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1 Die „Jagd auf den Hirschen“ im Tianxia: das „US-amerikanische“ vs. das „chinesische“ Tianxia-Modell?

Die „Jagd auf den Hirschen“ ist das in der chinesischen Antike verwendete Bild des Kampfes um die Herrschaft über die chinesische Zentralebene als Kerngebiet des antiken Tianxia. – Anmerkung des Übersetzers.

Wird es weltweit zur Konkurrenz zwischen einem „US-amerikanischen“ und einem „chinesischen Tianxia-Modell“ kommen? Das ist die von Salvatore Babones aufgestellte These, die ich in Zweifel ziehe. Will man sich mit dieser Frage der politischen Praxis beschäftigen, ist zunächst eine grundlegende theoretische Frage zu beantworten: Was ist eigentlich Tianxia? Ich hoffe, hier eine klarere und dennoch hinreichend knappe Erklärung zu liefern.

Angesichts unwiderruflicher Entwicklungen wie der Globalisierung und des Internets, insbesondere der universellen Verbreitung von Technologien wie künstlicher Intelligenz, ist unübersehbar, dass künftig die Macht derer, die im Besitz der alle Teile der Welt verbindenden technologischen Systeme sind, größer sein wird als die Macht von Staaten. Daher verlagern sich die politischen Kernprobleme von der Ebene staatlicher Innenpolitik und der internationalen Konstellation auf eine Weltkonstellation global geteilter Fragen. Zugleich entwickelt sich die Struktur politischer Ordnung allmählich von souveränen Einzelstaaten zu einem Tianxia-System. Damit ist ein Weltsystem gemeint, das unter der Bedingung der Multikulturalität den Weltfrieden und eine Weltordnung schützt, von der alle Bürgerinnen und Bürger gemeinsam profitieren, mit anderen Worten eine Welt-Konstitution (world constitution). Ihr grundlegendes Merkmal ist die Allumfassendheit (all-inclusive) einer vernetzten Welt, von deren Ressourcen, Techniken und Wissen niemand systembedingt ausgeschlossen (non-exclusive) ist. Kurzum: Das Tianxia ist eine allumfassende, niemanden ausschließende Welt.

Meine Auffassung eines Tianxia-Systems beginnt mit zwei aus meiner Sicht schwierigen Annahmen: Immanuel Kants „ewigem Frieden“ und Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Die Gültigkeit von Kants Entwurf beschränkt sich auf kulturell und politisch ähnliche Staaten. Zwischen unterschiedlichen Kulturen verliert er seine Gültigkeit. Huntingtons „Kampf der Kulturen“ ist der realistische Ausdruck der beschränkten Gültigkeit von Kants Entwurf, der nicht übertragbare Subjektcharakter jeder einzelnen Kultur erlaubt keine Lösung zivilisatorischer Konflikte. In Wahrheit haben die Beschränktheit des Kantschen Entwurfs und die Unlösbarkeit des Huntington-Problems eine gemeinsame methodologische Ursache: die moderne Rationalität, das heißt die individuelle Rationalität (individual rationality), wonach jedes unabhängige, selbstbestimmte Subjekt nach Maximierung des eigenen Nutzens strebt. Die Methodologie individueller Rationalität gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Unternehmen und sogar für Staaten. Die individuelle Rationalität ist kein Irrtum (tatsächlich ist sie die Methodologie, mit der die Moderne die Entwicklung der Prosperität vorangetrieben hat), aber sie hat ihre Beschränktheit. Sie genügt nicht, um die durch das Ausmaß der Globalisierung und weltweiten Vernetzung entstandenen neuartigen Probleme zu lösen. Dafür bedarf es einerseits eines konzeptuellen Rahmens, dessen Maßstäbe in Einklang mit der globalen Größenordnung stehen, und andererseits einer rationalen Methodologie, die einer vernetzten Existenz gerecht wird. Und das genau bedeuten das Tianxia-System und die „relationale Rationalität“ (relational rationality).Footnote 1

Gegenwärtig werden gegen das Tianxia-System vor allem zwei Einwände erhoben. Der eine lautet, das Tianxia-System sei übertrieben idealistisch, nichts als eine Phantasie. So vertritt zum Beispiel der Historiker Ge Zhaoguang die Auffassung, das Ideal des Tianxia existiere nur im Kontext konfuzianischer Texte, es sei keine historische Tatsache (Ge 2015). Dem stimme ich nur teilweise zu. Die Zhou-Dynastie kann ohne Zweifel als eine Art Realität des Tianxia-Systems betrachtet werden. Es kann daher nicht behauptet werden, das Tianxia existiere nur in bestimmten schriftlichen Kontexten. Aufgrund von Beschränkungen der historischen Bedingungen war die Zhou-Dynastie noch nicht in der Lage, das Konzept des Tianxia vollständig in die Realität umzusetzen. Dennoch bringt die „Grundidee“ ihrer Ordnung die Absicht des Tianxia zum Ausdruck. Im Übrigen sind Ideale kein Fehler, sie sind vielmehr eine Notwendigkeit im Menschheitsdenken. Ideale liefern das Kriterium für die Praxis, ohne das sich die Beschränktheit der Praxis nicht erfassen lässt. Das Ideal ist vergleichbar mit einer Messlatte, die für sämtliche Baumaßnahmen erforderlich ist, deren Ergebnis aber ein Gebäude und nicht die Messlatte selbst ist. Das bedeutet, dass das Ideal die Methodologie der zu schaffenden Realität ist, nicht aber deren Vorlage. Das in den konfuzianischen Texten niedergelegte Ideal des Tianxia ist wie Platons Idealstaat eine wichtige geistige Ressource. Daher ist dieser historische Zweifel eine verfehlte Kritik an einer philosophischen Theorie.

Für den zweiten Einwand steht der Politikwissenschaftler William A. Callahan. Er erkennt offenbar die theoretische Bedeutung des Tianxia-Konzepts, doch bezweifelt er seine Anwendbarkeit in der Praxis. „Zhao Tingyangs Kritik am Vorgehen des Westens, seine Weltanschauung auf Kosten anderer Regionen zu propagieren, ist zwar berechtigt, doch stellt sich die Frage, ob sich seine Idee tatsächlich davon unterscheidet. Er hat offenbar vor, der Welt das chinesische Tianxia-Konzept aufzuzwingen. Er beabsichtigt, dass Probleme fehlender Toleranz auf der Welt zu lösen, aber ist eine von China regulierte friedliche Ordnung weniger gefährlich? Wäre Sinozentrismus besser als Eurozentrismus? Kann das Tianxia-Konzept tatsächlich eine post-hegemoniale Weltordnung schaffen oder handelt es sich nur um eine neue Hegemonie?“ (Callahan 2012, S. 105) Die von Callahan beschworene Gefahr steht stellvertretend für viele ähnliche Äußerungen, aber sie beruhen auf einer Missinterpretation des Tianxia. An der Oberfläche haben diese Befürchtungen damit zu tun, dass Chinas Entwicklung das Weltgefüge verändert hat. Doch blickt man tiefer, liegt ihnen ein bestimmter theoretischer Rahmen zugrunde. Im theoretischen Rahmen Europas ist das größtmögliche Konzept, worin sich eine Weltordnung ausdrückt, das Imperium. Daher liegt es nahe, das Tianxia als eine Art Imperium zu begreifen. Das Problem besteht darin, dass das Tianxia-Konzept in seiner Breite und Tiefe das Konzept des Imperiums überschreitet. Zwischen Tianxia und Imperium bestehen zwar gewisse Überlagerungen und Ähnlichkeiten – zum Beispiel der Versuch, eine Weltordnung zu schaffen –, aber anders als das Konzept des Imperiums beinhaltet das Tianxia-System weder Unterwerfung noch Hegemonie und vor allem keine Feindseligkeit (hostility). Das Tianxia-System beruht auf Freiwilligkeit, gemeinsamem Nutzen und freundschaftlicher Aufnahme (hospitality). Das Konzept des Tianxia zielt nicht auf ein einheitliches System, sondern auf ein System der Kompatibilität verschiedener Systeme. Diese Kompatibilität gründet sich auf mittels relationaler Rationalität errichtete koexistenzielle Beziehungen, nicht auf eine einheitliche Religion oder Ideologie. Per definitionem bedeutet die Ordnung des Tianxia universale koexistenzielle Beziehungen und nicht die Herrschaft irgendeines Landes. Geregelt wird sie durch koexistenzielle Beziehungen und nicht durch Vorgaben irgendeines Staates. Die vom Tianxia-System zu erwartende Wirkung ist, dass keines seiner Mitglieder eine egoistische Nutzenmaximierung durchsetzen kann. Sie zielt vielmehr darauf ab, gemeinsame Sicherheit und die Maximierung des gemeinsam geteilten Nutzen zu erreichen.

