In der Einleitung (Kapitel 1) wurde die Motivation zur vorliegenden Arbeit beschrieben: Da viele Studierende vor allem zu Beginn ihres Studiums große Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Übungsaufgaben und daraus resultierend auch von Klausuraufgaben haben, sollte eine Fördermaßnahme entwickelt werden, die hier Abhilfe schafft. Es sollte aber hierfür keine zusätzliche Präsenzzeit aufgewendet werden, da die Studierenden ohnehin viel für ihr Studium tun müssen und großer Wert auf eigenständiges Arbeiten gelegt wird. Da außerdem über das Problemlösen in der Studieneingangsphase im Vergleich zu anderen Situationen noch recht wenig bekannt ist, ergaben sich folgende Forschungsfragen:

Forschungsfrage 1::

Inwiefern lassen sich bestehende Vermittlungskonzepte zum Problemlösen sinnvoll auf den Kontext der universitären Übungsgruppe übertragen?

Forschungsfrage 2::

Wie laufen Problembearbeitungsprozesse bei Studienanfängern der Mathematik an authentischen Übungsaufgaben ab und welchen Einfluss hat dabei die Teilnahme an der Fördermaßnahme?

Forschungsfrage 3::

Welche Auswirkungen hat die Intervention auf den Klausurerfolg sowie die Teilnahme an den Übungsgruppen und die Bearbeitung der Hausaufgaben im ersten Semester?

Ausgangssituation war also, dass zum einen die klassische Form der Übungsgruppe modifiziert und zum anderen grundlegende Erkenntnisse über Problemlöseprozesse zu Studienbeginn gesammelt werden sollten.

Grundidee des Interventionskonzeptes war die gemeinsame Reflexion individueller Problembearbeitungen, d. h. aus eigenständigen Bearbeitungen sollte durch systematische Betrachtung gelernt werden. Hierzu wurden verschiedene theoretische Überlegungen und Erfahrungen aus universitärer (z. B. Schoenfeld, 1985) und schulischer (Bruder & Collet, 2011; Leuders, 2017) Praxis herangezogen (vgl. Abschnitt 2.4). Einerseits wurde die gemeinsame Reflexion durch Dokumentation der Hausaufgabenbearbeitung im Sinne von Mason et al. (2011) (vgl. Anhang B) vorbereitet, die auch den Fokus stärker auf die Ideengenerierung und das Überwinden von Schwierigkeiten lenkte, andererseits wurden zum Ende der Reflexion die von den Studierenden als hilfreich eingeschätzten Strategien separat festgehalten. So konnten die Studierenden sich individuelle Wissensspeicher im Sinne von Leuders (2017) erstellen und pflegen. Um den Einstieg in einzelne Probleme zu erleichtern, wurde das Vorgehen unter Berücksichtigung von Erkenntnissen zum kooperativen Lernen (vgl. Abschnitt 2.4.4) gemeinsam geplant. Die hier beschriebene Maßnahme stellt eine insgesamt gelungene Möglichkeit der Übertragung bekannter Konzepte auf den universitären Kontext dar. Auf Ergänzungen dieser Ideen, die sich aus der Behandlung der Forschungsfrage 2 ergeben, wird weiter unten eingegangen.

Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage wurden Studierende bei der Bearbeitung authentischer Übungsaufgaben gefilmt und die dabei entstandenen Aufnahmen unter Berücksichtigung folgender Aspekte ausgewertet:

  • Ablauf der Prozesse (durch Einteilung in Schoenfeld-Episoden)

  • Nutzung des Skriptes und anderer externer Ressourcen

  • Heurismeneinsatz

  • Metakognitive Aktivitäten

  • Fachwissen und Fehler

  • Verschiedene Lösungsansätze

  • Lösungsqualität

Hierbei wurden zum einen bestehende Erkenntnisse bestätigt bzw. gezeigt, dass diese auch im Kontext der Studieneingangsphase gelten: Das Vorhandensein von Planungsprozessen (kodiert in Form der Schoenfeld-Episoden Planning und Implementation oder als metakognitive Planungsaktivität) wirkt sich positiv auf den Lösungserfolg aus, wenn der Plan konkret und nicht fehlerhaft ist und auch in die Tat umgesetzt wird (ein möglicher Bias aufgrund der Art der Kodierung wurde in Abschnitt 5.5.2 bereits diskutiert). Darüber hinaus gibt es Prozesse, bei denen der positive Einfluss von Heurismen und Metakognition zu erkennen ist und solche, bei denen der Einsatz heuristischer und metakognitiver Aktivitäten vermutlich geholfen hätte (vgl. z. B. Rott, 2013; Schoenfeld, 1985). Ebenso ist zu erkennen, dass der Nutzen vieler Heurismen, ähnlich wie bei Rott (2013), von der Beschaffenheit der Aufgabe abhängig ist. Es wurden aber auch Heurismen entdeckt, deren Einsatz von den Gewohnheiten und vermutlich dem Nützlichkeitsempfinden des Bearbeiters abhängt. Insgesamt haben sich die Heuristischen Hilfsmittel (Bruder & Collet, 2011) als besonders hilfreich erwiesen.

