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Als ich Ende 2012 nach Seoul reiste, um einen Vortrag in Korea zu halten, wurde ich von einem Journalisten der koreanischen Tageszeitung Chosun und zwei koreanischen Professoren interviewt, die mir mehrere Fragen stellten. Erstens: Ist China heute ein traditionelles Imperium oder ein moderner Staat? Zweitens: Gibt es jetzt, da China stärker geworden ist, Überlegungen, das „Tributsystem“ wiederherzustellen, und wie wird ein expandierendes China mit seinen Nachbarn wie Korea zurechtkommen? Drittens: Warum gibt es in China ein Fieber für das Studium der traditionellen chinesischen Kultur, und bedeutet dies eine Rückkehr zum Nationalismus in der Kultur? Die Journalisten bezweifelten, dass es in China immer noch eine echte traditionelle Kultur gibt (Korea hat seine traditionelle Kultur bewahrt).

Fragen wie die der Journalisten stellen eine große Herausforderung dar. Die darin zum Ausdruck kommenden Bedenken gehen meiner Meinung nach auf die Annahme zurück, dass sich China derzeit in einem „Aufstieg“ befindet. Doch ist das wirklich der Fall? Ich werde das Gefühl nicht los, dass China gerade wegen dieses scheinbaren „Aufstiegs“ jetzt in Schwierigkeiten steckt. Ich möchte daher näher erläutern, warum China jetzt mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wie es zu diesen Schwierigkeiten kam und warum China nicht in der Lage gewesen ist, sich aus der misslichen Lage zu befreien, die seine neuzeitliche Geschichte dem Land beschert hat.

Als Fachwissenschaftler wollte ich auf diese großen Themen ursprünglich eigentlich nicht eingehen. In den letzten Jahren ist mir jedoch immer klarer geworden, dass die Erforschung der chinesischen Geschichte diesen großen Problemen nicht ausweichen kann, ebenso wenig wie die Beobachtung des realen Chinas sie vermeiden kann. Realität und Geschichte sind immer miteinander verwoben, und es ist schwierig, das Akademische vom Politischen zu trennen. Eines der schwerwiegenden Probleme, mit denen das rasch erstarkende – ich kann mich mit dem Wort „aufstrebend“ nicht anfreunden – China sich heutzutage konfrontiert sieht, ist sein kulturelles, politisches und wirtschaftliches Verhältnis zu sich selbst, zu Asien und zur Welt. Ich muss zugeben, dass China in dieser Hinsicht bereits in großen Schwierigkeiten steckt.

Diese Schwierigkeiten haben im Wesentlichen mit den drei Aspekten zu tun: 1. den Problemen an der „Peripherie“; 2. den Problemen im internationalen Kontext; 3. „internen“ Problemen. Konkret geht es dabei um fünf zentrale Begriffe: „Nation“, „Territorium“, „Religion“, „Staat“ und „Identität“.

Ich will dabei vor allem als Historiker darauf eingehen, was „China“ ist. Fragen sind etwa: Wie sind die Grenzen, die ethnischen Gruppen und die Kultur Chinas als moderner „Staat“ zustande gekommen? Warum findet man in China die Struktur eines modernen Staates und das Bewusstsein eines traditionellen imperialen Reiches? Warum ist dieses moderne China so schwierig und so kompliziert? Ich habe all diese Fragen in den Kontext der neuzeitlichen Geschichte gestellt, daher lautet der Untertitel meines Beitrags „Die Beziehungen von ‚innen‘ und ‚außen‘ im Lichte der neuzeitlichen Geschichte Chinas“, wobei ich die „Neuzeit mit der Song-Dynastie beginnen lasse.

1 Einleitung: Wenn sich das Song-China weiterentwickelt hätte: Zum Chanyuan-Bündnis

Im ersten Jahr der Regierungszeit Jingde 景德 (1004) des Kaisers Zhenzong 真宗 (dem dritten Kaiser der Song-Dynastie), schloss der Song-Kaiser das Chanyuan-Bündnis 澶淵之盟mit den Liao-Khitan. Vorausgegangen war ein von der Liao-Khitan Kaiserinwitwe Xiao und dem Großkönig Shengzong angeführter Feldzug nach Süden. Auf Betreiben von Kou Zhun 寇準nahm der Song-Kaiser Zhenzong persönlich an dem Feldzug gegen die Angreifer aus dem Norden teil. Nach dem Aufeinandertreffen der Armeen wurde im letzten Monat des Jahres, d. h. Anfang des Jahres 1005 nach westlicher Zeitrechnung, an dem Ort Chanyuan澶淵, dem heutigen Puyang濮陽, ein Bündnis zwischen den Song und den Liao-Khitan geschlossen, der „Bruderschaftsvertrag“ genannt wurde und demzufolge die Song den Liao-Khitan pro Jahr 100.000 Tael Silber und 200.000 Ballen Seide zu liefern hatten. In diesem Dokument gibt es einige Sätze, die sehr wichtig sind.

Erstens schwor der Song-Kaiser dem Kaiser der Großen Khitan, „Glaubwürdigkeit“ zu bewahren und „Bündnistreue“ zu garantieren. Zweitens gab es zwei Sätze in diesem vertragsähnlichen Dokument, die besagten, dass die jeweiligen Grenztruppen der Reiche die Grenze bewachen sollten, um zu verhindern, dass die Bewohner der Song und der Liao auf das Gebiet des Nachbarlandes vordrangen. Drittens wurde vereinbart, dass beide Seiten die Vereinbarung als ewig gültig erachteten und auch die kommenden Generationen sich daran zu halten hätten.Footnote 1

Die Bedeutung dieses Ereignisses in der chinesischen Geschichte ist vielleicht noch nicht in seinem vollen Umfang erkannt. Es wird oft gesagt, dass der Aufstand von An Lushan ein Wendepunkt in der chinesischen Geschichte war, und ich stimme dieser Ansicht zu. Die zweihundertfünfzig Jahre zwischen dem Aufstand von An Lushan im Jahr 755 und dem Chanyuan-Bündnis im Jahr 1004 waren jedoch insgesamt ein Wendepunkt in der chinesischen Geschichte. Warum sage ich das? Ich habe einige unausgereifte Gedanken zu den Veränderungen in der chinesischen Geschichte vor und nach der Zeit des Chanyuan-Bündnisses, die ich hier anführen möchte.

Erstens: Warum kam es nach dieser Bündnisschließung zu einer Reihe von Ereignissen wie dem „Vorfall des Himmlischen Buches“ (im ersten Jahr der kaiserlichen Devise von Dazhong Xiangfu 大中祥符war eine gelbe Seidenrolle in der südlichen Ecke des linken Chengtian-Tores entdeckt worden), der „Kaiserlichen Zeremonie am Berg Taishan“ (das Himmlische Buch erschien erneut nördlich von Liquan am Taishan-Berg), dem „Besuch des Tempels Konfuzius, genannt König Wenxuan“ (Verleihung des Zusatztitels des „Weisen Heiligen Königs Wenxuan“), der „Kaiserlichen Opferzeremonie im Fenyin-Tempel“, der Verkündigung des „Tempelrituals für das Andenken an Konfuzius“ (im 3. Jahr von Dazhong Xiangfu) und der Niederschrift „Zur Verehrung des Konfuzianismus“ (im 5. Jahr von Dazhong Xiangfu)? Was für ein Denken wurde innerhalb der kulturellen Elite der Song ausgelöst? Wir können uns fragen, warum es nach dem Chanyuan-Bündnis so eilig war, diese Dinge zu tun. Und warum betonte Wang Qinruo王欽若, dass der einzige Weg, der Welt Ehrfurcht beizubringen und dem Ausland ein Vorbild zu geben der sei, die höchste Gottheit am Berg Taishan zu verehren?Footnote 2

Zweitens: Li Hang李沆, ein einflussreicher Beamter jener Zeit, prophezeite, dass der Kaiser in Friedenszeiten ein „prahlerisches Herz“ haben werde, um sich Vergnügen, Bauprojekten, Gottheiten, Gebetsritualen und Ähnlichem zu widmen. Er warnte den Kaiser davor, „Neuankömmlinge und Unternehmungsfreudige zu benutzen“ und „alle Berichte von Gewinn und Schaden sowohl aus China als auch aus dem Ausland zurückzuweisen“ und eine untätige Haltung einzunehmen.Footnote 3 Aber haben die Formel „Keine Furcht vor den drei Doktrinen“Footnote 4 und die verschiedenen Reformen, die darauf folgten, ihren Ursprung in dieser Zeit?

Drittens: Zu diesem Zeitpunkt nahm die Song-Dynastie Gestalt an, und infolgedessen begann die Song-Kultur, ihren eigenen Charakter zu entwickeln. Vor dem Hintergrund innerer und äußerer Probleme machte man eine Phase der vielfältigen politischen und kulturellen Blüte durch, verehrte den Konfuzianismus, lehnte den Buddhismus ab und betrieb Studien zu den „Frühlings- und Herbstannalen“ und den „Riten der Zhou“. Der selbstbestimmte politische Wandel, das Aufkommen der rationalen Wissenschaft und die Literatur jener Zeit besitzen alle eine besondere Charakteristik der Song-Dynastie.

Viertens: Kulturelle Nord-Süd-Verschiebung. Es gilt, darauf hinzuweisen, dass es ein Mann namens Wang Qinruo war, der für den dramatischen Zustand zur Zeit des Zhenzong-Kaisers sorgte. Der Kaiser Zhenzong war schon gewogen, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Premierminister Wang Dan 王旦erinnerte den Kaiser jedoch daran, dass seit dem Beginn der Song-Dynastie noch kein Südländer das Land regiert habe. Die Folge davon war, dass Wang Qinruo erst nach Wang Dans Tod eingesetzt wurde und sich über diese zehn Jahre zu spät erfolgende Betreuung mit einem hohen Amt kritisch äußerte.Footnote 5 Der Begriff „Südländer“ ist hier bemerkenswert, denn in der Vergangenheit durften Südländer nicht an der Macht sein. Zu Beginn der Song-Dynastie waren es die Nordländer, die an der Macht waren. Das änderte sich später. Abgesehen von Beamten wie Sima Guang司馬光, Fu Bi富弼, Han Qi 韓琦usw. kamen auch viele „Südländer“ an die Macht, etwa Ouyang Xiu歐陽修, Wang Anshi, Su Shi 蘇軾usw. Dies waren Entwicklungen, zu denen es nach dem Abschluss des Chanyuan-Bündnisses kam, als sich wieder die Möglichkeit bot, die Waffen niederzulegen und die Kultur zu pflegen. Markiert wurde damit eine Verschiebung des politischen Status des Nordens und des Südens, die Raum bot für Veränderungen der politischen Strategie und der kulturellen Ausrichtung. Hat dies etwas mit der späteren Geschichte zu tun?