Das 2017 erschienene Buch American Tianxia von Salvatore Babones ist eine mit viel Imaginationskraft ausgestattete Herausforderung. Babones unternimmt den Versuch, das Konzept des Imperiums hinter sich zu lassen und das globale System unter Verwendung des Tianxia-Konzepts zu interpretieren, insbesondere aus US-amerikanischer Sicht. Das zeigt, dass er sich bewusst ist, dass das Konzept des Imperiums in Bezug auf eine mögliche künftige Weltordnung überholt ist und die Zukunft dem Tianxia gehört. Babones hält das Tianxia für ein allgemein bedeutsames theoretisches Konzept eines Weltsystems, dessen Gültigkeit sich nicht auf die Beschreibung der chinesischen Geschichte beschränkt. Das bringt ihn zur originellen Ansicht, die USA seien seit Beginn des neuen Jahrhunderts kein Imperium mehr, sondern gerade dabei, sich in ein Tianxia-System zu wandeln, das er das als „American Tianxia“ bezeichnet. Als gedankliches Konzept sei das Tianxia zwar chinesischer Herkunft, aber in der Realität sei das „US-amerikanische“ Tianxia dem chinesischen überlegen. Babones zielt also darauf ab zu zeigen, dass nicht China, sondern die USA der zur Realisierung des Tianxia-Systems geeignetste Staat seien. Tianxia sei das richtige Konzept, China jedoch der falsche Staat, daher sei es die Aufgabe der USA, das Tianxia-System zu realisieren. Das ist Babones‘ Kernthese.

Seiner Argumentation folgend sei China aufgrund systemischer Beschränkungen kaum in der Lage, ein Tianxia-System zu errichten. Allein die USA verfügten hierfür über ausreichende Fähigkeiten. Er räumt ein, dass China dabei sei, stark und mächtig zu werden, aber er glaubt nicht an den im Westen kursierenden Mythos, dass China in Zukunft die USA überholen werde. Konkret führt er aus, dass Chinas Bruttoinlandsprodukt in naher Zukunft das der USA übertreffen werde. Was aber die geistige Produktivität angehe, repräsentiert durch Wissenschaft und Technologie, sei China kaum in der Lage, die USA zu überflügeln. Hinzu käme, dass das US-amerikanische Wertesystem, das auf dem Individualismus beruhe, weit mehr Anziehungskraft besitze als das chinesische Wertesystem. Interessant ist, dass sich Babones in seiner Darlegung nicht der gängigen „politisch korrekten“ Argumente bedient, sondern argumentiert, dass sich der Individualismus besser mit dem menschlichen Egoismus vertrage. Babones erwartet daher, dass die von den USA geführte Weltordnung kaum zu erschüttern ist und, was noch wichtiger ist, dass die US-amerikanische Ordnung gerade dabei ist, sich selbst in ein stabiles Tianxia-System umzuwandeln. „Das US-amerikanische Modell des Tianxia bildet eine extrem stabile Konfiguration eines Weltsystems. Stabil ist sie, weil sie die Weltbevölkerung dazu macht, nicht die Staaten, sondern die Menschen. Die USA sind auf Individualismus gegründet, und da immer mehr Menschen ihr individuelles Interesse über das ihrer Herkunftsstaaten stellen, gehen sie konform mit dem US-amerikanischen Tianxia. Nicht, wie Francis Fukuyama annimmt, die liberale Demokratie, sondern der liberale Individualismus ist dabei, zur endgültigen Freiheitsideologie von Fukuyamas Ende der Geschichte zu werden.“ (Babones 2017).

Babones bemüht sich, die Überlegenheit des Individualismus zu begründen: „Der US-amerikanische Individualismus ist ein Bewusstseinszustand der leeren Menge, da er eine Ideologie ohne Doktrin (tenets) darstellt.“ (Babones 2017, S. 22) Damit berührt er eine grundsätzliche Frage: Was kann als „Doktrin“ gelten? Einer der vom Individualismus propagierten Slogans lautet: „Jedes Individuum soll nach dem Glück streben, wie er es versteht.“ So gesehen ähnelt diese Doktrin tatsächlich einer „leeren Menge“, sie lässt sich mit beinahe jedem beliebigen Inhalt füllen (je nach der Glücksvorstellung der jeweiligen Person). Betrachtet man allerdings das akademische Prinzip des Individualismus, dass jeder nach Maximierung des eigenen Nutzens strebe, ändert sich die Sachlage komplett. Womöglich hat jeder Mensch eine andere Vorstellung von Glück, aber das für jedes beliebige Glück erforderliche materielle Interesse und die dafür erforderlichen existenziellen Ressourcen sind völlig identisch. Für subjektive Glücksvorstellungen existiert kein „Verteilungsproblem“ im Sinne der Ökonomie bzw. der Politikwissenschaft, zwischen den jeweiligen Bildern vom Glück ergeben sich so gut wie keine Konflikte. Bei den für die Realisierung der jeweiligen Glücksvorstellungen erforderlichen materiellen Interessen aber ergeben sich unweigerlich gravierende „Verteilungsprobleme“, die unvermeidlich Nullsummenspiele, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zur Folge haben. Das bedeutet, dass die Rede von der Freiheit jedes Einzelnen, nach seinem Glück zu streben, keine leere Menge, sondern eine leere Floskel ist. Die für die Realisierung des Glücks konstitutiven Bedingungen, nämlich Interesse und Ressourcen, sind das tatsächliche Problem. Die Methodologie des Individualismus bzw. der Individualität ist offensichtlich ungeeignet, das Problem der vernünftigen Verteilung in globalem Maßstab zu lösen. Gerade der von der individualistischen Richtschnur der Maximierung des eigenen Nutzens bzw. von der individuellen Rationalität diktierte unkooperative Wettbewerb ist der entscheidende Grund für alle Arten von Konflikten (angefangen von interpersonalen Konflikten über internationale Konflikte bis hin zu Zivilisationskonflikten). Wer das Problem in die Welt setzt, muss es auch lösen. Nur wenn die Menschheit auf rationale Weise von der Leitlinie der individuellen Rationalität abrückt und zur Leitlinie der relationalen Rationalität übergeht, besteht Hoffnung, die Probleme gemeinsamer globaler Sicherheit und vernünftiger Nutzenverteilung zu lösen. Mit anderen Worten: Nur eine auf relationale Rationalität gegründete Weltordnung ist imstande, ein allgemein unterstütztes Tianxia-System zu realisieren.

Babones zieht es jedoch vor, an der größten Attraktivität des Individualismus festzuhalten, um damit die USA in die Lage zu versetzen, ein Tianxia auf der Grundlage des Individualismus errichten zu können. Seiner Ansicht nach liegt der Erfolg des Individualismus darin begründet, dass die überwältigende Anziehungskraft des Eigennutzes die Menschen anderer Länder dazu bringt, sich um eines höheren Einkommens willens in den Dienst der USA zu stellen. Dabei winkt nicht nur Belohnung, sondern es droht auch Bestrafung: In der US-amerikanischen Ordnung verlieren diejenigen, die nicht bereit sind, sich dem Individualismus in die Arme zu werfen, die Chance, erfolgreich zu sein.Footnote 2 Aufgrund der egoistischen Disposition des Menschen sei bei der „Herausforderung der Wertorientierung anderer Gesellschaften“, „die auf das Individuum gerichtete individualistische Strategie“ weit effektiver als „Strategien, die sich gegen andere Staaten richten“. (Babones 2017, S. 22) Das ist eine wirklich unverblümte Argumentation. Aber dieses Nullsummendenken, das Nutzenteilung ablehnt, enthüllt geradewegs die imperialistische Trumpfkarte des „US-amerikanischen Tianxia“, nämlich dass dieses die Weltordnung nach wie vor im Rahmen antagonistischen Denkens betrachtet und daher in Wahrheit in Richtung eines Imperialismus und nicht in Richtung eines Tianxia-Systems strebt. Die USA verfügen tatsächlich über die Vorzüge des Neo-Imperialismus, aber nicht über die eines Tianxia-Systems. Antagonistisches Denken stellt geradezu das Gegenteil des Tianxia-Konzepts dar. Eine konstituierende Strategie bzw. das Kunststück des Tianxia-Systems besteht darin, mittels neuer Beziehungen gemeinsame Teilhabe zu erreichen – dass aus Gegnern Freunde werden. Jedes System, das diese Strategie ablehnt, gehört nicht zum Tianxia-System. Zweifellos ist das Modell des Imperiums in der Lage, eine Weltordnung zu schaffen. Das Problem dabei ist, dass es sich dabei nicht um ein Tianxia-System handelt.