Zum Anderen gibt es aber auch einige neue Erkenntnisse: Der wesentliche Punkt besteht in der Rolle, die das Vorwissen spielt. In acht von 13 Prozessen wurde deutlich, dass schwach ausgebildetes Fachwissen das Vorwärtskommen stark behindert, teilweise so stark, dass keine brauchbaren Argumente in Richtung einer Lösung entstanden sind und auch ein sinnvoller Heurismeneinsatz verhindert wurde. Der Aspekt des Vorwissens sollte also in Zukunft noch genauer betrachtet werden. Eng mit dem Vorwissen zusammenhängend hat sich gezeigt, dass Studierende, die sich während des Problembearbeitungsprozesses stark auf das Skript oder andere Ressourcen stützen, oft größere Schwierigkeiten haben als Probanden, die ohne externe Ressourcen auskommen und selbstständig Ideen generieren.

In diesem Zusammenhang stellt sich eine interessante Frage: In welchem Maße müssen Problemlöseprozesse durch den Aufbau von Vorwissen vorbereitet werden und in welchem Maße können Problemlöseprozesse den Aufbau von Wissen unterstützen? Im Zusammenhang mit letzterem wird gerne von Lernen durch Problemlösen gesprochen (z. B. Heinrich et al., 2015; Holzäpfel et al., 2018). Dabei sollen während eines Problemlöseprozesses Lernaktivitäten angeregt werden. Wie auf S. 31 f. beschrieben, werden beim Problemlösen ähnliche kognitive Aktivitäten durchgeführt wie beim Tiefenlernen. Ein Beispiel dafür ist der Bearbeitungsprozess von Malik zum Quetschlemma. Er hat hier Schwierigkeiten, weil er den Umgang mit Beträgen nicht gewöhnt ist. Dadurch wird der Prozess um etwa eine halbe Stunde in die Länge gezogen. Am Ende hat er sich die ihm vorher fehlende Erkenntnis selbst hergeleitet und dadurch gute Wissensstrukturen geknüpft. Er hat sich also einen unbekannten Aspekt des Betragsbegriffs selbst erschlossen. Das Lernen durch Problemlösen und das Lernen zum Problemlösen greift also ineinander. Es bleibt die Frage zu klären, wann für eine Bearbeitung notwendiges Wissen aufgebaut werden sollte: vor oder während des Prozesses? In der universitären Praxis haben Studierende aufgrund der längeren Bearbeitungszeit der Hausübung (im Gegensatz zu der Stunde, die in etwa bei den beobachteten Prozessen genutzt wurde, steht hier eine Woche zur Verfügung) aber die Möglichkeit, flexibler zwischen der Aneignung von Wissen und der Bearbeitung von Problemen hin- und herzuwechseln, als das bei den beschriebenen Interviews der Fall war: Es besteht die Möglichkeit, sich vom Problem zu entfernen und erstmal in Ruhe unklare Begriffe zu erarbeiten.

Wie zu erwarten war, hat die Intervention, wie andere kurzfristige Heurismentrainings (siehe Abschnitt 2.4.5), keinen großen Einfluss auf die Qualität des Heurismeneinsatzes gehabt. Allerdings zeigt sich bei zwei Probanden (Jan und Julia) die Tendenz, dass Metakognition besser eingesetzt wird, die Praxis in den Interventionsgruppen also hilfreich ist.

Die vorliegende Arbeit hat ihre Betrachtung von Problemlöseprozessen sehr breit angelegt, um einen holistischen Blick zu ermöglichen. Jeder einzelne der betrachteten Aspekte kann sehr viel tiefergehender betrachtet werden. Diese Verdichtung der Ergebnisse der qualitativen Erhebung ist bewusst kurz gehalten. Eine ausführlichere Zusammenfassung findet sich in Abschnitt 5.6.

Um auf Forschungsfrage 1 zurückzukommen: Die Erkenntnisse aus der qualitativen Untersuchung haben natürlich die Weiterentwicklung der Maßnahme beeinflusst. Speziell die große Bedeutung von Vorwissen hat dazu geführt, dass zu Beginn eines Semesters mathematikspezifische Lernstrategien eingeübt wurden. Hierzu zählte zum einen, dass die Studierenden angeregt wurden, sich die verschiedenen Facetten eines neuen Begriffs oder Satzes durch Organisation (Generierung von Beispielen, Darstellungswechsel etc.) und Elaboration (Verknüpfung mit bekannten Definitionen und Sätzen, Betrachten des Beweises) genauer anzuschauen (vgl. 6.2). Zum anderen wurde ein Training zum selbstständigen Nachvollziehen von Beweisen nach Hodds et al. (2014) durchgeführt (siehe Anhang B).

