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Die Regierungszeit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (2005–2021), der ein zeitgeschichtlicher Charakter nachgesagt wird, stellt auch einen Gegenstand für wissenschaftliche Analyse und politische Bewertung dar.Footnote 1 Einem besonderen Aspekt dieser Epoche – den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zwischen China und Deutschland – gilt die vorliegende Untersuchung, wobei eine umfassende und wertende Dokumentation dieser sowohl für China als auch für Deutschland wichtigen bilateralen Beziehungen nicht beabsichtigt wird. Stattdessen werden anhand von Worten und Taten relevanter Akteure Schemata identifiziert, die in den chinesischen wie den deutschen Diskursen zu den bilateralen Beziehungen explizite oder implizite Verwendung finden und die gegenseitigen Wahrnehmungen prägen. Ermittelt werden soll schließlich die „gefühlte Temperatur“, die nicht nur stilistisch als Metapher zu verstehen ist, sondern den emotionalen Aspekt der internationalen Beziehungen anspricht, der in den letzten Jahren immer mehr in den Mittelpunkt der Forschung gerückt ist.Footnote 2

1 Zwischen der deutschen Ambivalenz und dem chinesischen Realitätssinn: eine Sonderbeziehung im Überblick

Dass die Beziehungen zwischen zwei Staaten bzw. Nationen inzwischen nur im globalen Kontext statt bilateral aufzufassen sind, zeigt einmal mehr die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber China nach dem Amtsantritt Donald Trumps als 45. US-amerikanischer Präsident. Eine ungewöhnliche Mächteformation der „Achse Berlin-Peking“ (Neukirch et al. 2017) wurde als Gedankenspiel thematisiert – als ob der Begriff „Achse“ in der deutschen Geschichte noch nicht genug Scherben hinterlassen hätte. Die Denklogik hinter dieser überraschenden Aufwertung der weltpolitischen Rolle Chinas hat weniger mit China zu tun als mit einem uralten Bündnisdenken: Deutschland braucht schnellstens Bündnispartner für den ersten Fall, dass sich die USA von ihrer bisherigen Freihandelspolitik und damit auch von einer der Stützen der internationalen Nachkriegsordnung verabschieden würden. In einer solchen Notsituation käme ein handelspolitisches Bündnis oder ein koordiniertes Handeln mit China infrage. Das Besondere an diesem Gedankenspiel ist, dass China zwar als einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands einen Schwerpunkt in der deutschen Außenpolitik darstellt. Aber wegen seiner andersartigen systemischen Verfasstheit wäre eine solche Positionierung Chinas ein Grenz- und auch Testfall für die Vorstellungskraft der deutschen Politik.

Obwohl die „Sonderbeziehung“Footnote 3 zwischen Peking und Berlin seit Langem in politischen und wirtschaftlichen Kreisen Europas zum geflügelten Wort geworden ist – ein „Tête-à-tête“ (Benedikter 2014. S. 179 f.) zwischen zwei wesensverschiedenen Akteuren wird vermutet –, ist eine Auseinandersetzung mit dem Wesen eines solchen Quasi-Bündnisses unumgänglich. Denn es läuft auf eine Zweckgemeinschaft hinaus, die weniger durch ein gemeinsames und wertegeleitetes Ziel als durch einen gemeinsamen Gegenspieler oder durch Nutzenmaximierung definiert ist. Deswegen muss ständig die Frage nach der Fragilität oder Stabilität des Bündnisses gestellt werden.

Auch das sich schnell wandelnde Umfeld der internationalen Politik könnte dem chinesisch-deutschen Bündnis ungünstig gegenüberüberstehen. Denn hier konkurrieren unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Interessen um die Einflussnahme auf China bzw. Deutschland. Zum Beispiel wird 2013 in einem Artikel unter dem vielsagenden Titel „Transatlantische Freihandelszone: Letztes Mittel gegen Chinas Aufstieg“ (Schmitz 2013) ein hochrangiger US-Militär zitiert. Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark sorgte sich nämlich 2013 auf der 6. „German American Conference at Harvard“,Footnote 4 die sich seit 2008 zu einem wichtigen transatlantischen Treffen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft entwickelt hatte, um die westliche Vormachtstellung in der Welt: Man solle vor allem über China reden, denn die „Chinesen haben eine Strategie, und sie werden sie durchsetzen“. Die Botschaft von 2013 könnte deutlicher nicht sein: In der transatlantischen Handelskooperation wird das Aufgebot gesehen, womit die Idee des „gemeinsamen Westens“ gegen den nichtwestlichen Angreifer aus Fernost verteidigt werden sollte. Im gefühlten Abwärtsgang – nicht ohne Grund trug die Konferenz von 2013 den Titel „The End of the West as We Know It?“ – bedient man sich einer altbekannten, wissenschaftlich eher fragwürdigen Formel: der Bedrohung durch das Fremde. Durch gebündelte Kräfte sollte die alte Stärke mindestens länger bewahrt werden. Dass die (noch) führenden Industrienationen in der Eindämmung des Konkurrenten statt in Weiterentwicklung und Eigenanstrengung ihre Chance wittern, steht im Gegensatz zu den gepredigten Prinzipien der freien Marktwirtschaft und führt auf der chinesischen Seite zu Misstrauen gegenüber der sogenannten „regelbasierten Ordnung“.Footnote 5