Vermutlich enthält das US-amerikanische Imperium konzeptionell eine Reihe von Innovationen. Es handelt sich nicht mehr um den traditionellen Imperialismus. Wie Babones hervorhebt, ist es den USA gelungen, der Lebensweise des Individualismus universale Attraktivität zu verleihen. Außerdem streben sie nicht mehr nach territorialer Ausdehnung, sondern nach der Führungsmacht über die Welt. Hierin unterscheidet es sich tatsächlich vom traditionellen Imperialismus. Daher meint Babones, dass die US-amerikanische Ordnung mehr und mehr auf ein Tianxia-System zusteuert. „Das US-amerikanische Tianxia ist ein post-imperialistisches Tianxia. Es ist nicht genötigt, fremde Territorien zu erobern, um sein Vermögen und seine Manpower zu vermehren. Geld und Menschen fließen aus eigenem Antrieb dorthin.“ (Babones 2017, S. 25) Oberflächlich betrachtet, entspricht das in gewisser Weise dem Tianxia-Prinzip des freiwilligen Beitritts. In Wahrheit haben die USA in der Vergangenheit weiträumige Territorien anderer Staaten in Besitz genommen. Der Grund für den Wechsel liegt darin, dass die Strategie der Besitzergreifung fremder Länder und Städte überholt ist und in administrativer und moralischer Hinsicht die Verluste den Gewinn übersteigen. Deshalb hat sie auf eine brillantere, mit geringeren Unkosten verbundene Strategie der Weltbeherrschung umgesattelt, nämlich mittels Dominanz und Kontrolle des globalen Finanzkapitals, der Hochtechnologie und der Ressourcenströme das Ziel der Weltbeherrschung zu erreichen. Das ist eine geniale Strategie, aber nicht unbedingt eine nachhaltige. Werden die Menschen auf alle Zeit mit dieser Art der Herrschaft durch die USA einverstanden sein? Und was, wenn nicht? „Das Nicht-Einverständnis der anderen“ ist die Verkörperung all der nie gelösten sozialen Probleme.

In Bezug auf das „US-amerikanische“ Tianxia vertritt Babones eine Reihe weiterer interessanter Ansichten. Er ist der Meinung, das Tianxia bedürfe eines Kernstaats zur Führung der Weltordnung, der zu einem „Reich der Mitte“ im allgemein theoretischen Begriff des Wortes wird. Übertragen auf die gegenwärtige Welt sind die USA der zentrale Staat, der über die Weltordnung entscheidet. Somit sind im Sinne der Tianxia-Idee die USA und nicht China das „Reich der Mitte“ der gegenwärtigen Welt. (Babones 2017, S. 26) Demnach befinden sich heute die „Gipfelpunkte“ aller „unterscheidbaren Hierarchien“ in den USA. Als Beispiele nennt er New York als Gipfel für das Finanzwesen, die Medien, die Künste und die Mode, Boston für die Erziehung, Silicon Valley für die Informationstechnologie, Hollywood für die Filmindustrie und Baltimore für die Medizin. Diese Beweisführung enthält offensichtliche Übertreibungen, da es sich bei den Gipfeln durchaus nicht um „Riesen unter Zwergen“ handelt. Die Differenz zwischen den „Hauptgipfeln“ und den zahlreichen „Nebengipfeln“ ist nicht sonderlich groß. Die „Hauptgipfel“ ragen keineswegs aus einer Kette kleiner Berge empor. Die Rolle Großbritanniens und der Europäischen Union im Finanzwesen ist keinesfalls zu unterschätzen, Mode aus Paris und Mailand übertrifft vermutlich die aus New York, in Sachen zeitgenössische Kunst stehen London und Berlin New York nicht nach und darüber, ob das Erziehungswesen Großbritanniens und Deutschlands dem der USA unterlegen ist, lässt sich streiten. Will man die tatsächlichen Gipfelpunkte der USA auflisten, wären das vermutlich fortgeschrittene Waffensysteme, die Hegemonie des Dollars, Informationstechnologie und künstliche Intelligenz – allesamt mehr oder weniger Waffen zur Beherrschung anderer. Babones erwähnt die US-amerikanischen Waffen nicht, aber gerade sie sind der US-amerikanische Gipfel, der unbedingt genannt werden muss. Sie sind denen anderer Länder technologisch überlegen und übersteigen die Gesamtzahl an fortgeschrittenen Waffensystemen aller anderen Staaten. Das von den USA entwickelte asymmetrische militärische Potenzial reicht aus, um die Menschheit mehrfach auszulöschen. Die einzige gültige Erklärung dafür lautet: Die USA haben ein Imperialsytem etabliert. Um die Weltordnung zu beherrschen, brauchen sie eine erdrückende militärische Überlegenheit, kein Tianxia-System gemeinsam geteilter Sicherheit und Interessen.

Babones’ Argumente für ein „US-amerikanisches“ Tianxia gründen sich zusätzlich auf einen Vergleich zwischen der chinesischen Ming-Dynastie (1368–1644) und den heutigen USA. Er empfindet Unverständnis darüber, dass ich (und Qin Yaqing) die Ming-Dynastie nicht als Beispiel eines Tianxia-Systems verwenden. (Babones 2017, S. 8 f.) Doch warum ausgerechnet die Ming-Dynastie? Als Illustration eines Tianxia-Systems ist die Ming-Dynastie eine merkwürdige Wahl und in keiner Hinsicht ein geeignetes Beispiel. Das einzige Tianxia-System in der chinesischen Geschichte existierte während der Zhou-Dynastie. Wie bereits erwähnt, bestand das Tianxia der Zhou-Dynastie zwar noch nicht im Weltmaßstab, aber seine Gründungsabsicht orientierte sich am Tianxia-Konzept. Dieses System endete mit der Qin (221–207 v. Chr.)- und der Han (206 v. Chr. – 220 n. Chr.)-Dynastie. China wandelte sich in einen großen Einheitsstaat mit einem relativ komplexen Charakter, das weder einem Imperium noch einem Nationalstaat entspricht. Gemäß meiner Analyse in Hui ci Zhongguo (Der Himmel segne China, Zhao 2016) war China von der Qin-/Han-Dynastie bis zur Qing (1644–1911)-Dynastie „ein Staat mit Tianxia-Gehalt“, seinem grundlegendem Wesen nach ein großer Einheitsstaat, der das geistige Erbe der Tianxia-Idee übernommen, die Ordnung des Tianxia-Systems jedoch aufgegeben hatte. Er wandelte die gesamtweltliche Struktur des Tianxia in die Binnenstruktur eines Staates um, er übertrug die Idee des Tianxia auf den Aufbau eines Staates und erfand die Einheit „ein Staat, mehrere Systeme“. Das Nach-Qin-/Han-China war daher kein Tianxia mehr, sondern ein Staat mit einer inneren Tianxia-Struktur. Außer der Zhou-Dynastie kann keine Dynastie als Exempel des Tianxia gelten.

Selbst wenn man einen Schritt weitergeht und den „Staat mit Tianxia-Gehalt“ als eine Anwendung der Tianxia-Idee interpretiert, so wären es die Han-, die Tang (617/18–907)- und die Qing-Dynastie, die die Tianxia-Idee „ein Staat, mehrere Systeme“ relativ erfolgreich anwendeten. Das Urheberrecht dafür gebührt der Han-Dynastie. Spricht man dagegen vom Nebeneinander der Territorien innerhalb und außerhalb der Großen Mauer, handelt es sich um eine Schöpfung der Tang-Dynastie. Spricht man vom Umfang und der Vielfalt des Territoriums, handelt es sich um die Yuan (1279–1368)- oder die Qing-Dynastie. Das Territorium der Qing-Dynastie war zwar weniger ausgedehnt als das der Yuan-Dynastie, aber ihr System war ausgereifter und der Grad der von ihr ausgeübten Kontrolle höher. Im Vergleich dazu leistete die Ming-Dynastie in Bezug auf die Idee „ein Staat, mehrere Systeme“ nichts Bemerkenswertes. Bestenfalls vervollkommnete sie das Tusi-SystemFootnote 3 der Yuan-Dynastie. Selbst wenn man den weltumfassenden Geist des Tianxia außer Acht lässt und nur über die Errungenschaften auf chinesischem Territorium spricht, ist die Ming-Dynastie keine modellhafte Dynastie. Nach traditioneller Interpretation sind die drei Dynastien der Xia (ca. 2200–1800 v. Chr.), Shang (ca. 1700–1000 v. Chr.) und Zhou (1046–221 v. Chr.) vorbildlich. Insbesondere vertritt die Zhou-Dynastie „Glanz und Talent“, weshalb Konfuzius von seiner „Verehrung der Zhou-Dynastie“ spricht. (Lun Yu/Gespräche, Bayi 論語, 八佾) An zweiter Stelle der Modell-Dynastien stehen die Han-, die Tang- und die Qing-Dynastie als Vertreter der „Großen Einheit“. Nimmt man das kulturelle Niveau als Maßstab, sind die Tang- und die Song (960–1279)-Dynastien modellhaft, in Sachen politischer Administration ist die Song-Dynastie vorbildlich als Epoche, in der Kaiser und Gelehrte gemeinsam regierten. Geht es um die Größe des Territoriums, so stehen dafür die Tang-, Yuan- und Qing-Dynastie. Was Außenbeziehungen angeht, so existiert das Tributsystem seit der Antike, die Ming-Dynastie hat es lediglich übernommen. Im Gesamtüberblick nimmt die Ming-Dynastie unter den Herrschaftshäusern, die Gesamtchina regierten, keinen hohen Rang ein. Betrachtet man einzelne Aspekte, hat sie ebenfalls keine besonderen Vorzüge aufzuweisen. Im Gegenteil: Sie war im Bereich der Politik zumeist wirr und inkompetent, sie negierte die Tradition des gemeinsamen Regierens. Kulturell war sie mittelmäßig, im Geistigen reichte sie nicht an die Vor-Qin-Zeit heran, in der Poesie nicht an die Tang- und Song-Zeit, in der Malerei nicht an die Song- und Yuan-Zeit. Es gab zwar die Seereisen Zheng HesFootnote 4 (später verboten), relativ entwickelt waren Handwerk und Handel (umstritten) sowie die populären Romane, aber ihre Mängel überwiegen diese Vorzüge. Alles in allem ist die Ming-Dynastie keine repräsentative Dynastie. Die besondere Aufmerksamkeit, die europäische und US-amerikanische Gelehrte der Ming- und der Qing-Dynastie widmen, rührt daher, dass der erste direkte Kontakt Europas mit China in der Ming-Dynastie stattfand und man daher über die Ming- und Qing-Dynastie detailliertere Kenntnisse hatte. Von ein paar Spezialisten abgesehen versteht die Mehrzahl der europäischen und US-amerikanischen Gelehrten wenig vom China vor der Song-Zeit. Das bedeutet, dass sie sich kaum mit der historischen Herleitung der Systeme der Ming- und Qing-Dynastie beschäftigt haben und daher kaum in der Lage sind, den historischen Platz beider Dynastien zu begreifen. Das führt zu Missinterpretationen.

