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1 Einleitung

Im Gegensatz zu einem statischen Kulturbegriff und scheinbar klaren Verortungen als hier „chinesisch“ und dort „deutsch“ werden die deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen nachfolgend als auf wechselseitigen Dynamiken basierend betrachtet. Kulturbeziehungen werden dabei zugleich als Austausch zwischen privaten und staatlichen Initiativen zweier Staaten inklusive der (nicht intendierten) Möglichkeit einer gegenseitigen kulturellen Beeinflussung verstanden und damit nicht reduziert auf auswärtige Kulturdiplomatie mit der „staatlichen Nutzung“ von Kultur als einem Instrument der Außenpolitik. Damit werden kulturelle Fluidität und Wandlungsfähigkeit im gegenseitigen Austausch angenommen. Entgegen der verbreiteten Annahmen erheblicher und kaum veränderlicher kultureller Unterschiede zwischen Deutschland und China, die oftmals zur Erklärung von Spannungen und Missverständnissen in der Vielfalt der bilateralen Beziehungen herangezogen wurden (vgl. Hofstede 1997), sind bei einer solchen Analyse auch kulturelle Ähnlichkeiten in den Blick zu nehmen, beispielsweise ein in beiden Gesellschaften bestehendes Bewusstsein für die dramatischen Wechselfälle der Geschichte, ähnliche Konzepte von Arbeitsethik und Fleiß oder auch ein hohes Interesse an technologischer Innovation bei positiver Konnotation von Technik als zentralem Bestandteil wirtschaftlicher Weiterentwicklung.Footnote 1 Ein solcher Blick auf Ähnlichkeiten in konkreten Werthaltungen erlaubt es, unter einem dynamischen Gesichtspunkt, Potenziale der Annäherung zu sehen und die kulturelle Basis nicht als Hindernis und Hemmnis der bilateralen Beziehungen zu interpretieren. So gibt der World Values Survey, Deutschland und China vergleichend betrachtet, Hinweise auf derartige kulturelle Ähnlichkeiten, unter anderem bei geteilten, in der genannten Untersuchung als säkular charakterisierten Werthaltungen in beiden Ländern (WVS 2020).Footnote 2 Ferner kann festgestellt werden, dass zwischen Deutschland und China keine extrem negativen historischen Belastungen bestehen (Klemm 2001; Gütinger 2005). Mit Blick auf die Geistesgeschichte ist sogar von gegenseitiger Wertschätzung auszugehen, deren Spektrum von der Lehre des Konfuzianismus bis zur Relevanz des Marxismus reicht und sich nicht zuletzt in der verbreiteten Lektüre relevanter Klassiker sowie in der Anzahl von Besuchern der damit verbundenen Orte wie dem Karl-Marx-Haus in Trier äußert (dpa/Tsp 2018; Hsia 2018). Zudem sind ein vergleichsweise hochrangiger politischer AustauschFootnote 3 und diverse politische Dialogformate ein Hinweis auf intensiv gepflegte politische Beziehungen, die im zeitlichen Verlauf als wachsende Annäherung und gegenseitiges Verständnis interpretiert werden können (vgl. Auswärtiges Amt 2020). Dennoch kommt es auf vielen Ebenen immer wieder zu beiderseitigen Irritationen; neben unterschiedlichen Auffassungen über Kunstausstellungen, Differenzen bezüglich Hongkong oder Streitigkeiten um geistiges Eigentum zählten dazu in den letzten Jahren vermehrt auch durch deutsche Firmen „beleidigte Gefühle“ chinesischer Konsumenten (Stahl 2020; Mertens 2016). In diesem Beitrag stehen deswegen die Divergenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung und die Hintergründe der Herausforderungen im Vordergrund, die viele deutsch-chinesische Kooperationsprojekte heute kennzeichnen.Footnote 4 Auf Erklärungen wie eine möglicherweise zu geringe „interkulturelle Kompetenz“ oder vereinfachend mangelnde „China-Kompetenz“ wird dabei verzichtet.

Der Huawei-Studie aus dem Jahr 2016 zufolge empfinden 55 % der Deutschen China als sehr fremd, 47 % der chinesischen Befragten bestätigen dies umgekehrt. Zugleich geben 65 % der Chinesinnen und Chinesen an, Deutschland zu mögen, und 45 % können sich vorstellen, ganz oder für eine gewisse Zeit in Deutschland zu leben. Bei den Deutschen ist diese Bereitschaft umgekehrt mit 16 % sehr viel geringer ausgeprägt (Huawei 2016). Untersuchungen zeigen ebenfalls, dass das Deutschlandbild in China von Respekt für die wirtschaftlichen Leistungen sowie für wissenschaftliche und technologische Errungenschaften geprägt ist (BBC 2014; Neidhardt 2015, DAAD 2020). In Deutschland hingegen finden sich konstant mehrheitlich kritische Stimmen, die Chinas wirtschaftliche Entwicklung und politische Struktur mit Misstrauen betrachten. So hatten nach dem Global Attitude Survey 2019 nur 34 % der Deutschen ein positives Bild von China, nach Italien (37 %) und Polen (47 %) der schwächste Wert in Europa. 88 % der Deutschen denken, dass China persönliche Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger nicht respektiere (Global Attitude Survey 2019). Das ist sogar weltweit eine der negativsten Einschätzungen. Nur in Schweden, Frankreich und den Niederlanden ist die Meinung mit mehr als 90 % negativen Bewertungen noch schlechter. Interessant ist auch, dass diese Werte bereits seit vielen Jahren relativ konstant sind. So sind auch über 60 % der Deutschen der Ansicht, Xi Jinping habe keinen positiven Einfluss auf die globalen Entwicklungen – eine Meinung, die sich unabhängig von Alter und Bildungshintergrund bei allen Befragten zeigt (Huawei 2014; Silver et al. 2020). Die Coronapandemie hat ferner weltweit die negativen Einschätzungen zu China verstärkt (Silver et al. 2020). Diese Umfrageerkenntnisse – es gibt zahlreiche Studien, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen – sind in China durchaus bekannt und werden im Allgemeinen auf eine negative Berichterstattung in den deutschen Medien zurückgeführt. Die deutschen Medien, so die Annahme, kritisierten China über Gebühr und dämonisierten seinen internationalen Aufstieg (Fu 2008). Insgesamt treffen sie auf Unverständnis der chinesischen Seite und gehen einher mit der Frage, warum Chinas Leistungen, insbesondere die im Zuge des Reform- und Öffnungsprozesses erhebliche Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards, nicht positiver wahrgenommen und diesen mehr Respekt entgegengebracht würde. Eine 20-jährige Chinesin drückte dies in einem Gespräch mit der Autorin, das im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts zu den europäisch-chinesischen Beziehungen stattfand, folgendermaßen aus: „Deutschland hat eine sehr fortschrittliche Industrie und Chinas produzierendes Gewerbe kann viel von Deutschland lernen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bereute Deutschland seine Fehler und erlangte so den Respekt der Menschen auf der ganzen Welt zurück. Ich weiß bloß nicht, warum die Deutschen die Chinesen zu hassen scheinen, obwohl die Chinesen einen so guten Eindruck von den Deutschen haben.“ Und ein junger Mann erläuterte in einem anderen Gespräch: „Das chinesische Volk hat unglaublich hohen Respekt vor den Deutschen. Von der Zeit, als Karl Marx von Mao als Held eingeführt wurde, bis zum Markteintritt von VW in China, war die Wahrnehmung Deutschlands in China immer sehr positiv und trotz der wirtschaftlichen Veränderungen in unserem Land ist die allgegenwärtige Bewunderung für den deutschen Fleiß in den chinesischen Massenmedien nie zurückgegangen. (…) Beeinflusst von dieser Art der Darstellung, habe ich geglaubt, dass sich die Seiten gegenseitig achten würden. Dies ist jedoch eine unerwiderte Liebe. Offenbar wird meine Regierung von den Deutschen als überholt und unterdrückerisch bezeichnet, unsere Waren gelten als qualitativ minderwertig, unter schlechten Bedingungen produziert und es wird kritisiert, dass sie den europäischen Markt überfluten.“Footnote 5

2 Mediale Wahrnehmungen

Sind Berichte in den chinesischen Medien tatsächlich von breiter Bewunderung für Deutschland gekennzeichnet? Eine Analyse der Beiträge der zwei großen chinesischen Tageszeitungen Renmin Ribao und Global Times aus den Jahren 2013 bis 2018Footnote 6 zeigt, dass Deutschland medial eine prominente, aber keine besondere Rolle spielt. In Bezug auf die Anzahl der Artikel liegt Deutschland etwa gleichauf mit Frankreich. Die Anzahl der Artikel zu Deutschland ist im betrachteten Zeitraum gestiegen, der Schwerpunkt liegt auf wirtschaftlichen und politischen Themen. Nur knapp vier Prozent der Artikel in der Renmin Ribao beschäftigen sich mit Aspekten der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und China. Eine inhaltliche Analyse – exemplarisch durchgeführt anhand von etwa 600 Artikeln der Jahre 2017 und 2018 – zeigt ferner, dass viele Texte nur wenig auf die deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen im engeren bilateralen Sinne eingehen. Oftmals wird Deutschland nur am Rande erwähnt, China spielt die zentrale Rolle. Zwar werden in einigen Beiträgen zentrale Persönlichkeiten aus Deutschland, zum Beispiel Jürgen Habermas und Immanuel Kant, positiv als Vorbilder hervorgehoben, im Allgemeinen aber werden einzelne Aktivitäten mit Deutschlandbezug behandelt, beispielsweise Ausstellungen. Die Beiträge betonen das große Interesse, mit dem chinesische Kunst in Deutschland bzw. umgekehrt aufgenommen werde. Mit Blick auf Kulturveranstaltungen wird in der Gesamtschau üblicherweise argumentiert, dass Deutsche hierdurch die Möglichkeit erhielten, die chinesische Kultur kennenzulernen, dass sie Vorurteile hätten, die verschwänden, wenn sie China kennenlernten. Besonders herausgestellt werden chinesische Veranstaltungen wie Konzerte und Kunstausstellungen, die in Deutschland erfolgreich stattgefunden hätten. Insgesamt lässt sich aus dem Befund schlussfolgern, dass in China sowohl bei politisch Verantwortlichen als auch in der breiten Bevölkerung ein Wunsch nach Anerkennung des bisher Geleisteten und der positiven Wahrnehmung des Landes in Deutschland besteht. Äußerungen zu Chinas Soft Power und zu einem vorgeblichen chinesischen Modell sind Hinweise auf den gestiegenen chinesischen Stolz, aber auch Ausdruck des Wunsches nach internationaler Akzeptanz (vgl. Xi 2019). Zur Stärkung seiner Soft Power und um sich im Ausland stärker selbst zu erklären, investierte der chinesische Staat in der letzten Dekade in enormem Umfang in den Publikations-, Kultur- und Bildungssektor (Albert 2018). Dazu zählen erhebliche Mittel, die in englisch- bzw. fremdsprachige wissenschaftliche Publikationen, die Förderung des Erlernens der chinesischen Sprache zum Beispiel in Konfuzius-Instituten weltweit und in den Bildungsaustausch über Studierende sowie wissenschaftliche Forschungskooperationen geflossen sind (Wang 2008; China Power Team 2017). Im Ergebnis führte dies zwar zu einer deutlichen Steigerung der Sichtbarkeit chinesischer Akademikerinnen und Akademiker und deren Forschungsergebnissen und viele Menschen weltweit nutzen heute die Chance, Chinesisch zu erlernen. Jedoch scheinen diese Investitionen weniger Früchte getragen zu haben als erhofft. In manchen Fällen scheint diese Strategie sogar geradezu das Gegenteil bewirkt zu haben, wie die zuvor erwähnten Umfragedaten zeigen.

