Die Lernerfolge der Schüler*innen, die mit dem mathildr-System gearbeitet haben, belegen, dass es sich dabei um ein Unterrichtsmaterial handelt, mit dem das Zählen gelernt werden kann und sich Rechenoperationen veranschaulichen lassen. Zwar legt diese positive Erfahrung nahe, dass sich das System zur Entwicklung mentaler Mengenbilder eignet, sie ist als reine Beobachtung aber nicht evident. Im folgenden Kapitel wird mithilfe des Eye-Tracking-Verfahrens untersucht, ob es Menschen mit Simultandysgnosie gelingt, eine mentale Vorstellung der Mengenbilder zu entwickeln.

Zuvor wird eine These für die abschließende Evaluierungsphase formuliert und ein Überblick über die Möglichkeiten des Eye-Tracking-Verfahrens gegeben. Es folgt die Darstellung einer vorexperimentellen Versuchsanordnung, bei der mit Hilfe von neurotypischen Schüler*innen eine abhängige Variable spezifiziert wurde, die bei Personen, die eine mentale Vorstellung der mathildr-Mengenbilder entwickelt haben, vermehrt auftritt. Diese bildet den Kern einer Kalkulation, die in einem nachfolgenden Quasi-Experiment überprüft wird. Im Experiment konnte die abhängige Variable bei Personen mit Trisomie 21 ebenfalls nachgewiesen werden.

8.1 These

Die Fragestellung dieses Forschungsprojektes wurde folgendermaßen formuliert:

Ist es möglich, ein Unterrichtsmaterial mit Hilfe von Educational Design Research zu entwickeln, das

a) Kriterien zur allgemeinen Gestaltung von Unterrichtsmaterialien nach Montessori, zu Anschauungsmaterialien nach Klafki und Galperin sowie zur Mengendarstellung nach Kühnel erfüllt,

b) Darstellungen von Mengen und Rechenoperationen beinhaltet, die Menschen mit Simultandysgnosie erfolgreich anwenden, und.

c) empirische Hinweise zulässt, dass Menschen mit Simultandysgnosie tatsächlich mentale Bilder entwickeln?

(vgl. Unterkapitel 6.3).

In der vorbereitenden Forschungsphase wurden hierzu Theoreme aufgestellt, die in die Entwicklungsphase eingeflossen und durch Beobachtungen der Lernenden konkretisiert worden sind. Die Teile a) und b) der Fragestellung wurden bereits in der Entwicklungsphase der Lernmaterialien rund um das mathildr-System hinlänglich beantwortet. Offen bleibt allerdings die Beantwortung des Teils c) und damit die Frage, ob die Mengenbilder tatsächlich für Personen mit Simultandysgnosie einprägsam sind. Die These, die in der abschließenden Evaluierungsphase geprüft wird, lautet:

Personen mit Simultandysgnosie können sich die mathildr-Mengenbilder einprägen und eine mentale Vorstellung von ihnen entwickeln.

Beobachtungen aus Lernsituationen scheinen diese These regelmäßig zu verifizieren. Beispielsweise kann der Schüler Paul die Mengenbilder verbalisieren, auch wenn er sie nicht vor Augen hat. Wird er gefragt, wie die Zahl 5 als Mengenbild aussehe, richtet er seinen Blick in die Ferne und sagt „Paar, Paar, Kirsche!“. Dies gelingt ihm fehlerfrei bei allen Mengenbildern bis 10. Diese Beobachtung allein lässt allerdings keine objektive Nachvollziehbarkeit zu. Wissenschaftliche Objektivität bedarf grundsätzlich einer experimentellen Überprüfung (Zimpel, 2010c, S. 35). Die reine Beschreibung von Pauls Fähigkeit zur Verbalisierung schließt nicht aus, dass es sich um einen Einzelfall handelt oder dieser die Verbalisierungen lediglich auswendig gelernt hat. Ähnlich verhält es sich bei der Schülerin Noa, die, nachdem sie die Aufgabe 2 + 2 im Kopf gelöst hatte, erklärte, dass sie sich „ein Paar und noch ein Paar, also vier Kirschen“ vorgestellt habe. Ihre Aussage ist ein Hinweis darauf, dass sie tatsächlich die Mengenbilder mental nachgebildet hat, aber kein Beweis. Der Schüler Max löst die Additionsaufgabe 8 + 2, indem er seine Hand ausstreckt und „Ich habe 8.“ sagt. Daraufhin streckt er zwei Finger aus, und tippt, als würde er ein Kirschpaar in das Zehnerfeld der mathildr-App legen und sagt: „Ich habe 2. Dann sind das 10.“ (Abbildung 8.1).

Abbildung 8.1
figure 1

Max stellt sich die Additionsaufgabe 8 + 2 mutmaßlich vor dem inneren Auge vor. Er schreibt das korrekte Ergebnis 10 auf

Es scheint, als hätte sich Max vorgestellt, ein Zehnerfeld nach dem mathildr-System mit Kirschen zu füllen. Dies bleibt gleichwohl eine Beobachtung der Außensicht. Zimpel (2010d, S. 37) zeigt, „dass der innere, subjektive Sinn eines Verhaltens nicht mit dem Sinn übereinstimmen muss, den ihm Personen aus der Außensicht zuschreiben“. Die tatsächlichen Vorstellungen und Gedankengänge von Noa und Max können nicht ohne Weiteres abgebildet werden.

Bewusst getätigte Äußerungen der Untersuchungspersonen stellen keine hinreichende Verifizierung dafür dar, dass sie tatsächlich eine mentale Vorstellung von den Mengenbildern entwickelt haben. Daher sollte ein experimentelles Setting gefunden werden, das das subjektive Erleben abzeichnet und einen Einblick in die Innensicht ermöglicht, das valide Rückschlüsse auf mentale Vorgänge zulässt und dessen Datenerhebung von den Untersuchungspersonen nicht bewusst manipuliert werden kann.

8.2 Eye-Tracking zum experimentellen Nachweis mentaler Vorstellungen

Die Beobachtung des menschlichen Auges kann Rückschlüsse auf mentale Prozesse der Untersuchungsperson ermöglichen. Zokaei, Board, Manohar und Nobre (2019) wiesen beispielsweise nach, dass bereits der Gedanke an helle Objekte zu einer Verkleinerung der Pupillen führen kann. Gedanken an dunkle Objekte können wiederum eine Erweiterung der Pupillen hervorrufen.

Nicht nur die Pupillenweite, sondern auch die Blickbewegungen von Untersuchungspersonen weisen auf mentale Prozesse hin. Eine Möglichkeit, diese sichtbar zu machen, ist das sog. Eye-Tracking. Eye-Tracking differenziert zwei Anwendungsformen: Erstens tritt es als interaktive Anwendung auf, bei der Blickbewegungen in Echtzeit Systeme steuern, zweitens als diagnostische Anwendung, bei der Blickverläufe und -punkte mit technischer Hilfe aufgezeichnet und in einer Form aufbereitet werden, die eine spätere Analyse der Daten ermöglicht (Duchowski, 2017, S. 98).

Ein Blickverlauf ist immer eng mit den Informationsanforderungen der aktuellen Tätigkeit und den eigenen Verhaltenszielen verknüpft (Tatler & Land, 2015, S. 391). Die verschiedenen Elemente des Blickverlaufes lassen sich dabei wie folgt klassifizieren:

Phasen, in denen der Blick auf einem Punkt ruht, werden als Fixationen bezeichnet. Dabei gelten Ort, Dauer und die Reihenfolge der Fixationen als wesentliche Parameter, die für die Beantwortung von Fragestellungen herangezogen werden können (Pfeiffer & Weidner, 2013, S. 189). Eine einzelne Fixation reicht allerdings nicht aus, um sich ein detailliertes Bild von einem Objekt zu machen. Denn aufgrund der Beschaffenheit der Netzhaut entsteht nur auf einem kleinen Abschnitt, der Fovea centralis, ein scharfes Bild. Mehrere Fixationen sind nötig, um verschiedene Teilbilder einzufangen, die dann gedanklich zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Die sprungartigen Blickbewegungen, die zwischen solchen Fixationen stattfinden, werden als Sakkaden bezeichnet. Sakkaden dauern zwischen 30 und 100 ms und sind notwendig, um ein Bild im Detail zu erkennen. Eine bewusste Modifizierung einer Sakkade ist nicht möglich (Breiner, 2019, S. 112).

