einer sich als Lösung abzeichnenden Kreislaufwirtschaft, aber auch in der Satellitentechnik und nicht zuletzt in gelingenden zivilgesellschaftlichen Teilhabeformen, sodass Europäerinnen und Europäer keine Angst vor einem Nachsehen hegen müssen: Die Frage nach Gewinnern und Verlierern lässt sich nicht eindeutig beantworten. Einer Klage über eigene Mängel kann das Bewusstsein an die Seite gestellt werden, dass Deutschland und Europa in der Vergangenheit Treiber des Fortschritts waren und diese Rolle auch für die Zukunft suchen könnten. Möglicherweise müssen hier auch neue Maßstäbe gesucht und gefunden werden.

Ein Blick in die vielfältigen kulturellen Nischen ist jedoch hilfreich. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Transformationen bahnen sich auch in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften oft im Verborgenen an. Einige Innovationen gelangen allerdings von außen dorthin. Bei flächendeckender Gesichtserkennung sind chinesische Unternehmen und Institutionen führend, doch könnte ein Konzept, welches solche Neuerungen mit dem Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung verbindet, aus Europa kommen.

Neben dem Blick in die Nischen kann auch eine diachrone Diagnose unterschiedlicher Entwicklungsverläufe erhellend sein. Nicht nur Europa, auch China – in seiner heutigen Ausdehnung mit Europa vergleichbar – blickt in seiner Komplexität auf eine lange Vorgeschichte. Aus einer gewissen Distanz wird deutlich, dass Europa und Deutschland ebenso kompliziert und problembefrachtet sind wie China und seine Regionen, nur in je eigener Weise. Da wir als Menschen vor der Aufgabe stehen, eine gemeinsame Zukunft zu bewältigen, kommt es darauf an, wie wir unser Miteinander gestalten – und im Kern ist es dies, was Kultur ausmacht. Dazu gehört auch, dass wir für uns Selbstverständliches infrage stellen. Gerade in den Künsten sind solche Horizonte spielerisch zu eröffnen. In der Studie von Sigrid Weigel Transnationale Auswärtige Kulturpolitik – Jenseits der Nationalkultur (2019) findet sich hierzu manches, was sich weiter zu bedenken lohnte.

2 Vier Feststellungen

2.1 China, Europa und deren Vergleichbarkeit

Zunächst sollte für die AKP im Hinblick auf China immer Europa als Vergleichsgröße herangezogen werden. Zwar besteht eine fortgesetzte Asymmetrie nicht nur im Lebensstandard, sondern auch in der kulturell-administrativen Ausdifferenzierung zwischen dem Europa des Westens und China als „dem Europa des Ostens“, als das es Gottfried Wilhelm Leibniz zu einer Zeit bezeichnete, als Europa noch nicht durch Nationalstaaten geprägt war (Leibniz 2010, S. 9). Diese Asymmetrie kennzeichnet das Verhältnis beider Seiten bis in die Gegenwart. Insofern sind auch die Gedanken von Sigrid Weigel zum Nationsbegriff zu begrüßen: Wenn wir Kulturpolitik auf Augenhöhe betreiben wollen, geht es darum, die unterschiedlichen Transformationserfahrungen Chinas und Europas in den letzten 500, vielleicht sogar tausend Jahren einander gegenüberzustellen (Schmidt-Glintzer 2020). Mithin müssen wir, um unsere eigene Herkunft zu verstehen, uns dessen versichern, was wir unter der europäischen Frühen Neuzeit verstehen. Politische Zerfalls- und Restrukturierungsprozesse ebenso wie beispielsweise europäische Erziehungs- und Bildungsgeschichte könnten Kernthemen für die Auswärtige Kulturpolitik sein. Dies setzt voraus, dass sich auch die chinesische Seite auf einen mühevollen Weg der Selbstexplikation begibt. Dabei darf es aber kein Auslegungsmonopol für die eigene Geschichte und Kultur geben, sondern der Blick von außen muss stets zulässig bleiben. Ohne die Bereitschaft, das Narrativ der eigenen Herkunft mit dem Narrativ des anderen zu verknüpfen, wenn nicht zu verflechten, wird jede Verständigung auf der Strecke bleiben.