Neben den klassischen Printmedien sind auch Untersuchungen zu sozialen Medien aufschlussreich. Diese werden in verstärktem Maße in der Außendarstellung Chinas genutzt – allerdings ebenfalls mit überschaubarem Erfolg (Nip und Sun 2018; Sun 2014). Auch innerchinesisch sind sie zum besseren Verständnis bilateraler kultureller Beziehungen interessant. WeChat kann mit über einer Milliarde aktiver Nutzerinnen und Nutzer, so die Angaben des Betreibers Tencent, als der dominierende Dienst charakterisiert werden. Aufgrund der breiten Palette von Funktionen, die von Privat- und Gruppennachrichten sowie Online-Shopping über Spieleangeboten bis hin zur Bezahlung von Rechnungen reichen, ist WeChat für chinesische Internetnutzerinnen und Internetnutzer zu einem wichtigen Bestandteil des Alltags geworden. Mehr als 80 % rufen Nachrichten und Informationen über soziale Medien ab. Neben individuellen Benutzerkonten gibt es bei WeChat auch „öffentliche Konten“, die von klassischen Medien, Unternehmen, Regierungsinstitutionen und Privatpersonen, die sogenannte Eigenmedien (zimeiti) betreiben, genutzt werden. Öffentliche Konten stellen einem breiteren Publikum Inhalte zur Verfügung. In China gibt es derzeit etwa 500.000 öffentliche Konten mit ungefähr fünf Milliarden Seitenaufrufen täglich. Zentrale Europathemen sind die Flüchtlingskrise, Islam und Migration, so das Ergebnis einer systematischen Auswertung von Social-Media-Einträgen der Jahre 2018 und 2019 mit europäischem Bezug (Zhu 2019). Darin wird zum Beispiel behauptet, dass die Naivität linker politischer Kräfte in Europa durch eine flüchtlingsfreundliche Politik die Islamisierung des Kontinents befördere. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wird als „Weiße Linke“ (baizuo) bezeichnet – eine Formulierung, die im pejorativen Sinne auf westlich-liberale Werte wie Toleranz, Pluralismus und die Gleichberechtigung von Minderheiten abzielt, oft im Kontext einer angeblich übermäßigen Sympathie für den Islam. Europa wird ferner als eine Art Anhängsel der USA porträtiert, wobei Amerika als bösartige, Chaos stiftende Hegemonialmacht dargestellt wird. Als weiteres relevantes Thema ließ sich in der Analyse Europa als vorrangiges „Traumziel“ chinesischer Auswanderung und Investitionen herausarbeiten. Neben Griechenland, Malta und dem Vereinigten Königreich wird auch Deutschland häufig genannt. In den chinesischen sozialen Medien werden Deutschland und Europa demnach inkonsistent betrachtet: einerseits sehr negativ mit Blick auf eine angeblich zu große Einwanderung, andererseits sehr positiv als chinesisches Migrationsziel. Kostenlose Bildung, ein gutes Gesundheits- und Altenpflegesystem sowie die Vorstellung, das Leben dort im Gegensatz zu China genießen zu können, sind demzufolge Argumente, die für Europa sprechen. Tatsächlich finden sich im chinesischen Internet zahlreiche Firmen, die mit blumigen Versprechungen das Interesse der wachsenden chinesischen Mittelschicht durch Dienstleistungsangebote für die Visabeschaffung, Wohnsitzsuche beziehungsweise Immobilieninvestitionen und Umzugsorganisation zu wecken versuchen.Footnote 7 In den öffentlichen WeChat-Konten zeigt sich so ein Europa der Kontraste. Im negativen Europa droht die Gefahr der Islamisierung, im positiven ist die Umwelt im Gegensatz zu China „himmlisch“, der Immobilienmarkt – in China als überhitzt geltend – durch niedrige Preise, langfristige Eigentumsmöglichkeiten und ein vermeintliches Recht auf unbegrenzte Nutzung gekennzeichnet. Deutschland und Europa sind damit Gegenstand der Polarisierung – für die einen ein Ort des Niedergangs aufgrund eines ungehindert Menschen aus aller Welt anziehenden Sozialsystems, für die anderen ein Ort der Sicherheit und Lebensplanung. Eine einheitlich positive Darstellung Deutschlands, wie es die zitierten Gespräche und Umfragen nahelegen, lässt sich nicht nachweisen, vielmehr scheint das Deutschlandbild je nach sozialer Gruppe und Informationslage sehr unterschiedlich auszufallen und es gibt Hinweise darauf, dass es sich in den letzten Jahren insgesamt langsam verschlechtert (Yang 2017).