Das Wichtigste ist natürlich die Veränderung des „Hu-Han-Problems“, d. h. das Problem zwischen den fremden „Barbaren“ aus dem Norden (Hu) und der mehrheitlich der Han-Volksgruppe zuzurechnenden Bevölkerung Chinas. Meiner Ansicht nach war das Hu-Han-Problem ein interner Konflikt während der Tang-Dynastie, als die Tujue 突厥 (ein archaisches Turkvolk), Tubo 吐蕃 (archaische Tibeter) und Huihe 回紇 (archaische Uiguren) auftauchten, die Perser und Inder kamen und die Sogden 粟特und Shatuo 沙陀 überall präsent waren. China wurde zu einer Kulturgemeinschaft, in der sich das Hu-Fremde und das Han-Eigene miteinander vermischten. Es entstand ein großer kultureller Komplex, in dem nicht mehr zwischen „mir“ und „dir“ unterschieden wurde. In der Zeit von Song-Kaiser Zhenzong trennte aber das Chanyuan-Bündnis die Hu und die Han, d. h. die Song und die Khitan. Das Hu-Han-Problem innerhalb Chinas wurde gelöst, aber das Hu-Han-Problem wurde zu einem externen Problem zwischen „uns“ und „ihnen“, zwischen den Chinesen und den Barbaren.

Der im Text des Chanyuan-Bündnisses geleistete Schwur ist außerordentlich wichtig, ja, man kann sogar sagen, dass es sich um einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte Chinas handelt, ähnlich wie die Umstände des Aufstandes von An Lushan in der Tang-Dynastie. Was versteht man unter einem Imperium? Vereinfacht ausgedrückt ist damit ein riesiges Territorium mit einer großen Anzahl von Völkern gemeint, das von einem Herrscher kontrolliert wird und keine klaren Grenzen hat. Während der Tang-Dynastie hielt sich Kaiser Taizong für den „Himmlischen Khan“ und glaubte, er könne die ganze Welt ohne Schwierigkeiten beherrschen. Aber die Song-Dynastie war nicht so. Der Song-Kaiser meinte zwar auch noch, er könne einfach „keine anderen neben seinem eigenen kaiserlichen Ruhelager dulden“ und es stehe ihm zu, als leuchtender Herrscher den zehntausend Ländern vorzustehen. Doch war es im Falle des Song-Herrschers letzten Endes so, wie einst schon Qian Zhongshu 錢鍾書 sagte, dass das prächtige kaiserliche Schlafgemach gegen ein bescheidenes Feldlager ausgetauscht werden musste, denn die Macht des Reiches war geschwunden und das von der Song-Dynastie beherrschte Territorium im Norden wie im Süden begann zu schrumpfen. Im Zuge der Unterzeichnung des Chanyuan-Abkommens bildete sich allmählich eine einzige Han-chinesische Nation heraus, die in Bezug auf Ethnie, Territorium, Kultur und Identität klar definiert war.

2 „China“ zur Zeit der Song-Dynastie: Der territoriale Rückzug des Imperiums und die Anfänge eines begrenzten Staates

Was ist ein „Reich/Imperium“ und was ist ein „Staat“? Das ist ein schwieriges Problem. Professor Mark C. Elliott hat bei einem Vortrag an der Fudan-Universität in Shanghai über das „traditionelle China als Imperium“ gesprochen. Er analysierte das Konzept des Imperiums und die chinesische Geschichte und sagte, dass nur die Qing-Dynastie als Imperium anzusehen sei. Ist diese Aussage richtig? Lassen wir das für den Moment beiseite und lassen wir die Geschichte Revue passieren.

Ich möchte einfach sagen, dass China als ein Reich mit kultureller Kontinuität und politischer Homogenität im Allgemeinen bereits vor mehr als zweitausend Jahren gegründet wurde. Man spricht oft von dem „Modus des Kaisers Qin Shihuangdi und des Kaisers Han Wudi“, wenn es um Chinas Herrschaftsmodell geht. Es stimmt, dass sich in ihrer Zeit allmählich ein China herausbildete. Folgendes war gemeint, wenn in den Abschnitten zu Qin Shihuangdi und den Biographien wohlhabender Kaufleute in den Historischen Aufzeichnungen (Shiji 史記) davon die Rede war, dass mit dem Aufblühen der Han die Gebiete innerhalb der Meere vereint seien: im Westen die Ausdehnung bis nach Guanzhong, Bashu und Tianshui, im Süden bis nach Panyu und Dan’er, im Norden bis nach Longmen Jieshi, Liaodong und Yan Zhuo und im Osten bis nach Hai Dai, Jiangsu und Zhejiang.Footnote 6 Obwohl es in der folgenden Zeit des chinesischen Mittelalters zu Kriegen und Spaltungen kam und sich verschiedene ethnische Gruppen vermischten und die Anführer der Volksgruppen einander abwechselten, blieb China bis zu den Dynastien Sui und Tang ein Großreich mit weitreichendem Einfluss auf Ostasien und kontrollierte die verschiedenen ethnischen Gruppen in der Region.

Was waren die Merkmale des Reiches China im Mittelalter? Ich denke, es gibt mehrere Punkte. Erstens: Trotz der häufig wechselnden Grenzen erwies sich die Zentralregion als relativ stabil und bildete einen politischen, ethnischen und kulturellen Raum mit grundlegenden Grenzen, die auch eine historische Dimension widerspiegelten.

Zweitens: Obwohl es „Eroberungsdynastien“ oder Perioden „fremder Herrschaft“ gab (wie die Nördliche und die Südliche Dynastie und die Fünf Dynastien), fremdkulturelle Völker eindrangen und es zu Überlagerungen kam, konnte sich die Han-dominierte Kultur weiter festigen und Grenzen setzen, sodass die Han-dominierten kulturellen Traditionen immer bestehen blieben, eine klare kulturelle Identität bildeten und ein kultureller Mainstream entstand, der eine Art von Gemeinschaft aufkommen ließ.

Drittens: Unabhängig davon, welche Dynastien gegründet wurden, identifizierten sie sich alle als „chinesisch“ und banden die Legitimität der Dynastie in die traditionelle chinesische Vorstellungswelt ein (z. B. die fünf Elemente, das Xia-Kalendersystem, die Farbe der Kleidung). In chinesischen Geschichtstexten wie den Vierundzwanzig Dynastiegeschichten 二十四史, dem Tongjian 通鑑 oder dem Shitong 十通 wurde diese kontinuierliche Vorstellung vom Staat weiter kulturell verstärkt.

Viertens: Das überlieferte imaginäre Konzept von tianxia 天下 („alles unter dem Himmel“) mit China als dem Zentrum und die „ethische Ordnung“, die durch Rituale und Kleidung aufrechterhalten wurde, verstärkten auch das Gefühl des „Staates“ in den Köpfen der chinesischen Herrscher, Beamten, Intellektuellen und weiten Teilen der Bevölkerung.

Warum betrachte ich China als ein großes Reich/Imperium? Es hat damit zu tun, dass es in dem Jahrtausend zwischen Han und Tang in der allgemeinen Vorstellungswelt nicht viel von einem „ausländischen“ Bewusstsein oder einer „internationalen“ Ordnung gab. Das Territorium dehnte sich aus und die verschiedenen Völker waren sehr komplex. Aber das war alles „China“, auch wenn es in den umliegenden Gebieten Xiongnu, Xianbei鮮卑, Tujue, Tubo und Shatuo gab sowie alle möglichen fremden Mächte, die dem Reich etwas entgegensetzen konnten. Im Allgemeinen gab es in der Begriffswelt der Han- und der Tang-Zeit jedoch keine wirklichen „Feindstaaten“ auf Augenhöhe, geschweige denn „fremde ausländische Staaten“. Die Han- und die Tang-zeitliche Vorstellung von China schien „alles unter dem Himmel“ (tianxia) zu umfassen.Footnote 7

Doch in der Song-Dynastie, nach Abschluss des Chanyuan-Bündnisses, änderten sich die Beziehungen zwischen China und seinen Nachbarn erheblich, und das Song-China unterschied sich stark vom Tang-China. Die Chinesen jener Zeit spürten mehr und mehr, dass ein großes Reich nicht aufrechterhalten werden konnte und dass die Multiethnizität nicht zu kontrollieren war. Chao Yidao 晁以道 aus der Nördlichen Song-Dynastie sagte, dass die Barbaren ihren eigenen Aufstieg und Niedergang durchmachten, der nicht unbedingt mit dem Chinas übereinstimmte. Obwohl man sich in der Zeit der Nördlichen Song-Dynastie besonders gern mit der Geschichte der Tang-Dynastie und der Fünf Dynastien befasste, da die Tang-Dynastie ein unerreichbares Modell war, und obwohl L.S. Yang 楊聯陞vom „Wettbewerb zwischen den Dynastien“ sprach, so wusste doch eigentlich jeder in seinem Herzen, dass es unmöglich war, „alle alten Orte der Han und der Tang wiederherzustellen“. Solche Träume mochten nur Dichter wie Lu You 陸游 pflegen, in die Realität umzusetzen war das in keiner Weise.

Deshalb hieß es in der Song-Dynastie immer wieder, dass China und die Barbaren zwei vollkommen verschiedenen Kategorien zuzuordnen seien und dass beide nichts miteinander zu tun hatten. Natürlicherweise schrieb Fan Zuyu范祖禹, der Mann, der Sima Guang 司馬光bei der Niederschrift des Zizhi tongjian 資治通鑑 half, daher ein Buch über die Tang-Dynastie, in dem er feststellte, dass die Tang-Dynastie zu weit in ihrer Kontrolle gewesen sei und dass Chinesen und Fremde in Wirklichkeit „nicht dieselbe Sprache sprachen und unterschiedliche Vorlieben und Wünsche hatten“ und dass selbst im Falle von Eroberungen die natürlichen und humanitären Ressourcen, die man gewonnen habe, nicht viel hergäben. Aus reinem Größenwahn habe der Herrscher Li Shimin 李世民aus der Tang-Dynastie Yunnan im Süden belehnt. Es sei ihm nicht um ein von den Nachkommen zu bewahrendes Erbe gegangen, sondern um Befriedigung der eigenen Eitelkeit. Noch etwas früher, zwei Jahre vor dem Chanyuan-Abkommen im fünften Jahr der Herrschaft von Xianping 咸平 (1002), schrieb ein Mann namens Zhang Zhibai 張知白an den Song-Herrscher Zhenzong, dass die Rong- und Di-Barbaren zwar gierig und mörderisch seien, doch umgebe sie „ein Hauch von Himmel und Erde“, der ganz anders sei als in China. Hier kündigt sich die Anerkennung der Barbaren an, freilich ohne die Absicht, sie zu integrieren. Mit der Unterscheidung zwischen innen und außen, sagte er, die Hauptstadt ist das Yang, während der ganze von China geprägte Kulturraum das Yin sei, gleichzusetzen mit innen und außen. Man kann also sagen, dass sich China bereits ab der Song-Dynastie in einem multinationalen Umfeld befand und begann, sich zu einem „China“ mit begrenztem Territorium, einer einzigen ethnischen Gruppe und einer klaren Identität zusammenzuschließen.

