Schlüsselwörter

1 Ausgangslage

Wir stehen weltweit auf vielen Ebenen vor radikalen Umwälzungen. Dazu gehören technologische Herausforderungen wie die Automatisierung der Arbeits- und Lebenswelt, die tiefgreifende Digitalisierung der Kommunikation und der Vormarsch künstlicher Intelligenz. Aber auch die zunehmende Ressourcenknappheit ist problematisch: der Kampf um Wasser; die Frage nach dem angemessenen Umgang mit seltenen Erden, die zum bevorzugten Metall der High-Tech-Industrie geworden sind, deren Gewinnung jedoch großen Schaden an Menschen und Umwelt anrichten kann;Footnote 1 das angekündigte Ende des Ölzeitalters, die Suche nach Alternativen zum „schwarzen Gold“. Dazu gehört auch der Wandel von Einstellungen innerhalb der Gesellschaften, etwa die Rückkehr zu Nationalismus und Abschottung, neue Feindbilder, die vermeintlich die eigene kulturelle Souveränität stärken, die Erosion des europäischen Unionsgedankens mit offiziellen Austritten wie im Fall Großbritanniens und einem sukzessiven Aushebeln der Regeln, Grundsätze und Rechtsvorschriften der Europäischen Union (EU) in anderen Mitgliedstaaten. Zudem werden jahrzehntelange Bündnisse militärischer Natur und Handelsbündnisse aufgekündigt. All das verursacht Schwindel und Überforderung.

Die aus den Umwälzungen resultierenden Konflikte und Krisen scheinen zudem auf Dauer angelegt und immer weniger lösbar zu sein – der alarmierende Klimawandel, der globale Ressourcenüberverbrauch und die soziale Ungleichheit. Nicht zuletzt stellen uns Pandemien wie Covid-19 und epidemisch auftretende Krankheiten wie das Ebolafieber, die Grippe und Cholera vor neue globale Herausforderungen. Sie führen zu sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Neurodermitis, psychische Störungen, Alkohol- und Tabakmissbrauch.

Auch der demografische Wandel hat grundlegende Auswirkungen auf gesellschaftliche Strukturen. Europa muss die Herausforderungen einer alternden Bevölkerung bewältigen, viele Regionen Afrikas und Asiens sind von einer überwiegend jungen Bevölkerung und weiterhin hohen Geburtsraten geprägt. Hinzu kommen Migration und Fluchtbewegungen. Erfolgversprechende Konzepte, Fluchtursachen zu bekämpfen, gibt es – gleichwohl hapert es an der erfolgreichen Umsetzung.

Auf der anderen Seite sind die wissenschaftlichen Grundlagen für die Förderung von Klimaschutz, Gesundheit, ökonomischer Entwicklung und Bildung so gut erforscht wie nie zuvor – und sie zeigen zahlreiche positive Resultate in der Praxis. Viele bis dato tödlich verlaufende Krankheiten wurden besiegt (Schönherr 2016; World Bank Group 2020), die Sterblichkeitsrate, vor allem von Kindern, wurde gesenkt,Footnote 2 die Alphabetisierungsrate wurde erhöht und die absolute Armut in den vergangenen 20 Jahren um über die Hälfte gesenkt (Fink und Kappner 2019). Die rasant fortschreitende technologische Entwicklung birgt große Möglichkeiten für die Entwicklung von Städten.Footnote 3 Durch digitale Medien stehen Informationen weltweit zur Verfügung, die zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen genutzt werden können (BMZ 2019).Footnote 4

Doch sind diese Erfolge nicht in der Lage, die tiefen Ängste vor der Zukunft auszuräumen, die die ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen weltweit mit sich bringen.

Wenn man diese Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Menschen zu kategorisieren versucht, kann das Konzept der sogenannten VUKA-Welt helfen. Der Begriff entstand in den 1990er Jahren in einer amerikanischen Militärhochschule und diente zunächst dazu, die multilaterale Welt nach dem Ende des Kalten Krieges zu beschreiben. Später breitete sich der Begriff auch in anderen Bereichen strategischer Führung aus und wurde auf andere Arten von Organisationen übertragen. Das Konzept beschreibt bestechend einfach in vier Phänomenen, in welchem Zustand sich die Welt gegenwärtig befindet.

Das V steht für volatil (volatility). Nichts ist fest, alles schwankt, verändert sich, ist unbeständig und sprunghaft.

Das U steht für unsicher (uncertainty). Nichts ist mehr dauerhaft sicher. Wir müssen uns an das Fehlen von bisherigen Sicherheiten gewöhnen.