Diese Beispiele zeigen, dass es in Deutschland verschiedene China-Diskurse gab, die auf keine stringente Umgangsform für China hindeuten. Besonders in der deutschen Einstellung gegenüber China zeigt sich ein ambivalentes Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen zwei Positionen: dem ideologisch ausgrenzenden Blockdenken einerseits und der bewährten deutschen Entspannungspolitik mit Wohlstandsversprechen andererseits. Von der ersten Position zeugt zum Beispiel die erste „Asienstrategie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion“ von 2007, in der u. a. festgestellt wird, dass Partnerschaften mit asiatischen Ländern „auf Dauer nur auf der Basis gemeinsamer Werte und Überzeugungen gedeihen“ könnten (CDU/CSU-Bundestagsfraktion 2007, S. 3). Mit China dagegen „steigt ein undemokratischer, nicht-liberaler Staat in der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Hierarchie auf, der sich zudem – in Konkurrenz zum Westen – zu einem eigenen ordnungspolitischen Modell für andere Staaten entwickelt“ (CDU/CSU-Bundestagsfraktion 2007, S. 7). Im Gegensatz zu dieser ernüchternden Feststellung stehen die 12 China-Reisen der Bundeskanzlerin Merkel in ihrer gesamten Regierungszeit (Hu 2019) – im Vergleich: sechs Reisen zum Wertepartner Japan und vier nach Indien im selben Zeitraum.

China dagegen pflegt seit der Deng-Ära einen realistischen und weitgehend entideologisierten Umgang mit der Welt einschließlich Deutschlands, um sich auf die innere Modernisierung und das wirtschaftliche Aufholen zu konzentrieren. In diesem Prozess wird in der Regel über die deutsche Ambivalenz hinweggesehen. Es sei denn, dass sie die empfindlichen „Kerninteressen“Footnote 6 Chinas bezüglich der territorialen Integrität und der gesellschaftlichen Integration berührt.Footnote 7 So gesehen befindet sich China im Umgang mit Deutschland in einem Dauervorbereitungsmodus. Mit einem „Betriebsunfall“, der in der chinesischen Auslegung Deutschland zuzuschreiben ist, soll jederzeit gerechnet werden: Sei es im Falle eines als Zufall inszenierten Treffens zwischen dem deutschen Außenminister Heiko Maas und dem Hongkonger Aktivisten Joshua Huang im Sommer 2019, das eher den innerdeutschen Diskurs anspricht als den chinesischen und so Chinas Bemühungen um nationale Integration zuwiderläuft; sei es die Politikinitiative zur strengeren Überprüfung chinesischer Direktinvestitionen in der Europäischen Union, die 2017 von der deutschen Wirtschaftsministerin mit eingebracht wurde (Zypries 2017); sei es die große Erleichterung sowohl auf der deutschen als auch auf der chinesischen Seite während des China-Besuchs des seinerzeit amtierenden Bundespräsidenten Joachim Gauck 2016, als doch kein diplomatischer Eklat wie befürchtet eintrat (Gathmann 2016). In der chinesischen Wahrnehmung ergeben die angeführten Beispiele kein verlässliches Bild und stellen die Resilienz des chinesischen Pragmatismus immer wieder auf den Prüfstand. Chinesische Forscher beschäftigen sich u. a. mit den speziell deutschen Bedenken und Szenarien, die sich zu Herausforderungen für die chinesisch-deutschen Beziehungen entwickeln könnten.Footnote 8

2 Grenzenloser Wohlstand für alle?: der wirtschaftszentrierte Pragmatismus

Nicht ohne Grund verbinden 34 % der befragten Chinesinnen und Chinesen in der Huawei-Studie 2016 Deutschland mit dem Stichwort „Automobilindustrie“, das nur noch von einem anderen Stichwort „Starke Wirtschaft“ übertroffen wird (Huawei Technologies Deutschland GmbH 2017, S. 27). Überhaupt steht die moderne chinesische Automobilindustrie unter dem starken Einfluss Deutschlands – sinnbildhaft vertreten vor allem vom China-Pionier Volkswagen,Footnote 9 gefolgt von Audi, Mercedes-Benz, BMW und Co.