Neben Sakkaden existieren noch weitere Klassifikationen von Blickbewegungen, die beispielsweise dem Ausgleich einer Kopfbewegung bei gleichzeitiger Fixation dienen (Leigh & Zee, 2015, S. 7), aber für die vorliegende Arbeit nicht von Belang sind. Das Aufkommen von Fixationen ist nicht vom Zufall abhängig: Fixationspunkte markieren sog. Interesting Spots, die dabei helfen, einen visuellen Eindruck korrekt zu interpretieren (Deubel & Schneider, 1996, S. 1827). Maßgeblich verantwortlich für die erfolgreiche Identifizierung eines Objekts ist insbesondere die letzte Fixation eines Blickverlaufes, die als Landing Position bezeichnet wird (Deubel & Schneider, 1996, S. 1834).

Experimentelle Settings, die Sakkaden und Fixationen als Parameter aufzeichnen, haben demnach den Vorteil, dass sie von den Untersuchungspersonen nicht bewusst manipuliert werden können. Denkbar wäre lediglich eine Boykottierung eines solchen Experiments, indem die Untersuchungsperson die Augen schließt oder bewusst ihren Blick abwendet.

8.2.1 Eye-Tracking in der Forschung

Experimente zu Blickverläufen sind insbesondere im Bereich des Marketings anzutreffen. Jährlich werden tausende Studien durchgeführt, in denen durch Eye-Tracking Blickbewegungen aufgezeichnet werden, um Werbetafeln, Schaufenster, Internetwerbung etc. zu optimieren und die Endverbraucher*innen zum Konsum anzuregen (Wedel, 2015, S. 569). Auch in der Schlafforschung, der neuropsychologischen Diagnostik und bei der Erforschung psychischer Krankheitsbilder hat sich das Eye-Tracking als Forschungsinstrument etabliert (Pfeiffer & Weidner, 2013, S. 182).

In der Lernforschung haben Eye-Tracking-Verfahren ebenfalls Einzug gehalten, wie die bereits in Unterkapitel 3.2 erwähnte Studie zu Dyskalkulie von Moeller, Neuburger, Kaufmann et al. (2009) zeigt. Um die Fähigkeit zur Simultanerfassung zu überprüfen, wurden jeder Untersuchungsperson in einer individuellen Untersuchung Punkte auf einem Bildschirm präsentiert, deren Anzahl benannt werden sollte. Die Präsentationszeit steuerte die Untersuchungsperson dabei selbständig. Sobald sie die Anzahl der Punkte erkannte, drückte sie einen Knopf. Das Punktmuster verschwand und die Untersuchungsperson nannte die Anzahl. Mit dem Knopfdruck erschien außerdem ein Störbild, auf das eine Fixationsmarkierung folgte, die von den Untersuchungspersonen in Vorbereitung auf das nächste Punktmuster fixiert werden sollte (Moeller et al., 2009, S. 376). Dank des Einsatzes eines Eyetrackers konnten nicht nur Reaktionszeit und Fehlerrate, sondern darüber hinaus auch die Anzahl der Fixationen und deren Dauer je Punktmuster ermittelt werden. Auf diese Weise konnten die Grenzen der Simultanerfassung individueller Untersuchungspersonen bestimmt werden.

8.2.2 Vorüberlegungen zum Forschungsdesign

Das Ziel dieser abschließenden Evaluierungsphase besteht darin, zu ermitteln, ob Personen mit Trisomie 21 die mathildr-Mengenbilder verinnerlicht haben. Da die mathildr-Mengenbilder im Gegensatz zu den Punktmustern im o. g. Versuchsaufbau systematisch aufgebaut sind und in der Regel quasi-simultan erfasst werden, musste ein abweichender Versuchsaufbau verwendet werden. Neben der Erfassung der Anzahl von Fixationen und deren Dauer sollten die Blickverläufe als solche aufgezeichnet werden. Da Blickverläufe auf mentale Prozesse hinweisen, wurde davon ausgegangen, dass sich Blickverläufe von Personen, die das mathildr-System verinnerlicht haben, von solchen unterscheiden, bei denen dies noch nicht der Fall ist. Dieser Vermutung liegt ein Wenn-dann-Gefüge zu Grunde: Wenn eine Untersuchungsperson die Mengenbilder internalisiert hat, dann zeigt sie einen spezifischen Blickverlauf. Variablen, die gesetzmäßig verknüpft sind, werden als unabhängige Variablen und abhängige Variablen bezeichnet. Die unabhängige Variable ist die systemisch beeinflusste Variable (Hager, 1987, S. 50) und in diesem Fall als Verinnerlichung der mathildr-Mengenbilder definiert. Die als Folge daraus betrachtete abhängige Variable baut auf dem spezifischen Blickverlauf auf, der bisher noch nicht definiert ist.

Eine erste vorexperimentelle Versuchsanordnung soll zu einer Spezifizierung dieser abhängigen Variable führen: Es sollen Daten darüber gewonnen werden, welche Indikatoren erfüllt sein müssen, um anhand des Blickmusters einer Untersuchungsperson von einer Internalisierung der Mengenbilder ausgehen zu können. Dazu wurden neurotypischen Schüler*innen für einen kurzen Augenblick mathildr-Mengenbilder präsentiert. Ihre Aufgabe bestand nun darin, die Mengenbilder zu benennen. Ihr Antwortverhalten und ihre Blickverläufe wurden aufgezeichnet und analysiert, um die abhängige Variable zu spezifizieren.

Im Anschluss wurde in einem Quasi-Experiment überprüft, ob diese neudefinierte abhängige Variable vermehrt bei Personen mit Trisomie 21 auftritt, die bereits seit einiger Zeit mit dem mathildr-Lernmaterial gearbeitet haben. Die unabhängige Variable lautet hier: Bekanntheit der mathildr-Mengenbilder durch Unterricht. Geprüft wurde, ob die zuvor in der vorexperimentellen Versuchsanordnung ermittelte abhängige Variable in diesem Fall ebenfalls eine abhängige Variable darstellt.

8.3 Vorexperimentelle Versuchsanordnung: Spezifizierung der abhängigen Variable durch Eye-Tracking-Untersuchung

In dieser empirischen Untersuchung wurden lediglich neurotypische Schüler*innen untersucht. Aufgrund der fehlenden Kontrollgruppe handelt es sich nicht um ein Experiment, sondern um eine One-Shot-Case-Study, die als weniger aussagekräftig gilt, weil präexperimentelle Ausprägungen der abhängigen Variable und weitere Einflussgrößen unkontrolliert bleiben (Musahl & Schwennen, 2000). Hager bezeichnet solche Untersuchungen auch als Ein-Gruppen-Ex-post-facto-Fallstudie. Da die Vergleichsmöglichkeit fehlt, ist die betrachtete Hypothese nur wenig prüfbar (Hager, 1987, S. 70).

Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit ist diese Form der empirischen Untersuchung gleichwohl ausreichend, da sie lediglich zum Auffinden der abhängigen Variable des folgenden Quasi-Experiments genutzt wurde und keine Aussagen über die Gruppe der neurotypischen Untersuchungspersonen getroffen werden sollten.

8.3.1 Fragestellung

Um einen Eindruck davon zu erhalten, welche Sakkaden und Fixationen auftreten, wenn Personen ein mathildr-Mengenbild erfolgreich identifizieren, wurden Untersuchungen mithilfe von Eye-Tracking durchgeführt. Die Frage, die durch diese vorexperimentelle Versuchsanordnung beantwortet werden soll, lautet:

Wie lässt sich durch Unterstützung von Eye-Tracking feststellen, ob eine Untersuchungsperson eine mentale Vorstellung des mathildr-Systems entwickelt hat?

Zur Beantwortung dieser ergebnisoffenen Frage wurden neurotypischen Schüler*innen die Mengenbilder jeweils für einen kurzen Moment präsentiert. Die Untersuchungspersonen wurden darum gebeten, nach der Präsentation eines jeden Mengenbildes die Anzahl der dargestellten Kirschen zu benennen. Die Augenbewegungen wurden durch Eye-Tracking aufgezeichnet und im Anschluss analysiert.

