In diesem Kapitel wird die Interventionsmaßnahme in ihrer ursprünglichen, theoriebasierten Form beschrieben. Zunächst werden jedoch in Abschnitt 4.1 verschiedene Ansätze des Design Research präsentiert. Abschnitt 4.2 gibt dann einen kurzen Überblick über den zyklischen Ablauf der Intervention. Nachdem in Abschnitt 4.3 die Rahmenbedingungen der Maßnahme vorgestellt wurden, folgt in Abschnitt 4.4 die Entwicklung des ersten Zyklus der Intervention, die auf den in Abschnitt 2.4 beschriebenen theoretischen Überlegungen basiert. Abschnitt 4.5 beschäftigt sich mit der Schulung der an der Intervention beteiligten Tutoren. Da die in Kapitel 5 dargelegte qualitative Forschung Einfluss auf die Weiterentwicklung der Maßnahme hat, wird diese, und damit die vorerst letzte Version der Intervention, erst in Kapitel 6 beschrieben. Am Ende dieses Kapitels gibt es eine kurze Zuammenfassung der Maßnahme (Abschnitt 4.6).

4.1 Design Research

Im folgenden Abschnitt werden die Prinzipien des Design Research bzw. der Entwicklungsforschung, wie diese Forschungsrichtung im deutschsprachigen Raum meist genannt wird, zusammengefasst und auf die vorliegende Arbeit bezogen. Hierzu gibt es viele verschiedene Ansätze mit unterschiedlichen Bezeichnungen, die sich durch abweichende Schwerpunktsetzungen voneinander unterscheiden (vgl. Link, 2012; Plomp, 2013; Akker, Gravemeijer, McKenney & Nieveen, 2006), z. B. Design-Based Research (Barab & Squire, 2016; Design-Based Research-Collective, 2003), Design Experiments (Brown, 1992; Cobb, Confrey, Disessa, Lehrer & Schauble 2003, Schoenfeld, 2006), Design Studies (Feuer, Philips, Shavelson & Towne, 2003; Walker, 2006), Developmental Research (Freudenthal, 1991; Gravemeijer, 1994; Akker, 1999); Engineering Research (Burkhardt & Schoenfeld, 2003, Burkhardt, 2006) und Participatory Action Research (Marks & Eilks, 2010). In Deutschland ist der Begriff der fachdidaktischen Entwicklungsforschung (Hußmann, Thiele, Hinz, Prediger & Ralle, 2013; Prediger et al., 2012) sehr präsent. Um Missverständnissen vorzubeugen, die durch die Bezeichnungen entstehen könnten, sei an dieser Stelle erwähnt, dass es sich bei Design Research nicht um das Design der Forschung handelt (dieses würde man im Englischen als research design bezeichnen). Ebenso beschäftigt die Entwicklungsforschung sich in der Regel nicht direkt mit der kindlichen Entwicklung. Es geht hierbei grundsätzlich um die Entwicklung (bzw. das Design) von Unterrichtsteinheiten oder ganzen Unterrichtsreihen. Das Prinzip, das allen Spielarten des Design Research gemein ist, wird vom Design-Based Research Collective (Design-Based Research-Collective, 2003, S. 7) wie folgt beschrieben:

[U]sing theory-driven design to generate complex interventions that can be improved through empirical study and that can contribute to more basic understanding of the underlying theory.

All diesen Ansätzen liegt also der Gedanke einer engeren Verknüpfung von Theorie und Praxis zu Grunde. So weist Wittmann (1992; 1995) darauf hin, dass mathematikdidaktische Forschung erst dann von Nutzen ist, wenn sie einen Einfluss auf die Durchführung von Lehr-Lern-Einheiten hat (vgl. für ähnliche Aussagen Brown, 1992 und das Design-Based Research Collective, 2003). So betont er, dass bei empirischer Forschung ohne reflektierte Erfahrung mit Schülern und ohne Teilhabe an der Unterrichtspraxis dieser praktische Nutzen nicht gegeben ist (Wittmann, 1992). Andererseits bestehe auch die Gefahr eines „verengten Pragmatismus“, der zu sehr auf unmittelbare Anwendbarkeit fixiere (ebd.). Wittmanns Ansicht nach ist die Mathematikdidaktik, ebenso wie die Ingenieurswissenschaften als eine design science zu verstehen, also als eine Wissenschaft, die, auf theoretischen Befunden basierend, Konstrukte (in dem Fall Unterrichtskonzepte) entwickelt, die einen praktischen Nutzen haben, und diese weiter untersucht.

In den Niederlanden wurde bereits in den 70er Jahren am IOWO (Institut voor de Ontwikkeling van het Wiskunde-Onderwijs – dt.: Institut für die Entwicklung des Mathematikunterrichts), dem Vorgänger des heutigen Freudenthal-Instituts, Curriculumentwicklung nach den Prinzipien des Design Research betrieben. Hieraus ist der Zweig des oben erwähnten Developmental Research entstanden. Auch hier wird die „Trennung von Entwurf und Ausführung“ von „Lehrstoff“ kritisiert. Freudenthal (1978) schreibt dazu:

Zweckmäßiger ist in der Curriculumentwicklung gerade die Einheit im Zyklus von Entwurf, über Fortbildung, Begleitung, Auswertung, zur Entwurf-Revision; der Entwerfer sei derselbe, der den ausführenden Lehrer vorbereitet und in der Klasse begleitet, und der die Ausführung und den Entwurf bewertet, wobei er selber von einem Team begleitet und beobachtet wird. So wird garantiert, dass die Absichten hinter dem Entwurf in der Ausführung zur Geltung kommen, dass schlecht Funktionierendes auf der Stelle revidiert und in einem zeitlich etwas verschobenen Zyklus in Parallelklassen von neuem erprobt wird.

Ein wesentliches Merkmal, das auch in diesem Zitat deutlich wird, ist die enge Zusammenarbeit zwischen dem Entwickler der Maßnahme und der Lehrkraft. Von anderen Autoren wird, noch deutlicher als diesem Textabschnitt zu entnehmen ist, die Beteiligung der Lehrkraft an Forschung und Entwicklung gefordert (z. B. Cobb et al., 2003; Gravemeijer & Cobb, 2006; Wittmann, 1992). Hierzu schreibt Plomp (2013):

[T]his will increase the chance that the intervention will indeed become relevant and practical for the educational context which increases the probability for a successful implementation.