Heute zählt China zum weltgrößten Pkw-Neuwagenmarkt. Im Inland wird der Markt seit Jahrzehnten von deutschen Autos dominiert. Der Vorreiter Volkswagen setzte 2018 mehr als 38,87 % seiner Pkw-Produktion bzw. 4,21 Mio. Einheiten in China um.Footnote 10 Es entstand eine gegenseitig abhängige Partnerschaft: Ohne China wäre Volkswagen nicht Weltmarktführer geworden und die deutsche Automobilindustrie nicht so erfolgreich; ohne Volkswagen hätte es in China keine moderne und konkurrenzfähige Pkw-Industrie gegeben, von deren Entwicklung die gesamte chinesische Volkswirtschaft profitiert.

Aus dieser Perspektive betrachtet muss es sich bei der chinesisch-deutschen Wirtschaftszusammenarbeit um eine Win–win-Situation handeln, weil die Wettbewerbsvorteile beider Länder weitgehend komplementär sind. Deutschland liefert hochwertige Produkte, Technologien und Dienstleistungen, während das sich entwickelnde China sich auf arbeitsintensive Produktion konzentriert. Ein ähnliches Modell der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bzw. der Arbeitsaufteilung existierte schon vor dem Aufstieg Chinas zwischen Japan und den einstigen asiatischen Tigerstaaten (Pohlmann 2004). 2016 löste China die USA als den wichtigsten Handelspartner Deutschlands ab.Footnote 11 Gleichzeitig ist Deutschland seit Jahren mit Abstand der größte Handelspartner Chinas in Europa.

Mit der wachsenden Bedeutung Chinas für die deutsche Wirtschaft kehrt auch die Verunsicherung zurück, die seit Beginn der Neuzeit zur europäischen bzw. deutschen Wahrnehmung Chinas gehört. Die Neuauflage der stereotypen „German Angst“ hält der Sachbuchautor Frank Sieren in seinem Bestseller Angst vor China fest (Sieren 2011, S. 12). Demnach wird die deutsche Sicht auf China durch Angst bestimmt. Aber es handelt sich beim Thema China im wirtschaftlich boomenden Deutschland um eine andere „Angst“ als die Anti-China-Hysterie amerikanischer Art: Es geht nicht um den befürchteten Verlust der Weltdominanz wie bei den USA, sondern vielmehr um die eventuelle Gefährdung des Wohlstands, der in Deutschland nach dem Krieg mit großer Mühe erarbeitet wurde und auf dem das deutsche Ansehen unter anderem gründet. Nach Sierens Beobachtung hat die „Angst vor China“ fast alle gesellschaftlichen Schichten und Berufsgruppen in Deutschland erfasst:

„Beschäftigte in Deutschland sorgen sich um ihre Arbeitsplätze, die nach China verlagert werden könnten. Autofahrer fürchten den Rohstoffhunger der Chinesen, wenn an der Tankstelle die Benzinpreise klettern. Studenten und Azubis spüren die Konkurrenz aus Asien beim Einstieg ins Berufsleben. Mittelständler fürchten die preiswerte chinesische Konkurrenz. Deutschen Vorständen sind die mächtigen chinesischen Staatsbetriebe zuwider, die mit harten Bandagen spielen. Deutsche Politiker starren wie gelähmt auf die wachsenden Geldreserven der Chinesen, während sie selbst immer mehr Schulden anhäufen.“ (Sieren 2011, S. 12).

Solch ein umfassendes Drohszenario kann keiner realen Grundlage entsprungen sein. Denn ein chinesischer Angriff auf den Staat und die Gesellschaft Deutschlands lässt sich nirgendwo aktenkundig feststellen. Tatsächlich hatten die Deutschen in den Merkel-Jahren wenig Grund, sich über die wirtschaftliche Lage zu beklagen. Die europäischen Nachbarländer und die USA schauten geradezu mit Bewunderung und Neid in Richtung Deutschland, das von einem Wirtschaftsrekord zum nächsten eilte: die niedrigste Arbeitslosenquote (4,9 %) seit der deutschen Wiedervereinigung,Footnote 12 die rekordverdächtigen Steuereinnahmen und der rekordverdächtige Haushaltsüberschuss,Footnote 13 der Rekord-Exportüberschuss (276 Mrd. Dollar),Footnote 14 und so weiter. Der französische Historiker Emmanuel Todd musste feststellen: „Die Globalisierung mit ihrem ungebremsten Welthandel und dem freien Wettbewerb für alle ist eine Form der wirtschaftlichen Kriegsführung, mit zwei Gewinnern: China und Deutschland.“ (Leick und von Rohr 2012).

Die französische Wahrnehmung Deutschlands unterscheidet sich offensichtlich vom gefühlten Worst-Case-Szenario der Deutschen, nach dem der wirtschaftliche Aufstieg Chinas zwangsläufig den Untergang Deutschlands zur Folge hat. Was hinter dieser vordergründigen Angst vor China steht, könnte kulturalistisch als die deutsche Denktradition interpretiert werden, die extremen Schwankungen zwischen Hybris und Unterlegenheitsgefühl unterliegt. Der Vormärz-Denker und Publizist Julius Fröbel sah sich 1866 einem sehr fragwürdigen deutschen Charakter gegenüberstehen: „Der deutsche Geist steht gewissermaßen immer vor dem Spiegel und betrachtet sich selbst, und hat er sich hundertmal besehen und von seinen Vollkommenheiten überzeugt, so treibt ihn ein geheimer Zweifel, in welchem das innerste Geheimnis der Eitelkeit beruht, abermals davor.“Footnote 15 Ausführlicher wird die Auseinandersetzung der Deutschen mit sich selbst bei Dieter Borchmeyer in dessen umfangreicher Studie Was ist Deutsch? dokumentiert (Borchmeyer 2017).