Zur Erleichterung des Einstiegs in das Problemlösen hat sich eine direkte, explizite Vermittlung von heuristischen Hilfsmitteln im Sinne von Bruder und Collet (2011) als effektiv erwiesen. Mit der direkten Vermittlung anderer Heurismen wurden aber von den beteiligten Tutoren schlechte Erfahrungen gemacht, weil Studierende durch stichwörtliche Zusammenfassungen einer Strategie eher abgelenkt und verwirrt wurden, als dass sie ihnen geholfen hätte. Die Hilfsmittel hingegen haben sich, wie schon König (1992) geschrieben hat, als leicht vermittelbar herausgestellt.

Eine ausführliche Diskussion über den letzten Stand der Intervention wurde bereits in Abschnitt 6.4 geführt. Da die Maßnahme sowohl in der Analysis als auch in der linearen Algebra getestet wurde, gibt es keine augenscheinlichen Gründe, diese nicht auch auf andere Veranstaltungen übertragen zu können.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage 3 lässt sich sagen, dass die durchgeführten quantitativen Auswertungen allesamt leichte, aber nicht signifikante Vorteile der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe zeigen. Damit ist zumindest gesichert, dass die Veränderung der etablierten Übungsform sich nicht negativ auswirkt. Eine Weiterführung der Maßnahme wird also, auch aufgrund der leichten Umsetzbarkeit, empfohlen.

Im Zuge der Entwicklung der beschriebenen Intervention und der qualitativen Prozessanalysen wurde zur lokalen (auf das Problemlösen in der Studieneingangsphase bezogenen) Theoriebildung im Sinne der fachdidaktischen Entwicklungsforschung beigetragen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Erkenntnisse aus anderen Bereichen auf diesen Kontext übertragen lassen: Heuristische Hilfsmittel können leicht erlernt werden, Heurismeneinsatz hat positiven Einfluss auf Problemlöseprozesse, ist aber aufgabenabhängig, auch metakognitive Steuerung wirkt sich positiv aus und lässt sich einüben.

Bemerkenswert ist aber die Erkenntnis, dass Fachwissen einen erheblichen Einfluss auf den Problemlöseerfolg in authentischen Übungskontexten hat. In Anbetracht der wenigen Zeit, die zur Aneignung neuen Wissens und der Bearbeitung zugehöriger Übungsaufgaben zur Verfügung steht, stellen sich in dem Zusammenhang einige Fragen: Eine genauere Untersuchung von spezifischen Lernstrategien und eine mögliche Integration von Lernen durch Problemlösen (vgl. Holzäpfel et al., 2018) unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine gewisse Wissensbasis für die Problembearbeitung notwendig ist, wäre sicherlich gewinnbringend. Hierbei ist auch zu klären, ob man diese notwendige Wissensbasis genauer ermitteln kann. Da in der Problemlöseforschung die Rolle des Vorwissens häufig ausgeblendet wird (z. B. durch die Konstruktion entsprechender Probleme), ist es auch interessant, diesen Aspekt auch im schulischen Zusammenhang genauer zu untersuchen.

Es stellt sich auch die Frage, ob die in der vorliegenden Arbeit gewonnenen Erkenntnisse sich auf andere Übungsaufgaben mit größerem Routineanteil übertragen lassen. Die hier betrachteten Aufgaben waren ja bewusst so ausgesucht, dass sie für alle Probanden ein Problem darstellten (nur Malik war in der Lage, mindestens ein Problem vollständig zu lösen). Auf dem Spektrum von reiner Routine zum reinen Problem gibt es daher noch viele Abstufungen, die zu untersuchen sind.

Was die Intervention angeht, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Modifikation, die bisher nicht getestet wurden, da sie die Kooperation des verantwortlichen Dozenten benötigen: Vom Stellen eigener Aufgaben über die Ausgabe strukturierter Lösungshilfen bis zur Korrektur und Bepunktung der von den Studierenden erstellten Dokumentationen ihrer Hausaufgaben gibt es einige Ansätze. Auch eine genauere Betrachtung der Vor- und Nachteile von Präsenzübungen ist denkbar. Gerade vor dem Hintergrund, dass Problemlösen als Vehikel zum Lernen dienen kann, stellt sich die Frage, ob das zu den hier betrachteten (und anderen authentischen) Problemen benötigte Vorwissen durch basalere Einstiegsprobleme erarbeitet werden kann. Hierbei kann es sich etwa um Beweise von für den Experten trivialen, aber den Novizen herausfordernden, Aussagen handeln oder aber um eine Erkundungsaufgabe, die im betrachteten universitären Kontext bisher zu wenig Beachtung findet (vgl. Stenzel, 2017).

Um den Einfluss dieser minimal-invasiven Maßnahme zu steigern, wäre auch denkbar, eine eigene Veranstaltung zu Problemlösen und Beweisen, ähnlich wie sie Kempen (2019) für Haupt-, Real- und Gesamtschulstudierende durchgeführt hat, für Fachstudierende oder Gymnasialstudierende umzusetzen. Eine Kombination der Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit mit denen von Kempen (ebd.) wäre sicherlich sehr fruchtbar.