Das K steht für komplex (complexity). Die skizzierten Rahmenbedingungen und globalen Anhängigkeiten und Entwicklungen zwingen uns, eine hohe Komplexität auszuhalten. Das verbietet – nebenbei bemerkt – alle einfachen Kategorisierungen von Gut-Böse, Rechts-Links, Richtig-Falsch.

Das A steht schließlich für ambivalent (ambiguity), also für Widersprüchlichkeit oder zumindest Mehr- bzw. Vieldeutigkeit.

Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz kennzeichnen unsere derzeitige Welt. Wie wirkt sich das auf den kulturellen Dialog aus?

Grundsätzlich – das ist meine erste These – muss der Kulturdialog künftig eine andere, erweiterte und stärkere Verantwortung übernehmen, um das größte Kapital, was wir besitzen, zu stützen und zu schützen: gegenseitiges Vertrauen. Dem Kulturaustausch kommt neben dem Klimaschutz und der Gestaltung des digitalen Wandels die zentrale Gestaltungsrolle für den Frieden in der Welt zu.

Und das ist meine zweite These: Kulturdialog ist Friedensarbeit auf Basis von Verstehen, Verständigung, Respekt und Würde. Wie kann diese Friedensarbeit nun verwirklicht werden?

2 Kulturdialog als Friedensarbeit – die acht wichtigsten Prinzipien

2.1 Das Prinzip der Koproduktion

Wir sprechen von Kultur-„Dialog“ und meinen das gleichberechtigte Aushandeln kultureller Fragestellungen und die Diskussion von Gemeinsamkeiten sowie das Verstehen von und das Verständnis für Unterschiede. Dialog meint eine offene Lernhaltung und den Versuch, nach der Verständigung auch gemeinsames Handeln zu initiieren. Hierfür entwickelt sich aus dem Dialog eine Kooperation, der Wunsch nach Zusammenarbeit, nach gemeinsamem Erleben und dem Entwickeln eines gemeinsamen Verständnisses. Eine weiterführende Form der Kooperation, die auf dem Dialog beruht, ist die Koproduktion. Damit ist nicht die Begegnung mit fertigen Produkten, Mustern, Zielen und Ansichten gemeint, sondern der Raum für freien Gedankenaustausch. Wenn man im gemeinsamen Gedankenfluss entdeckt, welche Fragestellungen, Interessen, Bedürfnisse und Ziele beide Seiten teilen, kann sich daraus eine Koproduktion entwickeln.

Traditionellerweise organisiert das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) insbesondere im Ausland Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst aus Deutschland. Ein Beirat berät und entscheidet über die als relevant erachteten Künstlerinnen und Künstler und Themen; das ifa engagiert Kuratorinnen und Kuratoren, die eine Ausstellung entwickeln; die Objekte werden gekauft (das ifa zeigt bisher ausschließlich Originale), Kataloge werden produziert und schließlich wird die Ausstellung in die Welt geschickt, wo sie in Museen und Galerien für einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten zu sehen ist. Ein solches Verfahren ist im Prinzip nicht falsch, aber doch zunehmend zu wenig, obwohl die begleitenden Bildungs- und Diskursprogramme wichtige Vermittlungsinstrumente sind.

Mittlerweile hat das ifa ein neues Format ausprobiert: Dem Prinzip der Koproduktion folgend luden wir sechs Kuratorinnen und Kuratoren aus verschiedenen Erdteilen nach Stuttgart ein, um gemeinsam zu diskutieren, welche künstlerischen Fragestellungen, welche Künstlerinnen und Künstler, Themen und Genres für alle Beteiligten von Interesse sind. Anschließend entwickelte das ifa gewissermaßen ein „Modul aus Deutschland“, das in den Ländern, aus denen die Kuratoren kamen, durch örtliche Positionen (oder Module) ergänzt wurde, sodass erst im Zusammenspiel von örtlicher Position und dem Angebot des ifa eine Ausstellung entstand. Dies entspricht dem Prinzip der Koproduktion.

2.2 Die Entwicklung von Plattformen

Das ifa versteht Kulturdialog als Austausch. Damit ist zum Beispiel gemeint, zu Projekten auch Internetplattformen anzubieten, auf denen sich Menschen weltweit zu aktuellen Fragestellungen verständigen können. Wenn das ifa solche Plattformen anbietet, versteht es sich als Kurator des Kulturdialogs. Kulturaustausch, so könnte man sagen, ist eine kuratorische Tätigkeit, indem die Beobachtung und Interpretation kultureller und künstlerischer Tendenzen, die Entwicklung von Fragestellungen und Perspektiven und das Zusammenbringen unterschiedlicher Positionen Wissen und Erkenntnis generieren.