Ich will erst einmal etwas zum Süden anmerken. Einer Anekdote zufolge heißt es, der Song-Kaiser Taizu habe einmal auf eine Landkarte geschaut, eine Jadeaxt in die Hand genommen und mit einer entsprechenden Geste gesagt, dass er sich nicht um das Gebiet von Yunnan südlich des Dadu-Flusses scheren würde. All das, was in der Tang-Dynastie ursprünglich das südchinesische Königreich Nanzhao war, wurde damit in der Song-Dynastie ein fremdes Land. Gibt es eine Grundlage für diese Legende? Es stimmt, dass Yunnan zu Beginn der Song-Dynastie nur in beiläufiger Form mit einem Königtum belehnt wurde. In Xin Yixians 辛怡顯 Zhidao Yunnan lu至道雲南錄heißt es in der offiziellen Belehnungsurkunde, dass dem Herrscher von Yunnan „die Kontrolle über die Grenze von Yaozhou und Xizhou im Süden des Dadu-Flusses und über die hundert Barbarenvölker sowie die Häuptlinge der 36 Dämonenstämme vor und hinter den Bergen“ übertragen wurde. Der Ärger mit den Fremden war damit vom Tisch. Außerdem erließ Kaiser Zhenzong ein kaiserliches Edikt (1009), um die Soldaten und Menschen an der Grenze davon abzuhalten, den Fluss Dadu zu überqueren und Unruhe zu stiften.Footnote 8

Dasselbe betrifft auch die im Süden lebenden Nanyue. Ursprünglich hatte der Song-Kaiser Taizong im Jahr 980 eine Armee unter der Führung von Hou Renbao 侯仁寶 ausgesandt, um die Unruhen des Ding-Clans in Jiaozhou zu besiegen und das Gebiet Nanyue in die Song-Dynastie einzugliedern.Footnote 9 In einem Wang Yucheng 王禹偁nachgesagten Appell zur Kapitulation wurde der Körper als Metapher verwendet: Die Barbaren, die China umgaben, seien wie Gliedmaßen an einem menschlichen Körper, und obwohl Nanyue nur ein Finger sei, wäre es problematisch, wenn damit etwas nicht in Ordnung wäre. China solle die Barbaren daher zu Chinesen machen, dazu müssten sie befriedet werden, und wenn sie der Zivilisation gehorchten, würde man ihnen vergeben, und wenn sie sich widersetzten, würde man sie angreifen.Footnote 10 Im folgenden Jahr (981) erlitt Hou Renbao jedoch bei der Eroberung von Jiaozhou eine Niederlage und wurde getötet.Footnote 11 Le Hoan 黎桓 aus Nanyue gründete die frühere Le-Dynastie (980–1009), indem er sich einerseits „Kaiser“ nannte und andererseits Boten zur Song-Dynastie schickte, um dort guten Willen zu demonstrieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte Song-Kaiser Taizong, der mit den Khitan im Norden beschäftigt war, keine andere Wahl, als die Unabhängigkeit von Nanyue und die Tatsache, dass Le sich als Herrscher ausgab, anzuerkennen.Footnote 12 Obwohl die Le-Dynastie nach nur dreißig Jahren von Ly Cong Uan 李公蘊 gestürzt wurde, wurde die Unabhängigkeit von Nanyue zur Tatsache. Im Jahr 1164 wurde Ly Thien To 李天祚 als Herrscher von Annam anerkannt, und „Annam“ wurde der Name des Landes.Footnote 13

Zum Norden: Dort wollte Song-Kaiser Taizong gegen Youzhou kämpfen, um die ehemaligen Ländereien der Han und Tang zurückzuerobern, aber er verlor viele Schlachten, sodass er die Pläne fallen lassen musste. Einige Leute waren sich dessen schon früh bewusst. Bereits 999, einige Jahre vor dem Chanyuan-Bündnis, hatte ein Mann namens Zhu Taifu 朱台符 gesagt, dass die Gebiete im Norden nicht in eine Abhängigkeit von China zu bringen seien, und er räumte ein, dass die Barbaren „wirklich die großen Feinde Chinas“Footnote 14 seien, und schlug vor, die frühere Allianz mit den Khitan einfach wiederherzustellen.

Nach Abschluss des Chanyuan-Bündnisses im 11. Jahrhundert wurde der Song-Dynastie klar, dass sie ein derart großes Gebiet und so viele Völker nicht kontrollieren konnte also ließ sie es einfach bleiben. Dank des Bündnisschwurs konnten die Song und die Khitan lange Zeit in Frieden leben. Im Jahr 1008 wollte Song-Kaiser Zhenzong beispielsweise zum Berg Taishan im Norden reisen, um dort Opfer zu bringen. Als der Kaiser aufbrach, wollte er, dass ihn die kaiserliche Brigade begleitete. Aus Angst, dass die Khitan misstrauisch werden könnten und Ärger machten, schickte er Sun Shi孫奭, um die Khitan zu informieren. Die Khitan ließen daraufhin wissen, dass ein Eid geleistet worden sei und es keine Probleme gäbe.Footnote 15 Im Jahr 1042 zur Zeit der Herrschaft von Kaiser Renzong erörterten Fu Bi und Fu Weizhong 符惟忠 die Grenzfrage und bekräftigten, dass gemäß dem Bündnisschwur keine Seite die andere angreifen dürfe und jeder sich an die abgemachten Grenzen halten müsse. Abgesehen vom Bündnisschwur gebe es nichts, was man sich noch wünschen könne, angestrebt werde Dauerhaftigkeit der Abmachungen und dass nicht gegen deren ursprünglichen Gedanken gehandelt werde. Auch die Khitan hielten sich an die Bedingungen des Schwurs und erklärten, dass man einander nicht angreifen und die Grenzen respektieren wolle.Footnote 16 Eingeschränkt wurden allerdings der Personenverkehr und der Warenaustausch. Menschen, Waren und Bücher aus China durften das Land nicht nach Belieben verlassen.Footnote 17

Eine Information ist besonders interessant. In einer der Song-zeitlichen Quellen ist festgehalten, dass Song-Kaiser Renzong im Jahr 1052 in einem Erlass die Anweisung gab, wonach von den Hofgelehrten die amtliche Korrespondenz zwischen den Nördlichen Song und den Liao-Khitan erörtert werden sollte. Im Allgemeinen sollte der Wortlaut des „staatlichen Dokuments“ den Willen des Staates wiedergeben. Die Liao-Khitan sprachen in den amtlichen Dokumenten von sich als der „Nördlichen Dynastie“ und nannten die Song „Südliche Dynastie“. Nach eingehender Diskussion kamen die Song-Beamten jedoch zu dem Schluss, dass es seit dem von Kaiser Zhenzong betriebenen Friedensschluss ein bestimmtes Muster für die amtlichen Dokumente gebe, das nicht leichtfertig missachtet werden sollte. In ihren Schreiben an die Liao sprachen sie daher wie gewohnt von den „Khitan“. Dies deutet darauf hin, dass in dem Land, das aus der Han- und der Tang-Dynastie hervorgegangen war, ein Wandel von „einem China, jedes mit eigener Bezeichnung“ (nämlich der Südlichen und der Nördlichen Dynastie) zu „jeweils ein Staat diesseits und jenseits der Grenze“ stattgefunden hatte, was erforderte, dass jeweils Bezeichnungen wie „Große Song“ und „Große Khitan“ verwendet wurden.Footnote 18

Diese neue Art von internationalen Beziehungen kam über einen Zeitraum von etwa vierzig bis fünfzig Jahren zustande, vom frühen elften Jahrhundert, als das Chanyuan-Abkommen unterzeichnet wurde (1004), bis zur Regierungszeit von Kaiser Renzong in den 1040er-Jahren. Im Gegensatz zur Tang-Dynastie konnte man in der Song-Dynastie nicht leugnen, dass die Khitan sehr stark waren. In einem Traktat von 1043, das sich mit Fragen der Grenzsicherung befasste, wies Han Qi 韓琦 dem Kaiser gegenüber darauf hin, dass die Khitan an vielen Orten in der Wüste, im Osten von Liaoning und in ganz Nordchina siedelten und lange Zeit über zahlreichen Nachbarstaaten zu Diensten gewesen waren. Dies habe sie stärker gemacht, sodass sie sich seit mehr als hundert Jahren auch in der Lage sahen, gegen das Kernchina zu kämpfen. Auch kulturell hätten sie sich weiterentwickelt. Han hob weiterhin hervor, dass sich die Khitan von den Xiongnu der Han-Dynastie, den Xianbei des Mittelalters und den Tujue der Tang-Dynastie auch insofern unterschieden, als dass jene fremden Barbarenvölker sich ihres Barbarisch-Seins bewusst waren und andere Vorlieben pflegten als in China.Footnote 19

Zum Westen: Der „Westen“, worunter einst Gegenden in den heutigen Provinzen Gansu und Ningxia verstanden wurden, galt der traditionellen Einschätzung durch China zufolge als Wüstenei und außerhalb des chinesischen Kulturraums gelegen.Footnote 20 Obwohl die Song-Dynastie schon früh den Ehrgeiz hatte, den westlichen Teil des Landes zu erschließen, wurde dieses Vorhaben bald wieder aufgegeben. Im dritten Jahr der Herrschaft von Kaiser Taizong (997) kam es am Hofe der Song zu einer Debatte über die Frage, wie wichtig die vorgenannten Gebiete im Westen waren: Während die eine Seite in den Gebieten eine für China wichtige Region ausmachte und auf die Funktion als „Bottleneck“ hinwies, plädierte die andere Seite dafür, die Gegend aufzugeben. Im Jahr 1000 schlug der berühmte Dichter Yang Yi 楊億 ebenfalls vor, das Gebiet im heutigen Ningxia aufzugeben: Die Herrschaft über das Gebiet aufrechtzuerhalten bringe mehr Schaden als Nutzen. Er fügte hinzu, man solle nicht immer denken, dass die Aufgabe von Territorium ein Machtverlust sei und eine Schmach für das Reich sei.Footnote 21

In den ersten Jahrzehnten der Song-Dynastie befanden sich die Nördlichen Song und die Westlichen Xia abwechselnd im Krieg und im Frieden miteinander. Im Jahr 1045 schloss die Song-Dynastie schließlich eine Übereinkunft mit den Westlichen Xia, die dieselben Worte enthielt wie der Song-Liao-Schwur. Von Amts wegen kam seitens der Song außerdem die Anweisung, dass Beamte und Grenzwächter auf dem Gebiet diesseits der eigenen Grenzen zu bleiben hätten und das Gebiet der Xia nicht ohne Erlaubnis betreten sollten. Untersagt wurde außerdem, Fremde von jenseits der Grenze zu empfangen, um zu vermeiden, dass es zu Ärgernissen käme.Footnote 22 Es sollte bis 1068 dauern, dass ein Militärbeamter namens Chong E 种諤 sich einen Namen machen wollte und seine Truppen über die Grenze führte, wo er den lokalen Adel in der Gegend von Hengshan mobilisierte, um die Stammesangehörigen dazu zu bringen, sich wieder der Song-Dynastie anzuschließen. Infolgedessen kritisierten die berühmten Song-Beamten wie Zheng Xie鄭獬, Liu Shu 劉述 und Yang Hui 楊繪 solche Aktionen und bemängelten, dass China die Barbaren mit Glaubwürdigkeit und Rechtschaffenheit befriedet und die Grenzbeamten verpflichtet habe, keinen Ärger zu verursachen. Doch sei die Tinte auf dem kaiserlichen Edikt kaum trocken gewesen, da habe man sie schon wieder ihres Landes beraubt. Man drohe, auf diese Weise Glaubwürdigkeit einzubüßen, der Bruch eines Abkommen sei schädlich für das Reich und wer die Barbarenstämme täusche, beschwöre Konflikte an der Grenze herauf.Footnote 23 Diese Ansicht wurde von Sima Guang, Fu Bi und anderen geteilt.