8.3.2 Stichprobe

An der Untersuchung nahmen sechs neurotypische Regelschülerinnen und 14 neurotypische Regelschüler im Alter von 7;1 bis 11;4 Jahren (Durchschnittsalter 8;11) teil. Alle Untersuchungspersonen absolvierten zuvor das Experiment zur Zahlbegriffsentwicklung (vgl. Unterkapitel 2.2.2.2) fehlerfrei. Es wurde zudem sichergestellt, dass sie Mengen bis 10 nachzählen können. Die Daten zu den Blickbewegungen zweier weiterer Untersuchungspersonen konnten aufgrund von Messfehlern, die mutmaßlich durch starke Kopfbewegungen verursacht wurden, nicht ausgewertet werden.

8.3.3 Technische Realisierung und Versuchsaufbau

Jede Untersuchungsperson saß allein mit dem Versuchsleiter in einem ruhigen Raum. Ihre Augenbewegungen wurden mit einem mobilen Eyetracker (Tobii X120 von Tobii Technology) aufgezeichnet. Sie blickte in einem Abstand von ca. 50 cm auf einen LED-Monitor (Dell U2412M) im Format 16:10 mit einer Bildschirmdiagonale von 61 cm und einer Reaktionszeit von 8 ms. Das Bild des Monitors wurde von dem Versuchsleiter über ein Notebook kontrolliert, das von der Untersuchungsperson nicht eingesehen werden konnte.

Auf dem Notebook wurde die Software Tobii-Studios (Version 3.2.3) verwendet, um den Kalibrierungsprozess des Eyetrackers vorzunehmen und die Untersuchung zu steuern. Nach der hochauflösenden Kalibrierung wurde der Untersuchungsperson erklärt, dass Bilder immer nur kurz zu sehen sein würden und ihre Aufgabe darin bestehe, das Bild korrekt zu benennen. Als Beispiel wurde die Zeichnung eines Hundes für 0,6 s gezeigt. Die Untersuchungsperson wurde darum gebeten, mitzuteilen, was sie auf dem Bild gesehen habe. Nachfolgend wurde ihr eine Darstellung einer einzelnen Kirsche gezeigt und erklärt, dass dieses Bild 1 darstelle. Dann wurde ihr ein Kirschpaar präsentiert und erklärt, dass auf diese Weise die Anzahl 2 dargestellt werde. Daraufhin begann die eigentliche Untersuchung, in deren Verlauf alle mathildr-Mengenbilder im Zehnerfeld von 0 bis 10 in zwei Durchgängen jeweils in zufälliger Reihenfolge präsentiert wurden. Die Reihenfolge wurde beim Konzipieren des Versuchs durch Losen festgelegt und unterscheidet sich unter den Untersuchungspersonen nicht. Im ersten Durchgang lautete sie: 0, 5, 1, 2, 6, 9, 8, 10, 4, 7, 3; im zweiten Durchgang: 4, 6, 3, 9, 7, 10, 5, 2, 0, 1, 8.

Jedes Mengenbild wurde für exakt 0,6 s gezeigt. Von einer selbständigen Steuerung der Präsentationsdauer durch die Untersuchungsperson wurde abgesehen, um a) ein Nachzählen der Kirschen zu erschweren und b) die Ergebnisse durch mögliche Unterschiede im Reaktionsvermögen der Untersuchungspersonen nicht zu beeinflussen.Footnote 1 Nachdem das Mengenbild aufblitzte, erschien ein Störbild, das aus weißem Rauschen bestand, um zu vermeiden, dass die Untersuchungsperson ein eventuell auftretendes Nachbild zum Nachzählen verwendet. Die Anzeigedauer des Störbildes wurde vom Versuchsleiter kontrolliert. Sobald die Untersuchungsperson bereit war und sich auf den Bildschirm konzentrierte, löste er die Präsentation des nächsten Mengenbildes aus. Auf eine Fixationsmarkierung wurde verzichtet, um den Startpunkt des Blickverlaufes nicht zu beeinflussen. In Abbildung 8.2 wird das Prozedere ausschnittsweise illustriert. Der gesamte Verlauf dieses Versuchs inklusive der Instruktionen des Untersuchungsleiters wurde im Anhang ab S. 23 im elektronischen Zusatzmaterial tabellarisch aufbereitet.

Abbildung 8.2
figure 2

Ausschnitt aus dem Versuchsablauf. Die Anzeigedauer der Störbilder ist variabel

8.3.4 Analyse der Ergebnisse

8.3.4.1 Antwortverhalten: Korrekte Bezeichnung des Mengenbildes

Obwohl den Untersuchungspersonen die mathildr-Mengenbilder zuvor nicht bekannt waren, konnten sie diese in 85,2 % der Fälle korrekt benennen. Die Summe der Fehlantworten aller Untersuchungspersonen im ersten Durchgang betrug 27. Im zweiten Durchgang kam es lediglich zu 22 Fehlantworten. Diese Beobachtung lässt darauf schließen, dass sich die Untersuchungspersonen das mathildr-System im Laufe der Untersuchung erschlossen und eingeprägt haben.

8.3.4.2 Analyse von Anzahl und Dauer der Fixationen

In Anlehnung an das experimentelle Vorgehen von Moeller, Neuburger, Kaufmann et al. (2009) wurden die Fixationsdauer und die Anzahl der Fixationen der Mengenbilder auf Auffälligkeiten untersucht. Es wurde in Betracht gezogen, dass sich diese Variablen ggf. im ersten Durchgang, in dem die Untersuchungspersonen auf die für sie fremden Mengendarstellungen blicken, vom zweiten Durchgang unterscheiden.

Während jeder Mengenbildpräsentation bei jeder Untersuchungsperson wurden die Fixationen gemessen. Tabelle 8.1 stellt die Durchschnittswerte aller Untersuchungspersonen aus 420 Messungen gegenüber. 20 Messungen waren fehlerhaft und wurden vor der Auswertung aussortiert.

Tabelle 8.1 Durchschnittliche Anzahl der Fixationen je Mengenbild pro Person, durchschnittliche Dauer einer Fixation und durchschnittliche Dauer aller Fixationen je Mengenbild pro Person im Überblick, gerundet

In beiden Durchgängen zeigten die Untersuchungspersonen zwei bis drei Fixationen pro Mengenbild. Eine Fixation dauerte dabei im Durchschnitt 0,21 s. Alle Fixationen pro Mengenbild dauerten zusammen durchschnittlich 0,58 s in Durchgang 1 und 0,56 s in Durchgang 2. In Anbetracht der Präsentationsdauer von 0,6 s pro Mengenbild wird deutlich, dass fast die komplette Zeit auf das Mengenbild geblickt wurde. In dieser kurzen Zeitspanne haben die Untersuchungspersonen unabhängig vom Mengenbild und davon, ob sie das System bereits verinnerlicht hatten, offenbar so viele Fixationen wie möglich vollzogen bzw. ihre Fixationen so lange wie möglich gehalten. Die Parameter Anzahl und Dauer von Fixationen sind (in diesem Versuchsaufbau) deshalb nicht geeignet, um die Internalisierung von Mengenbildern abzubilden. Die Zählung von Fixationen und die Messung ihrer Dauer wurde verworfen, weil sie bedingt durch den Versuchsaufbau keine abhängige Variable darstellen und nicht zur Beantwortung der Fragestellung beitragen.