Manche Ansätze (z. B. Burkhardt & Schoenfeld, 2003, Prediger et al., 2012) schlagen sogar vor, dass der Hauptentwickler der Maßnahme (zumindest in den frühen Phasen der Pilotierung) selbst als Lehrkraft aktiv wird, was in der vorliegenden Studie auch der Fall ist.

Abbildung 4.1 zeigt ein Modell von Entwicklungsforschung (das so allgemein gehalten ist, dass es neben der Mathematikdidaktik in Wittmanns (Wittmanns 1992; 1995) Sinne auch auf andere Design Sciences, wie die Ingenieurwissenschaften oder die Pharmakologie, anwendbar wäre), das im Folgenden genauer betrachtet werden soll. Zu BeginnFootnote 1 steht ein ProblemFootnote 2, das zunächst einmal analysiert werden muss. Im hier betrachteten Zusammenhang bedeutet dies vor allem, dass die gegebenen Rahmenbedingungen untersucht sowie Lernziele gesetzt werden. Dies wird für die vorliegende Arbeit in Abschnitt 4.3 genauer beschrieben. Anschließend wird eine erste Version der Maßnahme (hier Prototyp genannt) entwickelt. Diese Entwicklung baut auf Einsichten vorheriger Forschung auf, basiert also explizit auf fundamentalen theoretischen Prinzipien (vgl. Burkhardt & Schoenfeld, 2003; Cobb et al., 2003; Wittmann, 1995), wie sie in Abschnitt 2.4 dargestellt sind. Hierzu schreibt Wittmann (1992):

Die Qualität dieser Konstruktion hängt in der Tat von der theoriegeleiteten konstruktiven Phantasie, dem „ingenium“, der Konstrukteure ab und muß durch systematische Erprobung nachgewiesen werden, wie es für Ingenieurswissenschaften typisch ist.

Die Entwicklung eines theoriebasierten Prototyps der in dieser Arbeit beschriebenen Maßnahme wird in Abschnitt 4.4 ausgeführt.

Abbildung 4.1
figure 1

Zyklischer Ablauf von Entwicklungsforschung (Plomp, 2013)

Die praktische Erprobung in authentischen Kontexten ist ein entscheidendes Merkmal der Entwicklungsforschung, da hier der oben erwähnte Praxisbezug hergestellt wird (vgl. Design-Based Research-Collective, 2003). Hier kommen viele Einflussfaktoren und individuelle Merkmale der Beteiligten in komplexen Interaktionen zusammen, die von Lehr-Lern-Theorien nicht im Detail abgebildet werden können (vgl. Cobb et al., 2003; Design-Based Research-Collective, 2003; Wittmann, 1995). So schreibt Burkhardt (2006, S. 128): „Studies of student learning in tightly controlled laboratory conditions are too artificial to use directly in guiding design for the classroom“. Es ist also notwendig, die hypothetisierten Lernprozesse sowie die Mittel zu deren Unterstützung im lokalen Kontext auf ihre ökologische Validität (vgl. Kaminski, 1988) zu testen und zu evaluieren. Diese Evaluation führt zu einer Analyse des Designs und schließlich zu einer auf die Charakteristika der jeweiligen Lernsituation zurechtgeschnittenen Überarbeitung, die in weiteren Zyklen wiederum getestet werden kann. Auf die Art nähert man sich dem gewünschten Zielzustand immer weiter an (vgl. Design-Based Research-Collective, 2003; Gravemeijer, 1994; Link, 2012).

Die Evaluation kann, beruhend auf empirischen Untersuchungen und systematischen Beobachtungen, aber auch auf Erfahrungsberichten der involvierten Lehrpersonen, geschehen. Hierzu schreibt Hierzu schreibt Gravemeijer (1994, S. 47):

In practice, the findings are more often due to classroom experiences [...] than to testing results. That is, with intensive observations and productive contacts with experimental schools, there is a great deal of information obtained prior to when tests are administered.

In der Art und Weise, wie die Interventionen untersucht werden, unterscheiden sich die verschiedenen Zweige des Design Research, was auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen zusammenhängt (vgl. Plomp, 2013). So hat sich beispielsweise das dortmunder Modell der Entwicklungsforschung (vgl. Prediger et al., 2012), ähnlich wie die niederländische Developmental Research, (Gravemeijer & Cobb, 2006) (wie auch die vorliegende Studie) zum Ziel gesetzt, die ablaufenden Lernprozesse besser zu verstehen und aus diesem Verständnis lokal geltende Erkenntnisse zu gewinnen, aus denen sich möglichst verallgemeinerbare Aussagen herleiten lassen. Daher werden hier relativ kleinschrittig Teilaspekte der Lernprozesse empirisch untersucht. Um diese leichter erfassen zu können, werden die Unterrichtseinheiten in der Regel in Laborsituationen in Kleingruppen durchgeführt (Prediger et al., 2012). Der Ansatz des Engineering Research (der seinen Namen aus der auch von Wittmann benannten Nähe zum Vorgehen der Ingenieurswissenschaften ableitet) hingegen hat zunächst nur die Entwicklung einer gut funktionierenden Intervention im Blick. Stärken und Schwächen werden hauptsächlich durch strukturierte Beobachtungen sowie Rückmeldungen der Lehrpersonen identifiziert und überarbeitet. Empirische Untersuchungen werden auf spätere Umsetzungen in größerem Maße ausgelagert (Burkhardt & Schoenfeld, 2003).

4.2 Überblick über die Intervention

Die vorliegende Arbeit stellt ebenfalls die Entwicklung einer Intervention in den Vordergrund. Zusätzlich zu systematischen Beobachtungen und regelmäßigen Gesprächen mit den beteiligten Lehrpersonen wird, im Gegensatz zum dortmunder Modell, das detailliert Teilaspekte in den Blick nimmt, ein eher holistischer Blick auf die Problembearbeitungsprozesse von Studienanfängern und mögliche Auswirkungen der Intervention hierauf geworfen (siehe Kapitel 5). Zusätzlich wird in quantitativen Messungen der Einfluss der Maßnahme auf den Klausurerfolg sowie die aktive Teilnahme am ersten Semester betrachtet (Kapitel 7).

Die im Folgenden beschriebene Maßnahme (bei der es um die Neustrukturierung der wöchentlichen Übungsgruppe geht, siehe Abschnitt 4.3) hat insgesamt sieben Zyklen durchlaufen. Hierbei wurde, wie von Burkhardt und Schoenfeld 2003 empfohlen, zunächst in kleinem Umfang mit einer Übungsgruppe, die vom Autor der vorliegenden Arbeit geleitet wurde, begonnen. Im zweiten Durchlauf wurde eine zweite Gruppe hinzugenommen, wobei es zu wöchentlichen Treffen und regem Austausch mit dem anderen Tutor kam. Ab dem dritten Zyklus wurde, um einen Vergleich von Interventions- und Kontrollgruppe gewährleisten zu können, die Hälfte aller Übungsgruppen von Tutoren geleitet, die auf die Durchführung der Maßnahme geschult waren und sich zu wöchentlichen Treffen mit dem Autor, der immer jeweils selbst eine Übungsgruppe betreut hat, zusammenfanden. Tabelle 4.1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Zyklen.