In dieser Hinsicht hat das Stichwort „China“ in der deutschen Selbstbetrachtung Symbolcharakter und steht für den Auslöser der eigenen Verunsicherung. Dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler und Chinakenner Helmut Schmidt war diese deutsche Psychose allzu bewusst. Er sah in den negativen Urteilen der Deutschen über China ein Alibi für die deutsche Untätigkeit, weil China „keineswegs an den heutigen ökonomischen und sozialen Problemen Westeuropas schuld“ sei (Schmidt und Sieren 2007, S. 12). Solche Probleme seien vor allem strukturell bedingt und durch eigene Reformanstrengung zu beheben. Darüber hinaus stehe der Vorwurf, „mit dem China eine Schuld an den ökonomischen und sozialen Problemen Westeuropas zugewiesen werden soll und der China als ökonomischen Störfaktor darstellt“, „im seltsamen Widerspruch zu dem gleichzeitigen Anspruch, zu wissen, was für China politisch und gesellschaftlich richtig sei“ (Schmidt und Sieren 2007, S. 12).

Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern haben sich in den vergangenen mehr als vier Jahrzehnten seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahre 1972 fast kontinuierlich weiterentwickelt – mit nur einem, eher kleinen Rückschlag im ökonomischen Krisenjahr 2009, wovon jedoch alle großen Volkswirtschaften betroffen waren. Dieser auf wirtschaftliche Entwicklung fokussierte Pragmatismus wird in beiden Ländern nach der jeweiligen nationalen Katastrophe gepflegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedete sich Deutschland endgültig von seinen weltpolitischen Ambitionen und konzentrierte sich stattdessen auf die Sicherung von Frieden und Wohlstand. Es unterhielt auch im Kalten Krieg gute Handelsbeziehungen zu den Ostblockländern. In China setzte sich nach der Kulturrevolution die Erkenntnis durch, dass nur der Primat bzw. Imperativ der Entwicklung gilt – gesamtgesellschaftlich, aber vor allem ökonomisch. Frei nach dem Motto Deng Xiaopings: „Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache sie fängt Mäuse.“ (Naughton 1993) Die Systemfrage stehe in China insgesamt „weniger auf der Tagesordnung als im Westen teilweise angenommen wird“, so lautet eine Beobachtung der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr der Finanzkrise 2008 (Meyer 2008, S. 9).

In der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise in Europa schien eine verstärkte Zusammenarbeit mit China für Deutschland Teil der Lösung zu sein. Für China wiederum war ein wirtschaftlich und technologisch starker Partner wie Deutschland unentbehrlich. Es lässt sich beobachten, dass sich die Annäherung beider Länder in dieser Zeit beschleunigt hat. In der „Gemeinsamen Erklärung anlässlich der 5. Deutsch-Chinesischen Regierungskonsultationen“Footnote 16, veröffentlicht am 9. Juli 2018, wurden ambitionierte gemeinsame Anstrengungen gleich in mehreren Gebieten genannt. Nach außen wurde der Eindruck vermittelt, dass kein Gebiet ausgelassen worden wäre, in dem China und Deutschland nicht bereits eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet hätten. Sogar bei sensiblen Themen wie Innovation und Spitzentechnologien, denen gegenüber sich Deutschland wegen seines technologischen Vorsprungs bis dahin stets vorsichtig verhalten hatte, zeigte sich eine neue Dynamik. Die chinesische Industriestrategie „Made in China 2025“ zum Beispiel trug eine starke Handschrift der deutschen „Industrie 4.0“ (Shi 2017).

3 „Sie sind freundschaftlich und gut“: die Besonnenheit im politischen Miteinander

Seit dem Staatsbesuch des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in Deutschland im März 2014 haben sich die chinesisch-deutschen Beziehungen zu einer „umfassenden strategischen Partnerschaft“ entwickelt. Als Zeichen für die enge Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen beiden Ländern wurde 2011 der Mechanismus der Regierungskonsultationen eingeführt. Dass die beiden Kabinette unter Leitung der Regierungschefs zu Beratungen zusammenkommen, ist sowohl für Deutschland als auch für China eine äußerst seltene Form der politischen Vertrauensbekundung. Mit keinem anderen Land unterhält China diese Form der Zusammenarbeit.