Dass Babones die Ming-Dynastie als ein Tianxia-System ansieht, ist zwar falsch, aber wenn man die Ming-Dynastie und die USA als Supermächte betrachtet, ist der Vergleich zwischen beiden höchst interessant und erhellend. Er liefert unten stehende vergleichende Tabelle (Babones 2017, S. 22):

Dimensionen

Ming Tianxia

US-amerikanisches Tianxia

Ideologie

Konfuzianismus

Individualismus

Netzwerk-Typus

Staat-zu-Staat-Beziehung

Individuumzentriert

Haltung

Defensiv

Expansionistisch

Einwilligung

Erzwungen

Freiwillig

Flussrichtung des Überschusses

Auswärts

Einwärts

Flussrichtung der Human Ressources

Auswärts

Einwärts

Fünf Grade der Zugehörigkeit

Domänen des Herrscherhauses

Achse Washington DC-New York-Boston

Untergeordnete Domänen

Übriges Gebiet der USA

Interne Barbaren

Angelsächsische Alliierte

Tributäre Barbaren

Andere alliierte Staaten

„Wilde“ Barbaren

Nicht verbündete Staaten und Feinde

Die Zusammenfassung der Unterschiede zwischen dem China der Ming-Dynastie und den USA und die Vorzüge des US-amerikanischen Systems entsprechen im Großen und Ganzen der Wirklichkeit. Seine Entdeckung, dass auch die USA „fünf Grade der Zugehörigkeit“Footnote 5 besitzen, ist tatsächlich ein kreativer Gedanke. Allerdings enthält auch sie einige fehlerhafte bzw. zweifelhafte Elemente. Vor allem betrachtet er Großbritannien, Kanada und Australien als Gebiete, die ins amerikanische System integriert sind, was gleichzusetzen ist mit der Position der „Barbaren im Inneren“ der Ming-Dynastie (Babones 2917, S. 26–29). Ich bin mir nicht sicher, ob diese Staaten mit dieser US-amerikanischen Auffassung einverstanden sind. Zweitens ist der größte Teil der Tributarstaaten der Ming-Dynastie ohne Zwang zum Tributarstaat der Dynastie geworden. Die Situation der Tributarstaaten der Ming-Dynastie war sehr unterschiedlich. Manche partizipierten in hohem Maße an der chinesischen Kultur, etwa Korea und Vietnam. Sie hatten besonders enge Beziehungen zu China und wurden Tributarstaaten der Ming-Dynastie einerseits aufgrund ihrer Macht und ihres Einflusses, andererseits wegen des Vorteils, den es bot, sich auf einen großen Staat zu stützen. Zu behaupten, dass es ausschließlich unter Zwang geschah, trifft die Sache nicht ganz, weil die Anbindung an einen mächtigen Staat als Garant der Sicherheit und der eigenen Interessen eine rationale, pragmatische Entscheidung darstellte. Für eine weitere Anzahl kleinerer Staaten waren weder Konkurrenzdruck noch große Nähe ausschlaggebend. Vielmehr bot der Status eines Tributarstaates der Ming-Dynastie einen Mehrwert an wirtschaftlichem Gewinn. Es war ihnen also daran gelegen, Tributarstaat zu werden. Und schließlich gab es einige Staaten, die mit der Ming-Dynastie kaum Kontakt hatten und die aus verdeckten Interessen Tributarstaaten wurden, beispielsweise weil sie die Nähe von Macht und Reichtum suchten. Auch hier handelt es sich um pragmatische bzw. opportunistische Entscheidungen, die offensichtlich auf „Freiwilligkeit“ beruhten. Nicht anders verhält es sich im US-amerikanischen System. Auch hier stützt sich der größte Teil der Staaten auf die USA aus pragmatischen oder opportunistischen Gründen. Gibt es Staaten, die es aus Nutzen transzendierenden Gründen, aus purer Liebe zu den USA tun? Daran kann man zweifeln, denn zwischen Staaten gibt es im Allgemeinen keine „Liebe“. Zweifelsohne sind die USA nicht nur aufs Ganze gesehen dem China der Ming-Dynastie überlegen – sie übertreffen sie auch in nahezu jedem Einzelaspekt. Entscheidend aber ist, dass weder die USA noch das China der Ming-Dynastie Tianxia-Systeme sind.

Kann sich das US-amerikanische System künftig in ein Tianxia-System wandeln? Das ist in der Tat eine interessante Frage. Die kulturellen Traditionen des US-amerikanischen Systems enthalten aber zwei mit dem Tianxia unverträgliche „Gene“:

  1. a.

    Unilateraler Universalismus. Hierbei handelt es sich um ein religiöses „Gen“ nach dem Vorbild des Christentums, das nicht berücksichtigt, dass auch andere Kulturen ihre universellen Forderungen haben und Errungenschaften besitzen, die es wert sind, universell zu werden. Das Tianxia kann nur auf der Grundlage eines kompatiblen Universalismus (compatible universalism) errichtet werden.

  2. b.

    Das Streben nach Nutzenmaximierung des Ausschlusses anderer mithilfe individueller Rationalität. Das produziert unweigerlich das Problem der „Ablehnung durch die anderen“ bzw. der Kooperationsverweigerung der anderen und führt im nächsten Schritt zu Konflikten.

Unilateraler Universalismus und individuelle Rationalität sind Ursachen für Konflikte und können nie als Heilmittel zur Lösung von Konflikten dienen. Meiner Ansicht nach repräsentiert das Modell des „US-amerikanischen“ Tianxia keine mögliche zukünftige Welt, sondern eine unmögliche. Es sei denn, in den USA vollzöge sich eine große Kulturrevolution, die das Denken änderte.

2 Die Historizität Chinas

In den Augen vieler Chinesinnen und Chinesen gehören sämtliche westliche Staaten in gleicher Weise zum „Westen“. Das ist ein synchroner Irrtum. Tatsächlich sind Länder wie Großbritannien, die USA, Frankreich, Deutschland oder Italien untereinander sehr verschieden. Man kann sie nicht einfach auf „einen Westen“ reduzieren. Ebenso ist China in der Vorstellung von Europäerinnen und Europäern das ewig gleiche China, ohne wesentliche Veränderungen. Das ist ein historischer Irrtum. Gleichgültig, welche Art von Irrtum, in Wahrheit handelt es sich um eine Simplifizierung des Gegenübers, das es zu verstehen und nicht in das einem selbst vertraute Wissenssystem zu zwängen gilt. Im Sinne einer einfacheren Erklärung werden die fremden Merkmale ignoriert und gemäß dem selbst erwünschten Ergebnis uminterpretiert. Aber diese Art des Verständnisses ist ein Irrtum, der zu zahlreichen Fehlern im Austausch und in der Produktion von Wissen führt. Eine chinesische Redewendung beschreibt diesen Zustand sehr deutlich: sich die Füße zurechtschneiden, damit sie in die Schuhe passen.