Tabelle 4.1 Iteration der Intervention

Im folgenden Abschnitt 4.3 werden zunächst Überlegungen zu Rahmenbedingungen und Zielen der Intervention dargelegt. Anschließend wird in Abschnitt 4.4 die aus diesen Überlegungen und aus Abschnitt 2.4 hergeleitete erste Version der Maßnahme beschrieben. Die Schulung der Tutoren wird in einem eigenen Abschnitt (4.5) behandelt. Auf eine detaillierte Aufzählung, welche Änderungen sich nach welchem Zyklus ergeben haben, wird verzichtet. Stattdessen wird (nachdem in Kapitel 5 der qualitative Teil der Arbeit behandelt wurde) in Kapitel 6 ausführlich beschrieben, welche Veränderungen, basierend auf den Ergebnissen der qualitativen UntersuchungFootnote 4 und den Erfahrungen der Lehrenden, insgesamt seit dem ersten Zyklus vorgenommen wurden. Dort findet sich auch eine Zusammenfassung der (vorerst) finalen Version der Maßnahme.

4.3 Rahmenbedingungen und Ziele der Maßnahme

In diesem Abschnitt werden einige grundsätzliche Vorüberlegungen und damit zusammenhängende Rahmenbedingungen der Maßnahme beschrieben, die die Umsetzung der in Abschnitt 2.4 dargelegten Konzeptionen beeinflussen. Ein wesentlicher Grundsatz der Maßnahme ist, die ohnehin an der Universität in stärkerem Maße geforderte Eigenständigkeit der Studierenden (vgl. Artigue, 2016) weiter zu fördern. Neben einer starken Fokussierung der studentischen Selbstregulation (vgl. Abschnitt 2.4.7) bedeutet das auch, dass die Maßnahme keine zusätzliche Präsenzzeit beinhaltet, damit den Studierenden genügend Zeit zur eigenständigen Beschäftigung mit den Lerninhalten der Veranstaltung bleibt. Statt eine Ergänzungsveranstaltung anzubieten, wurde also die bereits existierende Gruppenübung, die traditionell zur Besprechung von Übungsaufgaben verwendet wird, mit dem Ziel umstrukturiert, die Problemlösekompetenz der Studierenden zu fördern. Im Fokus der Maßnahme stehen also keine Fachinhalte, sondern der Aufbau von Kompetenzen im Sinne von Niss und Højgaard (2019). Diese spezielle Übung ist zunächst auf das erste Fachsemester beschränkt. Dementsprechend muss darauf geachtet werden, dass durch den Wegfall der Maßnahme im zweiten Semester Probleme des Übergangs von der Schule zur Hochschule nicht nur dorthin verschoben werden. Im vorliegenden Fall soll das hauptsächlich durch das langsame Ausschleichen von Hilfen im Sinne des Scaffolding (siehe Abschnitt 2.4.3) und die damit zusammenhängende Stärkung der Eigenverantwortung realisiert werden. Eine Verlängerung der Maßnahme auf Folgesemester ist aufgrund ihres minimalinvasiven Charakters ohne großen Aufwand möglich, wurde zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht erprobt.

Da es sich bei der Intervention um eine Modifikation der klassischen Gruppenübung handelt, sind ihr einige Beschränkungen auferlegt: Zum einen muss die Hauptaufgabe, die Besprechung der HausaufgabenFootnote 5 (in der Regel vier Aufgaben pro Woche), weiterhin wahrgenommen werden. Dadurch ist die Zeit, die effektiv für zusätzliche Aktivitäten bleibt, sehr knapp bemessen. Zum anderen ist die Maßnahme auf die Akzeptanz der jeweiligen für die Vorlesung verantwortlichen Dozenten angewiesen. Aufgrund des zyklischen Charakters der Entwicklungsforschung sind also mehrere Personen mit unterschiedlichen Ansichten zur Lehre zu überzeugen. Aus diesem Grund wurde die Intervention und deren Evaluation so entwickelt, dass in den Verantwortungsbereich des Dozenten nicht eingegriffen wurde. Das bedeutet insbesondere, dass die Gestaltung der Übungsaufgaben in keiner Weise beeinflusst wurde. Eine Auswahl oder Sortierung von Aufgaben gemäß hierfür hilfreicher Heurismen, wie sie im Training von Bruder und Collet (2011, vgl. Abschnitt 2.4.5) vorgenommen wird, ist, selbst wenn man sinnvolle Kriterien für die Auswahl im universitären Kontext hilfreicher Heurismen findet, in diesem Rahmen nicht möglich. In den meisten Fällen war die erfolgreiche Bearbeitung einer bestimmten Menge der Hausaufgaben Voraussetzung für die Teilnahme an der Abschlussklausur. Aus diesem Grund beinhaltet die Maßnahme keine schriftlichen Hilfen zur kognitiven Entlastung bei der Bearbeitung der Hausaufgaben (wie lückenhafte Musterlösungen etc. – vgl. Abschnitt 2.4.2), die direkt bei der Bearbeitung der Aufgaben helfen, um die Kontrollgruppe, die eine solche Hilfe nicht bekommt, nicht zu benachteiligen. Außerdem gab es in der Regel keine Möglichkeit, die Studierenden bei ganzen Problemlöseprozessen zu begleiten, da diese in der Regel nicht in der Präsenzzeit abliefen. Daher war es für die Tutoren der Übungsgruppen nicht möglich, direkt Einfluss auf metakognitive Kontrollprozesse in der aktionalen Phase zu nehmen (z. B. durch das Stellen von Fragen nach Schoenfeld (1985), wie sie in Abschnitt 2.4.7 beschrieben wurden: Was machst Du gerade? Warum machst Du das? Was bringt Dir das Ergebnis dieser Tätigkeit?).

Zusammenfassend handelt es sich bei der Maßnahme also um eine wöchentlich stattfindende vorlesungsbegleitende 90-minütige Gruppenübung, in der Hausaufgaben besprochen wurden, auf deren Gestaltung kein Einfluss genommen wurde und die nicht durch schriftliche Lösungshilfen unterstützt wurden. Die Gruppengröße lag zwischen 20 und 30 Studierenden. Eine solche minimalinvasive Maßnahme ist zwar an die Einhaltung einiger, gerade beschriebener Vorgaben gebunden, hat aber den Vorteil, dass sie dadurch ohne große Modifikationen im universitären Normalbetrieb einsetzbar ist.

4.4 Theoriebasierte Entwicklung der Intervention

Dieser Abschnitt beschreibt die Durchführung der ersten Zyklen der Maßnahme, die sich zunächst nur auf theoriebasierte Überlegungen stützt. Weiterentwicklungen, die sich aus den Erfahrungen der ersten Zyklen sowie der im Kapitel 5 beschriebenen qualitativen Forschung ergeben haben, werden in Kapitel 6 beschrieben. Wie bereits erwähnt, basiert die Maßnahme auf der klassischen Art einer Gruppenübung, in der wöchentlich bearbeitete Hausaufgaben zur Vorlesung Analysis I bzw. Lineare Algebra I (für eine Übersicht der betreuten Veranstaltungen, siehe Tabelle 4.1) besprochen werden. Während die Kontrollgruppe aus Übungsgruppen besteht, die weiterhin auf diese traditionelle Art abgehalten wurden, wurden die Übungsgruppen der Interventionsgruppe vom Autor dieser Arbeit selbst, sowie Tutoren, die sich freiwillig zu einer wöchentlichen Besprechung mit ihm getroffen haben, betreut. Der Ablauf dieser Besprechungen wird in Abschnitt 4.5 beschrieben. Hierbei ist nicht auszuschließen, dass erfahrene Tutoren aus der Kontrollgruppe, auch wenn sie bei diesen Treffen nicht anwesend waren, von sich aus Ideen umgesetzt haben, die dort besprochen wurden, da einige Aspekte durchaus naheliegend sind.

Bei der hier beschriebenen Maßnahme sollten folgende Kernideen umgesetzt werden: Die Studierenden sollten aktiv eigene Erfahrungen mit dem Problemlösen machen (vgl. Abschnitt 2.4.1), wobei gerade diejenigen, die hier vor größeren Schwierigkeiten stehen, von der Erfahrung der Kommilitonen und der Expertise des Tutors profitieren sollen. Dies wurde durch kooperatives Arbeiten (vgl. Abschnitt 2.4.4) und die gemeinsame Reflexion individueller Vorgehensweisen (Abschnitt 2.4.7) angestrebt. Basierend auf den kollektiven Erfahrungen wurden verwendete Heurismen expliziert und separat gesammelt, um diese bewusst zu machen (vgl. Bruder & Collet, 2011; Leuders, 2017 – siehe auch Abschnitt 2.3.2). Um die kognitive Belastung bei der Problembearbeitung (vgl. Abschnit 2.4.2), speziell für die schwächeren Studierenden, zu reduzieren, wurden der Einstieg in ausgewählte Probleme gemeinsam (in verschiedenen Sozialformen) besprochen. Ein weiterer Vorteil dieser Besprechungen war, dass die Studierenden hierdurch Einblick in die Denkweisen der Kommilitonen und eines Experten in Form des Tutors (falls sich dieser dazu entschied, die Beiträge der Studierenden durch eigene zu ergänzen) bekommen konnten.

Diese Kernideen wurden im Wesentlichen in vier Phasen umgesetzt: Der Vorbereitungsphase, in der bereits vor der Bearbeitung Teilaspekte der Hausaufgaben besprochen und Lösungsideen gesammelt wurden, der Eigenarbeitsphase, die aus dem Bearbeiten der Hausaufgaben außerhalb der Präsenzzeit bestand, angereichert durch Dokumentationsaufgaben, der Diskussionsphase, in der die Bearbeitungsprozesse der Eigenarbeitsphase gemeinsam reflektiert wurden, sowie einer Zusammenfassung des Vorgehens mit besonderem Blick auf strategische Vorgehensweisen. Im Folgenden werden die einzelnen Phasen genauer beschrieben:

Vorbereitungsphase::

Diese Phase fand vor der Bearbeitung der Hausaufgaben, also eine Woche vor den anderen beschriebenen Phasen statt. Ihr wesentliches Ziel bestand darin, für die Studierenden den Einstieg in ein Problem zu erleichtern, ohne dabei einen zu großen Teil des Lösungsprozesses vorwegzunehmen. Sie war auf maximal zehn Minuten beschränkt. Das liegt zum einen daran, dass die Zeit ohnehin knapp bemessen war, zum anderen sollte dadurch verhindert werden, dass bereits zu sehr ins Detail gegangen wird, damit die Studierenden in der folgenden Phase die Möglichkeit hatten, entsprechende Aktivitäten eigenständig durchzuführen. Gemeinsam mit den Studierenden wurde eine der vier Hausaufgaben ausgewählt (in der Regel eine Aufgabe, bei der die Studierenden eine besonders hohe Einstiegshürde sahen, die also von den meisten als Problem betrachtet wurde). Je nach Zeitpunkt im Semester und Beschaffenheit der Aufgabe wurden hier verschiedene Aktivitäten durchgeführt. Zu Beginn des Semesters wurde, zunächst demonstrativ vom Tutor, mit heuristischen Hilfsmitteln im Sinne von Bruder und Collet (2011) die Aufgabe genauer analysiert. Hierzu zählen verschiedene Darstellungswechsel, wie das Anfertigen einer Skizze oder einer TabelleFootnote 6, das Zeichnen eines Graphen oder auch das Aufstellen einer Gleichung, das Betrachten von Beispielen (einfache Spezialfälle oder Extremfälle), das Klären aller vorkommenden Begriffe (ggf. auch durch das Betrachten verschiedener Darstellungen und Beispiele) oder aber lediglich das systematische Aufschreiben dessen, was gegeben und gesucht ist. Hierbei wurde vom Tutor auch explizit schriftlich (mit farbiger Kreide oder auf einer gesonderten StrategietafelFootnote 7) festgehalten, welche Hilfsmittel benutzt wurden. In späteren Stunden wurde, ganz im Sinne des cognitive apprenticeship (vgl. Abschnitt 2.4.3), die Aufgabenanalyse auch gemeinsam mit den Studierenden oder komplett in Einzel- oder Gruppenarbeit durchgeführt. Dadurch sollte es zur Gewöhnung an die heuristischen Hilfsmittel kommen. Je nach Beschaffenheit der Aufgabe (wenn beispielsweise das Verständnis der Aufgabe kein großes Hindernis darstellte, es aber trotzdem schwierig war, einen Ansatz zu finden), wurde statt der Aufgabenanalyse ein gemeinsames brainstorming (vgl. Abschnitt 2.4.4) durchgeführt. Hierbei wurden zunächst kommentarlos Ideen an der Tafel gesammelt und anschließend kurz diskutiert. Bei der Diskussion wurde darauf geachtet, dass keine Idee als schlecht stigmatisiert wurde und dass klar wurde, dass auch weniger gute Ideen zum Problemlöseprozess gehören. Grundsätzlich konnten die Studierenden (vor allem zu Beginn des Semesters, als noch eine gewisse Hemmschwelle vorhanden war) ihre Ideen zunächst individuell auf Pappkarten sammeln, die anschließend im Plenum gesammelt und vorgestellt wurden. Dadurch konnten mehrere Studierende dieselbe Idee notieren und es wurden Hemmungen, die eigenen Ansätze vorzustellen, abgebaut. Später im Semester wurde das Sammeln von Ideen auch in Gruppenarbeiten verlegt, bei der der Tutor unterstützend tätig war. Die Gruppenarbeit konnte bei Bedarf auch durch Orientierungsfragen, ähnlich derer von Bruder und Collet (2011) (vgl. Abschnitt 2.4.5 unterstützt werden (Was wissen wir zum Problem? Wie kann man die gegebene Situation strukturieren? Welche Strategien eignen sich für das Problem? etc.). Falls genügend Zeit zur Verfügung stand, konnte auch zuerst eine Analyse und dann eine Ideensammlung durchgeführt werden. Ziel dieser Phase war es zum einen, dass Studierende, die sonst keinen Zugang zu der Aufgabe finden würden, eine Chance bekommen, diese zu bearbeiten. Dadurch wurde auch die negative Erfahrung, dass man mit „solchen Aufgaben“ überhaupt nichts anfangen kann, abgefangen, was einen positiven Effekt auf die Motivation haben kann. Zum anderen bekamen die Studierenden auch die Chance, aus den Aktivitäten der Kommilitonen bzw. des Tutors zu lernen, wie man problemhaltige Aufgaben angeht. Insgesamt sollte das Vorziehen dieser Überlegungen zu einer kognitiven Entlastung bei der folgenden Phase führen (vgl. Abschnitt 2.4.2).

Eigenarbeitsphase::

Diese Phase fand zwischen zwei Übungsstunden statt und entsprach weitestgehend dem klassischen Bearbeiten der Hausaufgaben. Ob Studierende hierbei alleine arbeiteten oder sich in Lerngruppen zusammenfanden, blieb ihnen selbst überlassen und wurde in keiner Weise beeinflusst. Die Verantwortung für den ProblemlöseprozessFootnote 8 wurde ganz auf sie übertragen. Abgesehen von den zehn Minuten Vorbereitung in der vorigen Phase, die sich nur auf eine Aufgabe bezogen, hatten die Studierenden hier die Gelegenheit, selbstständig nach Lösungsstrategien zu suchen und diese in die individuellen Wissensstrukturen zu integrieren. Zusätzlich wurden die Studierenden dazu angehalten, mindestens eine der Problembearbeitungen ausführlich zu dokumentieren. Diese Dokumentation sollte ihnen dabei helfen, ihr Vorgehen im Nachhinein besser reflektieren zu können. Sie orientierte sich an Prinzipien von Mason et al. (2011). Eine Handreichung, die zur Unterstützung dieser Dokumentation angefertigt wurde, ist in Anhang A (Hilfe zur Bearbeitung von Übungsblättern (Teil 1)) zu finden. Über die Handreichung hinaus wurde das Vorgehen hierbei auch mehrfach thematisiert. Zusätzlich zu den bereits von Schoenfeld (1985 – vgl. Abschnitt 2.4.7) angesprochenen Fragen (Was mache ich gerade? Warum mache ich das?Footnote 9) wurde Wert auf die Dokumentation von Barrieren (Wo bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen? Wie konnte ich diese Schwierigkeiten überwinden?), Illumination (Gab es bestimmte „Aha-Effekte“? Was hat diese Effekte ausgelöst?) und eine Reflexion der Problemlöseprozesse (Wie schätzen Sie Ihr Vorgehen ein?) gelegt. Bei letzterer ging es darum, ein Fazit aus den übrigen Dokumentationen zu ziehen. Vorteilhafte Vorgehensweisen sollten selbstständig und individuell von weniger vorteilhaften Vorgehensweisen unterschieden werden und es sollte auf einer Metaebene darüber nachgedacht werden, warum bestimmte Vorgehensweisen von mehr oder weniger Nutzen waren. Dadurch wurde den Studierenden die Möglichkeit eröffnet, Konsequenzen für weitere Problemlöseprozesse zu ziehen. Das Bewusstmachen von eigenen Schwierigkeiten konnte Ansatzpunkte liefern, woran noch zu arbeiten ist. Dies konnten organisatorische Dinge sein (z. B. dass einfach zu wenig Zeit für die Bearbeitung der Aufgabe eingeplant wurde), mangelndes Vorwissen oder eine eher unkonkrete Ideenlosigkeit. Selbst bei letzterer konnte die Identifikation der Stelle, an der man steckenblieb, bereits neue Erkenntnisse bringen. Besonders hilfreich war es (auch aus motivationaler Sicht), festzustellen, wie Schwierigkeiten überwunden wurden, um daraus Schlüsse für weitere Probleme zu ziehen. Ähnlich verhielt es sich mit der Benennung von „Aha-Effekten“ und deren Auslösern. Neben der eigenen Reflexion sollte die Dokumentation auch eine Grundlage für die Teilnahme an der im Folgenden beschriebenen Diskussionsphase geben. Die Studierenden wurden dazu angehalten, die Dokumentation bereits während der Bearbeitung der Aufgabe durchzuführen, nicht erst nachträglich. Obwohl nicht ganz klar ist, ob dies zu weiterer kognitiver Belastung führte oder ob die hierbei entstehenden Notizen eher zur Entlastung des Arbeitsgedächtnisses führten (siehe Abschitt 2.4.2), wurde hierauf Wert gelegt, damit keine Bearbeitungsschritte in der nachträglichen Betrachtung unter den Tisch fielen (vgl. Mason et al., 2011). Diese Dokumentation wurde nicht eingesammelt, weil keine hinreichenden Ressourcen zur Korrektur und Rückmeldung vorhanden waren. Die Studierenden wussten allerdings, dass die Inhalte Gegenstände der im Folgenden beschriebenen Diskussionsphase werden würden. Die Kontrolle der Dokumentation wird in Abschnitt 6.4 diskutiert.

Diskussionsphase::

Diese Phase nahm den Großteil der Präsenzzeit der hier vorgestellten Maßnahme ein. Hier wurden die bearbeiteten Hausaufgaben besprochen, allerdings mit einem starken Fokus auf die Prozesse der Problembearbeitung. Ziel der Diskussion war es, bei den Studierenden die Reflexion des eigenen Vorgehens und des der Kommilitonen anzuregen. Bevor Lösungsmöglichkeiten der Aufgaben präsentiert wurden, wurde zunächst die Frage nach individuellen Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Aufgabe gestellt. So hatten Studierende, die nicht zu einer Lösung gelangt sind, die Möglichkeit, ihre Barriere zu identifizieren und in der folgenden Diskussion Tipps von Kommilitonen zu erhalten, die ähnliche Schwierigkeiten hatten, diese aber evtl. überwinden konnten. Anschließend wurden nach Möglichkeit verschiedene Lösungswege durch die Studierenden vorgestellt (evtl. ergänzt durch Alternativen seitens des Tutors – vgl. hierzu auch Bruder & Collet, 2011; sowie Abschnitt 2.4.5). Hierbei war es hilfreich, dass der Tutor im Vorfeld die eingereichten Hausaufgaben begutachtet hatte und dadurch wusste, bei welchen Studierenden interessante Lösungen zu finden waren. Auch hier wurde besonderer Wert auf Strategien, individuelle Schwierigkeiten und Aha-Erlebnisse gelegt. Die Präsentatoren wurden also dazu angehalten, darzulegen, wie sie dazu gekommen sind, so vorzugehen, wie sie es getan haben. Hierbei sollten auch Umwege (nicht zielführende Ideen), die Überwindung von Schwierigkeiten und besondere Erkenntnisse beschrieben werden. Dadurch sollte zum einen das Bewusstwerden der eigenen Vorgehensweise erreicht werden und zum anderen sollten den weniger erfolgreichen Studierenden Einblicke in die kognitiven Vorgänge beim Problemlösen gewährt werden. Idealerweise wurde hierbei auch deutlich, dass die Lösung einer Problemaufgabe keineswegs so einfach ist, wie sie manchmal bei der Präsentation einer möglichst kurzen und eleganten Musterlösung erscheint und dass auch erfolgreiche Problemlöser nicht ohne Mühe zum Ziel kommen. Die hier begonnene Reflexion wird in der vierten und letzten Phase weitergeführt. Im Idealfall würden in dieser Phase alle Hausaufgaben auf diese Art besprochen. Da eine solche ausführliche Diskussion allerdings Zeit kostet, wurde in der Regel nur zwei Aufgaben diese Aufmerksamkeit zuteil. Zu den anderen Aufgaben, meist den etwas einfacheren, wurden ohne ausführliche Diskussion Musterlösungen (mal von Studierenden, mal vom Tutor) vorgestellt.

Zusammenfassungsphase::

Das Ziel dieser Phase war es, auf den Problemlöseprozess zurückzublicken (entsprechend der Looking Back-Phase bei Pólya), verwendete Strategien zu explizieren und so ein Repertoire an individuellen Handlungsmöglichkeiten für zukünftige Problemlöseprozesse aufzubauen (vgl. Abschnitt 2.4.5 und Leuders, 2017). Nachdem in der vorhergehenden Phase also verschiedene Lösungsmöglichkeiten ausführlich diskutiert wurden, wurde gemeinsam reflektiert, welche Strategien hierbei hilfreich waren. Zum einen wurden neue Strategien benannt, zum anderen wurde eine Verbindung zu früheren Aufgaben aufgebaut, indem bereits bekannte Strategien identifiziert wurden. Die neu entdeckten Strategien wurden dann gesondert festgehalten, wobei sich die Studierenden auf eine Bezeichnung einigen konnten. Dies geschah entweder auf einer Strategietafel oder mit farbiger Kreide, in jedem Fall aber auf einer gesonderten Seite in den Unterlagen der Studierenden (vgl. Fußnote 7 auf S. 74). So wurde ein Repertoire an Strategien aufgebaut, das nicht normativ vorgegeben war (anders als bei Bruder & Collet, 2011 wurden die Aufgaben nicht danach ausgesucht, welche Heurismen sich an ihnen erlernen lassen), sondern sich aus der erlebten Nützlichkeit bei bereits bearbeiteten Problemen ergab (anders gesagt: die Heurismen wurden dann festgehalten, wenn sie sich bei typischen Aufgaben als hilfreich herausgestellt haben). Auch zu Aufgaben, deren Lösung nicht ausführlich besprochen, sondern nur kurz vorgestellt wurde, wurden verwendete Strategien herausgestellt und wie hier beschrieben festgehalten.

In den beschriebenen Phasen lassen sich Elemente der Pólya-Phasen Pólya (1945) erkennen, allerdings sind diese keineswegs gleichzusetzen: Die Vorbereitungsphase deckte im Wesentlichen Pólyas Understanding the Problem ab, enthielt aber bereits Elemente von Devising a Plan. In der Eigenarbeitsphase wurden im Idealfall komplette Problemlöseprozesse, also alle vier Pólya-Phasen durchlaufen, wobei die Dokumentation vor allem das Looking Back, aber auch schon die metakognitive Steuerung der vorherigen Pólya-Phasen unterstützen sollte. In der Diskussionsphase sowie der Zusammenfassung ging es im Wesentlichen um das Looking Back. Welche der Hausaufgaben in welcher Phase bearbeitet wurden, wurde von Woche zu Woche entschieden. Meist wurde das in der Tutorenschulung (siehe unten) entschieden, allerdings konnten die Studierenden auch Wünsche äußern, welche Aufgaben sie als besonders beachtenswert empfanden. Für die zweite Phase wurde ein Vorschlag gemacht, welche Aufgabe dokumentiert werden sollte. Insgesamt war es eher die Ausnahme, dass eine Aufgabe alle vier hier genannten Phasen durchlaufen hat. Es wurde darauf geachtet, dass jede problemhaltige Aufgabe in mindestens einer Phase (zusätzlich zur Zusammenfassung, die für jede Aufgabe gemacht wurde) Beachtung fand.

Der wesentliche Teil der Maßnahme wurde durch die Durchführung dieser Phasen abgedeckt. Da die Zeit knapp war, gab es auch nicht viele Möglichkeiten, weitere Elemente einfließen zu lassen. Allerdings war es so, dass in den ersten ein bis zwei Wochen (abhängig vom verantwortlichen Dozenten) noch keine Hausaufgaben zu besprechen waren. Manche Dozenten ließen die erste Übungsstunde ausfallen, einige ließen in ihr Grundlagen zu Logik und Mengenlehre behandeln, aber grundsätzlich gab es hier ein wenig Zeit, unterschiedliche Lern- und Problemlösehilfen auszuprobieren. Diese wurden in der Regel über die verschiedenen Zyklen modifiziert. Das Endergebnis wird in Kapitel 6 dargestellt. Im Folgenden werden einige durchgeführte Ansätze beschrieben. Teilweise war es auch möglich, im Semester ein wenig Zeit zu finden, um diese Ansätze zu wiederholen und zu vertiefen.

Eine Maßnahme war, ein wenig auf Lesestratgien (vgl. auch Abschnitt 2.3.1) einzugehen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Organisations- und Elaborationsstrategien, die beim Lesen eines mathematischen Textes, wie dem Skript, zum Einsatz kommen können. Gemeinsam wurden anhand des Skriptes (oder einem vom Autor selbst erstellten „nullten Kapitel“ zur Logik und Mengenlehre) solche Strategien erarbeitet und festgehalten. Die folgende Liste enthält einige der hierbei entstandenen Strategien:

  • Aktives Lesen (Notizen machen, kritisch prüfen, in eigene Worte fassen)

  • Wichtige Aussagen identifizieren und zusammenfassen

  • Selbst Beispiele ausdenken

  • Nicht-lineares Lesen (Springen im Text)

  • Darstellungswechsel (in der Mengenlehre z. B. Venn-Diagramme)

  • Verknüpfen und Strukturieren (z. B. durch Mind Maps)

  • Fragen Stellen etc.

Diese Strategien wurden an einem Textteil gemeinsam eingeübt. Als Hausaufgabe sollten sie auf einen anderen Teil übertragen werden. In der Folgewoche konnten dabei entstandene Fragen der Studierenden beantwortet und das Vorgehen reflektiert werden. Wie und warum dieses Vorgehen in späteren Zyklen modifiziert wurde, wird in Kapitel 6 beschrieben.

In den ersten beiden Zyklen wurde den Studierenden noch zu Beginn des Semesters eine Liste von Strategien mitgegeben, die beim Problemlösen behilflich sein können. Diese bewusst kurz gehaltene Liste bestand aus den Stichwörten (in dieser Reihenfolge)

  • Begriffe klären

  • Vereinfachen des Problems

  • Veranschaulichen

  • Ähnlichkeiten suchen

  • Variieren der Aufgabe

  • Unterteilung in Teilprobleme

  • Reflexion des eigenen Vorgehens

Hiervon wurde bereits nach dem zweiten Zyklus Abstand genommen, da eine solche Liste zum einen nicht zu dem Konzept passt, dass die Studierenden hilfreiche Strategien selbst entwickeln sollen, und zum anderen sowohl dieTheorie als auch die Erfahrungen der Tutoren sowie die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung gegen den Nutzen einer solchen Liste sprechen. Hierzu wird in den folgenden beiden Kapiteln mehr geschrieben.

Ein Ansatz, der sich über alle Zyklen hinweg stabil gehalten hat, bezieht ein Stück weit das Konzept der Illumination (vgl. Abschnitt 2.2.2) ein. Hierbei wurde ein Text von Lehn (o. D.) ausgeteilt und besprochen. Im Wesentlichen rät der Text dazu, möglichst frühzeitig nach Veröffentlichung der Hausaufgaben mit der Bearbeitung anzufangen. Hierbei kommt es nicht darauf an, alle Aufgaben sofort zu lösen, sondern sich damit vertraut zu machen, und zwar so gut, dass man in der Lage ist, die Aufgabe in eigenen Worten wiederzugeben, ohne dabei auf das Übungsblatt schauen zu müssen. Das entspricht in etwa der Pólya-Phase Understanding the Problem. Man sollte also alle vorkommenden Begriffe verstanden haben und eine mentale Repräsentation der Problemsituation aufbauen (zum Teil auch durch Beispiele oder Darstellungswechsel). Hat man dies getan, so hat man zum einen die Möglichkeit, in vielen verschiedenen Situationen über das Problem nachzudenken (Lehn nennt als Beispiel die Bushaltestelle und die Schlange beim Bäcker), zum anderen gibt man dem Unterbewusstsein die Möglichkeit, an der Bearbeitung des Problems mitzuhelfen. Mit den Worten von Hadamard (1959) soll es also möglichst früh (also nicht erst kurz vor Abgabe) eine Initiation (die zwar durch das Verstehen der Aufgabe allein noch nicht abgeschlossen, aber zumindest eingeleitet ist) geben, um nach einer Phase der Incubation eine Illumination zu ermöglichen.

4.5 Tutorenschulung

Der vorherige Abschnitt beschreibt den geplanten Verlauf der Maßnahme. Im Folgenden werden die Methoden dargelegt, wie diese Ideen den Tutoren der einzelnen Übungsgruppen der Intervention nahegebracht wurden. Wie bereits erwähnt, wurde in jedem Zyklus eine der Gruppen vom Autor der vorliegenden Arbeit geleitet. Im ersten Durchlauf war dies die einzige Gruppe, die modifiziert wurde, im zweiten kam eine weitere hinzu. Hier gab es ebenfalls wöchentliche Treffen mit dem anderen Tutor, diese liefen aber informeller und weniger organisiert ab als das in den folgenden Zyklen der Fall war. Da die Veränderungen aber nicht aus Erfahrungen aus vorhergehenden Zyklen oder neuen empirischen Kenntnissen hervorgingen, sondern sich natürlich aus dem Ausweiten der Intervention auf eine größere Anzahl von Übungsgruppen und den betreuenden Tutoren ergab, wird die Konzeption bereits an dieser Stelle und nicht erst in Kapitel 6 beschrieben, und nicht als Ergebnis der Entwicklungsforschung betrachtet.

Das Treffen der Tutoren fand wöchentlich statt und wurde vom Autor geleitet. Da die Tutoren sich freiwillig gemeldet hatten, sollte dieses Treffen nicht zu lange dauern, zumal in manchen Semestern zusätzlich noch ein Treffen mit dem verantwortlichen Dozenten stattfand. Auf der anderen Seite musste genügend Zeit eingeräumt werden, die Intention hinreichten klar zu machen und die Tutoren auf einen flexiblen Umgang mit den Aufgaben und den Reaktionen der Studierenden zu schulen. Mit der Zeit hat sich ein Rahmen von 60 Minuten als günstig erwiesen.

Die zugrunde liegende Idee der Schulung war es, die Tutoren dieselben Prozesse durchleben zu lassen, wie sie von den Studierenden erwartet wurden. Das wurde an einer ausgewählten schwierigen Problemaufgabe exemplarisch durchgeführt. Konkret bedeutet das, dass sie zunächst (im Gegensatz zu manchmal gängiger Praxis) keine Musterlösungen erhalten haben. Sie wurden gebeten, sich vor dem Treffen (mindestens) die ausgewählte Aufgabe ausführlich anzuschauen und dabei ihr eigenes Vorgehen zu dokumentieren. Hierbei gab es genau dieselben Leitlinien, wie für die Studierenden (vgl. Abschnitt 4.4), d. h. es wurde besonders auf eingesetzte Strategien, Schwierigkeiten und das Auftreten von Aha-Effekten geachtet. Da die Tutoren mehr Erfahrung mit dem Bearbeiten von Problemen, insbesondere im betreffenden Themengebiet (Analysis oder Lineare Algebra) hatten und zum Teil sogar die behandelten Aufgaben bereits kannten, wurden sie zusätzlich aufgefordert, sich in die Situation der Studierenden hineinzuversetzen und sich über mögliche auftretende Schwierigkeiten, deren Überwindung sowie über die der Auswahl von Strategien zugrunde liegenden Überlegungen Gedanken zu machen, oder wie Pólya (1945) schreibt, ihre eigenen Erfahrungen, Schwierigkeiten und Erfolge beim Lösen dieser oder ähnlicher Aufgaben nachzuleben. Auf Grundlage dieser Bearbeitung wurde beim Tutoren-Treffen über die Aufgabe diskutiert, so wie es auch in den Übungsgruppen getan werden sollte: Verschiedene Lösungsansätze wurden vorgestellt, unter besonderer Berücksichtigung von möglichen Schwierigkeiten und dem Strategieeinsatz. So bekamen die Tutoren einen Überblick über alternative Lösungsmethoden und konnten Überlegungen auf der Metaebene miteinander teilen. Auf diese Art sollte ein Gefühl dafür entwickelt werden, worauf es bei solchen Diskussionen ankommt und welche Erkenntnisse dabei gewonnen werden können. Auch hier wurden verwendete Strategien identifiziert und benannt, mit dem Hinweis, dass diese nicht einfach vom Tutor vorgegeben werden, sondern von den Studierenden kommen sollten. Analog wurde auch eine gemeinsame Vorbereitungsphase durchlebt, in der mögliche Darstellungsweisen eines ausgewählten Problems und der hierbei vorkommenden Begriffe, Beispiele sowie Lösungsideen gesammelt wurden. Dabei wurde auch gemeinsam entschieden, wo die Grenze erreicht ist, ab der mögliche Tipps zu viel verraten und die Essenz der Aufgaben verloren geht.

Darüber hinaus gab es wöchentliches Feedback, was gut funktioniert hat und welche Ideen sich aus welchen Gründen nicht gut in der Praxis umsetzen ließen (das häufigste Problem war hier Zeitmangel – eine ausführlichere Reflexion wird in Abschnitt 6.4 gegeben). Dadurch konnte zum einen die Maßnahme direkt auf die Umstände angepasst werden, zum anderen kam es zu einem fruchtbaren Austausch, wenn andere Tutoren ähnliche Schwierigkeiten hatten, diese aber überwinden konnten. Wie die Studierenden konnten also auch die Übungsgruppenleiter von den Erfahrungen der Kollegen profitieren.

Zu Beginn eines jeden Semesters wurde vom Autor ein Kurzvortrag über die Ideen und Prinzipien der Maßnahme gehalten, wie sie in der vorliegenden Arbeit beschrieben sind (aktives Entdecken von Problemlösestrategien, metakognitive Steuerung und Reflexion etc.). Dieser wurde bewusst kurz gehalten und der Fokus der Schulung lag auf der aktiven Umsetzung in die Praxis. Wurden zu Beginn des Semesters weitere Maßnahmen (wie oben beschrieben – z. B. ein Training der Lesekompetenz) durchgeführt, so wurde auch hier zunächst kurz der Sinn erklärt, um anschließend die für die Übungsgruppe geplanten Aktivitäten durchzuspielen.

4.6 Zusammenfassung

An der Universität Duisburg-Essen wurde über sieben Zyklen von jeweils einem Semester in einer Anfängervorlesung (Lineare Algebra I oder Analysis I) nach den Prinzipien des Design Research eine Intervention entwickelt, die eine Modifikation der traditionellen Gruppenübung mit starker Fokussierung strategischer Aspekte darstellen soll. Die ursprüngliche theoriegeleitete Version wurde in diesem Kapitel vorgestellt. Veränderungen, basierend auf den Erfahrungen der Tutoren und auf der im folgenden Kapitel vorgestellten qualitativen Untersuchungen zum Problemlösen von Studienanfängern werden in Kapitel 6 beschrieben. Den Kern der Maßnahme bildet ein vier-Phasen-Modell, in dem bei unterschiedlichen Aufgaben verschiedene Schritte des Problemlöseprozesses durchlaufen werden. In der Vorbereitungsphase werden gemeinsam Möglichkeiten erkundet, wie man zu einem besseren Verständnis der Aufgabe kommt und/oder Ideen für ein mögliches Vorgehen gesammelt. In der Eigenarbeitsphase bearbeiten die Studierenden wie üblich die Hausaufgaben, werden aber zu einer ausführlichen Dokumentation ihres Vorgehens aufgefordert, bei der verwendete Strategien, auftretende Schwierigkeiten und Aha-Erlebnisse im Vordergrund stehen. In der Diskussionsphase werden verschiedene Lösungsansätze vorgestellt, unter besonderer Berücksichtigung der Reflexion ebendieser Aspekte. Individuelle Schwierigkeiten können angesprochen und gelöst werden. Zuletzt werden in einer Zusammenfassung verwendete Strategien identifiziert, benannt und gesondert festgehalten. Zusätzlich zu diesen vier Phasen werden kleinere Lernhilfen zum Lesen von mathematischen Texten und zum frühzeitigen Aufbau mentaler Repräsentationen zu den Aufgaben gegeben. Die Tutoren wurden geschult, indem sie nach einer kurzen Begründung des Vorgehens selbst die geplanten Aktivitäten der Übungsgruppe durchlaufen haben.