Meines Erachtens hatte Song-China daher bereits ein anfängliches Gefühl des „Staates“ entwickelt, das dem der Neuzeit in Bezug auf sein internationales Umfeld, seine territorialen Grenzen, seinen Handel und seine Wirtschaft sowie seine nationale Identität ähnelte. Folgende Gründe lassen sich anführen:

Erstens: Mit der aufeinander folgenden Herrschaft der Khitan, der Westlichen Xia, der Jin und der Mongolen hatte sich ein Verständnis für wechselseitige „Feindstaaten“ entwickelt. In der offiziellen Geschichte der Song-Dynastie unterschied man zum ersten Mal zwischen den Einträgen zum „Ausland“ und zu den „Barbaren“. Dies deutet darauf hin, dass es bereits einen „internationalen Raum“ gab, in dem zwischen innen und außen unterschieden wurde.

Zweitens: Mit dem Konzept der „Grenzen“, wie es in den o.g. Bemerkungen zur Stationierung von Truppen, der Bewachung und der Verhinderung von Übergriffen zum Ausdruck kam, wird ein klares politisches Bewusstsein für Grenzen und den Begriff des Territoriums sichtbar.Footnote 24

Drittens: Das Aufkommen von „Grenzmärkten“ und des Amtes für das internationale Schiff- und Seefahrtswesen zeigt, dass die Wirtschaft in nationalen Grenzen operierte. Die Beschränkungen für die Ein- und Ausfuhr von Büchern zeigen, dass es auch in der Kultur nationale Grenzen gab.

Viertens: Das berühmte Konzept von guoshi 國是 („Staatskurs“) aus der Song-Dynastie, die Ablehnung von Fremden und anderen Kulturen und die Stärkung der einheimischen Kulturen haben den Staat und seine Identität in der Neuzeit allmählich geprägt.

Zhang Guangda 張廣達 verglich das Staatsbewusstsein der Khitan mit dem der Song auf die folgende Weise: „Indem die Song-Dynastie das Gebiet Yunnans jenseits des Dadu-Flusses aktiv aufgab und sich von den westlichen Regionen verabschiedete, die westliche Grenze nach Qinzhou (Tianshui, südöstlich von Gansu) zurücknahm und die westlichen Regionen daraufhin begannen, unter muslimischen Einfluss zu kommen, machte sie deutlich, dass (…) Zhao Kuangyin 趙匡胤 eine konsolidierte Dynastie schaffen wollte, die ihre Grenzen selbst definiert hatte“. (Zhang 2008, S. 18) Jeder, der ein Grundwissen über Geschichte hat, weiß, dass diese Zeit nicht mit der Vergangenheit vergleichbar ist.

Warum stimmen viele Wissenschaftler in der Gegenwart der „Theorie des Tang-Song-Wandels“ zu, die besagt, dass die Tang-Dynastie die traditionelle Ära und die Song-Dynastie die neuzeitliche Ära Chinas war? Nicht nur Konan Naitō 內藤湖南 und Ichisada Miyazaki 宮崎市定 stellten diese Behauptung auf, sondern auch chinesische Gelehrte wie Fu Sinian傅斯年, Chen Yinque陳寅恪, Qian Mu 錢穆 und Fu Lecheng 傅樂成 vertraten ähnliche Ansichten. Die Song-Dynastie wurde zur „Neuzeit“, weil neben dem Aufstieg der Städte und Bürger, dem Niedergang der Aristokratie und der Herausbildung der kaiserlichen Diktatur, der Beamtenprüfungen, der Gentry, der Dorfgesellschaft und den stilistischen Veränderungen in Literatur und Kunst auch der „Staat“ selbst ein Symbol der sogenannten „Neuzeit“ war. In diesem Sinne betone ich, dass die Song-Dynastie die wichtigste Zeit ist, in der sich das „chinesische“ Bewusstsein herausbildete.

Dies war eine wichtige Veränderung, und obwohl das traditionelle chinesische Konzept der Unterscheidung zwischen Chinesen und Barbaren und des Tributsystems weiter zu bestehen schien, hatte es sich in Wirklichkeit erheblich verändert.

Erstens fand konzeptionell eine Verlagerung von der tatsächlichen Strategie zur imaginären Ordnung statt, von der realen institutionellen Vormachtstellung zur Selbstgefälligkeit in einer imaginären Welt. Zweitens verwandelte sich politisch die alte arrogante dynastische Haltung in eine echte diplomatische Strategie der Gegenseitigkeit. Drittens fand ideologisch ein Wandel des Weltbildes der Intellektuellen von „alles unter dem Himmel“ (tianxia) und von China und den „Barbaren in den vier Himmelsrichtungen“ statt. Der Tianxia-Universalismus wurde von einem Nationalismus der Selbstimagination abgelöst.

3 Die Dynastien Yuan, Ming und Qing: Das dreifache Dilemma von „China“ in historischer Perspektive

Hätte China diesen Weg des Wandels weiterhin beschritten, wäre es heute vielleicht nicht dasselbe, und die problematischen historischen und praktischen Probleme, die ich eingangs erwähnte, wären vielleicht nicht dieselben. Obwohl Historiker oft gerne darüber grübeln „was wäre, wenn Geschichte so gewesen wäre“, fällt es ihnen nicht leicht zu sagen, „wie die Geschichte hätte sein können“.

Zu Beginn sagte ich, dass, wenn – und ich sage nur „wenn“ – die Geschichte der Song-Dynastie konsistent gewesen wäre, ohne die anschließende territoriale Expansion der mongolischen Yuan- und der mandschurischen Qing-Dynastie, die Spannungen und Angststörungen, die wir heute in Bezug auf „Nation“, „Territorium“, „Religion“, „Staat“ und „Identität“ haben, vielleicht nicht dieselben wären. Aber es gibt keine Möglichkeit, sich dieses „was wäre wenn“ vorzustellen, denn die Geschichte Chinas nach der Song-Dynastie ist sehr seltsam und unterscheidet sich von der Europas.

Nach der Song-Dynastie, als die Han-chinesische Nation Gestalt annahm, erlebte „China“ große Veränderungen, die weitere Unruhen mit sich brachten: die mongolische Yuan- und die mandschurische Qing-Dynastie, zwei Perioden der „Fremdherrschaft“, aus denen große Reiche hervorgingen, und die Ming-Dynastie in der Mitte, als der Westen seinen Einfluss auch im Osten auszubreiten begann. Auf diese Weise wurde China von den Yuan bis zu den Ming in einen größeren internationalen Kontext hineingezogen und geriet in ein ganz besonderes dreifaches Dilemma, das „China“ als Nation daran gehindert hat, das „innere“ und „äußere“ Anerkennungs- und Identitätsproblem zu lösen. Hier sind viele der Probleme des modernen Chinas zu suchen, die es möglicherweise auch in Zukunft geben wird. Um welches dreifaches Dilemma handelt es sich dabei?

Das erste Dilemma war, dass nach der Song-Dynastie und während der mongolischen Yuan-Zeit die Nachbarländer (einschließlich Japan, Korea und Annam) nach und nach Tendenzen einer „Selbstbezogenheit“ entwickelten und sich eigene Identitäten herauszubilden begannen. Da China nicht mehr die kulturelle Anziehungskraft und Ausstrahlung der Han- und Tang-Dynastien besaß, waren diese Länder nicht mehr bereit, sich zumindest kulturell an China zu binden, und sie waren auch nicht bereit, politisch zuzugeben, dass „China“ im Norden, Westen, Osten und Süden von „Barbaren“ umgeben war.

Zum Beispiel Japan: Obwohl seit den Dynastien Sui und Tang ein Gefühl der Gleichwertigkeit mit China bestand,Footnote 25 begann die wirkliche politische, wirtschaftliche und kulturelle „Selbstbezogenheit“ Japans erst, als die Armeen der Allianz von Mongolen, Jiangnan und Koryo Japan während der mongolischen Yuan-Periode zweimal angriffen (1274, 1281) und durch den sogenannten „Göttlichen Wind“ (kamikaze) besiegt wurden.

Einerseits errichtete die Mongolei ein großes Reich in Europa und Asien und führte „China“ in die „Welt“, andererseits förderten ihre Herrschaft und ihr Zusammenbruch die Unabhängigkeit verschiedener Völker und Nationen. Laut Katsuro Hara 原勝郎, der die japanische Geschichte erforscht, und Konan Naitō, der die chinesische Geschichte erforscht, ist die „mongolische Invasion“ (Mōko-shūrai) oder „Yuan-Invasion“ (Genkō) mit den beiden Schlachten von Bun‘ei und Kōan wichtig, weil Japan von da an die Rolle einer „göttlichen Nation“ übernahm und bewusst seine eigene Kultur entwickelte und eine sogenannte japanische „Hua-Yi-Ordnung“ („China-Barbaren-Ordnung“) bildete, die sich nicht der sinozentrischen „Hua-Yi-Ordnung“ unterordnete. Dieses Konzept setzte sich in Japan während der Namboku-chō-Zeit (Zeit der Nord- und Südhöfe, 1336–1392) fort. In der Zeit des Südlichen Hofes, als der Tenno Go-Uda 後宇多天皇 (1267–1324) und der Tenno Go-Daigo 後醍醐天皇 (1288–1339) das neue Zen und Neuerungen mittels der Wiederbelebung der Vergangenheit förderten und Chikafusa Kitabatake 北畠親房 (1293–1354) die äußerst einflussreiche Chronik der Götter und Herrscher (Jinnō-shōtō-ki, 神皇正統記) verfasste, das Japans Bewusstsein für politische Unabhängigkeit und kulturelles Selbstbewusstsein schärfte, entwickelte sich allmählich eine Enttäuschung gegenüber China, der ursprünglichen Quelle seiner Kultur. Es entstand ein Gefühl der Rivalität.