Auch dazu ein Beispiel: Der Begriff des Globalen Südens wurde unter anderem von der Weltbank eingeführt. Seinerzeit bezeichnete er die sogenannten Entwicklungsländer. Der Süden ist aber – wenn er nicht nur ökonomisch, sondern auch geografisch, sozial und historisch betrachtet wird – nicht nur Empfänger von „Entwicklungshilfe“, sondern ein Ort lebendiger kultureller Produktion, die der „Norden“ oder „Westen“ nicht genügend wahrnimmt, ja vielleicht gar nicht wahrnehmen kann. Gibt es, so fragte deshalb ein Projekt des Goethe-Instituts Südamerika, einen Globalen Süden der Kultur, also kulturelle Erkenntnisse, Produktionen und ein kulturelles Wissen, das „uns“ – im Norden oder Westen – verschlossen ist?

Da kein kulturelles Wissen vom Rest der Welt abgeschottet ist, ist auch der kulturelle Süden, zum Beispiel in seiner historischen Beziehung zu Lateinamerika und Afrika, auf der Suche nach kultureller Verbindung, Gemeinsamkeit und Identität. Es lag daher nahe, im Sinne des beschriebenen Kuratierens, diesen Süd-Süd-Dialog mit zu ermöglichen und zu fördern. Explizit dem Süd-Süd-Dialog gewidmet ist etwa die Künstlerresidenz „Vila Sul“, die das Goethe-Institut in Salvador da Bahia in Brasilien ins Leben gerufen hat. Sie soll ein Ort des Austauschs für Menschen aus Kultur, Kunst, Wissenschaft und Medien sein, die sich mit Fragen des Süd-Süd-Dialogs beschäftigen und sie zur Koproduktion anregen. Ein Institut aus Deutschland ermöglicht Kulturdialog – zwischen anderen. Das verdeutlicht bereits im Kern das dritte Prinzip, das im folgenden Kapitel näher betrachtet wird.

2.3 Postnationalstaatliches Denken

Die EU entstand nach dem Zweiten Weltkrieg – zunächst als Wirtschaftsunion, aber mit dem politischen Ziel, durch gegenseitige Abhängigkeit die Wahrscheinlichkeit eines neuerlichen Krieges in Europa zu reduzieren. Wer den Anderen braucht, bekämpft ihn nicht – so ist die Bildung der EU im Kern eine Friedensinitiative. Nun hat diese Union aber einen Konstruktionsfehler: Sie ist gebildet aus Nationalstaaten, die ihrem Selbstverständnis gemäß ihre eigenen Interessen gegenüber anderen Staaten zu wahren, zu verteidigen und durchzusetzen versuchen. Die Union selbst, die es nicht geschafft hat, eine alle Staaten verbindende gemeinsame Verfassung zu entwickeln, lebt also in dem Widerspruch, einerseits Union sein zu wollen und andererseits wegen der Nationalstaaten unmöglich eine Union bilden zu können. Sie ist eine Organisation zur Förderung und Finanzierung von gemeinsamen Anliegen, von Ausgleich und Verwaltungsfragen, aber trotz einer teils gemeinsamen Währung ist sie keine Finanzunion, keine wirklich integrierte Wirtschaftsunion, sondern eher eine Art Freihandelszone. Sie ist auch keine wirkliche Interessengemeinschaft, was im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage deutlich zutage tritt – sie ist ein Club von Konkurrenten. Nur beim Brexit hat man gemeinsam verhandelt.

Europa wird als Gemeinschaft nur gelingen, wenn wir den Nationalstaat weiterentwickeln, um nicht zu sagen ihn überwinden und uns hin zu einem Europa der Regionen entwickeln, der Kulturen, der verdichteten Wissens- und Kommunikationsräume, vor allem in Form der sogenannten Nachbarschaftsräume, gemeinsamer Sprachräume und gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Traditionen, Symbole und Rituale – kurz gesagt: gemeinsamer Identitätsräume. Natürlich brauchen wir dabei auch Ordnungsstrukturen, die Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit garantieren.

Kulturdialog vertritt – will er wirklich im Sinne des zuvor beschriebenen Prinzips der Koproduktion ein offener Dialog sein – keine staatlichen Interessen, sondern handelt in Verantwortung für eine gelingende Weltgemeinschaft und ist in diesem Sinne postnationalstaatlich. Kulturdialog und kultureller Austausch, wie ihn das ifa versteht, ist im Interesse von Menschen, gleich welcher Staatsangehörigkeit. Etwas pathetisch ausgedrückt – es geht um Weltbürgerschaft.

2.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft

In der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Deutschlands übernehmen sogenannte Mittlerorganisationen wie das ifa, das Goethe-Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Deutsche Welle und viele andere die Aufgaben des internationalen Kulturaustauschs. Die Existenz dieser Mittlerorganisationen hat historische Gründe: Wegen des Missbrauchs des Kultur- und Erziehungsministeriums zu Propagandazwecken im Hitler-Faschismus besitzt Deutschland heute keine entsprechenden Ministerien mehr. Die beiden Bereiche Kultur und Erziehung wurden stattdessen zum einen in die Verantwortung der einzelnen Bundesländer gelegt und für die Außenbeziehungen zum anderen in unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen ausgelagert. Die Mittlerorganisationen verstehen sich als zivilgesellschaftliche, das heißt als nichtstaatliche Akteure, die in Distanz zur Regierung agieren, sich der Gesellschaft aber verpflichtet fühlen.

Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Der kulturelle Austausch zwischen Ländern ist vielfältig und wird entsprechend auch von einer Vielzahl an unterschiedlichen Organisationen und Akteuren betrieben – von Städten, die Partnerschaften initiieren, von Musik- und Sportvereinen bis hin zu Universitäten mit Wissenschaftsaustauschprogrammen. Die Hauptträger kultureller Kontakte, also die Hauptakteure auswärtiger Kulturbeziehungen, kommen aus der Zivilgesellschaft.

2.5 Kultur und …

Es besteht kein Zweifel, dass Kultur zum Verständnis unserer Gesellschaften, zur Sicherung ihres Wohlstands, für Frieden und Demokratie zentral ist. Da alle Menschen dieser Welt über Werte, Gefühle, Rituale und Traditionen, Sprache und Bräuche verfügen, kann man die Bedeutung des Kulturaustauschs kaum überschätzen. Wir sind uns vermutlich weltweit über den großen Einfluss einig, den etwa Musik auf unser Wohlbefinden hat. Wir alle kennen sicherlich Schlüsselerlebnisse, die durch Kunst, etwa bestimmte Bilder oder Texte, hervorgerufen wurden. Wir alle kennen Vorlieben für bestimmte kulturelle Ausdrucksformen, Tonfolgen, Farben, einen bestimmten, mit Erinnerungen behafteten Geschmack – auch wenn sie kaum zu beschreiben, geschweige denn rational zu erklären sind. Kultur berührt unsere Seele und formt unsere Identität. Kultur an sich ist dabei weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes. Kultur kann ausgrenzen, Ausdruck von Feindseligkeit und Ursache für Konflikte sein – genauso, wie sie möglicherweise ein Instrument ist, um Konflikte zu lösen und Frieden zu stiften. Es gibt viele Beispiele dafür, wie in verfahrenen Konfliktsituationen kulturelle Initiativen helfen, einen Dialog zu ermöglichen, wieder miteinander zu reden und zu versuchen, den Anderen zu verstehen. Man denke an das West-Eastern-Divan Orchestra von Daniel Barenboim, das Musikerinnen und Musiker aus Israel und arabischen Ländern zu gemeinsamen Proben und Auftritten zusammenführt.

Wenn wir uns nichts vorstellen können, was wir mit einem Feind gemeinsam machen könnten – vielleicht wären wir als Erstes bereit, gegen ihn Fußball zu spielen. Oder mit ihm zu musizieren. Beide Tätigkeiten bieten die Chance, dass sie auch dann ausgeübt werden können, wenn die Sprache versagt und der Dialog an seine Grenzen stößt. In diesem Sinne sollte Kulturarbeit stärker noch als bislang in verschiedenen Konfliktsituationen zum Einsatz kommen: etwa beim Wiederaufbau einer Zivilgesellschaft nach militärischen Auseinandersetzungen, bei der Bewältigung des Klimawandels, bei der Entwicklung von Ideen und Strategien zum schonenden Umgang mit Ressourcen, bei der Integration migrierter und geflüchteter Menschen.

2.6 Multilateralismus

Multilateralismus ist fast schon ein Unwort. Die Erfahrungen, die wir mit Staatenverbünden gemacht haben und machen, sind oft nicht sehr positiv. Der Zustand der EU ist für uns ernüchternd, der Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN) scheint im Moment aber auch kein Freundschaftsclub zu sein, von UNASUR, dem Verband von zwölf Staaten Lateinamerikas, ganz zu schweigen.Auch die Austritte der USA aus internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation, dem UN-Menschenrechtsrat und der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) sind bedenklich. Dennoch liegt aufgrund der im ersten Teil beschriebenen neuen Rahmenbedingungen die einzige Chance im multilateralen Handeln. Dabei geht es nicht um Staatsmodelle, sondern um die Überzeugung als Kulturakteur, dass die Wertschätzung kultureller Vielfalt mehr als alles andere zu Problemlösungen beiträgt. Die UNESCO-Konvention zum Erhalt und Schutz der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ist ein multilaterales Instrument, das genau diesen Grundgedanken formuliert und die Würde aller kulturellen Ausdrucksformen zu sichern versucht. In einer globalisierten Welt von immer komplexer werdenden gegenseitigen Abhängigkeiten ist das Denken in Verbünden – als Teamwork – der erfolgversprechendste Ansatz.

2.7 Begegnungen

Wir sprechen von Dialog, von Kooperation, Koproduktion und kulturellem Austausch. Kulturen können aber nicht in Dialog treten, Kulturen können auch nicht kooperieren, es sind stets die Menschen, die kooperieren. Menschen müssen sich verständigen, und wir müssen versuchen, durch unsere kulturellen Angebote, durch unsere Plattformen und Foren, durch unsere Einladung zum Gespräch und zum Nachdenken, die Gedanken und Gefühle jedes einzelnen Menschen anzuregen. Kulturdialog ist die Arbeit mit Menschen – deshalb ist zentral, dass Menschen sich begegnen, dass es umfangreiche Besuchs- und Austauschprogramme gibt, dass man gewisse Zeiten des Lebens gemeinsam verbringt.

Dieser Grundsatz ändert sich auch nicht in Zeiten von Covid-19. Virtuelle Begegnungen haben zugenommen und werden ob ihrer Leichtigkeit und Flexibilität berechtigterweise geschätzt. Eine intensive persönliche Beziehung, gemeinsames Erleben und Verstehen bedürfen gleichwohl eines vis-à-vis.

In Deutschland haben wir festgestellt, dass Fremdenfeindlichkeit vor allem gegenüber Menschen aus vom Islam geprägten Gesellschaften auftritt, und zwar insbesondere dort, wo Begegnungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen fehlen. Diejenigen aber, die mit Muslimen zusammenleben, sind erheblich weniger voreingenommen gegenüber fremden Religionen, anderen Lebensweisen, anderen Identitäten – solange sie sich auf dem Boden unserer Verfassung bewegen.

Im Jahr 2019 diskutierte die EU-Kommission, allen Jugendlichen zwischen 18 und 20 Jahren ein sogenanntes Interrailticket und damit die Möglichkeit zu schenken, vier Wochen kostenlos mit allen Zügen durch Europa zu fahren. Das Vorhaben ist an finanziellen Fragen gescheitert und so gibt es nur etwa 15.000 dieser kostenlosen Tickets. Für die EU stellt es kein Problem dar, jährlich 500.000 dieser Tickets zu bezahlen. Ein so einfaches Mittel würde Menschen zusammenbringen – und wenn sich die Jugendlichen in Jugendherbergen, auf Zeltplätzen oder den Gängen der Züge treffen, ist das der beste lebensprägende Austausch. Dieses Zusammenbringen von Menschen ist ein wichtiges Instrument des Dialogs.

2.8 Beratung

Wir als Akteure des Kulturaustauschs machen praktische Erfahrungen, sind weltweit unterwegs, hören zu und lernen, was andere bewegt und welche Fragen wir uns gemeinsam stellen. Ob es die Frage nach der Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf unsere kulturelle Identität und unser praktisches Leben ist, ob es um das kulturelle Verhältnis zwischen Deutschland und China geht, ob es die Frage nach Religionen als Friedensinstrument ist – all dies und noch viel mehr müssen wir in die Politik zurückspielen und versuchen, durch Kontakt mit politischen und auch wirtschaftlichen Entscheidungsträgern Ideen zu vermitteln, was man auf welche Art und Weise besser machen könnte. Als Brückenbauer zwischen Praxis, Theorie und Öffentlichkeit fühlen wir uns verpflichtet, die Politik zu informieren und zu überzeugen, welche Potenziale im Kulturaustausch liegen. Kultur darf dabei kein Instrument der Politik sein, sie ist nicht Soft Power, sie ist nicht Cultural Diplomacy oder Public Diplomacy – Kultur ist ganz sie selbst. Jede Form von Instrumentalisierung bedeutet Banalisierung und hat die Tendenz, zu Folklore zu werden. Auch das sollten wir deutlich machen.