2.2 Die Dominanz des Westens

Eine zweite Feststellung bezieht sich darauf, dass der Prozess der Globalisierung seine Impulse in den letzten 500 Jahren vor allem aus Europa erhielt und die Horizonte der Weltkultur von Europa bestimmt und zum Teil definiert wurden. Der Chronometer zur exakten Längenbestimmung bei der Seefahrt, das Automobil, das Telefon, die Kernspaltung und die folgende Atombombe, die Flugzeugträger und vieles mehr gingen von Europa aus oder von einer der europäischen Flügelmächte USA und Russland. Nicht zuletzt sind Bildungsinstitutionen wie die Universität Peking von europäischen Erfahrungen inspiriert. Einer ihrer bedeutendsten Rektoren, der Pädagoge Cai Yuanpei (1868–1940), hatte in Leipzig und Paris studiert. An einer Überwindung dieser Asymmetrien – Ostasien lernt vom Westen, aber dieser nicht von Ostasien – müsste der Westen selbst ein Interesse haben.

2.3 Nachahmendes Lernen und Multiple Modernities – Anerkennung der Vielfalt

Eine dritte Feststellung bezieht sich auf nachahmendes Lernen, welches stets auch nachholendes Lernen ist. Bei Modernisierungsprozessen sind die „Latecomer“ oft schneller und zeigen sich gelegentlich als überlegen, schon allein deshalb, weil sie bestimmte Fehler der Pioniere nicht wiederholen. Deutschland als „verspätete Nation“ hat hierzu in besonderer Weise Diskurse ausgebildet. Die Überwindung der Agrarverfassung im ausgehenden 19. Jahrhundert geschah in Deutschland besonders unter dem Eindruck der Industrialisierung Englands. „Latecomer“ vermeiden zwar manche Fehler, begehen aber auch neue. In jedem Fall sind Modernisierung und Fortschritt nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust, etwa bei dem Zerfall angestammter Gewissheiten. Zudem begründen die Folgen von Ungleichzeitigkeit im Fortschritt jenes Phänomen, welches Shmuel N. Eisenstadt als „Multiple Modernities“ bezeichnet hat. Ausgehend von seinen frühen Untersuchungen zu sozialem Wandel nach seinem ersten Hauptwerk The Political Systems of Empires (1963) hat er dieses Thema in seinem Spätwerk Comparative Civilizations and Multiple Modernities (2003) in den Mittelpunkt gerückt.

2.4 Wahrheitsansprüche und die Notwendigkeit der Selbstreflexion

Im Vorwort zur Studie von Sigrid Weigel schreibt der ehemalige Generalsekretär des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa): „Die Glaubwürdigkeit der auswärtigen Kulturpolitik, die Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit vertritt, ist nur so stark, wie eine Gesellschaft diese Werte auch im Inneren lebt“ (Grätz 2019). Diese Aussage führt zu einer vierten Feststellung: Wir sollten einerseits realisieren, dass Demokratieexport dazu tendiert, eine neue Form der Beherrschung zu sein, wenn er nicht zur „Verwirklichung kollektiver Selbstbestimmung durch die Errichtung von Praktiken der Nicht-Beherrschung“ beiträgt, wie dies von Dorothea Gädeke (2017, S. 442) dargelegt wurde. Demokratieförderung bleibt aber die Aufgabe. Dabei muss nicht verschwiegen werden, dass zu Europa auch eine lange Tradition der Förderung von Despoten gehört wie die Verteufelung von Freiheitskämpfern. Nach der Ermordung von Patrice Lumumba, dem ersten Premierminister des unabhängigen Kongo, durch westliche Geheimdienste am 17. Januar 1961 sprach eine belgische Zeitung vom „Tod des Satans“ (la mort de Satan). Immerhin wurde am 16. November 2001 von einer Untersuchungskommission dem belgischen Parlament ein umfangreicher Bericht zu den Umständen der Ermordung Lumumbas vorgelegt (Gerard und Kuklick 2015). Die Tragweite des Vorgangs bezeichnete noch im Jahr 2020 ein Kommentator als „Ursünde europäischer Afrikapolitik, die bis heute nachwirkt“. (Dörries 2020)

Da Europa aufgrund der historischen Entwicklungen einen anderen „Aggregatzustand“ repräsentiert als andere Teile der Welt, muss Auswärtige Kulturpolitik dies stets im Auge behalten. Die historischen Prozesse von Einheitsgewinnung und innerer Befriedung haben aber überall, in Europa wie in China, lange Laufzeiten und verlaufen nicht nur in eine Richtung.

3 Transformation und diachroner Blick

Aus den vier Feststellungen lässt sich eine Erkenntnis ableiten, die eine erste Aufgabe impliziert: Es ist sinnvoll, die jeweiligen eigenen Geschichten zu rekonstruieren und diese Rekonstruktionen wechselseitig zur Diskussion stellen. Ein Austausch in den Human- und Gesellschaftswissenschaften im weitesten Sinne gehört dazu.