In den ersten Jahren der Ming-Dynastie schrieb Prinz Kaneyoshi 懷良 (1329–1383) in einem Brief an den Ming-Kaiser Taizu: „Die Welt unter dem Himmel umfasst mehr als die Welt eines einzelnen Mannes. Ihr mögt sehr mächtig sein, doch gebt Ihr Euch immer noch nicht zufrieden mit dem, was Ihr habt und trachtet nach Zerstörung. Solltet Ihr uns angreifen, werdet Ihr auf den Widerstand unserer Truppen stoßen. Wir werden uns keinesfalls vor Euch in den Staub werfen und zu Euren Vasallen werden.“ Das Gefühl der Ebenbürtigkeit und der Konfrontation zwischen Japan und China war bereits sehr ausgeprägt.Footnote 26 Trotz der 50 oder 60 Jahre andauernden Unruhen in der Namboku-chō-Zeit vereinigte Yoshimitsu Ashikaga足利義滿 1392 nach der Muromachi-Periode 室町時代 (1338–1573) den Norden und den Süden und versuchte zu Beginn des 15. Jahrhunderts (1401, dem dritten Jahr der Regierungszeit des zweiten Ming-Kaisers), das mit dem Kampf zwischen dem zweiten Ming-Kaiser und seinem Herausforderer zusammenfiel, bescheidener aufzutreten und in Tributbeziehungen mit China einzutreten, aber die drei Militärregime Ashikaga足利, Toyotomi 豐臣 und Tokugawa 德川 waren größtenteils nicht mit dem Tributystem einverstanden, das Chinas Zentrumsrolle betonte.

Oder nehmen wir Korea: Es war just zur Zeit, dass die Mongolen ihre Herrschaft über Goryeo ausdehnten, dass sich dort die nationale Identität Goryeos herauszubilden und eine eigene historische Genealogie und Symbole zu entwickeln begann. Der berühmte japanische Gelehrte für koreanische Geschichte, Ryū Imanishi 今西龍, verfasste eine Studie zu Tangun 檀君, in der er darauf hinwies, dass Tangun, der Ahnengott Koreas, der an die Stelle des aus China stammenden Gija 箕子 trat, ursprünglich nicht der Ahnenmythos der gesamten koreanischen Nation war. Vielmehr habe es sich nur um die Legende des lokalen Unsterblichen Wanggeom 王儉 aus der Gegend um Pjöngjang und die Widerspiegelung der dort verwendeten Schamanenrituale gehandelt. Während der Krise der mongolischen Yuan-Invasion wurden die Götter allmählich zu den Patriarchen der Nation, um die Menschen zu inspirieren, zu mobilisieren und zu identifizieren.Footnote 27

Nach dem Zusammenbruch der mongolischen Yuan veränderten sich die ostasiatischen Länder nach und nach: Die von Yi Seong-gye 李成桂 gegründete Yi-Dynastie löste die Goryeo-Dynastie ab, und obwohl sie im Tributkreis der Ming-Dynastie blieb, war eine wachsende Tendenz zur kulturellen Unabhängigkeit zu erkennen. Nach der Herrschaft der mongolischen Yuan hatten die Menschen auch das Gefühl, dass China nicht die einzige Quelle für die die Wahrheit sein könnte und dass es kulturell nicht den Maßstab setzte. Im Gegenteil, man hielt den eigenen Konfuzianismus für reiner und verfolgte daher eine Politik der „Ehrung des Konfuzianismus und der Unterdrückung des Buddhismus“ noch energischer als in China und setzte sich auch mithilfe der Staatsmacht für eine strenge Moral in der Gesellschaft ein. So etwa bei der offiziellen Verkündung der Illustrierten Exemplare der drei Bindungen (Samgang haengsilto, 三綱行實圖) ab 1434. Die Maßnahmen hatten eine tiefgreifende Wirkung auf die Förderung von „Loyalität (Minister), kindlicher Treue (Söhne) und Märtyrertum (Töchter)“.

China blieb gegenüber Korea wachsam: Im 25. Jahr der Regierungszeit Hongwu (1392) warnte der Ming-Kaiser die Gesandten Koreas davor, ein unabhängiges Königreich zu gründen, indem er sagte, dass es keine zwei Sonnen am Himmel und keine zwei Herren im Volk gebe. Politische Anerkennung war jedoch nicht gleichbedeutend mit kultureller Unterwerfung. 1393 ließ der Gründerahn der Yi-Dynastie die Herrschaften seiner Umgebung wissen, der Ming-Kaiser habe geglaubt, die Welt würde ihm zu Füßen liegen, da er über eine große Armee verfüge, eine harte Regierung führe und strenge Strafen verhänge. Doch habe er zu viele Menschen getötet, daher stünden ihm jetzt kaum noch ausreichend Generäle und Truppen zur Verfügung. Die Drohung des Ming-Herrschers, Korea unter erfundenen Anschuldigungen zu bestrafen, sei ein Einschüchterungsversuch einem Kind gegenüber. Der koreanische Herrscher war offensichtlich von den Ming angewidert, doch zwang ihn der Größenunterschied zwischen den Ländern, so zu tun, als würde er sich unterordnen. Als er gefragt wurde, was er tun werde, sagte er einfach: „Ich werde demütig und respektvoll sein“. (Wu 1980, Bd. 1, S. 115) Die Yi-Dynastie vertrat nämlich nicht nur ihren eigenen politischen Standpunkt, sondern begann auch allmählich einen Prozess der kulturellen Selbstbezogenheit, der interessanterweise auf die neokonfuzianischen Lehren des chinesischen Philosophen Zhu Xi 朱熹 zurückging.

Schauen wir uns an, was sich in einem weiteren Nachbarland Chinas – Annam – tat. Dort hatte man der mongolischen Yuan-Dynastie von Beginn an die Anerkennung verweigert. Weder den Song noch den Yuan war es gelungen, Annam zu unterwerfen. Nach der Eroberung von Yunnan versuchte Möngke Khan der Yuan im Jahr 1257, die Südlichen Song von Annam und Guangxi aus anzugreifen. Er schickte Uriyangqatai 兀良合台, um in Annam einzumarschieren, doch zwang ihn eine Niederlage, einen Kompromiss einzugehen. Nachdem Kublai Khan erster Kaiser der Yuan-Dynastie geworden war, fügte ihm die Tran陳-Dynastie drei Niederlagen bei (1282, 1284, 1287), sodass man sich 1294 darauf einigte, dass Annam den Yuan alle drei Jahre einmal Tribut zu leisten habe. In Wirklichkeit wurden kaum Gesandte ausgetauscht, die entsprechenden Zeremonien der Belehnung wurden bis zum Untergang der Yuan nie durchgeführt. Vielmehr hatte sich der Herrscher von Annam, Tran Hoang陳日烜, selbst zum Kaiser über sein Reich erklärt und mit der Ausrufung der Ära „Thieu Long“ 紹隆 zum Ausdruck gebracht, dass er sich rituell den Yuan nicht unterwerfen würde. Ähnlich verlief es dann nach der Ausrufung der Ming-Dynastie: Dort musste man anerkennen, dass „Berge und Gewässer die Länder voneinander trennten“. Obwohl der Yongle-Kaiser der Ming versuchte, Annam in die administrativen Verwaltungsstrukturen Chinas einzugliedern – es waren ähnliche Maßnahmen wie bei der späteren Reform „Ablösung der Häuptlinge durch Beamte“ –, scheiterte auch dies. Insbesondere nach der Gründung der Le黎-Dynastie im Jahr 1428, als man den Truppen der Ming eine weitere Niederlage bereitet hatte, verstärkte sich in Annam die Tendenz einer kulturellen Selbstbehauptung gegenüber China.

Im Allgemeinen werden das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung sehr stark sein, sobald ein Volk und eine Nation vereint sind. Nachdem sich in den Nachbarländern Chinas wie Annam, Korea und Japan allmählich ein „Selbstbewusstsein" herausgebildet hatte, begann man sich dort auch politisch abzusetzen und es kam kulturell eine Konkurrenz zu China auf. Dies führte zur Entstehung einer „internationalen Landschaft“, die sich stark von der sinozentrischen „ostasiatischen Landschaft“ der Han-, Tang- und Song-Dynastien unterschied, die auf dem Weltbild von tianxia („alles unter dem Himmel“) und der ritenbasierten Ordnung beruht hatte. China war angesichts dieser Entwicklungen gezwungen, die neuen politischen Gegebenheiten und die neuen kulturellen Muster allmählich zu akzeptieren. Hierbei handelte es sich um die erste Herausforderung, zu der es in der Umgebung Chinas in der Folge der mongolischen Yuan-Zeit kam.

Wenn China heute weiterhin in der Vorstellung und im Bewusstsein der Vergangenheit wie „himmlischer Dynastie“, „übergeordneten Reiches“ und „Tributsystem“ lebt, wird es Schwierigkeiten haben, seine Beziehungen zu seinen Nachbarländern zu gestalten, was zu verschiedenen territorialen Konflikten führen kann.

Das zweite Dilemma entstand aus dem Auftauchen der Mächte aus dem Westen zur Mitte der Ming-Dynastie in Ostasien. Im Jahr 1488 erreichte der Portugiese Bartholomäus Diaz (ca. 1450–1500) das Kap der Guten Hoffnung, 1492 entdeckte Christoph Kolumbus (1451–1506) mit spanischer Unterstützung Amerika, 1498 erreichte der Portugiese Vasco da Gama (1460–1524) Indien. Im Jahr 1521 umsegelte der Portugiese Ferdinand Magellan (1480–1521) die Welt und gelangte bis zu den Philippinen, womit die großen Seereisen begannen und die frühe Ära der Globalisierung eingeleitet wurde.

Im Jahr 1516 kam der Portugiese Rafael Perestrello mit einem Schiff in China an und leitete damit die westliche Expansion nach Osten ein. Zahlreiche Missionare kamen nach Ostasien und brachten den katholischen Glauben und die neuzeitliche europäische Wissenschaft mit. Das Ming-Reich, der erneut gegründete Han-zentrierte Staat, wurde in eine größere Weltordnung hineingezogen, womit die chinesische Geschichte in die Weltgeschichte integriert wurde und die Kultur Chinas sich der Herausforderung durch die europäische Zivilisation stellen musste. Es ging dabei nicht nur um den „Ritenstreit“ in der politischen Arena oder um die Frage der Bezeichnung Gottes in der Welt des Glaubens oder die Debatte um den Ahnenkult im säkularen Leben. In der Tat gab es unüberbrückbare Konflikte bei vielen Verständnisfragen: Himmel und Erde, Herrscher und Untergebene, Wahrheit (Tao) und Mittel zum Zweck, ja, man stritt in Ost und West sogar über die Frage, ob es vier oder fünf Elemente gebe. Es hieß, dass das Tao sich nicht veränderte, falls der Himmel unverändert blieb. Doch was war, wenn sich der „Himmel“ dann doch einmal veränderte, musste sich dann auch das Tao einem Wandel unterziehen?

Dieser historische Trend der „frühen Globalisierung“ verstärkte sich bis zum Ende der Qing-Dynastie, als der Westen mit „mächtigen Schiffen und Kanonen“ anrückte und alle möglichen ungleichen Verträge unterzeichnet werden mussten. Auf diese Weise wurde das Weltbild „alles unter dem Himmel“ nach und nach zu einem „internationalen“ Raum. Eine riesige geografische, historische und kulturelle Welt, mit der China in der Vergangenheit nicht viel zu tun hatte, trat in Erscheinung. Wessen System war also für diese Zeit geeignet? Wessen Werte passten zur Regelung der Dinge in der Welt, an welcher Ordnung sollte man sich orientieren? Sollte man bei Wesentlichem weiter den Traditionen Chinas verhaftet bleiben und sich bei Nützlichem am Westen orientieren, oder vielmehr umgekehrt? Dies war der Kern des zweiten Dilemmas, dem sich China ausgesetzt sah – die kulturelle und systemische Herausforderung, die durch eine andere Welt vorgetragen wurde.

