Zusammenfassung
Der Beitrag beleuchtet den Einfluss der COVID-19-Pandemie auf den professionellen Diskurs rund um die Digitalisierung der psychotherapeutischen Versorgung. Wir betrachten dabei die Veränderungen des Kontakts zwischen ambulant arbeitenden Psychotherapeut*innen und deren Patient*innen durch telemedizinische Mittel im Rahmen eines größeren Diskurses. Wir zeigen länger zurückreichende Koalitionen zwischen verhaltenstherapeutisch orientierten Ansätzen sowie App-Unternehmen, Krankenkassen und Berufsverbänden auf und verorten diese im parallel laufenden Professionalisierungsprozess der ambulanten Psychotherapie. Hierzu ziehen wir qualitative Interviews mit Psychotherapeut*innen heran, die wir zu Beginn der Corona-Beschränkungen 2020 geführt haben. Diese gleichen wir mit weiter zurückreichenden historischen (Dis)Kontinuitäten zur Digitalisierung psychotherapeutischer Versorgung ab.
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Notes
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Dazu könnten noch zwei weitere Ereignisse miteinbezogen werden, die sich zwar vor der Coronazeit ereigneten, aber dennoch in einer Reihe mit dieser betrachtet werden sollten: der Ausbau der Telemedizin durch Beschluss des Deutschen Ärztetages 2018 (Krüger-Brand 2018; vgl. auch Hahn 2018 zur Vorgeschichte des Fernbehandlungsverbots) und die Einführung des Digitale-Versorgung-Gesetz 2019 (BMG 2021).
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Mit Blick auf die betroffenen Patient*innen ließe sich die zunehmende Öffnung von KBV und BPtK gegenüber der Videotelefonie noch in anderem Licht betrachten. Einerseits war die umfassende Ermöglichung von Videosprechstunden mit der Intention verbunden, die psychotherapeutische Versorgung auch mit Rücksicht auf die Betroffenen möglichst ohne Unterbrechungen aufrecht zu erhalten. Andererseits hat diese Umstellung neue Herausforderungen mit sich gebracht, deren Chancen und Gefahren noch immer nur in Ansätzen erforscht sind (Dettbarn 2019; Eichenberg 2021).
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In allen Interviews werden kürzere Sprechpausen mit (.), längere Sprechpausen mit (…), lang gezogene Aussprache mit xx:::, gleichzeitig gesprochene Aussagen mit //xx//, paraverbale Äußerungen wie lachen mit (lacht), starke Betonungen durch Fettdruck sowie Textauslassungen in der Zitation mit […] markiert.
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Robra unterscheidet zwischen „externer Evidenz“ (Robra 2016, 194), die mit quantifizierenden Mitteln medizinische Phänomene in Diagnosekataloge zu überführen versucht, und „innerer Evidenz“ (Robra 2016, 194), welche die Erfahrungswerte aus der Allianz zwischen Mediziner*in bzw. Therapeut*in und Patient*in einbezieht und damit einen anderen Schwerpunkt in der Behandlungsstrategie legt.
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Dierkes, J., von Stetten, M. (2023). Gesundheitsapps statt Beziehungspflege? Die Folgen der Coronapandemie für den Digitalisierungsdiskurs im Bereich der professionellen Psychotherapie. In: Frommeld, D., Gerhards, H., Weber, K. (eds) Gesellschaften in der Krise. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39129-4_6
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