Das Auswärtige Amt drückt sich in seiner Beurteilung der Beziehungen eher funktional aus: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik China haben 1972 diplomatische Beziehungen aufgenommen. Seitdem haben sich diese Beziehungen zu großer Vielfalt, beachtlicher Dichte und zunehmender politischer Substanz entwickelt – sie sind freundschaftlich und gut.“Footnote 17 Im Vergleich zu den Formulierungen zu den deutsch-amerikanischen („Die enge Freundschaft zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika beruht auf historisch gewachsenen Beziehungen, gemeinsamen Erfahrungen, Werten und Interessen.“Footnote 18) und deutsch-französischen Beziehungen („Frankreich ist Deutschlands engster und wichtigster Partner in Europa. Mit keinem anderen Land gibt es eine so regelmäßige und intensive Abstimmung auf allen Ebenen und in allen Politikbereichen.“Footnote 19) ist die „freundschaftlich und gut“-Distanz spürbar größer. Aber dies entspricht der Realität. Deutschland zählt zu den wenigen Ländern, die im Umgang mit China Probleme offen ansprechen, ohne als ein bigotter Lehrmeister wahrgenommen zu werden.Footnote 20 Deshalb werden der Rechtsstaats- und der Menschrechtsdialog noch von beiden Seiten genutzt, um sich trotz offensichtlicher Meinungsunterschiede auszutauschen. Es existieren mehr als 60 institutionalisierte Dialogmechanismen zwischen beiden Ländern.

Offiziell bringt das Auswärtige Amt seinerseits die deutsche Sicht auf China zum Ausdruck, die einen normativen Kern in Bezug auf Politik und Gesellschaft enthält: „Trotz der insgesamt positiven Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen bestehen weiterhin grundsätzliche Meinungsunterschiede im Bereich der Menschenrechte, insbesondere zu den persönlichen Freiheitsrechten. Es bleibt ein wichtiges Interesse Deutschlands, dass China sich innenpolitisch weiterentwickelt, rechtsstaatliche Strukturen und Sozialsysteme entwickelt, mehr politische und ökonomische Gerechtigkeit, vor allem auch grundlegende Freiheitsrechte, zulässt und Minderheitenfragen friedlich löst.“Footnote 21

Auf der Website des chinesischen Außenministeriums finden sich im Gegensatz dazu keine Wunschziele für die innere Entwicklung Deutschlands. Aus der chinesischen Sicht käme es einer Anmaßung gleich, wenn China sich vornähme, den Deutschen einen besseren Weg in die Zukunft weisen zu können. Nach der Erfahrung mit der westlich-kolonialistischen Fremdherrschaft im 19. und 20. Jahrhundert hütet China seine mit vielen Opfern erkämpfte nationale Souveränität wie ein Heiligtum. Fremde Einflussnahme bzw. Eingriffe würden bei den Chinesen instinktiv die Erinnerungen an die dunkle Vergangenheit aktivieren. Auf der deutschen Seite wirkt dagegen das Insistieren Chinas auf dem Prinzip der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten“ geradezu vorgeschoben, obsolet und dem universalistischen Prinzip entgegenwirkend. Der Grund dafür liegt nicht nur in der deutschen Erfahrung mit der nationalsozialistischen Diktatur, die nur mit fremder Hilfe besiegt und überwunden werden konnte. Nach dem Krieg tritt Deutschland im Rahmen der EU für ein supra- bzw. postnationales Politikverständnis ein. Hier treffen zwei unterschiedliche historische Erfahrungen Chinas und Deutschlands aufeinander. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist auch den südlichen EU-Ländern aufgefallen, dass Deutschland an seinen historischen Erfahrungen festhält, um sie zum allgemeinen Maßstab zu erheben. Diese Vorgehensweise Deutschlands während der Finanzkrise wird als Hegemonieversuch interpretiert.Footnote 22

Die größte Herausforderung für die gegenseitige Wahrnehmung und damit auch für die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern ist, dass China nicht in die bekannten Denkschemata passt, die der politischen Orientierung dienlich sind. „Die Linken in Deutschland sind verstimmt, weil ein kommunistisches Land rabiat kapitalistisch geworden ist und nun auch noch frech behauptet, dies sei ‚Sozialismus chinesischer Prägung‘. Die Wertkonservativen und Marktliberalen stört es, dass eine kommunistische Diktatur seit Jahrzehnten wirtschaftlich so erfolgreich ist.“ (Sieren 2011, S. 24) Entsprechend wird China zu einer Bewährungsprobe für die gängigen, westlich geprägten Gesellschaftstheorien und -modelle.Footnote 23

Von dieser Erkenntnis ausgehend scheinen Vor- und Nachsicht bei der Beurteilung der chinesisch-deutschen Beziehungen geboten. Auf der praktischen Ebene findet ein bedächtiger Umgang miteinander breite Unterstützung, die in Mei Zhaorong, dem ehemaligen chinesischen Botschafter in Deutschland, ihre prominente Repräsentanz findet (Mei 2014).