8.3.4.3 Vorüberlegungen zur Analyse der Daten von bildgebenden Eye-Tracking-Verfahren

Eye-Tracking-Daten gelten als anfällig und enthalten häufig Störungen (Pfeiffer & Weidner, 2013, S. 189). Erfahrungsgemäß kommt es vor, dass sie besonders in der Betrachtung eines individuellen Blickverlaufes durch Messungenauigkeiten leicht vom tatsächlichen Blickpunkt abweichen. Bei der Beschreibung von Blickverläufen auf den mathildr-Mengenbildern ergibt sich das Problem, dass die wesentlichen Elemente, die Kirschen und Ringe, sehr nah beieinanderliegen und Blickdaten daher bereits missinterpretiert werden könnten, wenn sie um wenige Millimeter vom tatsächlichen Blickverlauf abweichen. Um diesen Effekt zu minimieren, wurde eine Einteilung des Mengenbildes vorgenommen, die Fehlinterpretationen aufgrund von Messungenauigkeiten oder einer fehlerhaften Kalibrierung des Eyetrackers entgegenwirkt: Das Mengenbild wird für die folgenden Auswertungen in fünf Bereiche gegliedert, die sich an den Kirschpaaren orientieren. Diese Bereiche werden im Folgenden nach der Zählreihenfolge der Kirschen bezeichnet, die sie beinhalten können. Der Platz des ersten Kirschpaars wird demnach als 1/2 bezeichnet, der des zweiten Kirschpaars als 3/4 (Abbildung 8.3).

Abbildung 8.3
figure 3

Bezeichnung der Bereiche im Zehnerfeld

Bei der Darstellungsmethode Gaze Plots werden Blickverläufe einer Einzelperson dargestellt. Diese bestehen aus Fixationen (dargestellt als Kreise) und Sakkaden (dargestellt als Linien). Treten einzelne Fixationen zwischen zwei Bereichen oder in der Nähe eines Bereiches auf, wurde die Fixation in der Auswertung dem Bereich zugeordnet, dem sie am nächsten war. Im folgenden Beispiel wurde nur eine Fixation aufgezeichnet. Sie wurde dem Bereich 7/8 zugeordnet, da sie diesem am nächsten ist (Abbildung 8.4).

Abbildung 8.4
figure 4

Mengenbild 7 mit Fixation, Untersuchungsperson O

8.3.4.4 Analyse der Fixationen durch Heat Maps

In Abbildung 8.5 sind die Mengenbilder 0 bis 10 zu sehen. Sog. Heat Maps stellen die kumulierten Fixationen des jeweils zweiten Durchgangs aller Untersuchungspersonen dar, die die Mengenbilder korrekt interpretiert haben. Bereiche, in denen durchschnittlich nur wenige Fixationen auftraten, sind grün eingefärbt. Gelbe Färbungen deuten auf eine mäßige Anzahl an Fixationen hin. Ist ein Bereich rot eingefärbt, bedeutet dies, dass dort viele Blickpunkte der Untersuchungspersonen aufeinandertrafen. Unter jedem Bild ist die Anzahl n der kumulierten Untersuchungsdaten aufgeführt. Diese variiert zwischen 15 und 20, weil lediglich die Untersuchungsdaten von korrekten Anzahlnennungen in diesen Darstellungen verwendet wurden.

Abbildung 8.5
figure 5figure 5

Kumulierte Fixationen der Untersuchungspersonen im zweiten Durchgang, bei korrekter Identifizierung des Mengenbilds, durch Heat Maps dargestellt

Die Mengenbilder 0 bis 4 wurden von allen Untersuchungspersonen korrekt benannt. Dieses Ergebnis entspricht den Erwartungen, da ihr Aufmerksamkeitsumfang die Verarbeitung von vier Chunks ermöglicht (vgl. Unterkapitel 2.6.2). Die Heat Maps lassen erkennen, dass eine Fokussierung bei den Mengenbildern 1 bis 4 jeweils auf Bereiche erfolgt, die die Kirsche mit dem höchsten Wert beinhalten. Beim Mengenbild der 4 wird im Bereich 3/4 mit Tendenz zur dritten Kirsche fokussiert. Dies scheint auszureichen, um zu erkennen, dass es sich nicht um eine Einzelkirsche, sondern um ein Kirschpaar handelt. Die Mengenbilder 9 und 10 werden ebenfalls anhand der Kirschen im Bereich 9/10 identifiziert. Bei den Mengenbildern 5 bis 8 sind die Fixationen über die gesamten dargestellten Kirschen verteilt. Das Mengenbild 0 wird offenbar anhand des Bereiches 1/2 identifiziert, da hier viele Fixationen aufeinandertreffen.

Aus der Analyse der Heat Maps geht hervor, dass zur Identifizierung der korrekten Anzahl der Kirschen eines Mengenbildes die Fixation auf den Bereich des Mengenbildes, der die Kirsche mit dem höchsten Wert beinhaltet, eine erhebliche Rolle spielt. Rückschlüsse über Blickverläufe, also das zeitlich eingeordnete Auftreten von Fixationen und Sakkaden, lassen diese kumulierten Blickdaten allerdings nicht zu.

8.3.4.5 Analyse der Blickmuster eines Untersuchungsteilnehmenden durch Gaze Plots

Um Blickverläufe in ihrem zeitlichen Ablauf sichtbar zu machen, wird die Darstellungsweise Gaze Plots verwendet. Diese erlaubt die Visualisierung der Sakkaden und Fixationen einer einzelnen Untersuchungsperson. Die Fixationen sind der Reihenfolge nach nummeriert, ihre Größen entsprechen der relativen Fixationsdauer. Die erste Fixation und die Landing Position weisen einen gestrichelten Rand auf.

Im Folgenden werden exemplarisch die Ergebnisse eines Schülers (Untersuchungsperson A) im Alter von 10;4 Jahren dargestellt. Dieser konnte in beiden Durchgängen alle Mengenbilder korrekt identifizieren, obwohl er sie zuvor noch nie gesehen hatte. Im zweiten Durchgang nannte er die Anzahl der Kirschen eines jeden Mengenbildes direkt nach Erscheinen und ohne sich viel Zeit zum Überlegen zu nehmen. Daher ist davon auszugehen, dass er die Struktur der Mengenbilder im Verlauf des ersten Durchgangs gelernt hat. Dargestellt werden hier alle Blickbewegungen des zweiten Durchgangs (Abbildung 8.6).

Abbildung 8.6
figure 6figure 6

Gaze-Plot-Darstellung der Blickverläufe von Untersuchungsperson A im zweiten Durchgang der Untersuchung

Bei den Mengenbildern 1, 2, 5, 7, 9 und 10 lassen sich Fixationen auf die Ordnungsplätze mit den Kirschen der höchsten Ordnungszahl erkennen. Im Fall des Mengenbildes 6 ist eine Fixation nahe des Bereiches 5/6 zu erkennen. Auffällig ist, dass diese Fixationen bei den Mengenbildern 1, 2, 3, 5, 6, 7, 9 und 10 die Landing Position, also die letzte Fixation darstellen. Diese Beobachtung steht im Einklang mit der Erkenntnis von Schneider und Deubel (1996, S. 1834), wonach die Landing Position maßgeblich für die erfolgreiche Identifizierung eines Objekts verantwortlich ist.

Ein Nachweis der Landing Position im Bereich mit der Kirsche mit der höchsten Ordnungszahl ist demnach ein Indikator dafür, dass die Untersuchungsperson das Mengenbild mit einer Erwartungshaltung betrachtet und wiedererkennt bzw. identifiziert.

Neben der Beobachtung, welche Elemente des Mengenbildes von Sakkaden und Fixationen betroffen sind, interessiert bei der Analyse der Blickbewegungen auch, welche Elemente nicht betroffen sind: Bei den Mengenbildern 2, 4, 5, 7, 8, 9 und 10 wurden nicht alle Ordnungsplätze durch Fixationen markiert oder Sakkaden gestreift. Dass der Schüler dennoch die richtige Anzahl benennen konnte, ist ein Indikator dafür, dass dieser die Kirschen nicht zählen musste, sondern den Aufbau der Mengenbilder verstanden hat. Beim Mengenbild der 10 blickt er beispielsweise von unterhalb der dritten Kirsche auf die neunte und danach zehnte Kirsche. Er benennt das Mengenbild korrekt, ohne die Ordnungsplätze 1/2, 5/6 und 7/8 direkt zu betrachten.

8.3.4.6 Analyse der Blickmuster zum Mengenbild 7 durch Gaze Plots

8.3.4.6.1 Vorüberlegungen zur Analyse

Um der Frage nachzugehen, ob auch die Blickverläufe der anderen Untersuchungspersonen diese Merkmale aufweisen, könnten insgesamt 440 Blickverläufe aller Untersuchungspersonen analysiert werden. Tatsächlich deutet eine stichprobenhafte Begutachtung der Daten auch darauf hin, dass ein Blickverlauf mit den o. g. Merkmalen gehäuft zu finden ist.