Ich beschränke mich hier auf die Diskussion der Irrtümer, die in direktem Zusammenhang mit unserem Hauptthema stehen, zunächst auf das Missverständnis des Wesens bezüglich der Historizität der chinesischen Ordnung. China wird gewöhnlich als ein seit alters her diktatorisch regiertes Kaiserreich betrachtet. Es gab lediglich den Wechsel der Dynastien, aber keine Änderungen der politischen Substanz. Dieser Irrtum übersieht vollkommen, dass es in der chinesischen Geschichte drei Systemwechsel gab, die zu Veränderungen führten, die nicht weniger tiefgreifend waren als jene im politischen System Europas. Der erste Systemwechsel war die Schaffung des Tianxia-Systems in der Zhou-Dynastie. Das dem vorangehende China besaß kein ausgereiftes politisches System. Vermutlich bestand es aus einem Verbund von Stämmen. Das von der Zhou-Dynastie geschaffene Tianxia-System wandelte diese Struktur in ein feudalistisches System aller beteiligten Staaten um. Der zweite Systemwechsel war die Beendigung des Tianxia-Systems unter der Qin- und Han-Dynastie und die Schaffung eines großen Einheitsstaates. Seit der Qin- und Han-Dynastie glaubte China nicht mehr, dass es die ganze Welt repräsentierte, aber es hielt sich nach wie vor für das Zentrum der Welt. Über lange Zeit wurde der Einheitsstaat China fälschlicherweise als eine Art Imperialstaat betrachtet. In Wahrheit handelte es jedoch um einen Staat, der sich durch die Übernahme der Idee des Tianxia in einen Staat mit einer inneren Tianxia-Struktur verwandelte, in ein China mit Tianxia-Gehalt, das heißt in einen Staat, der die Weltstruktur zu einer innerstaatlichen Struktur umwandelte. Man könnte ihn einen „Staat nach dem Muster der Welt“ (a world-pattern country) bezeichnen. Natürlich bedeutete die Übernahme eines historischen Erbes nicht, dass es keine Wesensänderung gegeben hätte. So sind zum Beispiel Großbritannien und Frankreich keine Imperialstaaten mehr, aber dennoch lässt sich dort imperiales Erbe finden. Der dritte Systemwechsel fand im modernen China nach dem Ende der Qing-Dynastie statt. Es akzeptierte die moderne internationale Ordnung und wurde ein moderner souveräner Staat. Es übernahm das Erbe der großen Einheit, insofern gehört es nicht zu den Nationalstaaten nach europäischem Muster, sondern wurde ein „multiethnischer“ moderner souveräner Staat. Der multiethnische Staat ist eine andere Form des modernen Staates, neben dem Nationalstaat. Was häufig übersehen wird: In der Realität sind nahezu alle großen Staaten multiethnisch, einschließlich der USA, Chinas, Russlands und Indiens. Aufgrund der Migrationsbewegungen werden sich vermutlich künftig viele Nationalstaaten zu multiethischen Staaten wandeln. Der Nationalstaat wird nicht mehr die hauptsächliche Staatsform sein.

Außerdem kann der Begriff des Tianxia leicht missverstanden werden, weil er sowohl theoretisch als auch literarisch Anwendung findet. In seiner theoretischen Anwendung verweist das Tianxia auf eine aus Welt, Völkergemeinschaft und universalem System bestehende Einheit. Entsprechend verbinden sich drei Schichten von Geografie, Psychologie und Politik zu einem Ganzen. Das ist meine persönliche theoretische Umschreibung, die aus den unterschiedlichen Tianxia-Erklärungen des frühen China resultiert. Jede von ihnen legt einseitig das Gewicht auf einen besonderen Aspekt, darunter das Verständnis Zhou Gongs,Footnote 6 der das Tianxia als universelles System verstand, das des Konfuzius und Menzius, die es als Seele der Völker interpretierten oder das des Laozi, der es als die Zusammenfassung alles Seienden auf Erden begriff. Im theoretischen Sinn umfasst das Tianxia die gesamte Welt. Ein häufiges Missverständnis setzt das Tianxia mit den „fünf Graden der Zugehörigkeit“ gleich, aber über diese hinaus gehörten auch die „vier Weltmeere“Footnote 7 zum Tianxia. Sie waren diesem zwar noch nicht beigetreten, aber dennoch im Gesichtskreis des Tianxia. Theoretisch umfasst das Tianxia alles, was „der Himmel überspannt“, daher ist das Tianxia-System unbegrenzt offen. Es ist in keinem Fall ein geschlossenes, abgegrenztes System.

In seiner literarischen Anwendung verweist das Tianxia häufig auf ein kontrolliertes, beherrschtes Gebiet. Es dient oft einer überhöhenden Darstellung, zum Beispiel bezeichnet das „geeinte Tianxia“ häufig das geeinte China oder sogar nur eine Ecke Chinas. Nimmt man das literarisch verwendete Tianxia in historischen Dokumenten als Ausdruck seiner theoretischen Bedeutung, begeht man wissenschaftlich eine Anomie.

Ein weiteres häufiges Missverständnis ist das „System der Tributzahlungen an den kaiserlichen Hof“. Das Missverständnis geht auf den Einfluss von John K. Fairbank zurück. „System“ bedeutet hier die politische, ökonomische, außenpoltische und sogar militärische Dominanz und Kontrolle über die dem System angehörigen Mitglieder. Wenn man es so betrachtet, besaß das antike China lediglich Regeln für Tributleistungen an den Kaiserhof, bei weitem kein Tribut-System, da der wesentliche Einfluss des antiken China auf die Nachbarstaaten im kulturellen Bereich lag. Es gab zwar die Politik der formellen Lehensvergabe, aber damit war keine Dominanz der politischen oder militärischen Macht verbunden. Es gab tributären wirtschaftlichen Austausch, aber dabei handelte es sich um eine symbolische und für den Empfänger des Kaiserhofs unvorteilhafte Geste, weil die Erwiderung des Tributzahlung sowie die damit verbundenen Verpflichtungen den Tribut überwog. Daher verdienen die Regeln für Tributleisten nicht die Bezeichnung „System“. Das Problem besteht darin, dass große Einheitsstaaten mit Imperien zwar in Erscheinung und Geist übereinstimmen, aber keineswegs danach streben, weit entfernte Gebiete zu kontrollieren. Sie verlangen nur, dass die Grenzregionen sich ruhig verhalten und keine Veranlassung zu militärischem Eingreifen und Steuerbelastung der Bevölkerung geben. Diesen Punkt erkennt Babones, aber er meint, dass die passive Strategie der Ming-Außenpolitik der expansiven Strategie der USA an Weltklugheit unterlegen ist. Die aktive Tribut-Strategie der USA, die vielen Staaten „Beitrittsgebühren“ bzw. „Pachtzins“ für den Eintritt ins „US-amerikanische“ Tianxia abfordert, schafft den USA immense Vorteile. (Babones 2017, S. 18 f.)

Und noch ein Missverständnis der chinesischen Geschichte muss man ansprechen: die Frage nach der sogenannten Beherrschung durch fremde Ethnien, die z. B. von der in den 1990er Jahren in den USA entwickelten Schule „New Qing History“ vertreten ist. Man kann schließlich nicht wegen der Herkunft mancher englischer Könige aus Frankreich oder Deutschland behaupten, Großbritannien sei ein Teil Frankreichs oder Deutschlands. Dasselbe gilt für China. Der nachträglich als Urahn Chinas anerkannte Stamm des Gelben Kaisers lebte in einer Mischform von Viehzucht, Jagd und Ackerbau. Gemäß der geografischen Lage seines Siedlungsgebietes und dem Merkmal eines ständigen nomadischen Ortswechsels gehörte der Gelbe Kaiser mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Volksgruppe, die später als Mongolen bezeichnet wurde. Man sieht, dass nomadische Stammesverbände Teil der Ursprünge Chinas bilden. Erst die technologische Entwicklung nach der Epoche der Frühlingsannalen (722–481 v. Chr.) und der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) führte zur Trennung von nomadischen Viehzüchter- und sesshaften Ackerbau-Gesellschaften in China. Daher hatte jegliche Volksgruppe auf der Jagd nach der Herrschaft über das Tianxia legitimen Anspruch auf den Thron. Die Mongolen (einschließlich Xiongnu und Tujue), die Xianbei (einschließlich der Tabgatsch), die Kitan, die Jurchen, die Mandschu, die Tibeter sind keine außenstehenden Ethnien. Sie alle beteiligten sich an der „Jagd auf den Hirschen“, sie alle bemeisterten sich immer wieder der Zentralebene oder großer Teile Chinas. Daher zählen die Mongolen, die Kitan, die Jurchen, die Mandschu ebenso wie die Han zu den Schöpfern der chinesischen Geschichte.