Die Merkel-Jahre sind auch die Hochphase der Globalisierung, in deren Mittelpunkt nicht die ideologische Konfrontation zwischen den Staaten oder Staatsblöcken, sondern die neo-liberale Wirtschaftskonkurrenz und Verflechtung zwischen den Volkswirtschaften stehen. In dieser Phase lässt sich eine Nähe zwischen den chinesischen und den deutschen Interessen auf der internationalen Bühne feststellen, die sich auf Durchlässigkeit freien Handels konzentrierten. Beide Länder konnten im Rahmen der Pax Americana nach dem Ende des Kalten Kriegs wirtschaftlich gedeihen und standen mitunter gemeinsam den amerikanischen Alleingängen skeptisch gegenüber.Footnote 24 Der Bundesverband der Deutschen Industrie forderte in einem „Grundsatzpapier“ vom Januar 2019 deutsche Partizipation „an chinesischen multilateralen Institutionen und internationalen Projekten“, „wenn deren Arbeitsweise internationalen Standards entspricht. Denn nur durch Partizipation sind konstruktive Kritik und Mitgestaltung nach europäischen Werten und Normen möglich.“ (Bundesverband der Deutschen Industrie 2019) In der Tat gehört Deutschland zu den Gründungsmitgliedern der von China initiierten Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), wogegen die USA das Projekt als Unterwanderung der sogenannten liberalen internationalen Ordnung betrachten (Stephen und Skidmore 2019). Beobachter messen der Annäherung Deutschlands an China neben der wirtschaftlichen Bedeutung auch noch eine politische Dimension bei (Stanzel 2017).

Im europäischen und globalen Kontext könnten sich die guten Beziehungen mit China als hilfreich für Deutschland ausweisen. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2008 hat sich Deutschland aufgrund seiner Wirtschaftsstärke zusehends zum „Hegemon wider Willen“ (Schönberger 2012) in Europa entwickelt. Im von mehreren Krisen heimgesuchten Europa war Deutschland mit seiner strengen Austeritätspolitik und seiner Flüchtlingspolitik der „offenen Grenze“ nicht unumstritten. Gegenüber Russland hat Deutschland nach der Krim-Krise von 2014 seine historisch gewachsene Vermittlerrolle fast eingebüßt. Gleichzeitig gefährdeten starke, von extremen und populistischen Kräften ausgehende Fliehkräfte das europäische Projekt, das seit Jahrzehnten den Ausgangs- und Kernpunkt der deutschen Innen- wie Außenpolitik gebildet hat. Sogar die USA drohten als die traditionelle Schutzmacht Europas wegzufallen. Angela Merkel wiederholte 2018 auf ihrer Sommerpressekonferenz die Erkenntnis, dass Europa sich „nicht einfach auf die Ordnungsmacht und Supermacht Vereinigte Staaten von Amerika verlassen“ könne.Footnote 25 Die große Frage bzw. Herausforderung für Deutschland, die durch diese Aussage abgeleitet worden ist, sollte sein, ob sich eine eigenständige und souveräne europäische Position innerhalb Europas durchsetzen könnte.

In einem solchen „fordernden“Footnote 26 internationalen Umfeld wird von Deutschland erwartet, dass es sich von seiner Tradition der politischen Zurückhaltung befreit und zu seiner neuen Führungsrolle in Europa bekennt. Dieses „deutsche Europa“ (Beck 2012) kann nur in Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Akteuren der Welt einschließlich Chinas dafür sorgen, dass eine funktionierende globale Ordnung errichtet und akzeptiert wird. Merkel erinnerte an die gemeinsamen Anstrengungen der G20 zur Bewältigung der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008.Footnote 27

4 Von der Überwindung der Fremdheit zur gegenseitigen Anerkennung: die verbindende Funktion von Kultur und Bildung

Erschließt sich einem Briten der Sinn eines schwierigen Textes nicht, sagt er: „It’s all Greek to me“. Befindet sich ein Deutscher in derselben Situation, spricht er von „Fachchinesisch“. Die gefühlte Distanz des einen zur griechischen Antike und des anderen zur chinesischen Kultur verrät einiges über die europäische Volkspsychologie. Warum Deutsche das Rätselhafte und Unverständliche ausgerechnet China zurechnen, lässt sich nicht überzeugend ermitteln. Jedenfalls empfanden 55 % der befragten Deutschen 2016 die chinesische Kultur als sehr fremd (Huawei Technologies Deutschland GmbH 2017, S. 184). Aber aus dieser scherzhaften Mystifizierung Chinas ergibt sich für die wissenschaftliche Beschäftigung mit China eine ernstzunehmende Frage: Ist China im deutschen bzw. europäischen Kontext vermittelbar?