Wenn China heute weiterhin an der Denkweise festhält, dass sich die Beziehungen innerhalb eines Tributsystems regeln ließen und sich sträubt, den „Anderen“ in Bezug auf Denken und Kultur zu akzeptieren, dann wird es zu Konflikten mit der neuen Weltordnung und den neuen Werten kommen.

Das dritte Dilemma – das größte von allen – waren die internen Probleme, die sich allmählich aus der Expansion des Qing-Reiches ergaben. Wie bereits erwähnt, hatte sich China zur Zeit der Song territorial auf dem Rückzug befunden, doch die chinesische Geschichte nahm viele Wendungen, als die Mongolen ein Großreich errichteten und den Han-Staat, der sich allmählich im Zentrum Chinas gebildet hatte, umformten und verrückten. Die Mongolen errichteten das Yuan-Reich in China und eroberten die Gebiete zurück, die ursprünglich während der Song-Dynastie bei ihrem Rückzug geräumt worden waren. In den geografischen Aufzeichnungen der Dynastiegeschichte der Yuan heißt es, dass die in der Tang-Dynastie nominell verwalteten Territorien Lingbei, Liaoyang und die Grenzgebiete von Gansu, Sichuan, Yunnan und Huguang mittlerweile alle eingegliedert und wie das Kernland steuer- und dienstpflichtig seien. Am offensichtlichsten war das im Falle Yunnans, das bereits während der Song-Dynastie „fremd“ geworden war und während der mongolischen Yuan-Zeit wiederum chinesisch wurde. In den Jahren 1934–1936 führte Tao Yunkui 陶雲逵 eine Untersuchung über die Volksgruppe der Moso 麼些 in Yunnan durch und wies in seiner Studie darauf hin, dass die Häuptlinge in Yunnan von der frühen Tang-Dynastie bis zum Ende der Song-Dynastie auf lokaler Ebene die politische Macht innehatten. Die Han-chinesische Administration habe nur nominell bestanden. Doch nachdem die Yuan schließlich Yunnan endgültig eingenommen hatten, sei die Macht der lokalen Häuptlinge verfallen. Die Yuan hätten den größten Beitrag zur Erschließung Yunnans geleistet, doch ob Yunnan ohne diesen Sturm zu China gehöre, sei tatsächlich eine Frage.Footnote 28 Andererseits verhielt es sich so, dass nach der Yuan-Dynastie die Macht der einheimischen Häuptlinge schwand, sodass diese Grenzgebiete und die fremden Volksgruppen in das chinesische Reich aufgenommen wurden.

Viele Menschen haben jedoch festgestellt, dass Yunnan während der Ming-Dynastie zwar innerhalb des chinesischen Territoriums verblieb, das eigentliche Territorium der Ming-Dynastie jedoch nur die fünfzehn Provinzen des chinesischen Kernlandes umfasste, wie etwa aus der Karte der Barbarenländer in den vier Himmelsrichtungen (Siyitu 四夷圖) hervorgeht. Damals gestand man sich ein, dass der Grenzort Jiuquan im Westen ein wichtiger Posten in China war und dass alles, was sich außerhalb des Jiayuguan-Passes befand, nicht mehr zum eigentlichen China gehörte. In diesem überwiegend von Han bewohnten Grenzgebiet spielten ethnische und regionale Fragen keine große Rolle. In der Qing-Dynastie war dies jedoch nicht mehr der Fall, denn:

Erstens: Bevor die Mandschuren auf das zentralchinesische Territorium vordrangen, unterwarfen die Späteren Jin im Jahr 1624 den mongolischen Stamm der Khorchin. Im Jahr 1635 wurden der mongolische Stamm der Chahar vernichtet und die mongolischen Acht Banner wurden gegründet; 1642 entstanden die Acht Banner der Han-Armee. Daher lässt sich durchaus sagen, dass, bevor die mandschurischen Späteren Jin weiter nach Zentralchina vordrangen, es auf ihrem Territorium bereits ein gemischtes Reich aus Mandschu, Mongolen und Han gab. Im Jahr 1644 riefen die Mandschuren dann das Reich der Qing-Dynastie aus. General Shi Lang 施琅 eroberte 1683 Penghu und Taiwan zurück. Das Qing-Reich besetzte damit das gesamte Territorium von der Ming-Dynastie und „China“, das zur Zeit der Ming noch vorwiegend von den Han dominiert wurde, wurde zu einem großen Reich, das die gesamte Mongolei, die Mandschurei und Han-China umfasste und damit weit größer war als das China der Ming.

Zweitens: Im Jahr 1688 erklärten die drei mongolischen Stämme der Chalcha (Tusiyetu Khan, Chechen Khan und Jasaktu Khan) im Norden der Wüste Gobi nach einer Invasion der Dzungaren ihre Unterwerfung gegenüber der Qing-Dynastie. Im 1690 unternahm der Kaiser Kangxi einen persönlichen Feldzug gegen die Truppen der Dzungaren. Zu dieser Zeit besetzten die Dzungaren im Westen ein Gebiet, zu dem das heutige Xinjiang, Tibet, Qinghai, das südliche Sichuan, das westliche Gansu und der Nordwesten der Inneren Mongolei gehören. Im Jahr 1696 errang Kangxi den Sieg über die Dzungaren, ihr Anführer Galdan beging Selbstmord. Damals wurden die gesamte Innere und Äußere Mongolei, Qinghai und andere Gebiete in das Territorium des Reiches eingegliedert.

Drittens: 1757 marschierte die Qing-Armee schließlich in Ili ein, 1759 in Kashgar/Kashi und Yarkand/Shache und befriedete schließlich die Dzungar-Mongolen und die Stämme im südlichen Tianshan-Gebirge. Mit dem Xinjiang der muslimischen Volksgruppen wurde China zu einem riesigen Reich, das Mandschu, Han, Mongolen und Muslime/Hui vereinte. Einige Leute sagen, dass 1759 das Jahr war, in dem Chinas Territorium seine größte Ausdehnung erreichte.

Viertens: Bereits zuvor, nämlich in der Zeit zwischen dem Beginn der Ming-Dynastie bis zur Yongzheng-Ära in den 1620-30er Jahren war die Reform der „Ablösung der Häuptlinge durch Beamte“ im Südwesten zu einem Abschluss gebracht worden. Die einst von den lokalen Häuptlingen der Miao und Yi im Südwesten beherrschten Gebiete wurden in das vom Zentralstaat kontrollierte Administrationssystem der Provinzen, Präfekturen, Kreise und Departements eingefügt. Damit war China zu einem gemeinsamen Reich der Mandschu, Mongolen, Han, Muslime/Hui, Miao und anderer Volksgruppen geworden.

Fünftens: Aufgrund gemeinsamer religiöser Wurzeln war Tibet schon immer eng mit der Mongolei verbunden. In der Yuan-Dynastie hatte Kublai Khan den tibetischen Mönch Phagspa damit beauftragt, eine neue Schrift für das gesamte Mongolische Reich zu entwickeln. Obwohl die Ming-Dynastie Tibet nicht besitzen konnte, herrschte weiterhin ein reger religiöser Austausch: Tsongkhapa etwa kam aus Xining nach Tibet, um die Gelbmützen-Schule zu gründen. Dies wurde in den letzten Jahren durch die Forschungen von Hoong Teik Toh 卓鴻澤 über den tibetischen Einfluss in der kaiserlichen Familie der Ming gut veranschaulicht. Die Qing-Dynastie mit ihren mandschurischen, mongolischen und später muslimischen/Hui Volksgruppen hatte eine noch engere Beziehung zu Tibet. Zu dieser Zeit vereinte die Gelbmützen-Schule die Mongolei und Tibet, aber politisch gesehen war es die Mongolei, die Qinghai und Tibet vereinigte. In der Zeit vom Beginn der Qing-Dynastie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Titel des Panchen und des Dalai Lama von den Kaisern in Peking verliehen. 1647 bekam der Panchen Lama den Titel Vajra Guru verliehen.1652 begab sich der Dalai nach Peking zur Audienz und Titelverleihung. Im Jahr 1728 richtete die Qing-Dynastie in Tibet ein Yamun-Amt 駐藏辦事大臣衙門 ein. Für die Audienzen des Panchen und des Dalai Lama errichtete die Qing-Dynastie die Acht Äußeren Tempel in Chengde nach dem Vorbild des Klosters Zhashilunbu/bkra-shis lhun-po. Als 1792 die Invasion der Gurkha (Nepalesen) zurückgeschlagen wurde, formulierte der Qing-Hof das Kaiserliche Edikt zur Regelung der inneren Angelegenheiten Tibets 欽定藏內善後章程 und richtete durch den entsandten Fuk‘anggan 福康安 einen Mechanismus zur Wahl des Dalai Lama ein. Damit wurde China zu einem Staat, der fünf Ethnien (Mandschu, Mongolen, Tibeter, Muslime/Hui und Han) bzw. sechs Ethnien (Mandschu, Mongolen, Tibeter, Muslime/Hui, Han und Miao) umfasste.

Im Jahr 1820 wurde eine neue Ausgabe des Werkes Yitongzhi 一統志 zur Reichseinheit angefertigt. Das Reich der Qing umfasste zu dieser Zeit neben den 18 Provinzen im Kernland auch drei Militärregionen im Nordosten sowie die Territorien der Mongolen, Tibeter, der Dzungar-Mongolen und der Muslime/Hui. Es handelte sich nicht mehr um eine einfache Deckungsgleichheit von Nation (Bevölkerungsmehrheit der Han) und Staat (dem chinesischen Staatsterritorium im ursprünglichen Sinne).

Obwohl ein riesiges Reich, das sich von der Insel Sachalin im Osten bis nach Shule in Xinjiang im Westen, vom Wulianghai/Uriankhai und dem Äußeren Khingan-Gebirge/Waixing‘anling im Norden bis zur Insel Hainan im Süden erstreckte, etwas war, worauf man stolz sein konnte, gab es ernsthafte interne Identitätsprobleme. Es wurden daher Versuche unternommen, die ursprüngliche Politik zu ändern und den Einheitsstaat zur Zeit der späten Qing-Dynastie zu stärken. Dazu gehörten die Einrichtung der Provinz Xinjiang in den 1880er Jahren, das Verbot der mandschurischen Abwanderung in die nordöstlichen Provinzen im Jahr 1900 und die Einrichtung der nordöstlichen drei Provinzen im Jahr 1907. Es wurde sogar geprüft, ob man aus Tibet eine Provinz machen könne. Inspektionsbeamte wurden in die Provinzen entsandt. In den Guangxu-Jahren wurde auch eine Reform vorgeschlagen, um einen „souveränen Staat“ zu errichten, aber der riesige Einheitsstaat, die multiethnischen Kulturen und die komplexen Identitätsfragen blieben gleichzeitig bestehen.

1911 brach die Xinhai-Revolution aus, worauf das Kaisertum durch die Republik abgelöste wurde. Obwohl die Revolutionäre wie Zhang Taiyan章太炎, Sun Yat-sen 孫中山 und Chen Tianhua 陳天華 anfangs die nationalrevolutionäre Losung „Vertreibung der Tataren und Wiederherstellung Chinas“ vertraten, um die Massen zu mobilisieren, musste die Revolution, die ursprünglich mit der Wiederherstellung des Han-Regimes durch „Ausschluss der Mandschu“ begonnen hatte, schließlich einen Kompromiss mit den Konservativen wie Liang Qichao 梁啟超 und Kang Youwei 康有為 eingehen, um deren Idee der „Staatsnation“ zu akzeptieren und die „Fünf-Volksgruppen/Nationalitäten-Republik“ anerkennen, wie sie im „kaiserlichen Abdankungsedikt“ des Qing-Kaisers angestrebt wurde. Niemand wollte sich des Verbrechens einer „Spaltung des Landes“ schuldig machen. Die Republik China und die Volksrepublik China, die das Erbe des Qing-Reiches übernommen haben, haben jedoch auch die komplexen ethnischen und regionalen Probleme des Qing-Reiches geerbt. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie ein nationaler Konsens und eine kulturelle Identität zwischen den Mandschu, den Mongolen, den Han, den Muslimen/Hui, den Tibetern und den Miao erreicht werden kann. Daraus ergibt sich das dritte Dilemma für „China“, nämlich die Frage, wie man mit dem Problem der nationalen Identität der verschiedenen Volksgruppen innerhalb des Landes umgehen soll.

Aus einer unbewusst angenommenen Han-zentrierten Perspektive heraus ist es für China unmöglich, sich mit internen ethnischen Fragen zu befassen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass viele ethnische Fragen sowohl religiöse Überzeugungen als auch extraterritoriale Aspekte betreffen.

Xu Zhuoyun 許倬雲 schreibt, dass das China der Song-Dynastie bereits ein „Staat unter vielen“ gewesen sei.Footnote 29 Allerdings war es in China nach der Song-Dynastie schwierig, zwischen „uns“ und den „Anderen“, „innen“ und „außen“ zu unterscheiden. Beides war sehr ineinander verwickelt und bereitete große Probleme. Das moderne China hat ein schwieriges Erbe angetreten, angefangen bei dem sich seit der mongolischen Yuan-Dynastie allmählich verändernden Verhältnis zur Peripherie über die staatliche Existenz in einem internationalen Umfeld in der Ming-Dynastie bis hin zur Schaffung eines im Inneren sehr komplexen Nationalstaates in der Qing-Dynastie. Daher betonte ich in meinem 2011 veröffentlichten Buch Zhai zi Zhongguo宅茲中國,Footnote 30 dass das historische „China“ ein veränderliches „China“ war. Wenn daher weiterhin in den Kategorien eines „Reiches unter dem Himmel“ gedacht werde, bliebe man auch weiterhin mit den historischen Problemen im Inneren, an der Peripherie und nach außen konfrontiert.

In diesem Sinne ist „China“ ein besonderer „Staat“, in dem sich etwas von einem traditionellen Reich/Imperium ebenso findet wie von einem modernen Staat. Das europäische Konzept des neuzeitlichen „Nationalstaates“ ist auf China möglicherweise nicht sehr zutreffend. Die praktischen Dilemmata dieses besonderen „Staates“ China müssen jedenfalls im Kontext der Geschichte verstanden werden.

4 Das Dilemma: Wie kann man die zwei Seiten von „China“ verstehen?

Was hat man also unter diesem „China“ zu verstehen? In der Vergangenheit wurden dazu mehrere Ansichten vertreten, die es wert sind, diskutiert zu werden.

Erstens: Einige japanische Gelehrte waren früh der Auffassung, dass „China keine Grenzen habe“, dass „China kein Staat sei“ und China in den Süden der Großen Mauer zurückkehren und eine reine Han-Nation werden sollte. Diese japanischen Gelehrten betrachteten das „Qing-Reich“ nicht mehr als „China“, sondern interpretierten das „China“ der Vergangenheit als eine Abfolge von verschiedenen „Dynastien“, wobei sie das neue Konzept des „Nationalstaats“ aufgriffen, das zu dieser Zeit in Europa populär war. Die vergangenen Dynastien seien nur traditionelle Imperien gewesen, und das eigentliche „China“ sollte sich mehrheitlich aus den Han zusammensetzen, die südlich der Großen Mauer und östlich von Tibet lebten. Die anderen Volksgruppen seien kulturell, politisch und ethnisch verschiedene Gemeinschaften, und die Mandschurei, Mongolei, Tibet und Korea seien als an der Peripherie, d. h. außerhalb Chinas liegend zu betrachten.

Dieses akademische Konzept hätte diskutiert werden können, aber im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden daraus eine ideologische Strömung und ein außenpolitisches Konzept. Zugrunde lag die Vorstellung kultureller und politischer Kreise in Japan, dass China das Kernland stärken und die Grenzgebiete in den vier Himmelsrichtungen aufgeben möge. Japan sollte dann mit den westlichen Mächten um die Kontrolle über Chinas Grenzgebiete konkurrieren. Aus diesem Motiv entstand in Japan das Gefühl, dass die Mandschurei, die Mongolei, das Xinjiang der Muslime/Hui, Tibet und Korea „unser Territorium“ sein könnten. Im Jahr 1923 vertrat der berühmte japanische Gelehrte Jinichi Yano 矢野仁一 die Auffassung, dass China nicht als „Nationalstaat“ bezeichnet werden könne und dass die Mandschurei, die Mongolei und Tibet keine chinesischen Gebiete seien.

Zweitens: Neigt die moderne Wissenschaft dazu, China – gemessen am europäischen Standardmodell eines „Nationalstaates“ – als ein kulturelles Gemeinwesen zu betrachten, d. h. als ein großes Reich (manche würden sagen, einen „Zivilisationsstaat“) ohne wesentliche politische Homogenität. Wenn China dann in diesem Zusammenhang verunglimpft wird, dann wird wie bei der vorstehend angeführten Auffassung davon ausgegangen, dass China sich nie von einem „Reich/Imperium“ in einen „Staat“ verwandelt hat, d. h., dass es seine moderne Umwandlung nicht vollzogen habe. Wird jedoch die positive Seite hervorgehoben, dann wird darin die Grundlage für einen „einzigartigen Weg“ gesehen, der über das universelle Gesetz hinausgeht. So sehen es Henry Kissinger in seinem On China und der Engländer Martin Jacques in When China Rules the World. Auch einige chinesische Wissenschaftler schließen sich diesem Urteil an, insbesondere wenn sie die Besonderheiten Chinas betonen wollen. Um die Inklusivität des Territoriums und der ethnischen Gruppen Chinas zu erklären, sagen viele Wissenschaftler seit langem, dass China mehr im „kulturellen“ als im „ethnischen/nationalen“ Sinn zu verstehen sei. Als Begründung wird dann angeführt, dass Konfuzius bereit gewesen war, bei den Stämmen der neun Barbaren zu leben, und dass die Barbaren und die Chinesen einander verwandeln konnten.

Drittens: Nach der Theorie der Postmoderne handelt es sich bei „China“ um eine Gemeinschaft, die keine Homogenität aufweist, sondern durch Vorstellung konstruiert wird. Die Kritik an der „Modernität“ in der postmodernen Geschichtstheorie beinhaltet auch eine Infragestellung der Legitimität des modernen Nationalstaates seit der Neuzeit. Insbesondere seit dem Aufkommen der Theorie der „imagined community“ hat die Infragestellung der historischen Perspektive des modernen Nationalstaats das Missverständnis des „Staates“ in der Geschichtswissenschaft aufgedeckt und darauf hingewiesen, dass wir oft daran gewöhnt sind, uns den antiken Staat im Sinne des modernen Staates vorzustellen, ihn zu verstehen und zu beschreiben. Im Gegensatz dazu besaßen aber in der Geschichte Staaten oft etwas Fließendes, ihre Territorien waren mal größer und mal kleiner, und ihre Völker schlossen sich mal zu einer Einheit zusammen, mal trennten sie sich.

Die Überlegungen und Argumente der postmodernen Geschichtswissenschaft zum modernen Nationalstaat stammen jedoch zum einen aus den kolonialen Erfahrungen von Ländern wie Indien, Pakistan, Bangladesch und Indonesien in Asien und den Stämmen und Staaten der Region der Großen Seen in Afrika und zum anderen aus der neuzeitlichen Geschichte Europas, wo die Rekonstruierung von Nationen und Staaten in der Tat ein gängiges Phänomen war. In China dagegen wurden trotz der Teilungen, die China im Altertum durchmachte, die politischen, kulturellen und traditionellen Traditionen fortgeführt. Denn es gab a. eine umfassendere „Han-Kultur“; b. es war nach der Vereinigung zur Zeit der Dynastien Qin und Han üblich, sich mit dem huaxia 華夏 der Frühzeit zu identifizieren; c. es gab einen quantitativen Unterschied zwischen dem Zentrum und der Peripherie, zwischen den „Han“ und den „Fremden“. Dies war der Grund dafür, dass die einheitliche Politik, Kultur und Tradition stets weitergeführt wurde, sodass China weder eine sogenannte „Renaissance“ der traditionellen Künste und Kultur noch einen sogenannten „nationalstaatlichen“ Wiederaufbau nötig hatte.

Es stellen sich also folgende Fragen: Sollten die Historiker die Besonderheiten der chinesischen Geschichte, die sich von der europäischen unterscheidet, berücksichtigen? Ist die Homogenität der chinesischen und insbesondere der Han-Zivilisation, die Kohärenz zwischen dem Raum des Han-Lebens und dem Raum der aufeinanderfolgenden Dynastien, die Kontinuität der Han-Traditionen und die Identifikation mit dem Han-Regime „zufällig“ und „umstritten“? Ist China ein Nationalstaat, der erst in der Neuzeit (der Moderne des Westens) allmählich aufgebaut wurde?