3 Strukturelle Asymmetrie

Werner Meissner (2002) stellte zu den Kulturbeziehungen zwischen China und der Europäischen Union fest, dass sich der Austausch im künstlerischen Sektor sowie im Bildungsbereich positiv entwickelt habe, allerdings stark von der chinesischen Innenpolitik abhänge. Die obigen Ausführungen zu China belegen dies dahingehend, dass die untersuchten Medienbeiträge, die die auswärtigen chinesischen (Kultur-)Beziehungen betreffen, starke innenpolitische Komponenten haben. Widerhall findet das, was mit der Wahrnehmung der chinesischen Verhältnisse korrespondiert. Umgekehrt wurde auch für Deutschland aufgezeigt, dass die China-Thematisierung sich an deutschen oder europäischen Diskursen beziehungsweise Interessen und nur kaum an der chinesischen Entwicklung ausrichtet (Richter und Gebauer 2010).

Meissner konstatiert ferner, dass Kulturbeziehungen stark von der Zentralregierung in Beijing dominiert werden und schlägt vor, lokale Regierungen, insbesondere der chinesischen Großstädte, stärker in den Kulturaustausch einzubeziehen (Meissner 2002). Zweifellos hat sich seit den 2010er-Jahren eine Erweiterung der Kulturbeziehungen auf verschiedene staatliche Akteure vollzogen, betrachtet man zum Beispiel die mehr als 80 deutsch-chinesischen Städtepartnerschaften (vgl. hierzu RGRE 2021). Doch sind die Kulturbeziehungen auch gekennzeichnet von einer Verengung des Austausches auf staatliche Stellen in China, während in Deutschland durch ein breites Verständnis der Außenbeziehungen auch gesellschaftliche Akteure, eigenständige Vereine und staatlich unabhängige Gruppen involviert sind.

Repräsentanten eines offiziellen Chinas treffen also in Deutschland – sei es im künstlerischen Bereich, der Städtepartnerschaft oder der Kultur- oder Umweltarbeit in Einzelprojekten – vielfach auf Mitglieder einer Gesellschaft, die durch ihre staatlichen oder halbstaatlichen chinesischen Counterparts irritiert sind und denen es an Hintergrundwissen zur Einordnung dieser Konstellationen mangelt. In dieser asymmetrischen Beziehung zwischen staatlichen chinesischen Akteuren und privaten deutschen Akteuren, die oft nur protokollarisch durch staatliche Repräsentanten in Deutschland unterstützt werden, ansonsten aber eigenverantwortlich agieren können und wollen, liegt die zentrale Herausforderung des deutsch-chinesischen Kulturaustausches. Diese Form einer selbstständig agierenden deutschen Gesellschaft ist für viele konkrete Kulturschaffende in Deutschland selbst von zentraler Bedeutung, wenn zum Beispiel Theater- und Konzertaufführungen zur Aktualisierung klassischer Werke den Dialog mit der Gesellschaft (ihrem Publikum) suchen (müssen). Kunst in Deutschland ist auf diese Form der sozialen Interaktion angewiesen, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu erhalten und sich stets neu zu erfinden. Doch gerade dies kann in China – wo Gesellschaft eine andere Struktur aufweist, durch den Staat „gemanagt“ und „angeleitet“ wird, und die Reproduktion von Werken in ursprünglicher Form geschätzt wird – Unverständnis hervorrufen. Ähnliches lässt sich auch für die Themenfelder Sport, Umweltengagement, Bildung und Wissenschaft festhalten. In China wiederum hat sich die Gesellschaft im Zuge einer raschen wirtschaftlichen Entwicklung stark ausdifferenziert. Ökonomische und regionale Disparitäten sowie städtische Milieus mit sehr unterschiedlichen Ansichten und Ansprüchen sind entstanden, deren Reaktionen und Sensibilitäten für Themen und Kulturangebote nur schwer kalkulierbar sind und die in der Außenwahrnehmung allzu oft hinter der starken Wahrnehmung des allseits agierenden Parteistaates verschwinden. Anders als zum Beispiel in Kanada, wo auf beiden Seiten nichtstaatliche Akteure relevante Träger der bilateralen Beziehungen sind (Meehan und Webster 2013, S. 112), basieren die deutsch-chinesischen Beziehungen weitgehend auf staatlichen Strukturen. Ein gegenseitiges Verständnis der Gesellschaften füreinander scheint folglich bisher kaum erreicht worden zu sein. Insofern ist Yu Fang (2018) zuzustimmen, dass der direkte menschliche Austausch mit der Entwicklung der bilateralen Gesamtbeziehungen nicht mitgehalten habe und insofern eine Kluft bestehe, was das gegenseitige Verständnis der Menschen in beiden Ländern betreffe. Dass zwischenmenschlicher Austausch vieles bewirken kann, lässt sich an einem letzten Zitat aus dem Gespräch mit einer chinesischen Schülerin verdeutlichen. Es steht zugleich abschließend und zusammenfassend für die Überlegung, dass ein umfassender direkter gesellschaftlicher Austausch zwischen beiden Ländern erforderlich ist, auch wenn dieser aufgrund der Entfernung, sprachlicher Hürden sowie der unterschiedlichen politischen Strukturen nicht leicht zu organisieren sein wird:

„Ich weiß nicht viel über die deutsche Regierung, aber ich würde sagen, dass gerade junge Leute in Deutschland sehr liebenswürdig sind. Als ich in der Oberstufe war, hatten wir eine Gruppe deutscher Schüler für zwei Wochen zu Besuch. In meiner Familie wohnte ein deutsches Mädchen, und ich empfand sie als wirklich nett und mit guten Manieren. (…) Ich dachte zunächst, sie wäre ein ruhiges Mädchen, aber dann stellte ich fest, dass sie eine aufgeschlossene Person mit unendlich viel Energie ist. Sie spielte wild mit ihren deutschen Freunden, erzählte mir lustige Sachen und vertraute mir sogar ihre Liebesgeschichte an. Hätte ich noch nie ein deutsches Mädchen getroffen, würde ich denken, dass Deutsche immer ernst sind und selten lachen. Aber jetzt weiß ich, dass sie leidenschaftlich und gastfreundlich sind. Die Austauschschülerin lud meine Familie mehrmals nach Deutschland ein und ich fragte sie auch, was die Deutschen von uns Chinesen hielten. Sie sagte, die meisten denken, chinesische Schüler müssten viele Schulaufgaben machen und hätten scheinbar kaum Freizeit. Ihre Klassenkameraden würden glauben, dass die Chinesen alles essen, und dass China ein wichtiges Land sei. Außerdem meinte sie noch, dass alle Menschen, die China besucht hätten, feststellten, dass einige ihrer Gedanken über China und die Chinesen falsch gewesen seien.“

Das Zitat drückt den Wert der privaten Begegnung und das hohe Potenzial der Verständigung auf der individuellen Ebene aus, die nicht nur im Rahmen von Jugendarbeit oder Schulpartnerschaften stattfinden muss, sondern sich auch auf viele kulturelle Bereiche erstrecken könnte. Da organisierte Formen der Begegnung – zwischen Sportvereinen, Orchestern, Theatergruppen, Literaturvereinen – nur schwer aus dem Feld der asymmetrischen Austauschbeziehungen zu führen sind, könnte die Gestaltung von Begegnungen zwischen Individuen eine wichtige Variante des deutsch-chinesischen Kulturaustauschs und der gegenseitigen Verständigung sein. Denn da in China gesellschaftliche Organisationen – anders als in der selbstkoordinierten deutschen Gesellschaft – immer mindestens halbstaatlich sind, bleibt dies ein Bereich, der sehr wahrscheinlich weiterhin mit Irritationen behaftet sein wird. Die chinesische Seite ist über den möglichen Mangel an politischer Unterstützung und Koordination auf der deutschen Seite verunsichert, während die deutsche Seite mit Bezug auf die politische Anbindung chinesischer Organisationen an die Kommunistische Partei und den chinesischen Staat beunruhigt ist. Hier liegen strukturelle Unterschiede beider Systeme, die sich auf der Ebene des Kulturaustausches als störend erweisen und jene Abstoßungstendenzen kreieren, die auf der chinesischen Seite zu Missverständnissen über deutsche Absichten und auf der deutschen Seite zu Misstrauen gegenüber chinesischen Akteuren und deren Zielsetzungen führen. Persönliche, private Begegnungen sollten demnach als eine wichtige Facette der Kulturbeziehungen verstanden werden. Sie haben das Potenzial, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu fördern, und sind demnach eine vielversprechende Form des Austauschs als Alternative zu (staatlich) organisierten Aktivitäten. Zugleich sind sie voraussetzungsvoll, da die beteiligten Personen Offenheit für die Begegnung und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel mitbringen sollten.