Die Frage ist mindestens so alt wie die Geschichte des Kulturkontaktes zwischen Europa und China. Noch im 20. Jahrhundert erlebte der französische Philosoph Michel Foucault einen Kulturschock in der Berührung mit der chinesischen Geisteswelt. In einem Borgesschen Text ist von einer gewissen „chinesischen Enzyklopädie“ die Rede, in der die Tiere nach Kriterien wie „Tiere, die dem Kaiser gehören“, „einbalsamierte Tiere“, „Fabeltiere“, „die den Wasserkrug zerbrochen haben“ etc. gruppiert werden (Foucault 1974, S. 17). Diese für Foucault nicht zu durchdringende Taxinomie steht sinnbildlich für das europäische China-Verständnis. Denn diese „Verdrehung der Klassifizierung, die uns daran hindert, sie zu denken, und dieses Tableau ohne kohärenten Raum erhalten von Borges als mythische Heimat eine präzise Region, deren Name allein für das Abendland eine große Reserve an Utopien bildet (…) So gäbe es am anderen Ende der von uns bewohnten Welt eine Kultur, die völlig der Aufteilung der Ausdehnung geweiht ist, die aber die Ausbreitung der Lebewesen in keinem der Räume verteilte, in denen wir die Möglichkeit haben zu benennen, zu sprechen und zu denken.“ (Foucault 1974, S. 21).

Um mit Foucault zusammenzufassen: China stelle eine „Heterotopie“ dar, also den Ort, der anders ist. Im Vergleich zu diesem Unverständnis Foucaults glaubt der deutsche Universalgelehrte Leibniz im 17. Jahrhundert, in der chinesischen Kultur ein zivilisatorisches Pendant Europas entdeckt zu haben: „Wenn wir daher in den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den theoretischen Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich unterlegen – was zu bekennen ich mich beinahe schäme – auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind.“ (Leibniz 1985, S. 17).

Durch Foucault und Leibniz sind wir an der Erkenntnisintention Europas in Bezug auf China angelangt: China wird als Gegenpol zu Europa, ein „Anti-Europa“ par excellence im negativen wie im positiven Sinne, wahrgenommen und konstruiert (Lee 2003). Das Interessante an diesem Befund ist, dass sich die China zugedachte Rolle im weiten Feld zwischen Unverständnis und Werturteil zyklisch bewegt (Hu 2012). Stellvertretend für die vernichtende Kritik Chinas ist Hegel in seiner Geschichtsphilosophie, in der die chinesische Kultur als archaisch und vormodern eingestuft wird und der „alles, was zum Geist gehört“ (Hegel 1961, S. 211), fehle. Ferner noch sollte es „das notwendige Schicksal der asiatischen Reiche“ sein, „den Europäern unterworfen zu sein, und China werde auch einmal diesem Schicksale sich fügen müssen“ (Hegel 1961, S. 216).

Von diesem Schatten dieses Geistes des langen 19. Jahrhunderts kann sich China bis heute schwer befreien. Schlimmer noch: Der Diskurs des kulturellen Paradigmenwechsels in China wird von Europa bzw. dem Westen vorgegeben. Davon zeugt auch die These von „Herausforderung und Reaktion“ (challenge and response), mit der das Kommunikationsmuster zwischen dem Westen und China seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieben werden soll (Fairbank 1987). Demnach bleibt China dem die Agenda bestimmenden Westen stets Antworten schuldig. An eine Ebenbürtigkeit oder gar einen Rollentausch müssten sich beide Seiten erst gewöhnen – wenn überhaupt daran gedacht wird.

Eine gegenseitige Anerkennung zwischen China und Europa wird mit dem unaufhaltsamen Aufstieg Chinas unausweichlich. In Deutschland wird vor allem eine chinesische „Eigenschaft“ positiv hervorgehoben, die eventuell den Schlüssel zum Erfolg Chinas liefern könnte: die Verankerung und Wertschätzung der Bildung in der chinesischen Kultur und Gesellschaft. Laut der Huawei-Studie 2016 weisen 54 % der Deutschen China im internationalen Bildungswettbewerb eine Spitzenposition zu (Huawei Technologies Deutschland GmbH 2017, S. 178); 68 % gehen davon aus, dass sich das chinesische Bildungssystem positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes auswirkt (Huawei Technologies Deutschland GmbH 2017, S. 179). Tatsächlich stellen Chinesinnen und Chinesen seit Jahren die größte ausländische Studierendengruppe in Deutschland dar. Deutschkurse werden wiederum an 327 chinesischen Hochschulen angeboten (2015), und es bestehen bereits 1383 Hochschulkooperationen (2019). (Bossmann und Wertmann 2019, S. 32 ff.) Den politischen Höhepunkt des Bildungsaustausches erreichte 2015 das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit seiner umfassenden „China-Strategie 2015–2020“. Als Antwort darauf gab das chinesische Ministerium für Wissenschaft und Technologie seine „Deutschland-Strategie“ bekannt.Footnote 28

Darüber hinaus schickt sich China an, eine selbstbewusste und aktive auswärtige Kulturpolitik zu betreiben, um die chinesische Kultur verstärkt ins Ausland zu vermitteln – dabei steht das deutsche Goethe-Institut Pate.Footnote 29 Inzwischen gibt es 19 Konfuzius-Institute in Deutschland, an denen chinesische Sprach- und Kulturkurse sowie Veranstaltungen besucht werden können. Das Institut in Stralsund wurde von Angela Merkel 2016 persönlich eingeweiht (dpa 2016). Zu dessen dreijährigem Bestehen schickte sie im Namen einer Bundestagsabgeordneten ein Gratulationsschreiben (Hefei University 2019). Diese Geste ist nicht als rein höflich und freundlich einzustufen, sondern zeugt von den Bemühungen der Bundeskanzlerin um ein politisches Miteinander mit China und ein besseres China-Verständnis über Bildungs- und Kulturzusammenarbeit. Denn an Misstrauen gegenüber China mangelt es in Deutschland nicht. Vielen gelten die Konfuzius-Institute als Handlanger eines kommunistischen Regimes und dazu als ein trojanisches Pferd, das einen latenten Angriff auf die westlichen Werte von innen vorbereitet.Footnote 30 In Niedersachsen zum Beispiel stehen die Konfuzius-Institute seit 2009 im Verfassungsschutzbericht.Footnote 31 Angela Merkel war die erste und bis jetzt auch die einzige Regierungschefin des Westens, die einen offenen und willkommenen Umgang mit dem Konfuzius-Institut pflegt. In der chinesischen Öffentlichkeit ist diese Geste auf positives Echo gestoßen.Footnote 32

5 Es war eine intensive Zeit: statt einer Schlussfolgerung

Im Videotreffen am 13. Oktober 2021 verabschiedete sich der chinesische Staatspräsident Xi Jinping von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Botschaft, dass China sein Tor für seine „alte Freundin“ immer geöffnet halten werde (Xinhua 2021). In der chinesischen Diplomatie ist die Bezeichnung einer „alten Freundin“ bzw. eines „alten Freundes“ die höchste Anerkennung für das Verdienst einer Ausländerin bzw. eines Ausländers für die Pflege der Beziehungen zwischen China und dem Ausland.

Im Gegensatz zu dieser das Harmonische betonenden Bemerkung hatten sich vor Merkels Abgang Rufe nach Änderungen in der deutschen China-Politik vermehrt. Der Bundesverband der Deutschen Industrie kam im Januar 2019 zu dem Befund, dass sich die liberalen Marktwirtschaften in einem „systemischen Wettbewerb“ mit dem chinesischen Modell befinde. Gleichzeitig bleibt China wegen seines dynamisch wachsenden Marktes „einer der wichtigsten wirtschaftlichen Partner“ für die deutsche Wirtschaft (Bundesverband der Deutschen Industrie 2019). Diese „Zweiteilung“ von China in einen Partner einerseits und einen systemischen Wettbewerber andererseits erfuhr wenig später auf der EU-Ebene eine elaborierte Differenzierung (European Commission and HR/VP 2019). Aus dem „zweigeteilten“ China ist ein China konstruiert worden, dem gleichzeitig oder je nach Kontext und der Definition der EU in der Funktion eines Kooperationspartners, eines Verhandlungspartners, eines Wirtschaftskonkurrenten und eines systemischen Rivalen begegnet werden soll. Abgesehen von den widersprüchlichen Signalen, die durch diese „strategische Perspektive“ gegenüber China gesendet werden, scheint Verwirrung bei diesem neuen China-Narrativ vorprogrammiert zu sein. Denn in der chinesischen Wahrnehmung steht eine solche funktionale Differenzierung und personifizierende Rollenzuweisung im Gegensatz zur ganzheitlichen Auffassung von der Persönlichkeit in der chinesischen Kultur und erinnert stark an die „Multiple Persönlichkeitsstörung“ in der Psychopathologie. Bei einer Person mit mehrfachen Persönlichkeiten handelt es sich um einen Patienten, der mit großer Sorgfalt zu behandeln ist. In China wurde dieses ursprüngliche deutsche China-Narrativ als Tendenz zum realpolitischen „Opportunismus“ interpretiert (Jiang 2021).

China widersprach offiziell einer solchen Rollenzuschreibung durch Europa und Deutschland und verwies auf die Kooperation als die „Hauptrichtung“ (CGTN 2019). Von einer „systemischen Rivalität“ mit Europa in einem Nullsummenspiel ist die chinesische Wahrnehmung weit entfernt. Dennoch ist mit einer Kehrtwende in der deutschen und europäischen Sicht auf China zu rechnen. Die 16 Merkel-Jahre, in denen sich die Beziehungen zwischen China und Deutschland Xi Jinping zufolge „intensiv“, „reibungslos“ und „solide“ entwickelt haben (Xinhua 2021), werden Politik, Gesellschaft und Wissenschaft in beiden Ländern noch lange beschäftigen.