Der entscheidende Punkt zum Verständnis der Natur eines Staates ist das Verständnis des Wachstumsmodus über einen langen Zeitraum, insbesondere die dafür entscheidenden konstanten historischen Triebkräfte. Zufälligkeiten oder temporäre Phänomene können nur Ereignishaftes erklären, nicht aber Historizität. Ereignishaftigkeit liefert nur Erklärungen für spurloses Verschwinden, Historizität allein kann über einen langen Zeitraum ständig auftretende Fragen speichern. Im Verlauf der früheren Epochen Chinas entwickelten sich Zivilisationen überall, von den mongolischen Gebieten bis in den weiten Süden, vom Becken des Liao-Flusses bis zu den Gebieten im Westen. Sie breiteten sich an unzähligen Orten aus und formten das, was der Archäologe Su Bingqi (1909–1997) als „Muster des Sternenhimmels“ bezeichnete (Su 2010). Su ist der Auffassung, dass für die Herausbildung der Kernkultur der Zentralebene das Gebiet zwischen dem Westen des Liao-Beckens und dem Zentrum der Mongolei am wichtigsten war, in einem Y-förmigen Zivilisationskorridor von Shanxi nach Süden bis ins Jinan Heluo-Gebiet. Ich möchte hinzufügen: Gleichzeitig mit dem Y-Korridor bzw. kurz darauf bildete sich auch ein Zivilisationskorridor, der sich von Shandong über Henan bis nach Shaanxi und Gansu erstreckte. Hinzu kam ein zivilisatorischer Korridor vom Südwesten bis nach Henan. Beide zusammen bildeten mit dem Y-Korridor ein zivilisatorisches Netzwerk in Form des Zeichens für „Himmel“. Nach der Yao-Shun-EpocheFootnote 8 wurde die Zentralebene allmählich zum Zentrum und bildete das von Xu Hong so bezeichnete „früheste Reich der Mitte“ (Xu 2022). Darauf folgten die „drei Modelldynastien“ von Xia, Shang und Zhou, von denen die Zhou-Dynastie das Tianxia schuf. Mit dem Verfall der Zhou-Dynastie formte sich wegen der einsetzenden „Jagd auf den Hirschen“ die Herrschaft über die Zentralebene, schließlich das über 2000 Jahre währende zentripetale Wachstumsmodell des Mahlstroms. Ich bin davon überzeugt, dass das Mahlstrom-Modell schlüssig das kontinuierliche Wachstum Chinas und seine Struktur der Vielfalt in der Einheit erklären kann: Gleichgültig wie komplex die kulturellen Komponenten waren, sie alle wurden in den zentripetalen Strudel hineingezogen, flossen ineinander und formten China. Die Kultur der Zentralebene konnte zum Hauptelement und zur zentripetalen Kraft des Mahlstroms werden, weil die Zentralebene früher als andere über ein ausgereiftes Schrift- und ein politisches System verfügte und daher die Führung in der Wissensproduktion übernahm. Sie konnte ein in zeitlicher Hinsicht überlegenes und kohärentes historisches Narrativ und damit einen Maßstab der politischen Legitimation etablieren. Zugleich besaß das von der Tianxia-Idee geleitete politische System die größte Aufnahmekapazität und breiteste Affinität, die der Bevölkerung jedes Gebietes den rechtmäßigen Grund gab, an der Gestaltung Chinas mitzuwirken. Und daher strömten aus allen Himmelsrichtungen die Völker herbei und stürzten sich aus eigenem Antrieb in den Mahlstrom China. Die Schriftzeichen, das historische Narrativ und das Tianxia-Konzept beflügelten sich gegenseitig und formten eine Bewusstseinswelt, mit der Geschichte als Wissenskern und dem Tianxia als geistige Dimension. Man kann es so ausdrücken: In der geistigen Welt Chinas bildet nicht die Religion, sondern die Geschichte die Glaubensgrundlage, die grundlegende Vision ist nicht die der Nation, sondern die des Tianxia.

Allgemein gesprochen wuchs sich die Sternenhimmelstruktur Chinas allmählich zu einer netzwerkartigen Tianxia-Struktur aus, und die Verbindung von der Tianxia-Idee mit der Idee von China formte das Mahlstrom-Format der Jagd auf die Herrschaft über die Zentralebene. Das Ergebnis des zentripetalen Mahlstrom-Formats war der große Einheitsstaat China, das heißt ein China mit dem Gehalt des Tianxia. Nur die Erkenntnis, dass die innere Struktur des großen Einheitsstaates China aus einer zahlreiche Volksgruppen umfassende Tianxia-Struktur besteht, macht begreiflich, warum das alte China weder ein Imperium noch ein religiöser und noch weniger ein Nationalstaat war. Und nur so lässt sich verstehen, warum das alte China ein introvertiertes und nicht auf äußere Expansion gerichtetes Staatswesen war und dennoch so viele unterschiedliche Kulturen in sich aufnehmen und so viele Gebiete in sich vereinen konnte, um ein großer Einheitsstaat zu werden. Das ist die verknappte theoretische Version der Erzählung Chinas. Sie verdeutlicht die Entwicklung der Tianxia-Idee in ihrer praktischen Anwendung, also ausgehend von der Struktur eines weltumfassenden Tianxia zu einem Tianxia als Binnenstruktur eines Staates. In Bezug auf den großen Einheitsstaat China verdeutlicht sie zugleich, dass die Regeln für die Tributleistungen an den Kaiserhof sehr früh zu einem Symbol eines Zentralstaates verkümmerten und nicht die Realität eines dominanten „Systems“ waren. Die hier vorgetragene Erzählung von China soll hilfreich sein, sich von China eine vernünftige Vorstellung zu machen und die Wirklichkeit verzerrenden Missverständnisse auszuräumen. Nur so wird es möglich, die vielen Möglichkeiten einer künftigen Welt zu imaginieren und zu analysieren.

3 Einübung des neuen Tianxia-Lexikons

Babones stellt in seinem Buch American Tianxia die Frage nach der Verbindung zwischen dem Tianxia-Konzept und der Realität. Tianxia ist ein theoretisches Konzept, und es ist zu fragen, ob es unterschiedliche Tianxia-Systeme geben kann. Meine Antwort lautet: theoretisch schon. Wir wissen, dass die Zukunft immer „Weggabelungen der Zeit“ bereithält, um mit Jorge Luis Borges zu sprechen, das heißt, es existieren mehrere Möglichkeiten gleicher Wahrscheinlichkeit. Für Zukunftskonzepte wie das Tianxia existieren fraglos ebenfalls „Weggabelungen der Zeit“.

Die Bedeutung eines Konzepts bzw. Begriffs ist entweder offen oder geschlossen. Mathematische und wissenschaftliche Konzepte bzw. Begriffe sind gewöhnlich exakt definiert, ihre Bedeutung ist geschlossen. Wir können zum Beispiel den Begriff der „Parallelen“ nicht korrigieren in „zwei gerade Linien, die sich an einem fernen Punkt berühren“.Footnote 9 Konzepte und Begriffe des wirklichen Lebens haben mitunter festgelegte Inhalte, andere sind offen anwendbar, das heißt, man kann sie nicht auf eine einzige Bedeutung festlegen. Der Begriff des „Schiffes“ ist zum Beispiel exakt festgelegt, es handelt sich um einen Träger, der auf dem Wasser navigieren kann. Das Weltraumschiff dagegen ist lediglich eine Metapher, tatsächlich ist es kein Schiff, sondern ein fliegendes Gerät im Raum. Aber die großen Begriffe, die Lebensformen zum Ausdruck bringen, insbesondere Begriffe aus der Politik, der Ethik und der Kultur, besitzen zumeist einen offenen Bedeutungsspielraum. John Locke, David Hume, Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Karl Marx verstanden Freiheit höchst unterschiedlich, und das Verständnis von Gerechtigkeit ist bei Platon ein ganz anderes als bei Konfuzius oder bei John Rawls. Das Verständnis von Demokratie ist bei den Griechen ein völlig anderes als das der Moderne usw. Auch der Begriff des Tianxia hat einen offenen Bedeutungsraum. Er kann unterschiedliche Tianxia-Systeme zeitigen, aber diese Offenheit bedeutet nicht, dass er jede beliebige Bedeutung annehmen kann. Jeder Begriff hat eine teleologische Schranke – wobei das Ziel natürlich von Menschen und nicht von höheren Wesen gesetzt wird. Mit anderen Worten, jeder Begriff ist Ausdruck einer ontologischen Absicht einer Sache, jede Sache muss zumindest einem bestimmten Merkmal genügen, um diese Sache im Sinne ihres Begriffs zu sein. Ein völlig schrankenloser Begriff ist kein Begriff mehr, sondern ein vollkommen dekonstruierter Signifikant. Ich nehme den Begriff der „Kunst“ als Beispiel. Wenn jeder Gegenstand einschließlich des Abfalls als Kunst betrachtet werden kann, dann existiert kein Gegenstand mehr, der Kunst oder Nicht-Kunst ist.Footnote 10 Um zum Begriff des Tianxia zurückzukehren: Man muss beweisen, dass ein bestimmtes Tianxia-System tatsächlich einem vom Begriff des Tianxia versprochenen Tianxia-System angehört. Dazu ist es erforderlich, die im Tianxia-Begriff enthaltene Absicht zu analysieren.