Diese Ansichten werden jedoch nicht aus einer historischen Perspektive betrachtet. Wenn wir China aus einer historischen Perspektive betrachten, können wir nur sagen, dass „China“ ein besonderer „Staat“ war und es bis in die Neuzeit geblieben ist. In seinem Buch Confucian China and Its Modern Fate vertrat Joseph Levenson die Ansicht, das moderne China sei aus einem Prozess der Umwandlung von einer Welt unter dem Himmel zu einer Nation unter einer Vielzahl von Staaten hervorgegangen. Das heißt, es habe einen allmählichen Wandel von einem Tributherrschertum hin zu einem modernen internationalen Staat gegeben. Aber ich denke, es ist noch wichtiger hinzuzufügen, dass dem modernen China auch ein Prozess der Integration der Fremdvölker in die politkulturellen Strukturen Chinas zugrunde liegt. Von der Qing-Dynastie bis zur Republik China wurde die Tradition eines multiethnischen Reiches in dem Bestreben aufrechterhalten, „die chinesische Nation als Einheit“ (in den Worten von Fu Sinian und Gu Jiegang 顧頡剛) zu erhalten. Als moderner Staat ist China also etwas ganz Besonderes. Ich möchte nur betonen, dass das heutige China etwas ist, bei dem es sich einerseits um einen allmählich begrenzten „Nationalstaat“ und andererseits um ein grenzenloses „traditionelles Reich/Imperium“ handelt; etwas, das einerseits über das einheitliche Gefüge und die Grenzen eines modernen Nationalstaates verfügt, andererseits aber nicht in der Lage ist, die „Identität“ eines homogenen Staates zu verwirklichen. Daher sprach ich 2011 davon, dass China sich nicht von einem Kaiserreich zu einem Nationalstaat entwickelt hat (wie dies bei den Staaten Europas der Fall war), sondern vielmehr im Bewusstsein eines grenzenlosen Reiches/Imperiums einen Begriff vom begrenzten „Staat“ hatte und in der Erkenntnis eines begrenzten „Staates“ die Vorstellung von einem grenzenlosen Reich/Imperium bewahrte. Der moderne Nationalstaat hat sich aus dem traditionellen Zentralreich entwickelt, und der moderne Nationalstaat besitzt immer noch ein Restgefühl des traditionellen Zentralreichs. Das moderne europäische Konzept des „Nationalstaates“ ist auf China möglicherweise nicht zutreffend, da es sich um einen besonderen „Staat“ handelt, der historisch verstanden werden muss. Wenn wir diesen Punkt nicht beachten, können wir die folgenden drei Punkte nicht verstehen:

Erstens: Warum wirkt das aktuelle „China“ in seiner modernen Zeit immer noch wie ein moderner Staat und ein traditionelles Reich/Imperium zugleich?

Zweitens: Warum ist China immer noch in dem, wie ich es nenne, „dreifachen Dilemma“ gefangen, das sich aus den zentrifugalen Bestrebungen seiner Nachbarn, dem Einfluss der modernen westlichen Strömung und der internen Identität der verschiedenen ethnischen Gruppen und Regionen ergibt?

Weiterhin stellt sich die Frage, warum zwar in Chinas Wissenschaft und Gedankenwelt danach gestrebt wird, die Transformation des Landes in einem modernen Sinne zu bewirken, gleichzeitig aber auch besonderer Wert auf die „Vielfalt in der Einheit“ der Nation gelegt wird und insbesondere der Ansatz der „Sinisierung“ oder der „Akkulturation“ zur Beschreibung Chinas nicht aufgeben wird. Ich will diese Problematik hier kurz umreißen.

Weil das moderne China die sich seit der Song-Dynastie allmählich verändernden Beziehungen zur Peripherie, das internationale Umfeld seit der Ming-Dynastie und die komplexe innere Struktur des Staates, die schließlich von der Qing-Dynastie erreicht wurde, geerbt hat, habe ich immer betont, dass das „China“ der Geschichte ein sich wandelndes „China“ ist. Einerseits war China arm und schwach und wurde schon oft genug schikaniert, andererseits war es einst eine mächtige Macht, deren Einfluss „auf die vier Weltmeere ausstrahlte“, und die Erinnerung an die Großmacht ist in Wirklichkeit nicht verloschen. Mit anderen Worten: Einerseits ist China zum „kranken Mann Ostasiens“ geworden und wurde drangsaliert, andererseits steckt es immer noch in der Vorstellung von dem großen Einheitsreich unter dem Himmel fest. So sah sich das Land nicht nur mit einer dreifachen Verwicklung interner, peripherer und externer historischer Probleme konfrontiert, sondern auch die intellektuelle und kulturelle Welt befand sich in einem Dilemma, als China allmählich in die „Moderne“ hineingezogen wurde.

Erstens geht es um die „Modernität“. Einerseits sah das moderne China die Gesetze, die Demokratie, die Wissenschaft und die Technologie der modernen westlichen Länder als den unvermeidlichen und idealen Weg an, um „reich und stark“ zu werden, und war der Meinung, dass es auch schnell „modern“ werden und sich in Richtung „Zukunft“ bewegen sollte. Andererseits betrachtete man das Vordringen der westlichen Mächte in China als einen barbarischen Akt der Starken gegen die Schwachen und machte darin auch die Ursache für die zunehmende Armut und Schwäche in China aus. Es entstand die Meinung, dass China nicht den Weg der westlichen Moderne einschlagen, sondern vielmehr eine neue Modernität entwickeln sollte.

In der Tat stellt die Betonung der sogenannten „Moderne im Plural“ ein ziemlich großes Dilemma dar: Man muss die Unvermeidlichkeit des Übergangs von der Tradition zur Moderne anerkennen und gleichzeitig versuchen, die Autonomie der Ideen, der Kultur und der Werte zu verteidigen und Selbsterklärungsmöglichkeiten in Vorstellung und Theorie über „Pluralismus“ zu finden.

Der zweite Problempunkt ist der „Staat“. Einerseits akzeptiert das moderne China konzeptionell die moderne westliche These von der „Nation“ als Grundlage des „Staates“ und denkt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates bedeutet, die „Zivilisation“ zu verfolgen, wie es der Westen tut. Andererseits ist man aber emotional der historischen chinesischen Realität des „Staates“ zugeneigt, der auf der „Kultur“ basiert, und meint, den großen einheitlichen multiethnischen Staat verteidigen zu müssen, der sich seit der Han- und der Tang-Dynastie, insbesondere aber seit der Qing-Dynastie als ein Gebilde versteht, deren „große Tugenden selbst die entferntesten Gegenden in der Umgebung ausstrahlten“.

Drittens geht es um „Kultur“. Das moderne China neigte einerseits dazu, sich als die Spitze der östlichen Kultur zu sehen, vergleichbar mit dem Westen, sodass die Ausdrücke „Kultur Chinas und des Westens“ oder „Kulturen in Ost und West“, „das westliche Wissen als das Wesentliche und das chinesische Wissen als das Nützliche“ oder „das chinesische Wissen als das Wesentliche und das westliche Wissen als das Nützliche“ üblich wurden, während andererseits bewiesen werden musste, dass China die östliche Kultur repräsentierte und sich mit Japan (dem Westen des Ostens) in einer Konkurrenz befand.

Dies ist der komplexeste und am wenigsten zu bewältigende Widerspruch und Konflikt in der Welt des chinesischen Denkens seit der Neuzeit. Diese Widersprüche und Konflikte ergeben sich aus der Tatsache, dass das moderne China immer noch sowohl ein „Staat“ als auch ein „Reich/Imperium“ ist, mit einer langen Geschichte und starken Traditionen auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite ist es in der Neuzeit Erniedrigungen und Einflüssen ausgesetzt gewesen. Es handelt sich um einen „(multi-)nationalen Staat“, der weder eine umfassende Kolonialgeschichte erlebt noch seine kulturelle Identität verloren hat. Gerade weil das moderne China ein „besonderes“ Land mit einer besonderen Kultur ist, ist es problematisch, „China“ einfach mit der europäischen Definition eines traditionellen „Reiches/Imperiums“ oder eines modernen „Nationalstaates“ zu beschreiben, was weder dem chinesischen Konzept des Nationalbewusstseins und der Geschichte der nationalen Entwicklung entspricht, noch ein Verständnis für die verschiedenen Phänomene in Bezug auf Territorium, Nation und Staat im modernen China ermöglicht.

5 Kein Fazit, nur eine Frage am Schluss: Wo ist der Ausweg aus diesem Dilemma?

Kommen wir noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurück, gerade weil China sowohl ein moderner Staat als auch ein traditionelles Reich/Imperium ist. Da es ebenso dem System eines Nationalstaates folgen und sich in Übereinstimmung mit internationalen Verträgen in die Welt begeben muss, wie es gleichzeitig seinen historischen Glanz, sein riesiges Territorium und seine vielen ethnischen Gruppen beibehalten möchte, ist es in seinen „internen“, „peripheren“ und „internationalen“ Aspekten auf ernsthafte Schwierigkeiten gestoßen und mit den Dilemmata in „Modernität“, „Staat“ und „Kultur“ konfrontiert. Dies hat natürlich historische Wurzeln, und das ist das dreifache Dilemma von „China“, das sich nach der Song-Dynastie allmählich entwickelt hat, wie ich oben erwähnt habe. Wie kann China nun aus diesem „Identitäts“-Dilemma herauskommen?

Diese Frage ist mir bei meinen Vorträgen zu dem Thema in China oder im Ausland bereits gestellt worden. Ich bin kein Philosoph oder Politiker, sondern ein Geschichtswissenschaftler und kann mir selbstverständlich kein endgültiges „Urteil“ über eine so große Frage erlauben. Ich bin aber auch bereit, hier meine Gedanken darzulegen:

Erstens muss unter den verschiedenen „Identitäten“ anerkannt werden, dass die wichtigste diejenige des Systems ist. Ein durchsetzbares System, das den Menschen Sicherheit, Glück und Würde bietet, ist von größter Bedeutung. Eine Änderung des derzeitigen Systems, damit es zu einer Garantie für Sicherheit, Glück und Würde für seine Bürger wird, kann in gewisser Weise ethnische, religiöse und kulturelle Unterschiede überwinden und China aus seinem „Identitäts“-Dilemma herausführen.

Zweitens ist in der modernen Welt des Denkens die rationale „Differenzierung“ wichtig. Wenn wir uns einig sind, dass (universelle) Zivilisation und (partikulare) Kultur immer im Widerspruch zueinander stehen, und dass unser Verstand zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“ unterscheiden kann, dann fühlen wir uns vielleicht nicht so sehr von der Globalisierung, der Moderne und den universellen Werten (die auch eine „Zivilisation“ sind) abgestoßen in der Meinung, dass es die westliche Zivilisation ist, die die chinesische Kultur verunstaltet. In der Tat stellt sich die Frage, wie die verschiedenen „Kulturen“ in ihren jeweiligen Welten inmitten des allgemeinen Trends zu einer gemeinsamen „Zivilisation“ intakt bleiben können.

Drittens: Angesichts der modernen internationalen Ordnung sollte man es nicht überstürzen, diese Ordnung, die in den letzten Jahrhunderten gereift ist, durch ein traditionelles System von tianxia („alles unter dem Himmel“) oder ein „Tributsystem“ zu ersetzen. Es ist notwendig, ein Bewusstsein für einen begrenzten Staat – in der Tat für eine begrenzte Regierung – zu entwickeln, zu wissen, wie man gleichberechtigt mit seinen Nachbarn und seiner Familie leben kann, und sich a. der traditionellen „Grenze“ und des modernen „Territoriums“, b. des traditionellen Fremdenkonzepts und der modernen Volksgruppen/Nationalitäten, c. religiöser Überzeugungen und politischer Ideologien und d. des eigentlichen Unterschieds zwischen Staat und Regierung ganz bewusst zu sein. In der Vergangenheit waren Methoden wie das sogenannte „sich bedeckt halten“, die „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ und „Verhandlungen und Konsultationen“ nicht nur Taktik, sondern auch die Einhaltung der Grundsätze moderner internationaler Beziehungen, die der einzige Weg waren, um das Misstrauen der Nachbarländer und der internen ethnischen Gruppen zu zerstreuen.

Aus dem Chinesischen von Thomas Zimmer und Chunchun Hu