Allerdings kann die Anzahl der zu analysierenden Blickverläufe reduziert werden, wenn der Nachweis des Blickverlaufes bereits bei einem ausgewählten Mengenbild gelingt: Das Mengenbild der 7 eignen sich die meisten Lernenden erfahrungsgemäß zuletzt an. Da der Aufmerksamkeitsumfang der neurotypischen Untersuchungspersonen vier Elemente beträgt, kann die korrekte Identifizierung des Mengenbilds 7 als Indikator dafür herangezogen werden, dass sie das System verstanden haben. Weitere Indikatoren könnten folgende Charakteristika des Blickverlaufs sein:

Charakteristikum 1: Die Landing Position befindet sich im Bereich 7/8. Die Blickverläufe von Untersuchungspersonen, die das mathildr-System verinnerlicht haben, müssten häufig die Landing Position in diesem Bereich aufweisen, da dieser für die Interpretation des Mengenbildes maßgeblich ist.

Charakteristikum 2: Nicht alle Bereiche des Mengenbildes, die Kirschen enthalten, sind von Fixationen oder Sakkaden betroffen. Ist der Aufbau der Mengenbilder internalisiert, ist es nicht notwendig, sich mit Hilfe mehrerer Fixationen und Sakkaden ein vollständiges Bild zu machen, um das Mengenbild zu interpretieren.

Die Blickverläufe aller Untersuchungspersonen wurden analysiert, um zu überprüfen, ob diese Charakteristika tatsächlich vermehrt auftreten. In Abbildung 8.7 werden beispielhaft die Blickverläufe der Untersuchungspersonen A und B gezeigt. Eine vollständige Darstellung aller Analysen findet sich im Anhang, ab S. 33 im elektronischen Zusatzmaterial. Es werden jeweils die Blickverläufe des ersten (links) und des zweiten Durchgangs (rechts) dargestellt.

Abbildung 8.7
figure 7

Gaze-Plot-Darstellung der Blickverläufe zum Mengenbild 7 von den Untersuchungspersonen A und B im ersten und zweiten Durchgang der Untersuchung

Untersuchungsperson A nannte in beiden Durchgängen die korrekte Anzahl des Mengenbildes, ihr Blickmuster weist die beiden Charakteristika auf. Untersuchungsperson B gab ebenfalls in beiden Durchgängen die korrekte Anzahl des Mengenbildes an. Beim zweiten Durchgang zeigte sie ein alternatives Blickmuster, mit dem sie aber ebenfalls erfolgreich war. Hier ist die Landing Position entgegen der Erwartung im Bereich 5/6 zu finden. Der Bereich 7/8 wird dennoch zur Identifizierung des Mengenbildes berücksichtigt.

Aufgrund der zuvor benannten Störungen und Verschiebungen, die in Blickdaten regelmäßig auftreten, war es teilweise notwendig, Fixationen, die zwischen zwei Bereichen auftraten, dem Bereich zuzuordnen, dem sie am nächsten sind. Dabei wurde bei Uneindeutigkeit grundsätzlich zu Ungunsten der Charakteristika entschieden, wie das folgende Beispiel des ersten Durchgangs bei Untersuchungsperson H zeigt (Abbildung 8.8).

Abbildung 8.8
figure 8

Gaze-Plot-Darstellung des Blickverlaufs zum Mengenbild 7 der Untersuchungsperson H im ersten Durchgang der Untersuchung

Obwohl eine scheinbare Tendenz zum Bereich 7/8 besteht, wurde sich zugunsten der Validität der vorexperimentellen Versuchsanordnung gegen diese Zuordnung entschieden.

8.3.4.6.2 Auswertung

Tabelle 8.2 fasst die Analyseergebnisse aller 20 Untersuchungspersonen zusammen. Zu jeder Untersuchungsperson wird die absolute Anzahl korrekter Antworten (also Identifizierungen der Darstellung als Menge 7) angegeben. Daneben sind die absoluten Häufigkeiten des Auftretens der Charakteristika verzeichnet: grundsätzlich, in Verbindung mit einer korrekten Antwort und in Verbindung mit einer falschen Antwort. Da das Mengenbild zweimal gezeigt wurde, beträgt der höchstmögliche Wert in jeder Zelle 2.

Tabelle 8.2 Übersicht der analysierten Blickverläufe zum Mengenbild der 7 und zum Antwortverhalten der Untersuchungspersonen. Angegeben ist die absolute Anzahl korrekter Anzahlnennungen, des Auftretens der Charakteristika im Blickverlauf, des Auftretens der Charakteristika bei korrekter Anzahlnennung und des Auftretens der Charakteristika bei fehlerhafter Anzahlnennung, N = 20

Von 32 korrekten Anzahlnennungen steht die Hälfte (16) in Verbindung mit den beiden Charakteristika im Blickverlauf. Werden die Charakteristika im Einzelnen betrachtet, lässt sich feststellen, dass die Landing Position bei korrekter Antwort gehäuft im Bereich 7/8 auftritt (Tabelle 8.3).

Tabelle 8.3 Häufigkeit des Auftretens der Landing Position in den festgesetzten Bereichen des Mengenbildes 7 bei gleichzeitiger korrekter Benennung des Mengenbildes, N = 19

Auf den Bereich 7/8, der mit der Hälfte der Fälle am häufigsten die Landing Position aufweist, folgt der Bereich 3/4 mit einem Viertel der Fälle. Die Landing Position ist also für die korrekte Benennung des Mengenbildes nicht maßgeblich, steht aber in der Hälfte der Fälle damit in Zusammenhang.

Das Charakteristikum 2, das dadurch definiert ist, dass nicht alle Bereiche des Mengenbildes, die Kirschen enthalten, von Fixationen und Sakkaden betroffen sind, trat einmalig nicht auf (Untersuchungsperson C, zweiter Durchgang).

Neben den 16 Fällen, in denen die Charakteristika beobachtbar waren und gleichzeitig die korrekte Anzahl der Menge genannt wurde, traten die Charakteristika außerdem bei vier Messungen auf, bei denen nicht 7 als Anzahl genannt wurde:

  • Die Blickverläufe der Untersuchungspersonen E und K weisen die Charakteristika auf, obwohl die Untersuchungspersonen im ersten Durchgang die Antwort „6“ gaben, bevor sie im zweiten Durchgang die korrekte Anzahl nannten.

  • Die Untersuchungsperson Q bezeichnete die Anzahl im ersten Durchgang als „8“ und im zweiten ebenfalls korrekt als „7. In den Blickmustern beider Durchgänge lassen sich die Charakteristika nachweisen.

  • Die Untersuchungsperson T hingegen gab im ersten Durchgang die Antwort „5“, im zweiten die Antwort „10“. Das Blickmuster des ersten Durchgangs weist dabei die Charakteristika auf. Mit insgesamt sechs Fehlantworten während des gesamten Versuchs sind der Untersuchungsperson T im Vergleich die meisten Fehler unterlaufen.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass ein Blickmuster, das die definierten Charakteristika aufweist, allein nicht ausreicht, um die Internalisierung der Mengenbilder zu belegen. Daher muss in der Formulierung der abhängigen Variable darüber hinaus das korrekte Antwortverhalten mitberücksichtigt werden.

8.3.5 Interpretation

Die Analyse der Blickmuster belegt, dass unterschiedlich charakterisierte Blickmuster zum korrekten Ergebnis führen können. Der beschriebene Blickverlauf, der zwei spezifische Charakteristika beinhaltet, tritt mit 16 Vorkommnissen aber am häufigsten bei korrekter Antwortgabe auf und ist in Kombination mit der korrekten Anzahlnennung ein hinreichender Hinweis darauf, dass eine mentale Vorstellung des mathildr-Systems vorhanden ist. Die Frage „Wie lässt sich durch Unterstützung von Eye-Tracking feststellen, ob eine Untersuchungsperson eine mentale Vorstellung des mathildr-Systems entwickelt hat?“ kann nun folgendermaßen beantwortet werden:

Eine Analyse des Blickverlaufes nach 0,6-sekündiger Präsentation des Mengenbildes 7 erlaubt Rückschlüsse darauf, ob eine Untersuchungsperson das mathildr-System internalisiert hat. Benennt diese das Mengenbild korrekt und weist ihr Blickverlauf die folgenden Charakteristika auf, ist von einer mentalen Vorstellung auszugehen:

  1. 1.

    Die Landing Position befindet sich im Bereich 7/8.

  2. 2.

    Nicht alle Bereiche des Mengenbildes, in denen sich Kirschen befinden, sind von Fixationen oder Sakkaden betroffen.

Diese abhängige Variable wird im Folgenden als Charakteristika im Blickverlauf und korrektes Antwortverhalten bezeichnet.

8.3.6 Diskussion

Der Blickverlauf, der die beiden Charakteristika aufweist, ist nicht die einzige Form der Blickbewegung, die eine erfolgreiche Identifikation des Mengenbildes 7 ermöglicht. Allerdings tritt sie in der vorexperimentellen Versuchsanordnung bei neurotypischen Personen, die das mathildr-System verstanden haben, gehäuft auf und ist ein Hinweis darauf, dass das Mengenbild erkannt wurde und internalisiert ist.

Im Gegensatz zum reinen Abfragen der Mengenbilder, dessen Ergebnisse nur die Analyse einer Außensicht zulassen, gelingt auf diese Weise die Abbildung eines Teils der Innensicht (Abbildung 8.9).

Abbildung 8.9
figure 9

Zuordnung der ermittelten Indikatoren zur Außen- und Innensicht

Mithilfe dieser Untersuchung wurden drei Indikatoren gefunden, die bei simultanem Auftreten Rückschlüsse auf eine erfolgreiche Internalisierung der mathildr-Mengenbilder ermöglichen. Da sich Sakkaden nicht manipulieren lassen und Fixationen nicht willkürlich sind, sondern Interesting Spots darstellen, liegt es nahe, dass Menschen, die keine Vorstellung von den mathildr-Mengenbildern entwickelt haben, bei ihrem Anblick andere Blickbewegungen aufweisen. Die ermittelte abhängige Variable ermöglicht daher ein Quasi-Experiment, bei dem geprüft wird, ob Personen mit Trisomie 21, die regelmäßig mit mathildr gearbeitet haben, Mengenbilder internalisiert haben.

8.4 Kalkulation

Die vorexperimentelle Versuchsanordnung hat ergeben, dass neurotypische Untersuchungspersonen, die das mathildr-System verstanden haben, bei der erfolgreichen Identifizierung des Mengenbilds 7 vermehrt ein spezifisches Blickmuster zeigen. Da die Zeit nicht ausreicht, die Menge 7 nachzuzählen und diese zu groß ist, um simultan erfasst zu werden, hilft es den Untersuchungspersonen, gezielt auf die Position 7/8 zu blicken. So können sie überprüfen, ob es sich um ein Paar oder eine Kirsche und damit um die Menge 7 oder 8 handelt. Könnte dieses spezifische Blickmuster bei korrektem Antwortverhalten auch bei Personen mit Trisomie 21 nachgewiesen werden, wäre dies der empirische Beleg dafür, dass sie eine Vorstellung von dem mathildr-System entwickelt haben. Die Kalkulation lautet demnach: Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 haben das Mengenbild der 7 internalisiert, wenn sie unter gleichen Versuchsbedingungen das Mengenbild korrekt identifizieren und das gleiche Blickmuster zeigen wie neurotypische Personen. Im folgenden Quasi-Experiment wird das Auftreten dieses Blickmusters bei Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 überprüft, die im Unterricht mit mathildr gearbeitet haben. Die Kontrollgruppe bilden Personen mit Trisomie 21, die zuvor nicht mit mathildr-Lernmaterialien in Berührung gekommen sind.

8.5 Quasi-Experiment: Internalisierung des mathildr-Systems bei Trisomie 21

Bei dieser empirischen Untersuchung handelt es sich nicht um ein reines Laborexperiment, da die Bedingung der Randomisierung nicht erfüllt wird. Hager definiert eine Untersuchung dann als Experiment, „wenn die gleichen Sachverhalte unter verschiedenen Bedingungen … systematisch beobachtet werden und wenn Probanden und Bedingungen einander zufällig zugeordnet werden bzw., wenn die Pbn [Proband*innen, Anm. TR] und die Reihenfolgen, in denen sie unter den Bedingungen … systematisch beobachtet werden, einander zufällig zugeordnet werden“ (1987, S. 71).

Im vorliegenden Quasi-Experiment lautet die unabhängige Variable: Bekanntheit der mathildr-Mengenbilder durch Unterricht. Die Kontrollgruppe umfasst Personen, die zuvor keinen Unterricht mit dem mathildr-Lernmaterial erhalten hatten. Die Versuchsgruppe besteht aus Personen, die bereits zum Zeitpunkt ihrer Auswahl Lernerfahrungen mit dem mathildr-Lernmaterial gesammelt hatten. Eine Randomisierung fand nicht statt, da die Einteilung in Versuchs- und Kontrollgruppe auf der Grundlage des zuvor erlebten Mathematikunterrichts jeder Untersuchungsperson beruht. Um dennoch eine Vergleichbarkeit von Versuchs- und Kontrollgruppe sowie eine interne Validität zu gewährleisten, wurde eine Parallelisierung (Matching) durch den Einsatz eines Intelligenztests vorgenommen.

8.5.1 Hypothese

Dieses Quasi-Experiment untersucht, ob sich Personen mit Simultandysgnosie die mathildr-Mengenbilder einprägen und eine mentale Vorstellung von ihnen entwickeln können. Die These dieses Quasi-Experiments lautet:

Die identifizierten Indikatoren einer Internalisierung der Mengenbilder treten bei Personen mit Trisomie 21, die bereits mit mathildr gearbeitet haben, signifikant häufiger auf als bei Personen mit Trisomie 21, denen das System zuvor nicht bekannt war.

Die unabhängige Variable Bekanntheit der mathildr-Mengenbilder durch Unterricht steht laut dieser Hypothese im direkten Zusammenhang mit der abhängigen Variable Charakteristika im Blickverlauf und korrektes Antwortverhalten.

Sollten Personen der Versuchsgruppe das Mengenbild der 7 korrekt benennen und dabei Blickverläufe mit den gleichen Charakteristika aufweisen, die zuvor bei den neurotypischen Untersuchungspersonen identifiziert worden sind, ist davon auszugehen, dass sie das mathildr-System internalisiert haben. Dies würde die Eignung des Systems zur Entwicklung mentaler Mengenbilder bei Simultandysgnosie belegen. Um auszuschließen, dass es sich um zufällige Ergebnisse handelt, die unabhängig vom Lernen mit dem mathildr-Lernmaterial erreicht werden können, wird die Versuchsreihe ebenfalls mit einer Kontrollgruppe durchgeführt, die gegenüber der Versuchsgruppe im mentalen wie im physischen Alter nicht benachteiligt sein darf.

8.5.2 Stichprobe

Um an der Untersuchung teilzunehmen, mussten folgende Grundvoraussetzung erfüllt werden:

  1. 1.

    Die Untersuchungsperson lebt unter den Bedingungen einer Trisomie 21.

  2. 2.

    Die Untersuchungsperson kann Mengen bis 10 korrekt nachzählen.

Die Versuchsgruppe bildeten 18 Personen mit Trisomie 21, die das mathildr-System mindestens seit einem Monat kannten und damit in der Schule, Einzelförderung oder gemeinsam mit ihren Eltern zuhause gelernt haben. Dabei handelt es sich zur Hälfte um Untersuchungspersonen, deren Lernverlauf in dieser Arbeit bereits thematisiert wurde. Weitere Untersuchungspersonen besuchten Förderschulen und inklusiv unterrichtende Regelschulen, die das mathildr-System einsetzen. Neun dieser Untersuchungsperson waren weiblich, neun männlich. Die jüngsten Untersuchungspersonen waren zum Zeitpunkt der Untersuchung 8;2 Jahre alt, die älteste Teilnehmende war 20;2 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Versuchsgruppe betrug 12;4 Jahre. Die Daten zu den Blickbewegungen einer weiteren Untersuchungsperson konnten aufgrund von Messfehlern, die mutmaßlich auf eine Sehhilfe mit hoher Sehstärke zurückzuführen sind, nicht ausgewertet werden.

Mit allen Teilnehmenden wurde der Intelligenztest Coloured Progressive Matrices (CPM) durchgeführt, um neben dem Alter auch die kognitive Entwicklung zu berücksichtigen und dadurch eine Vergleichbarkeit zur Kontrollgruppe zu gewährleisten. Der niedrigste Rohwert, der hier erreicht wurde, betrug 10, der höchste 24 Punkte. Der Median aller CPM-Rohwerte in der Versuchsgruppe betrug 12,44 CPM.

Die Kontrollgruppe bildeten 18 Personen mit Trisomie 21, denen das mathildr-System unbekannt war. Sie setzte sich aus Schüler*innen von Förderschulen, inklusiv unterrichteten Schüler*innen und Erwachsenen zusammen, die noch nicht mit dem mathildr-System gearbeitet hatten. Zehn Untersuchungspersonen der Kontrollgruppe waren weiblich, acht männlich. Der jüngste Teilnehmende der Kontrollgruppe war 7;10 Jahre alt, die älteste Teilnehmende 23;8 Jahre. Das Durchschnittsalter der Gruppe betrug 14;9 Jahre. In der Kontrollgruppe befanden sich zwei weitere Untersuchungspersonen, deren Blickdaten zu viele Störungen enthielten, um sie auszuwerten. Der niedrigste CPM-Rohwert, der in der Kontrollgruppe erreicht wurde, betrug 9, der höchste 28. Der Median aller CPM-Rohwerte in der Kontrollgruppe betrug, wie bei der Versuchsgruppe, 12,44 CPM. Der Umstand, dass diese Mediane exakt gleich groß sind, ist dem Zufall geschuldet. Es mussten keine Untersuchungspersonen von der Auswertung ausgeschlossen werden, um den gleichen Durchschnitt zu erhalten. Dank dieser natürlichen Parallelisierung der Kontroll- und Versuchsgruppe ist sichergestellt, dass ein Vergleich beider Gruppen vorgenommen werden kann. Zwar gibt es eine Differenz im Durchschnittsalter, der exakt gleiche CPM-Rohwert-Median zeigt allerdings, dass dennoch von einer sehr ähnlichen Ausprägung der kognitiven Entwicklung der Teilnehmenden ausgegangen werden kann. Sollte durch die Differenz im Durchschnittsalter eine Benachteiligung entstehen, beträfe diese die Versuchsgruppe, die durchschnittlich 2;5 Jahre jünger ist als die Kontrollgruppe.

8.5.3 Versuchsaufbau

In diesem Quasi-Experiment erfolgten Versuchsaufbau, -durchführung und -auswertung analog zur vorexperimentellen Versuchsanordnung (Abbildung 8.10). Bei der Analyse der Heat Maps und Gaze Plots zu den Mengenbildern galten die gleichen Konventionen, die zuvor entwickelt wurden.

Abbildung 8.10
figure 10

Der Versuchsaufbau wurde an die Körpergröße der Untersuchungspersonen angepasst. Bei Bedarf wurden Kindermöbel verwendet, damit die Untersuchungsperson komfortabel sitzend mit optimalem Abstand auf den Bildschirm blicken konnte

8.5.4 Analyse der Ergebnisse

8.5.4.1 Antwortverhalten: Korrekte Bezeichnung der Mengenbilder

Auch in dieser Versuchsdurchführung wurden die Untersuchungsteilnehmenden darum gebeten, nach jeder Präsentation eines Mengenbildes die Anzahl der zuvor gezeigten Kirschen zu benennen. Die Versuchsgruppe gab in 90,15 % der Fälle eine korrekte Antwort. Die Kontrollgruppe interpretierte 24,85 % der Mengenbilder korrekt.

8.5.4.2 Analyse der Fixationen durch Heat Maps

Zur ersten Analyse der Daten wurden Heat Maps mit den kumulierten Blickverläufen der Untersuchungspersonen im zweiten Durchgang des Versuchs erstellt. Im Gegensatz zur Auswertung der vorexperimentellen Versuchsanordnung wurden hier alle Blickdaten berücksichtigt, also auch solche, die von Untersuchungsperson stammten, die die Mengenbilder nicht korrekt identifizierten. Auf diese Weise ließen sich mögliche Abweichungen zu den Heat Maps aus der vorexperimentellen Versuchsanordnung identifizieren und interpretieren. Abbildung 8.11 zeigt die Heat Maps der Versuchsgruppe.

Abbildung 8.11
figure 11figure 11

Kumulierte Fixationen der Versuchsgruppe (n = 18) im zweiten Durchgang, durch Heat Maps dargestellt

Bei den Mengenbildern 1 bis 4 sowie 9 und 10 lassen sich deutliche Fokussierungen in den Bereichen der Kirschen mit dem höchsten Wert feststellen. Beim Mengenbild 0 ist eine Fokussierung auf den Bereich 1/2 zu erkennen. Bei den Mengenbildern 5 bis 8 sind die Fixationen verteilt. Diese Beobachtungen entsprechen denen, die zuvor bei der Analyse der Heat Maps der neurotypischen Untersuchungspersonen gemacht wurden (vgl. Abbildung 8.5). Die Positionen der Fixationen der Versuchsgruppe gleichen denen der Gruppe neurotypischer Untersuchungspersonen, die das mathildr-System verstanden und Mengenbilder verinnerlicht haben. Da die Versuchsgruppe in 90,15 % der Fälle die Mengenbilder korrekt benannt hat, entspricht diese Beobachtung den Erwartungen.

In Abbildung 8.12 sind die Heat-Map-Darstellungen der Fixationen der Kontrollgruppe im zweiten Durchgang des Quasi-Experiments ersichtlich.

Abbildung 8.12
figure 12figure 12

Kumulierte Fixationen der Kontrollgruppe (n = 18) im zweiten Durchgang, durch Heat Maps dargestellt

Bei den Mengen 1 bis 4 sowie 9 und 10 ist eine Tendenz zur Orientierung zum Bereich mit den Kirschen mit den höchsten Zahlen zu erkennen. Die Fixationen sind aber nicht eindeutig zuzuordnen. Insgesamt sind die Fixationen auf den Heat Maps der Kontrollgruppe deutlich stärker verteilt als bei der Versuchsgruppe. Diese Blickdaten bieten eine gute Erklärung für das Antwortverhalten der Kontrollgruppe, die lediglich 24,85 % der Mengenbilder korrekt interpretierte. Offensichtlich wurde das System der Mengenbilder nur partiell verstanden und deshalb wiederholt fehlerhaft interpretiert. In Abbildung 8.13 wurden die Heat Maps des Mengenbildes 3 der verschiedenen Gruppen gegenübergestellt.

Abbildung 8.13
figure 13

Heat Maps zum Mengenbild 3 der vorexperimentellen Versuchsanordnung, n = 20, und des Quasi-Experiments, Versuchsgruppe n = 18, Kontrollgruppe, n = 18

Im direkten Vergleich wird deutlich, dass die Heat Maps der neurotypischen Gruppe aus der vorexperimentellen Versuchsanordnung der Versuchsgruppe im Quasi-Experiment ähneln. Viele Fixationen konzentrieren sich auf die Bereiche 1/2 und 3/4. In der Kontrollgruppe sind diese Konzentrationen ebenfalls zu finden, allerdings verteilen sich weiter viele Fixationen über das gesamte Mengenbild, insbesondere in der Nähe des Bereichs 5/6. Dieser erste Vergleich der Fixationen lässt erkennen, dass sich die Fixationen der Versuchsgruppe deutlicher an denen der neurotypischen Untersuchungspersonen orientieren als die der Kontrollgruppe.

8.5.4.3 Analyse der Blickmuster zum Mengenbild 7 durch Gaze Plots

Für eine eingehendere Betrachtung der Blickverläufe und zur Validierung der These wurde auch in diesem Fall die Darstellungsmethode Gaze Plots gewählt. Die Blickverläufe aller Untersuchungspersonen beider Gruppen beim Mengenbild 7 wurden erneut ausgewertet und daraufhin untersucht, ob sie die beiden Charakteristika enthalten. Auch das Antwortverhalten der Untersuchungspersonen wurde erneut berücksichtigt.

Die Analyse der Blickverläufe zeigt, wie hier exemplarisch dargestellt, dass auch in der Versuchsgruppe die Charakteristika im Blickmuster auftreten (Abbildung 8.14).

Abbildung 8.14
figure 14

Blickverläufe der Untersuchungsperson VJ beim Mengenbild 7 (beide Durchgänge)

Eine vollständige Darstellung aller Analysen findet sich im Anhang, ab S. 40 im elektronischen Zusatzmaterial.

Im Folgenden werden die Analyseergebnisse der verschiedenen Sichtungen des Mengenbilds 7 tabellarisch zusammengefasst (Tabelle 8.4).

Tabelle 8.4 Übersicht der analysierten Blickverläufe zum Mengenbild der 7 und zum Antwortverhalten der Versuchsgruppe. Angegeben ist die absolute Anzahl korrekter Anzahlnennungen, des Auftretens der Charakteristika im Blickverlauf, des Auftretens der Charakteristika bei korrekter Anzahlnennung und des Auftretens der Charakteristika bei fehlerhafter Anzahlnennung, n = 18

In 29 Fällen wurde das Mengenbild 7 korrekt benannt. In 15 Fällen konnten dabei im Blickverlauf die Charakteristika identifiziert werden. In zwei Fällen waren die Charakteristika im Blickmuster zwar nachweisbar, aber es wurde eine falsche Anzahl genannt. Es existiert eine relative Häufigkeit von 52 % im Auftreten der Charakteristika bei ebenfalls auftretender korrekter Anzahlnennung.

Tabelle 8.5 enthält analog dazu die Ergebnisse der Kontrollgruppe.

Tabelle 8.5 Übersicht der analysierten Blickverläufe zum Mengenbild der 7 und zum Antwortverhalten der Kontrollgruppe. Angegeben ist die absolute Anzahl korrekter Anzahlnennungen, des Auftretens der Charakteristika im Blickverlauf, des Auftretens der Charakteristika bei korrekter Anzahlnennung und des Auftretens der Charakteristika bei fehlerhafter Anzahlnennung, n = 18

In vier Fällen wurde die richtige Anzahl an Kirschen genannt. In diesen Fällen lassen sich die Charakteristika im Blickmuster nicht identifizieren.

8.5.5 Statistische Auswertung

Um die Unterschiede in den Gruppen untersuchen zu können, wurde der Zusammenhang der unabhängigen Variable Bekanntheit der mathildr-Mengenbilder durch Unterricht und der abhängigen Variable Charakteristika im Blickverlauf und korrektes Antwortverhalten statistisch ausgewertet. Zur statistischen Analyse der Daten wurde der Mann–Whitney-U-Test verwendet.

Es gab einen signifikanten Unterschied in Bezug auf das Auftreten der abhängigen Variable zwischen den Untersuchungspersonen der Versuchsgruppe (MRang = 23,5) und denen der Kontrollgruppe (MRang = 13,5), U = 72, Z =  −3,621, p < 0,001, r = 0,604.

8.5.6 Interpretation

Die Effektstärkte wurde als Bravais-Pearson-Korrelationskoeffizient ermittelt: r = 0,604. Laut Cohen (1988, S. 78) ist ab einem Wert von r = 0,5 von einer starken Korrelation auszugehen.

Für die Untersuchungspersonen dieses Quasi-Experiments (N = 36) gilt demnach: Die unabhängige Variable Bekanntheit der mathildr-Mengenbilder durch Unterricht hat einen starken Effekt auf die abhängige Variable Charakteristika im Blickverlauf und korrektes Antwortverhalten und damit auf eine Internalisierung der mathildr-Mengenbilder bei einer Trisomie 21. Im Rahmen dieses Quasi-Experiments wurde folgende These verifiziert: Die identifizierten Indikatoren einer Internalisierung der Mengenbilder treten bei Personen mit Trisomie 21, die bereits mit mathildr gearbeitet haben, signifikant häufiger auf als bei Personen mit Trisomie 21, denen das System zuvor nicht bekannt war.

8.5.7 Qualität der Daten und Aussagekraft des Quasi-Experiments

In einigen Fällen konnten keine Messdaten erhoben werden, weil sich die Untersuchungspersonen aus dem Erfassungsbereich des Eyetrackers herausbewegten. In diesem Fall ließen sich keine Gaze-Plot-Darstellungen erstellen. Bei der Gegenüberstellung der Gaze-Plot-Darstellungen im Anhang wurde in diesem Fall N/A als Eintrag in der Zeile Charakteristika im Blickverlauf gewählt. In der Kontrollgruppe war dies viermal der Fall, in der Versuchsgruppe zweimal. In der statistischen Auswertung wurde ein solcher Eintrag mit einem Nichtauftreten der Charakteristika gleichgesetzt.

Entschieden sich Untersuchungspersonen nach der Präsentation des Mengenbilds 7 auch auf Nachfrage dazu, keine Anzahl zu nennen, wurde auch hier die Eintragung N/A vorgenommen. Dies kam in der Versuchsgruppe zweimal und in der Kontrollgruppe einmal vor und wurde in der Auswertung als falsche Antwort behandelt.

Eine Übertragung der Ergebnisse dieses Quasi-Experiments auf die Grundgesamtheit von Personen mit Trisomie 21 ist aufgrund der Anzahl der Untersuchungspersonen (N = 36) nicht möglich. Es handelt sich um eine explorative Studie, die keine repräsentative Übertragung der Ergebnisse zulässt. Aufgrund der Parallelisierung der Versuchs- und Kontrollgruppe erlauben die Ergebnisse Aussagen über die Gruppe der involvierten Untersuchungspersonen: In diesem Quasi-Experiment wurde in 15 Messdurchgängen die Internalisierung des Mengenbildes 7 deutlich. Diese Messdurchgänge traten bei zehn unterschiedlichen Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 auf, die damit nachweislich die mathildr-Mengenbilder internalisiert haben.

8.6 Ergebnis

In der Auswertung der Eye-Tracking-Untersuchungen wurde ersichtlich, dass sich Personen mit Trisomie 21, die mathildr im Unterricht kennengelernt haben, die Mengenbilder auf ähnliche Weise erschließen wie neurotypische Personen, die eine Vorstellung von dem mathildr-System entwickelt haben. In dieser abschließenden Evaluierungsphase hat sich die Hypothese im Fall von zehn konkreten Untersuchungspersonen verifiziert:

Personen mit Simultandysgnosie können sich die mathildr-Mengenbilder einprägen und eine mentale Vorstellung von ihnen entwickeln.

Mit der Verifizierung der Hypothese wurde auch Teil c) der Fragestellung der vorliegenden Arbeit beantwortet:

Ist es möglich, ein Unterrichtsmaterial mit Hilfe von Educational Design Research zu entwickeln, das

a) Kriterien zur allgemeinen Gestaltung von Unterrichtsmaterialien nach Montessori, zu Anschauungsmaterialien nach Klafki und Galperin sowie zur Mengendarstellung nach Kühnel erfüllt,

b) Darstellungen von Mengen und Rechenoperationen beinhaltet, die Menschen mit Simultandysgnosie erfolgreich anwenden, und.

c) empirische Hinweise zulässt, dass Menschen mit Simultandysgnosie tatsächlich mentale Bilder entwickeln?

(vgl. Unterkapitel 6.3).

Die Blickmuster und das Antwortverhalten im Quasi-Experiment einiger Personen mit Trisomie 21, die im Unterricht mit den mathildr-Mengenbildern gearbeitet haben, belegen, dass diese eine innere Vorstellung dieser Mengenbilder entwickelt haben. Demnach eignen sich die mathildr-Mengenbilder zur Entwicklung von Mengenvorstellungen und können als Alternative zur Kraft der Fünf eingesetzt werden. Die mathildr-Mengenbilder können für Personen mit Simultandysgnosie eine barrierefreie Form von Mengenbildern darstellen, die sich auch unter den Bedingungen eines verkleinerten Aufmerksamkeitsumfangs mental abbilden lassen.