Zweifellos ist das Beispiel der Verwirklichung des Tianxia-Systems – das Tianxia-System der Zhou-Dynastie – nur eine Referenz zum Verständnis des Tianxia-Begriffs und nicht identisch mit dem Begriff des Tianxia selbst. So wie die vom griechischen Städtebündnis realisierte Demokratie nicht das Modell der modernen Demokratie darstellt, ist auch das in der Zhou-Dynastie verwirklichte Tianxia nicht das Modell des zukünftigen Tianxia, sondern nur eine historische Referenz. Was also ist die eigentliche Bedeutung des Tianxia? Erstens, die „Kompatibilität der zehntausend Staaten“ (協和萬邦, aus Shangshu/Buch der Urkunden, Yao dian 尚書, 堯典), ähnlich dem „immer währenden Weltfrieden“, doch in viel größerem Maßstab als in Kants Entwurf. Zweitens, das „Alles Lebendige gewähren und fortleben lassen“ bzw. „Sein durch Werden“ (生生, aus Zhouyi/I Ging, Xici Shang 周易, 系辭上), um die „Große Eintracht“ (大同, aus Liji/Buch der Riten, Liyun 禮記, 禮運) zu erreichen, in der die zahllosen Völker der Welt ein sinnvolles Leben in familienähnlicher Harmonie führen könnenFootnote 11. Drittens, „das Tianxia behandeln, wie es dem Tianxia entspricht“ (以天下為天下, aus Guanzi, Mumin 管子, 牧民) bzw. „das Tianxia als Gemeinbesitz“ (天下為公, aus Liji/Buch der Riten, Li Yun, 禮記, 禮運), was bedeutet, dass die Welt zu einem von allen Völkern gemeinsam geteilten politischen Subjekt wird, zum gemeinsamen Welteigentum. Definiert man das Tianxia ex negativo, dann schließt es jedes imperialistische System und jede egoistische Bereicherung durch einen von einer Hegemonialmacht auferlegten „Pachtzins“ aus.

Die Absicht des Tianxia ist abstrakt. Die Verwirklichung der Ordnung des Tianxia-Systems muss jedoch konkret sein. Sie wird durch die realen Bedingungen bestimmt. Entsprechend den möglichen Bedingungen einer zukünftigen Welt, insbesondere den technologischen, könnte das künftige neue Tianxia die Form der Verbindung eines globalen Mahlstroms mit einem Netzwerk annehmen. Die Existenz von künstlicher Intelligenz, Internet, dem Internet der Dinge, Biotechnologie und Quantentechnologie wird zur Existenzform der künftigen Welt. Daher wird die auf dem Individuum als Subjekt beruhende Denkweise der individuellen Rationalität gezwungen sein, sich der vernetzten Existenzform zu unterwerfen. Sie muss sich in eine Denkweise der relationalen Rationalität umwandeln, die einer vernetzten Existenzform weit besser entspricht. Gemeint ist damit eine Denkweise, die beinhaltet, dass „die Koexistenz der Existenz vorausgeht“. Andernfalls kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer unkontrollierbaren Katastrophe. Zu beachten ist dabei, dass die Addition der individuellen Rationalitäten nicht zwangsläufig zu einer kollektiven Rationalität führt. Daher ist individuelle Rationalität nicht in der Lage, mit Krisen großen Umfangs fertigzuwerden. Es ist evident, dass nur relationale Rationalität die Möglichkeit der Etablierung einer kollektiven Rationalität besitzt.

Obgleich sich das neue Tianxia notwendig in vielen Punkten vom antiken Tianxia unterscheiden wird, wird sich der Geist ihrer Ordnungen ähneln. In der Antike war die Idee des Tianxia ihrer Zeit zu weit voraus, aber sie passt perfekt zur zukünftigen Welt. Einige Schlüsselbegriffe des neuen Tianxia habe ich in einem „Wörterbuch“ hervorgehoben (Zhao 2020). Diese Begriffe beinhalten eine auf Dauer gültige Methodologie und auf Dauer gültige Prinzipien, die ich im Folgenden vorstelle.

A. peitian (配天, „Übereinstimmung mit dem Himmel“)

Das Dao („Tao“ nach Wade-Giles) des Himmels ist die Bedingung der Bewegung von allem Existierenden, das Dao des Menschen als Bestandteil des Dao des Himmels muss diesem entsprechen. Das wird als Übereinstimmung mit dem Himmel bezeichnet. Sie bedeutet, dass die Natur die Grenzen der Freiheit markiert, die Schöpfung ist der Maßstab des Menschen. Wenn der Mensch dagegen verstößt, sich als absolutes Subjekt begreift, welches das Recht hat, sich nach Belieben die Natur zu unterwerfen und sich zum Maßstab der Schöpfung macht, handelt er „wider den Himmel“. Das kann zu einer irreparablen Störung des Gleichgewichts der Natur und darausfolgend zum Untergang führen. Das Dao des Himmels ist daher die absolute Schranke der menschlichen Existenz. Der Mensch hat nur innerhalb der Welt des Dao des Himmels die Freiheit des Schaffens. Der durch Gentechnik geschaffene Übermensch oder neue Geschöpfe in Form einer Verbindung von Mensch und Maschine sind vermutlich wider den Himmel gerichtete Schöpfungen. Die vorrangige Notwendigkeit des Tianxia-Systems besteht darin, Menschen durch die Macht des Systems daran zu hindern, Risiken einzugehen, für deren Konsequenzen sie keine Verantwortung übernehmen können, also nicht „wider den Himmel“ zu handeln. Das gilt insbesondere für technologische oder politische Risiken, die unkontrollierbare Konsequenzen haben. Es dient der Aufrechterhaltung der existenziellen Sicherheit der Menschheit.

A1. shengsheng (生生, „Alles Lebendige gewähren und fortleben lassen“ bzw. „Sein durch Werden“)

Da die Schöpfung ein Werk der Natur ist, liegt es in deren Absicht, aller Existenz die Fortexistenz zu ermöglichen, also allen Lebewesen die Möglichkeit zu geben, sich zu vermehren und zu gedeihen. Das ist der „Wille des Himmels“. Die Intention des Tianxia-Systems muss dem entsprechen. Es muss durch ein System allgemeiner Wohlfahrt die Vielfalt der Welt schützen, und mithilfe des Prinzips der Koexistenz Daseinsbeziehungen gegenseitiger Ergänzung und Unterstützung schaffen, sodass der koexistenzielle Nutzen größer ist als der exklusive.

A2. wuwai (無外,„Welt ohne Außen“)

Der Himmel kennt kein Außen, daher besitzt auch das Tianxia kein Außen. Eine entscheidende Voraussetzung für allgemeine Sicherheit und ewigen Frieden ist die inklusive Welt, die kein Außen mehr kennt. Die Welt ohne Außen ist eine Bedingung, um dauerhafte koexistenzielle Beziehungen zwischen sämtlichen Staaten zu gewährleisten. Das Tianxia-System wird zu einem alles umfassenden Aufsichtssystem zum Schutz einer universalen Weltordnung. Es handelt sich dabei um ein antiimperialistisches System. Das Tianxia-System gehört der ganzen Welt und nicht irgendeinem Staat, das ist mit „Tianxia als Tianxia behandeln“ gemeint und darin besteht auch die Gerechtigkeit des „Tianxia als Gemeinbesitz“. Einfach ausgedrückt bedeutet die „Welt ohne Außen“ die Internalisierung der Welt.

B. guanxi lixing (关系理性, „Relationale Rationalität“)

Sie ist ein Grundprinzip des Dao des Menschen. Vorrangige und essenzielle Verpflichtung des Dao des Menschen ist der Schutz der allgemeinen Sicherheit der Menschen bzw. der ewige Frieden. Die Rationalität des Dao des Menschen ist daher vorrangig auf die Sorge für die wechselseitige Sicherheit gerichtet, indem sie den Ausschluss von Krieg zur grundlegenden Forderung macht und Konkurrenz auf ein Ausmaß reduziert, das die Möglichkeit, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, auf ein Minimum beschränkt. Relationale Rationalität ist zwingend das Prinzip der Systemlogik des Tianxia-Systems, damit garantiert ist, dass Tianxia eine nichtexklusive Daseinsform darstellt bzw. eine koexistenzhelle Daseinsform in größtmöglichem Umfang. Daraus folgt:

B1. huxiang shanghai zuixiaohua (互相傷害最小化, „Minimierung der Möglichkeit gegenseitiger Schädigung“)

Sie ist die direkte Anwendung des Prinzips „Sein durch Werden“. Sie ist eine notwendige Voraussetzung koexistenzeller Beziehung und entspricht der rationalen Entscheidung für größtmögliche Vermeidung von Risiken, sie ist das rationale Prinzip per se. Die Minimierung der Möglichkeit gegenseitiger Schädigung hat unter rationalem Gesichtspunkt Priorität vor der Maximierung des persönlichen Nutzens.