Natürlich führen Ungleichzeitigkeit und daraus folgende Asymmetrien zu weiteren herausfordernden Fragestellungen: Ist etwa eine den Westen nachahmende Modernisierung sinnvoll angesichts der Kehrseiten dieser Moderne, die einen weltweit realisierten Lebensstandard auf dem Niveau der fortgeschrittenen Industrieländer unerreichbar erscheinen lässt?

Wir könnten darauf hinweisen, dass wir gemäß unserer Werte alles getan haben und noch tun, dass den einzelnen Mitgliedern der Weltbevölkerung der gleiche Ressourcenzugang und die gleichen Lebenschancen offenstehen wie uns selbst – und zugleich die Beantwortung der Frage offenhalten, ob und wie denn dieses Versprechen zu verwirklichen ist.

3.1 Unterschiedliche Phasen und Pfade – unterschiedliche Ziele

Vor allem gilt es, den Blick intensiver nach China zu richten und dortige Transformationsprozesse zu den Transformationen Europas in Beziehung zu setzen, bezogen auf die letzten Jahrhunderte etwa. So könnte AKP thematisieren und zu erklären versuchen, wie sich die „Höhen und Tiefen“ der europäischen Einigung heute darstellen – und auch wie sie sich früher darstellten, in einer Zeit, als etwa Friedrich Hölderlin (1770–1843) seinen Text „Der Rhein“ verfasste, auf den später noch einmal Bezug genommen wird.

Aus dieser Perspektive ergibt sich die Forderung der Verbindung von Selbst- und Fremdaufklärung. Die Thematisierung der unterschiedlichen „Natur der Völker“ (Vico 2009) wird sich nicht zum Verschwinden bringen lassen. Die zahllosen Thesen zum Ursprung und zur Diversität der Völker sind Teil unserer historischen Wirklichkeiten – und es lohnt sich, Erinnerungskulturen auch unter solchen Gesichtspunkten zu erörtern. Die Themen Regionalität und Zentralität, Heimat und Beherrschung durch eine Herrschaft von außen gehören als gemeingeschichtliche Phänomene dazu. Europa hat hier seit der Osterweiterung des Frankenreiches und Karl dem Großen bis hin zum Umgang mit Polen eine lange eigene Geschichte zu erzählen (Davies 2000).

3.2 Historische Tiefenstrukturen und Herkunft als Heimat

Der Blick auf die historischen Tiefenstrukturen ist insbesondere deswegen geboten, weil trotz allen Weltbürgertums und als universell gültig angenommener Normen und Werte eine Tendenz zur Eigenheit, zur Heimat, zur eigenen spezifischen Herkunft – Max Weber sprach auch von „Eigengesetzlichkeit“ – latent vorhanden bleibt. Dies bestätigt sich auch im europäischen Einigungsprozess immer wieder, wenn es etwa um Fragen der Akzeptanz von „abweichendem“ Verhalten geht.

Für beide Seiten, für Europa und China, lohnt es sich, im Hinblick auf bei aller Verschiedenheit gleichzeitige Entwicklungen und Zustände bestimmte Zeiten in den Blick zu nehmen, etwa jene zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und dem frühen 19. Jahrhundert, beginnend mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa und der Machtübernahme durch die Mandschu in China bis hin zur Auflösung des Heiligen Römisches Reiches und den Nationsbildungen in Europa. Ein Blick über zeitliche Distanzen ist manchmal entspannter möglich als auf die neuere Geschichte, die für einen öffentlichen Disput häufig noch zu mühsam ist. So wie der Holocaust in Deutschland erst seit dem Eichmann-Prozess 1961 in das öffentliche Bewusstsein Aufnahme und mit der Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss erst 1978 breitere Aufmerksamkeit fand, so werden auch in China Ereignisse aus der jüngeren Geschichte mit Verzögerung öffentliche Aufmerksamkeit finden. Es gilt also, die jeweilige Erinnerungskultur offen zu thematisieren, auch wenn auf absehbare Zeit keine Gleichförmigkeit erreicht werden wird. Beispielhafte Foren, etwa zwischen Polen und Deutschland, aber auch zwischen China und Japan, haben internationale Schulbuchkommissionen ausgebildet, die wechselseitige Bilder voneinander erörtern und Feindbilder auflösen können. Entscheidend aber bleibt, dass die Schrecknisse der Vergangenheit – auch der jüngeren und jüngsten Vergangenheit – nicht beschwiegen bleiben, sondern durch Gedenken und Erinnerung Anerkennung finden. Das gilt für die Ein-Kind-Politik in China, für die Kulturrevolution, den „Großen Sprung nach vorn“, die Wanderarbeiter und vieles mehr – und das gilt für Katastrophen und Entgleisungen in der deutschen und europäischen Geschichte der jüngeren Vergangenheit.

Für die Zeit, die wir als Frühe Neuzeit bezeichnen, wird in der diachronen Perspektive stets eine Asymmetrie entstehen, denn die Entwicklungen in Europa waren zwar ähnlich disparat wie in China, der Übergang von der Ming- zur Qing-Zeit im 17. Jahrhundert aber hatte eine gänzlich andere Konstellation zur Folge als der im gleichen Jahrhundert Europa prägende Dreißigjährige Krieg. In dessen Folge zerlegte sich Europa und entfaltete daraus eine auf die Welt ausstrahlende Dynamik. China dagegen konzentrierte sich auf die Erhaltung der Qing-Herrschaft. Erst mit einer „Verzögerung“ von mehr als 300 Jahren, seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts, ist China zum Akteur im Kontext einer globalen Reorganisation von Macht- und Einflusssphären geworden – ein Geschehen, dessen Zeugen wir gegenwärtig sind. Diese unterschiedlichen Aggregatzustände Europas einerseits und Chinas andererseits gilt es immer wieder neu zu adressieren. Der Geschichte Europas, seiner Teilungen und versuchten Einigungen, könnten die Bemühungen Chinas um Konsolidierung seit dem 17. Jahrhundert zur Seite gestellt werden. Eine differenzierte Betrachtung des imperialistischen Europas auf der einen Seite und der Imperiumsbildung Chinas auf der anderen steht noch aus (Jenco und Chappell 2020; Mosca 2020). Es kommt also darauf an, den Blick auszuweiten, um die Dynamiken der chinesischen und der europäischen Entwicklung besser zu erkennen. Dabei kann man lange vor dem 17. Jahrhundert beginnen.

3.3 Wechselblicke und der Austausch von Wissen und Waren

Die Länder Europas, ihre Herrscher und Höfe, waren in früheren Jahrhunderten in besonderer Weise – und gelegentlich stärker als heute – an fremden Ländern und Völkern interessiert. Die Blicke der Missionare ebenso wie die der Kaufleute auf China prägten dessen Bild. So entstand mit den Nachrichten aus China eine neue Vorstellung des Landes. Seit dem 16. Jahrhundert kamen nicht nur Waren wie Gewürze, Seiden und Porzellane aus dem Fernen Osten nach Europa, sondern auch Ideen und Bücher. Letztere wurden jedoch weitgehend als Kuriositäten betrachtet (Schmidt-Glintzer 1997, S. 123–140).

Am Austausch von Wissen und Waren war den führenden Köpfen in Europa schon vor über 300 Jahren gelegen. Auch in China fanden am Ende der Ming-Zeit nicht wenige an dem neuen Denken und den Kenntnissen der Europäer Gefallen. Die wechselseitigen Vorstellungen Chinas und Europas voneinander, wie sie etwa Kunstausstellungen veranschaulichen (Weiß, Troelenberg und Brand 2017), lassen die konkreten Geschichten und Traumata häufig aus. Auch hier könnte eine AKP ihren Ausgang nehmen, indem sie die jeweiligen positiven und zum Teil idealisierenden Fremdbilder aufeinander bezieht und den bisher gewohnten Ausstellungen die Kehrseiten und Traumata zur Seite stellt. Dem idealisierenden Chinabild werden Vertreter Chinas ein realistischeres Chinabild entgegenhalten – und umgekehrt. Dabei wird immer wieder offenkundig werden, dass die Wahrnehmungen Chinas in Europa und Europas in China eng mit der jeweiligen Selbstwahrnehmung verflochten sind, einschließlich eigener Programmatiken und Selbstdefinitionen. In der jüngeren Geschichte haben sich manche alte Deutungsmuster aufgelöst und sind durch neue ersetzt worden. Und doch ist das Wissen voneinander rudimentär geblieben. Die Geschichte der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung und die Sozial- und Bildungsgeschichte in Deutschland und China könnten ebenso thematisiert werden wie das Thema der Traditionen von Studentenprotesten.

Wie eingangs erwähnt bilden sich heute wechselseitig neue Klischees. Inzwischen sucht China seine Verbindungen in alle Welt programmatisch zu entwickeln und geopolitisch zu festigen. Dabei spielt die 2013 offiziell verkündete „One-Belt-One-Road“ (OBOR)-Initiative (inzwischen zumeist als Belt-and-Road-Initiative, kurz BRI, bekannt) eine vielbeachtete Rolle. Da China hiermit ganz eigene Entwicklungsvorstellungen verbindet, ist es gerechtfertigt, von einer Neuen Seidenstraße zu sprechen.

3.4 Verantwortlichkeit von Eliten und der Begriff des Mandarins

Es ist bemerkenswert, dass im Laufe der Frühen Neuzeit vielen in Deutschland und Europa im Zuge der Modernisierung ihre Selbstgewissheit abhandenkam und sie deshalb das positive Bild des Mandarins aufgriffen. Diesem Mandarin kam als Typus und Klischee seit dem 18. Jahrhundert in Europa eine zentrale Rolle im Selbstverständnis der Intellektuellen zu, insbesondere im Hinblick auf deren Haltung zur Macht. Diese Unbeugsamkeit der intellektuellen Eliten steht noch im Zentrum des Chinabilds von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Schmidt-Glintzer 2017, S. 47–52). Diese Idealisierung brach im 19. Jahrhundert zusammen, und niemand hätte dann noch in die Lobpreisung Chinas eingestimmt, die der Braunschweiger Pfarrer Johann Heinrich Schumacher im Vorwort zum 1763 in Wolfenbüttel gedruckten Buch über das chinesische I Ging. Buch der Wandlungen folgendermaßen formulierte:

„Man kann die vortreffliche Einrichtung dieses ungeheuren Staatskörpers, die großen Muster der Regenten, welche darüber geherrscht haben, ihre ungemeine Weisheit und strenge Tugend, ihre unerschöpfliche Liebe zu ihrem Volke, die klugen Gesetze für alle Stände und Ordnungen, die unendliche Menge Städte und Flecken, die sanfte und gesittete Lebensart der Unterthanen und tausend Eigenschaften und Vorzüge, die diesem Reiche eigen und erblich zu seyn scheinen, nicht genug bewundern.“ (Schumacher 1763, S. 3 f.)

Bei Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), der sich auf die mehrbändige Darstellung Chinas des Johann Baptista du Halde (1748) stützt, spielen die Eliten, die Literatenbeamten oder „Mandarinen“ (Zedler 1731, Band 19, Spalte 885), noch die entscheidende Rolle. Dort heißt es, dass in China alles darauf gerichtet sei, „die Staatsbedienten, oder daselbst so genannten Mandarinen, zu bewegen und anzuhalten, dass sie sich in allen ihren Handlungen als Väter des Volkes betrachten“ (Justi 1762, S. 416). Weiter heißt es:

„Gleichwie ein Mandarin zu dem Ende verordnet ist, dass er ein Volk schützen und glücklich machen soll; so muss er auch allemal bereit und willig seyn, die Klagen zu hören, nicht nur zu der Zeit, wenn er die gewöhnliche Audienz ertheilet, sondern auch in einer jeden Stunde des Tages.“ (Justi 1762, S. 430 f.)

Im Zuge des Zusammenbruchs der Mandschu-Herrschaft im 19. Jahrhundert und der Ausbildung des Typus des Berufspolitikers in Europa erfuhr der Begriff des Mandarins eine Umwertung. Seither galt Mandarin in Europa als Bezeichnung für einen seinem Anspruch nicht mehr gerecht werdenden und überheblichen, wenn nicht korrupten Funktionär.

Johann Wolfgang Goethe hatte lange noch an der Idee festgehalten, dass es solcher Eliten bedürfe. Er unterschied durchaus zwischen der Menge einerseits und Männern andererseits, „denen es um das Gegründete und von da aus um den wahren Fortschritt der Menschheit zu thun ist“ (Assmann et al. 2006). Da eine solche Haltung nicht leicht zu bewahren ist, stellt er fest: „Die Ernsten müssen deshalb eine stille, fast gedrückte Kirche bilden, da es vergebens wäre der breiten Tagesfluth sich entgegenzusetzen; standhaft aber muss man seine Stellung zu behaupten suchen bis die Strömung vorüber gegangen ist.“ (Goethe 1907, S. 503).

Unabhängig von der Idealisierung des Mandarins im 17. Jahrhundert und der bis in die Gegenwart reichenden Verteufelungen derselben könnte der Fall des historischen China zeigen, dass auch in einem ausgedehnten Reich eine sozial verantwortliche und bei einer Mehrheit der Bevölkerung Akzeptanz findende Elite denkbar ist – und eine solche heute vielleicht sogar in Europa vorstellbar wäre, was allerdings von manchen gegenwärtig in Abrede gestellt wird (Streeck 2013; Wingert 2013, S. 17).

Aus chinesischer Sicht galt früher, dass ein Kultivierungsprozess notwendig sei, um Chinese zu werden. Im Zuge der Ausdehnung des Reiches bildeten sich weitere Narrative, denen zufolge das Reich durchaus auch aus unterschiedlichen Ethnien zusammengefügt sein konnte (Mosca 2020). Im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde die Vorstellung eines Nebeneinanders durch den Begriff der Evolution beziehungsweise des Fortschritts überlagert. Der jeweilige Status sei nur eine Frage der evolutionären Entwicklung, das heißt der Entwicklungsstufe. Der in der Frühen Neuzeit zunehmende Vorsprung der Europäer, der für eine Europäisierung der Welt sprach, war selbst erst eine Folge der europäischen Weltbildkonstruktionen (Heitzmann 2006). Ob solche Mindmaps im weiteren globalen Entwicklungsprozess durch den Begriff einer Weltbürgerschaft ersetzt werden, muss dahingestellt bleiben. Weder werden alle zu Europäern noch alle zu Chinesen.

Eine fortdauernde Aufgabe aber bleibt der Mensch, wie bereits zu einer Zeit, als die „Menschenkunde“ zur „Völkerkunde“ wurde, wie Christoph Martin Wieland im Jahre 1785 bemerkte (Der Teutsche Merkur 1785, S. 197 f.; Guthke 2001; 2003, S. 134–207):

„Der Menschheit eignes Studium ist der Mensch. (…) Die Wissenschaft des Menschen ist eine Aufgabe, an deren vollständiger reiner Auflösung man noch Jahrtausende arbeiten wird, ohne damit zu Stande gekommen zu seyn.“ (Wieland 1785, S. 196; Guthke 2001, 2003).

4 Schlussbemerkung

Im 19. Jahrhundert beschleunigten sich zahlreiche Prozesse: Dazu gehört der Niedergang der Mandschu-Herrschaft ebenso wie die europäische Expansion, aber auch Erwartungen von Veränderungen und Ängste wie die vor der Gelben Gefahr, die Sinophobie, die bis heute anhältFootnote 1 und Chinas Angst vor der „Melonenaufteilung“ (guafen). Zum Aufbruch Chinas gehören die Taiping-Bewegung wie regionale militärische Reformen, die mit Namen wie Zēng Guófān (1811–1872) und Lǐ Hóngzhāng (1823–1901) verbunden sind, die den neuen Typus der Verbindung von Gelehrsamkeit mit Meisterschaft in der Kriegskunst verkörpern und so zu Vorbildern wurden. Zahlreiche Intellektuelle hatten noch danach gesucht, China auf der Grundlage eigener Traditionen zu stärken („die Nation ertüchtigen“, qiangguo), um so zu einer Ebenbürtigkeit gegenüber den europäischen Mächten zu kommen. Manche suchten in den eigenen Traditionen nach Erneuerung, so wie Cai Yuanpei, der China noch in der Zeit um 1900 mit dem Buddhismus zu retten versuchte, bevor er sich ganz an dem europäischen Vorbild orientierte (Gildow 2018).

In Europa hingegen war die Expansion der europäischen Mächte mit einer Rückbesinnung auf das Eigene verbunden. Weltmachtambitionen verbanden sich mit Konstruktionen eigener, vermeintlich uralter Bräuche, was der Historiker Eric Hobsbawm unter den Begriff der „Erfundenen Tradition“ (Invented Tradition) fasste. Während Friedrich Schiller noch in seiner Jenaer Antrittsvorlesung zur Weltgeschichte „in den Wellen des Rheins (…) Asiens Reben“ gespiegelt sieht (Schiller 1980, Bd. 4, S. 756), wendet sich der Rhein bei Friedrich Hölderlin (1770–1843) in dessen Rhein-Hymne von Asien ab und zieht nordwärts (Theunissen 2004, S. 52 f.). Der als Halbgott apostrophierte Rhein wendet sich abrupt nach Norden, während es kurz zuvor noch heißt: „nach Asia trieb die königliche Seele“ (Vers 37). Damit wird die Orientsehnsucht, speziell die Griechenlandsehnsucht aufgerufen, wie sie in Friedrich Schillers Geburtstagsbrief an Goethe zu finden ist (Staiger 1966, Bd. 1, S. 34 f.).

Im Kern der Rhein-Hymne geht es darum, sich von seinem natürlichen Trieb loszureißen und der Moderne, dem Norden, zuzustreben und damit zu dem zu werden, der man ist, das heißt, seiner Bestimmung zu folgen (Theunissen 2004, S. 53). Dieses „Herumgerissenwerden“ ist mit Leid verbunden (Theunissen 2004, S. 57). Michael Theunissen fügt seiner Lesart der Rhein-Hymne das Bild von der Geschichte hinzu: Mit dem „Jetzt aber“ zu Beginn der zweiten Strophe (Vers 16) folgt auf die Abkehr von der Sehnsucht nach Griechenland und Italien „eine Zukehr zum Norden“ (Theunissen 2004, S. 58 f.) „‚Jetzt aber‘“, so Theunissen, „steht für ein Erwachen aus dem Traum von Asia“: „Im Abschied von seinem Quellgebiet, in dem auch Tessin und Rhone entspringen, wählt der Rhein die Abgeschiedenheit, die der Preis ist, den die Moderne für ein das gewöhnliche Menschsein überragendes Leben verlangt.“ (Theunissen 2004, S. 59) Die Hymne selbst wechselt die Perspektive:

„Sobald die Hymne den Ort erreicht, an dem der Rhein nach Norden abbiegt, wechselt sie (…) ausdrücklich zur Geschichte über. Hölderlin beschreibt nun den Norden, in den weiter zu fliessen der Rhein genötigt wird, expressis verbis als die Moderne, die sich ihm, dem in die Antike zurückstrebenden, aufdrängt wie dem Rhein der Norden.“ (Theunissen 2004, S. 59)

Die folgenden Verse führen in Fragen, Zweifel und Ungewissheit, endend in einem Fest, das sich ereignet, vorübergehend mit ungewissem Ausgang, von dem es aber doch heißt: „Und ausgeglichen ist/Eine Weile das Schicksal“, endend aber mit dem Wort der Verwirrung. Aus solcher Verwirrung suchen seither auch die Modernen einen Ausweg. Man könnte diese Gedanken geistes- und ideengeschichtlich weiterverfolgen, über Friedrich Nietzsche und Max Weber bis in die Gegenwart, und wird stets aufs Neue in unübersichtliche Gefilde gelangen, weil die Unverfügbarkeit ein Konstituens der Moderne ist.

Der Sinologe und Medizinhistoriker Paul U. Unschuld konstatiert diese Unübersichtlichkeit in seinem jüngsten Buch über „Deutschlands Weg in eine neue Identität“ und fragt am Ende nach einem „Bismarck auf europäischer Ebene“, dem sich „aus welchen europäischen Ländern er auch erwachsen mag, ähnlich eindrucksvolle Dichter, Künstler, Literaten und andere Meinungsbildner zur Seite stellen, die ähnlich wie in den deutschen Staaten seit Anfang des 19. Jahrhunderts Apelle nicht nur an die Vernunft, sondern Botschaften an die Gefühle aussenden, um der europäischen Einigung auch die erforderliche emotionale Grundlage zu vermitteln“ (Unschuld 2019, S. 240).

Eine ähnliche Vergewisserungssuche beschreibt der Sinologe und Schriftsteller Kai Marchal, dessen neueste Wanderungen „Auf den Spuren des chinesischen Denkens“ mit den Sätzen enden:

„In vielen westlichen Hauptstädten ist das Vertrauen in die USA als Weltordnungsmacht erschüttert; und in Städten wie Peking, Shanghai und Chongqing träumen viele von einer ganz anderen Welt. (…) Im gegenwärtigen China werden die Überreste einer jahrtausendealten Kultur, mit all den spirituellen Triumphen, die sie auf ihrer Suche nach flüchtigen Geisteszuständen errungen hat, zur leichten Beute eines aggressiven Nationalismus.“

Dieser verbinde sich mit einer Zeitdiagnose vieler Chinesen, die Marchal folgendermaßen charakterisiert:

„Und oft scheint es fast so, als würden viele Chinesen den Nihilismus der globalen Gegenwart und die Widersprüche einer zersplitterten, multipolaren Welt begrüßen, weil diese schlussendlich die Überlegenheit der chinesischen Kultur unter Beweis stellt.“ (Marchal 2019, S. 329 f.)

Im offiziellen China und in der Kommunistischen Partei scheint man solchen Positionen weniger zu vertrauen, sondern will weiterhin der Partei die Führungsrolle zusprechen – allerdings dabei andauerndes Lernen, etwa das Studium des Marxismus, einfordernd.

Die Positionen junger Menschen ebenso wie diejenige der Kommunistischen Partei lassen sich besser einordnen durch einen Blick in die historischen Tiefenstrukturen, die vielfältigen staatspolitischen und philosophischen Ansätze in der Frühen Neuzeit sowohl in China als auch in Europa, weil der Zusammenhalt größerer territorialer Verbände nicht nach dem Muster nationaler Einigung, sondern nach föderalen und regional durchaus differenzierenden Mustern, zu denen auch legitimierende Rituale gehören können, und vielleicht zukünftig noch in bisher noch gar nicht erdachten Formen organisiert werden kann (Schmidt-Glintzer 2018).

Es gilt aber, was mein Vorgänger am Münchner Institut für Sinologie, Herbert Franke, bereits 1940 formulierte:

„Zu jeder Zeit hat es in China Menschen von universaler Geistigkeit gegeben, die uns als bedeutsamste Gestalten im literarischen und künstlerischen, oft genug auch politischen Leben ihrer Epoche erscheinen, die außer daß sie als Dichter und Maler Erlesenes schufen, in den Gang der staatlichen Geschehnisse eingriffen.“ (Franke 1940)

Und er bezog sich dabei auch auf Gestalten wie Huang Tingjian (1045–1105) und dessen 18 m lange Schriftrolle, auf der er die Shiji-Biografien von Lian Po und Lin Xiangru formuliert und die mit den Worten des Lin Xiangru endet, der seine Gefühle gegenüber dem ihm sich als überlegen erweisenden Lian Po zugunsten der Staatsräson zurücknimmt:

„Wenn zwei Tiger miteinander kämpfen, kann nur einer weiterleben. Ich aber verhalte mich so, weil ich die Erfordernisse meines Landes wichtiger nehme als meine privaten Fehden.“ (Sima 1969, Abschn. 81, S. 2443)

Die Frage, welchen Standpunkt wir suchen, bleibt spannend – ob wir das Auge des Gesetzes uns überwachen lassen, das Auge Gottes, welches zum Auge des Gesetzes mutierte, wie der Jurist und Rechtshistoriker Michael Stolleis luzide gezeigt hat (Stolleis 2004), Kameras mit Gesichtserkennungssoftware oder unsere eigene durch Bildung und Selbsterziehung konstituierte Reflexivität, die für uns als „mündige Bürger“ die höchste Priorität haben sollte.

Dabei bleibt uns immer wieder die Möglichkeit, unvoreingenommen auf die Reise zu gehen, fremde Gefilde zu durchwandern und mit den Menschen, auf die wir treffen, ins Gespräch zu kommen, wie es in bemerkenswerter Weise Navid Kermani nach einer längeren vom Goethe-Institut geförderten Reise durch China berichtete (Kermani 2019). Dann entwickelt sich das, was bei Christoph Martin Wieland zur Völkerkunde wurde, wieder zurück zu dem, an dem es der AKP in erster Linie gelegen sein sollte: zur Menschenkunde.

Bei Menschen geht es niemals nur um den Einzelnen, weil anders als soziales Wesen der Mensch nicht denkbar ist. Dies führt zum „Wir“. Hierzu gibt es einen aktuellen Diskurs, den ich nur aufrufen will, indem ich auf eine Schrift von Heinrich Detering verweise (2019) und auf die Überlegungen Immanuel Kants in seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden. In dessen Dritten Definitivartikel konstatiert er: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ Danach habe der Fremdling kein Gastrecht, sondern ein Besuchsrecht. „Ankömmlinge“, schreibt Kant, „sollten befugt sein, „einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen. – Auf diese Weise können entfernte Weltteile miteinander in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden, und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näherbringen können.“ (Kant 1963, S. 35 ff.)

Wenn wir heute im Bewusstsein des „partikularen Entstehungskontextes“ okzidentaler Rationalität Jürgen Habermas folgen und deren „universale Geltung“ betonen, wird die Frage nach interkultureller Verständigung offengehalten. Hier fordert Habermas, „von den eigenen Hintergrundüberzeugungen hypothetisch Abstand zu nehmen“ (Habermas 2019, Bd. I, 128). Zugleich sollten wir uns natürlich mit den eigenen Herkunftsbezügen auseinandersetzen und den Satz beherzigen, mit dem Birthe Mühlhoff die Rezension des von Thomas O. Höllmann herausgegebenen Gedichtbandes Abscheu. Politische Gedichte aus dem alten China beschließt: „Das Gefühl der Abscheu sollte den Zuständen vor der eigenen Haustür vorbehalten sein, an denen man mitschuldig geworden ist.“ (Mühlhoff 2020)