B2. xianghu liyi zuidahua (相互利益最大化, „Maximierung gegenseitigen Nutzens“)

Sie umfasst die Strategien des universellen Nutzens und des komplementären Nutzens. Die Maximierung gegenseitigen Nutzens ist die ins Positive gewendete rationale Anwendung der Minimierung der Möglichkeit, sich gegenseitig Schaden zuzufügen. Da der Zustand globalisierter gegenseitiger Interdependenz eine Voraussetzung des Tianxia ist, befördert die Maximierung gegenseitigen Nutzens den Nutzen jedes Einzelnen bzw. jeden Staates – unter der Voraussetzung hochgradiger wechselseitiger Abhängigkeit der Menschen. Daher hat die Maximierung gegenseitigen Nutzens Priorität vor der Maximierung des persönlichen Nutzens. Konkret wird das realisiert in folgenden Maßnahmen bzw. Konzepten:

  • Die „Konfuzius-Amelioration“ (孔子改善). Es ergibt sich als grundlegende Implikation der Maximierung wechselseitigen Nutzens aus dem konfuzianischen Prinzip „Willst du sicher stehen, hilf anderen, sich aufzurichten. Willst du dich emporschwingen, hilf anderen aufzusteigen“ (已欲立而立人,己欲達而達人, Lun Yu/Gespräche,Yong Ye 論語,雍也). Es handelt sich um ein universelles Prinzip mit weitreichender Bedeutung, das sowohl politische als auch ökonomische und ethische Implikationen besitzt. In seiner politökonomischen Bedeutung bezeichne ich dieses Prinzip als die „Konfuzius-Amelioration“. Seine grundlegende inhaltliche Bedeutung besagt: Wenn ein System universell gerechtfertigt ist, dann, und nur dann ist seine Existenz gesichert. Sobald der gesamtgesellschaftliche Nutzen eine Verbesserung erfährt, erhält der individuelle Nutzen jedes Einzelnen notwendig die Pareto-Verbesserung. Das bedeutet, die Pareto-Verbesserung des gesellschaftlichen Gesamtnutzens muss zugleich die Pareto-Verbesserung jedes Einzelnen implementieren.

  • Das „Dao der Balancierung durch Mindern und Mehren“ (損補之道) hat seinen Ursprung in der Formulierung von Laozis Prinzip der Regelung des natürlichen Gleichgewichts: „Das Dao des Himmels ist es zu mindern, was im Übermaß ist, um zu mehren, wo Mangel besteht.“ (Dao De Jing 道德經, Kap. 77) Laozi war der Überzeugung, dass die überzogene Entwicklung von Dingen bzw. die übertriebene Steigerung des Nutzens Einzelner zu Gleichgewichtsstörungen und diese unvermeidlich in die Katastrophe führen. Gleichgewichtsverlust muss daher begrenzt werden. Laozis Prinzip stimmt partiell mit John Rawls‘ „Differenzprinzip“ überein, aber dieses gründet sich auf die Wertvorstellung der Gleichheit. Laozis Prinzip dagegen folgt aus einem ontologischen Gleichgewichtsgrundsatz, der besagt, dass alles Bestehende nur fortexistieren kann, wenn es sich im Gleichgewicht befindet. Gleichgewichtsverlust führt zum Verlust der Lebensfähigkeit. Die Minderung des Nutzens des Starken dient daher auch dem Schutz von dessen dauerhafter Existenz. Man sieht, dass es Laozi nicht aus Gründen der Gleichheit um die Fürsorge der Schwachen ging, sondern um das Gleichgewicht zur Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit aller Menschen und des wechselseitigen Nutzens. Dieses Gleichgewichtsprinzip stammte vermutlich aus dem Konzept des Yin-Yang-Gleichgewichts im Zhou Yi (I Ging), wo Yin-Yang die funktionale Metapher des Gleichgewichts darstellt.

  • Der „Kompatible Universalismus“. Ursprünglich besitzt jede Kultur ihre eigenen Wertvorstellungen, und die verschiedenen Auffassungen kommen sich untereinander nicht in die Quere. Tatsächlich haben die Konflikte ihren Ursprung im Denkmodell des Monotheismus. Nicht nur betrachtet er die eigenen Werte als universell, sondern verlangt auch, dass sie die einzigen sind. Wenn wir den Subjektcharakter jeder Kultur akzeptieren, ist es unmöglich, universelle Werte nach Art des Monotheismus zu definieren. Im Verständnis der universellen Werte verbirgt sich ein Fehler, nämlich der zu glauben, universelle Werte seien auf jedes Individuum anwendbar (applied to every individual), das ist das Verständnis des Monotheismus. Diese Interpretation aber führt zwangsläufig in ein Paradoxon: Wenn eine Kultur davon ausgeht, dass ihre Werte auf jedermann anzuwenden sind, dann kann jede Kultur davon ausgehen, dass ihre Werte auf jeden Menschen anzuwenden sind. Es ist klar, dass der einseitige Universalismus des Monotheismus logisch unhaltbar ist. Im Unterschied dazu interpretiert der Kompatible Universalismus die universellen Werten als „auf jede Beziehung anwendbar“ (applied to every relation). Das heißt, der Kompatible Universalismus entfaltet sich in symmetrischen „Beziehungen“ und nicht bezogen auf ein unilaterales „Individuum“. Auf diese Weise kann er das Paradoxon des Monotheismus vermeiden. Das grundlegende Prinzip des Kompatiblen Universalismus lautet: Jeder im Rahmen symmetrischer Beziehungen definierte Wert kann als universeller Wert gelten, weil nur die Legitimität symmetrischer Beziehungen den notwendigen Beweis für Universalität liefern kann. Ein nicht im Rahmen symmetrischer Beziehungen definierter Wert kann lediglich einen besonderen Wert darstellen, der irgendeine kollektive Vorliebe zum Ausdruck bringt.

Es ist unschwer zu erkennen, dass das „US-amerikanische“ Tianxia den Ansprüchen des Lexikons des neuen Tianxia nicht genügt und nicht in der Lage ist, zu einem Tianxia zu werden. Es ist nach wie vor ein Hegemonialsystem. Selbstverständlich kann auch ein Hegemonialsystem eine Weltordnung etablieren, wie die Realität des US-amerikanischen Systems zeigt. Im Grunde verfügt die Weltordnung über zwei Traditionen: die imperiale Tradition und die Tradition des Tianxia. Die imperiale Tradition ist das Dominanzsystem, das bedeutet die nach außen gerichtete zentrifugale Kraft, die sich nach außen hin ausdehnende unilaterale Dominanz über die Welt. Das Tianxia-System ist ein System gemeinsamer Teilhabe, also eine umschließende zentripetale Kraft, eine nach innen gerichtete, konvergierende, in sich aufnehmende Welt gemeinsamer Teilhabe. Auf kurze und mittelfristige Sicht ist das Dominanzsystem in Hinblick auf die Weltherrschaft erfolgreicher (wie das System des British Empire und das US-amerikanische System zeigen). Aber auf lange bzw. extrem lange Sicht dürfte das Tianxia-System glaubwürdiger und zuverlässiger sein. Das System der Weltdominanz ist wegen der fehlenden Zustimmung der Anderen in Hinblick auf die Monopolisierung von Macht, Technologien und Finanzkapital kaum auf Dauer aufrechtzuerhalten. Hier kommt zum Tragen, was ich als das Theorem des „Tests allgemeiner Nachahmung“ bezeichne. Vorausgesetzt, der Mensch verhält sich rational, so wird im Konkurrenzkampf jeder Mensch die erfolgreichere Strategie anderer nachahmen. Die Geschwindigkeit der Strategienachahmung wird höher sein, als die der Strategieneuschöpfung, und daher wird in der gegenseitigen Nachahmung am Ende eine „kollektive Pattsituation“ der konkurrierenden Strategien eintreten. Für diese Pattsituation gibt es zwei Lösungen: Wenn jeder der Beteiligten sich für eine feindselige Strategie (hostile strategy) entscheidet, dann wird das Ergebnis der gegenseitigen Nachahmung mit Sicherheit die gemeinsame Verantwortung für eine Katastrophe sein. Entscheiden sich die Beteiligten für eine freundschaftliche Strategie (hospitable strategy), dann wird das Ergebnis der Nachahmung eine koexistenzielle gemeinsame Teilhabe sein.

Gegenwärtig befindet sich die Welt nach wie vor im internationalen Spiel der modernen souveränen Staaten. Aber sie ist dabei, sich zu wandeln. Es zeichnet sich bereits eine „post-imperiale“ Situation, eine Situation „post-internationaler Politik“ bzw. eine „post-westfälische“ Situation ab, die allerdings gegenwärtig nur zu einem jedermann ersichtlichen Chaos führt und noch nicht in der Lage ist, ein neues Spiel zu etablieren. Vermutlich muss die Welt erst von einer „technologisierten Existenz“, repräsentiert durch das Netzwerk von allem, künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Quantentechnologie erfasst sein, bevor sie über die materiellen Voraussetzungen der Errichtung eines Tianxia-Systems verfügt. Das Tianxia wird jedoch nicht irgendeinem Staat zugehörig sein, sondern der Welt. Vereinfacht gesagt, das System ist der Souverän. Beunruhigen sollte uns die Frage, ob die Entwicklung des technologischen Systems eher einen Schatten auf das Tianxia-System werfen oder es im positiven Sinne begünstigen wird.

Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann