Die Entwicklung des Lernmaterials, das die aufgezeigte Lücke im Materialangebot schließen sollte, brachte vier Iterationen hervor. Parallel zur Entwicklung des Materials wurden drei hilfreiche Materialisierungen entwickelt. Die Entwicklung der neuen Lernmittel fußte auf den theoretischen Annahmen, die in den vorherigen Kapiteln herausgearbeitet wurden. Sie wurden außerdem durch Rückgriff auf unterschiedliche Methoden von einer variierenden Zahl an Untersuchungspersonen erprobt. Die Entwicklung der Iterationen 1, 2 und 4 wurde durch Erprobung und Beobachtung begleitet. In der dritten Iteration wurden die Beobachtungen mit Hilfe von Kompetenzrastern formativ evaluiert. Jede Iteration des Lernmaterials wurde dahingehend überprüft, ob die zuvor aufgestellten Kriterien erreicht worden sind. Die folgende Grafik verdeutlicht den zirkulären Entwicklungsprozess und die Anzahl der Untersuchungsteilnehmenden je Iteration (Abbildung 7.1).

Abbildung 7.1
figure 1

Visualisierung des Entwicklungsprozesses des Lernmaterials (in Anlehnung an McKenney, 2001, S. 55)

Die Entwicklung der ersten Iteration wurde von zwei Untersuchungspersonen unterstützt, die zweite von drei Personen, die dritte von 30, die vierte wiederum von drei. Zuletzt erfolgte eine finale Evaluation, an der 36 Personen teilnahmen.

7.1 Iteration 1: Zweierbündelungen im Zehnerfeld aus Holz

Die erste Iteration des Lernmaterials, das die Erzeugung mentaler flexibler Mengenbilder bei Simultandysgnosie ermöglichen sollte, war maßgeblich von den Erkenntnissen der vorbereitenden Forschungsphase bestimmt. Durch die Rückmeldungen eines zehnjährigen Jungen und einer 19-jährigen Frau mit Trisomie 21 konnten Konzepte geprüft und optimiert werden. Diese erste Version des Lernmaterials wurde von Januar 2015 bis Oktober 2015 entwickelt.

Der erste Teil der Entwicklungsphase war von dem Ziel geprägt, ein neues System zur Darstellung von Mengen und einen ersten Prototyp des Lernmaterials zu entwickeln. Dabei sollte eine Orientierung an den zuvor aufgestellten Kriterien erfolgen, damit das Lernmaterial den Anforderungen der Barrierefreiheit für Lernende mit Simultandysgnosie und der sinnvollen Einsetzbarkeit im Unterricht entspricht.

7.1.1 Untersuchungspersonen und Methodik

Zur Zeit der Entwicklung des neuen Lernmaterials förderte der Autor dieser Arbeit am Zentrum für Aufmerksamkeitsbesonderheiten, einer Beratungsstelle an der Universität Hamburg, wöchentlich einen Jungen mit Trisomie 21 in Mathematik. Leen war zu Beginn des ersten Teils der Entwicklungsphase 10;5 Jahre alt, arbeitete gerne mit Zahlen und wies einen entwickelten Zahlbegriff nach Piaget auf (vgl. Unterkapitel 2.2.2.2). Er kam sehr gerne an die Universität und war es gewohnt, für ihn neues Lernmaterial zu erproben und seine Meinung dazu kundzutun. An der Entwicklung des neuen Systems zur Mengendarstellung war Leen beteiligt, indem ihm erfolgsversprechende Entwürfe gezeigt wurden und sein Umgang mit diesen beobachtet wurde. Nach dem Prinzip Trial-and-Error wurden anhand des erarbeiteten fachlichen Hintergrunds der vorbereitenden Forschungsphase Mengenbilder entworfen und in Folge von Leens Reaktion angepasst.

Zur Prüfung der vorgenommenen Entscheidung wurden die Mengenbilder und der Prototyp des Lernmaterials von Teresa Knopp erprobt und eingeschätzt, die zu diesem Zeitpunkt ein Praktikum an der Beratungsstelle absolvierte. Frau Knopp lebt unter den Bedingungen einer Trisomie 21 und war zur Zeit des Praktikums 19;9 Jahre alt. Sie wies eine vollständige Zahlbegriffsentwicklung auf und konnte bereits Kopfrechenaufgaben mit sechsstelligen Zahlen lösen. Die Zusammenarbeit mit Leen und Frau Knopp wurde auf Video festgehalten, um wahrgenommene Beobachtungen im Nachgang verifizieren zu können.

7.1.2 Entwicklung einer neuen Darstellungsform von Mengen

Die Konzeption des neuen Systems zur Darstellung von Mengen fand unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der vorbereitenden Forschungsphase statt. Der erste Entwurf, der als geeignet in Betracht gezogen wurde, wurde von Leen und später von Frau Knopp erprobt.

7.1.2.1 Verworfene Konzepte

Auf der Suche nach Mengendarstellungen, die auch mit wenigen Chunks verarbeitet werden können, wurden diverse Darstellungsformen entworfen, die aufeinander aufbauend Superzeichen für die Mengen 0 bis 10 darstellten. Beispielhaft wird im Folgenden ein System präsentiert, das zur Bildung von Mengenbildern anstelle von runden Wendeplättchen Wendequadrate nutzt. Die blauen Quadrate kennzeichnen den Wert 0 und geben die Struktur vor. Wird ein Quadrat gewendet und in Rot angezeigt, stellt dieses eine 1 dar (Abbildung 7.2).

Abbildung 7.2
figure 2

Die Mengenbilder 0 bis 10 im Pixel-System

Die einzelnen Mengendarstellungen in diesem System wirkten unübersichtlich. Sie sollten als Superzeichen eigentlich leicht identifizierbar sein, lassen sich allerdings nur schwer interpretieren. Daher wurde dieses Konzept verworfen.

Neben der Entwicklung eines neuen Systems zur Darstellung von Mengen wurde eine Modifikation der Kieler Zahlenbilder in Betracht gezogen. Das Setzbrett der Kieler Zahlenbilder ist erfahrungsgemäß an vielen Hamburger Förderschulen und inklusiv unterrichtenden Regelschulen im Materialfundus vorhanden und hätte bei Wiederverwendung die Beschaffung neuer Materialien vermieden. In der vorbereitenden Forschungsphase wurde ein zentraler Kritikpunkt an den Kieler Zahlenbildern herausgearbeitet: Sie übernehmen die Würfelpunktbilder 1 bis 5, die nicht aufeinander aufbauen. Erst die Zahlenbilder 6 bis 10 bauen aufeinander auf. Das heißt, das Zahlenbild der 6 ist in der 7 zu finden, das der 7 in der 8 usw. (siehe Unterkapitel 6.2.3). Mit dem Ziel, dieses Problem zu lösen, wurde folgende Modifikation der Kieler Zahlenbilder vorgenommen (Abbildung 7.3).

Abbildung 7.3
figure 3

Modifikation der Kieler Zahlenbilder 1 bis 10. Die Zahlenbilder 1, 3 und 5 wurden verändert, damit alle Zahlenbilder aufeinander aufbauen (Original: Rosenkranz, 2001, S. 30)

Eine Änderung der Zahlenbilder 1, 3 und 5 bewirkt, dass nun die jeweils kleineren Zahlenbilder in den größeren zu finden sind – eine Maßnahme, die sich in Zahlzerlegungen und Additionsaufgaben positiv bemerkbar machen sollte. Dadurch, dass der erste Summand einer Addition deutlich im Zahlenbild der Summe zu finden ist, sollte die Addition übersichtlich veranschaulicht sein und die Möglichkeit der mentalen Nachbildung bieten. Diese Hoffnung hat sich gleichwohl nicht bestätigt, wie die folgende Darstellung der Verdopplungsaufgabe 3 + 3 beispielhaft zeigt (Abbildung 7.4).

Abbildung 7.4
figure 4

Darstellung der Aufgabe 3 + 3 im Kieler Zahlenhaus unter Verwendung der modifizierten Zahlenbilder. Der erste Summand ist mit blauen Plättchen dargestellt, der zweite mit roten. Das Gesamtergebnis ist im gesamten Mengenbild ersichtlich

Zwar ist die Summe 6 bereits auf einen Blick zu erkennen, aber die gedankliche Nachbildung dieser Abbildung fällt schwer, wie bereits der Selbstversuch unter neurotypischen Bedingungen erkennen lässt. Die Tatsache, dass ein kleineres Mengenbild im größeren zu finden ist, gewährleistet keine übersichtliche Darstellung von Zahlzerlegungen. Im Fall der modifizierten Kieler Zahlenbilder ist die Verteilung der einzelnen Punkte und damit der Weg, um Mengenbilder aufzubauen, unübersichtlich und schwer einprägsam. Um von einem modifizierten Zahlenbild zum nächsten zu gelangen, müsste ein kompliziertes Muster verfolgt werden (Abbildung 7.5).

Abbildung 7.5
figure 5

Weg, den sich Lernende beim Setzen der modifizierten Kieler Zahlenbilder hätten merken müssen (Startpunkt blaues X)

Es bestanden begründete Zweifel, ob der Zeitaufwand der Aneignung des Aufbaus der modifizierten Kieler Zahlenbilder dem Lernertrag gerecht würde. Da die Modifikation der Kieler Zahlenbilder nicht zur erwünschten Verbesserung führte, sondern vielmehr eine Verkomplizierung darstellte, wurde dieser Ansatz verworfen.

7.1.2.2 Entwicklung des mathildr-Systems

Im Folgenden wird die Entwicklung eines neuen Systems zur Darstellung von Mengen beschrieben, das später den Namen mathildr-System erhielt.

7.1.2.2.1 Entwurf 1: Kombination aus Zweierbündelung und Superzeichen

Die beiden bisherigen Entwürfe zu Mengendarstellungen basierten auf dem Grundgedanken, aus verteilten Einzelelementen ein Superzeichen zu bilden. In Anschauungsmaterialien, die auf der Kraft der Fünf basieren, entstehen die Superzeichen Fünfer und Zehner allerdings durch die Bündelung von Mengen (vgl. Unterkapitel 3.3.3). In Anlehnung hieran wurde nach einer Darstellungsweise gesucht, die eine Kombination aus Bündelungen und Superzeichen darstellt und dadurch eine quasi-simultane Erfassbarkeit unter den Bedingungen einer Simultandysgnosie gewährleistet.

Erfahrungen aus den Durchführungen der Voruntersuchungen zur Zahlbegriffsentwicklung im Rahmen der Trisomie-21-Studie (vgl. Unterkapitel 2.2.2.2) legen nahe, dass Personen mit Trisomie 21 von Zweierbündelungen profitieren. Beim Nachzählen von bis zu acht Punkten von einer Karte zählten Untersuchungspersonen mit Trisomie 21, die bereits mit Zahlen vertraut waren, gelegentlich in einem Rhythmus, der die geraden Zahlen betonte: „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8“. Einige zählten die Menge ungeordneter Punkte direkt paarweise nach: „2, 4, 6, 8“. Diese Beobachtung ist unter Berücksichtigung des Aufmerksamkeitsumfangs von zwei bis drei Chunks nicht verwunderlich.

Auch Leen strukturierte Mengen nach Möglichkeit in Paaren. Da neurotypische Personen mit einem Aufmerksamkeitsumfang von vier Chunks in der Lage sind, mit einer Fünferbündelung zu arbeiten, ging der Student Jonas Müller in seiner Masterarbeit (2015) der Frage nach, ob eine Dreierbündelung unter den Bedingungen einer Trisomie 21 ebenfalls hilfreich sein kann. Dazu bot er Leen zur Veranschaulichung von Mengen, die einen persönlichen Sinn für ihn beinhalteten, eine Zweier- und eine Dreierbündelung an. Bei einem Tischfußballspiel wurde für jedes erzielte Tor ein kleiner Fußball aus Ton in eine Ablage mit Einbuchtungen gelegt. Eine Ablage gruppierte die Einbuchtungen zu Paaren, die andere bündelte jeweils drei Einbuchtungen. Leen profitierte von beiden Bündelungsformen. Die Ermittlung des Punktestandes gelang ihm mithilfe der Ablage mit Paarbildung allerdings deutlich schneller, mutmaßlich weil sie eine Orientierung an der 10 ermöglicht (Müller, 2015, S. 53). Die Zahl 10 im Dezimalsystem bietet nur zwei Bündelungsformen an, bei denen jede Bündelung den gleichen Wert besitzt: die Zweierbündelung und die Fünferbündelung. Dass Personen mit Simultandysgnosie bevorzugt auf Zweierbündel zurückgreifen, ist nachvollziehbar, da sich ein Bündel aus zwei Elementen auch mit einem Aufmerksamkeitsumfang von zwei bis drei Chunks gut überblicken lässt. Werden Zweierbündel allerdings verwendet, um die Menge 10 darzustellen, besteht das Problem, dass fünf Elemente überblickt werden sollen (Abbildung 7.6).

Abbildung 7.6
figure 6

Fünf Zweierbündel bilden die Menge 10

Zwar können die Zweierbündel unter den Bedingungen einer Simultandysgnosie jeweils simultan erfasst werden, die Übersicht über alle fünf Bündel übersteigt allerdings den Aufmerksamkeitsumfang. Die Mengen müssen nachgezählt werden.

Zur Vermeidung des Zählens und zur Entlastung des Aufmerksamkeitsumfangs eignen sich Superzeichen: Aus den Untersuchungsergebnissen der Trisomie-21-Studie ist bekannt, dass Personen mit Simultandysgnosie die Würfelpunktbilder 1 bis 6 quasi-simultan erfassen können (vgl. Unterkapitel 2.7.2). Aus diesem Grund wurden die übersichtliche Bündelung und Superzeichen kombiniert. Anstatt der Musterbildung durch Platzieren eines einzelnen Punktes könnten jeweils zwei Punkte verwendet werden. Nach diesen Überlegungen entstanden die folgenden Mengenbilder (Abbildung 7.7).

Abbildung 7.7
figure 7

Erster Entwurf der Mengenbilder, die später als mathildr bezeichnet wurden

Diese Mengenbilder bauen aufeinander auf und verwenden eine Zweierbündelung. Das Mengenbild der 10 entstand aus dem Würfelpunktbild der 5. Anstelle jedes Würfelauges wurden zwei Punkte gesetzt. Dies gilt auch für das Mengenbild der 8, das sich am Würfelpunktbild der 4 orientiert. Um diese Ähnlichkeit zu ermöglichen, wurde ein Zeilensprung zwischen dem Mengenbild der 4 und der 5 vorgenommen. Die mittlere Zeile findet erst mit der Menge 9 Verwendung. Diese kontraintuitive Besonderheit wurde in Kauf genommen, um die neu entstandenen Superzeichen möglichst unterscheidbar zu gestalten. Analog zur Gestaltung der Kieler Zahlenbilder können mithilfe dieser Mengenbilder ebenfalls die Mengen 11 bis 20 dargestellt werden. Hierzu werden zwei Mengenbilder nebeneinander abgebildet, z. B. das der 10 und das der 5, um die 15 darzustellen (Abbildung 7.8).

Abbildung 7.8
figure 8

Darstellung der Menge 15 im ersten Entwurf der Mengendarstellung

Additionen bzw. Zahlzerlegungen lassen sich in diesem System übersichtlicher darstellen als mit den modifizierten Kieler Zahlenbildern. Im folgenden Beispiel wird erneut die Aufgabe 3 + 3 mithilfe von Wendeplättchen dargestellt (Abbildung 7.9).

Abbildung 7.9
figure 9

Darstellung der Aufgabe 3 + 3 im ersten Entwurf der Mengendarstellung. Der erste Summand ist mit blauen Plättchen dargestellt, der zweite mit roten. Das Gesamtergebnis ist im gesamten Mengenbild ersichtlich

Dank der Positionierung der Zweierbündel in Zeilen fällt diese Darstellung übersichtlicher aus als die Darstellung der gleichen Additionsaufgabe im Kieler Zahlenhaus (vgl. Abbildung 7.4). Der erste Summand, hier mit blauen Wendeplättchen dargestellt, entspricht dem Mengenbild der 3. Die Summe ist in der Kombination der blauen und roten Wendeplättchen zu erkennen. Sie entspricht dem Mengenbild der 6.

Additionsaufgaben mit zwei Summanden, deren Summe sich über die Menge 8 und 9 erstreckt, also den Übergang von der unteren zur mittleren Zeile beinhalten, bleiben trotz des Zeilensprungs übersichtlich. Je nach Größe des zweiten Summanden konzentriert sich dessen Darstellung durch rote Wendeplättchen um den mittleren oder unteren rechten Bereich. Dies verdeutlicht das folgende Beispiel, in dem die Addition 6 + 3 dargestellt wird (Abbildung 7.10).

Abbildung 7.10
figure 10

Darstellung der Aufgabe 6 + 3 im ersten Entwurf der Mengendarstellung. Der erste Summand verteilt sich von oben links über das Mengenbild, der zweite orientiert sich im unteren rechten Bereich

In diesem Fall lassen sich – im Gegensatz zur Darstellung in den modifizierten Kieler Zahlenbildern (vgl. Abbildung 7.4) – eindeutige Bereiche abgrenzen, die den beiden Summanden zugeordnet werden können. Die Zahlzerlegung wird dadurch übersichtlicher dargestellt. Auch Subtraktionsaufgaben lassen sich in diesem System darstellen, wie das Beispiel in Abbildung 7.11 zeigt.

Abbildung 7.11
figure 11

Darstellung der Aufgabe 8 – 5 im ersten Entwurf der Mengendarstellung. Da die einzelnen Punkte des Mengenbildes nicht willkürlich, sondern beginnend mit dem Punkt mit der höchsten Ordnungszahl durchgestrichen wurden, wird die Differenz 3 in der Form des Mengenbildes 3 dargestellt

Erprobung des ersten Entwurfs

Zur Erprobung dieses ersten Entwurfs der Mengenbilder wurden diese mehrfach auf Karten ausgedruckt und Leen präsentiert. Dieser zählte die Punkte auf den Karten und legte sie der Reihenfolge nach ab. Karten, die ein Mengenbild zeigten, das er schon abgelegt hatte, legte er auf die bereits abgelegte Karte. Dabei wurden drei zentrale Beobachtungen gesammelt:

  1. 1.

    Es fiel Leen schwer, die Mengen 5 und 6 sowie die Mengen 7 und 8 voneinander zu unterscheiden. Beim sorgfältigen Nachzählen unterlief ihm dieser Fehler nicht. Verzichtete er aber auf das Zählen, kam es regelmäßig zu Verwechslungen.

  2. 2.

    In den Darstellungen wird nicht deutlich, wie viele Punkte ergänzt werden müssen, um die Menge 10 zu erhalten. Da die Mengenbilder lediglich aus Punkten bestehen, die jeweils für eine Einheit stehen, ist die Darstellung der 0 nicht möglich.

  3. 3.

    Beim Nachzählen der Mengenbilder 9 und 10 zählte Leen im Sinne der Leserichtung nach dem Kreis mit der Ordnungszahl 4 den mit der Ordnungszahl 9.

Diese Beobachtungen sollten bei der Entwicklung eines zweiten Entwurfs berücksichtigt werden.

7.1.2.2.2 Entwurf 2: Kirschen anstelle von Wendeplättchen

Die erste Beobachtung wirft das Problem auf, dass einige Mengenbilder des ersten Entwurfs offenbar unter den Bedingungen einer Simultandysgnosie nicht auf einen Blick erfasst werden können. Als Lösung dieses Problems wurde ein senkrechter Strich oberhalb des Kreises, der ein Wendeplättchen symbolisierte, angefügt. Werden zwei solcher Elemente miteinander gebündelt, neigen sich diese Striche zueinander und bilden ein Dach (Abbildung 7.12).

Abbildung 7.12
figure 12

Die Kreise wurden durch Striche erweitert, die bei einzelnen Elementen senkrecht dargestellt werden und bei einer Zweierbündelung ein Dach bilden

Auf diese Weise lassen sich Einzelelemente und Bündel besser voneinander unterscheiden.

Diese Darstellung erinnert an die Darstellung von Kirschen, die ebenfalls einzeln und in Paaren gebündelt auftreten. Um die Ästhetik und den Aufforderungscharakter des Lernmaterialies zu verbessern, wurde dieses Bild bewusst aufgenommen: Die Punkte (bzw. stilisierten Wendeplättchen) wurden zu stilisierten Kirschen mit rotem Fruchtkörper und grünem Stängel.

Die zweite Beobachtung zeigt, dass die Struktur des Zehnerfeldes in den Mengenbildern nicht deutlich genug dargestellt ist. Der neue Entwurf der Mengenbilder beinhaltet deshalb grundsätzlich auch die freien Plätze des Zehnerfeldes. Auf diese Weise lässt sich ein Mengenbild der 0 darstellen und jedes einzelne Mengenbild von 0 bis 9 daraufhin untersuchen, wie viele Kirschen hinzugefügt werden müssten, um die 10 zu erreichen. In Abbildung 7.13 sind die elf neugestalteten Mengenbilder zu sehen.

Abbildung 7.13
figure 13

Zweiter Entwurf der Mengenbilder, der die Kreise durch Striche erweitert, die die Bündelung unterstreichen und farblich an Kirschen erinnern

Die dritte Beobachtung, dass Leen bevorzugt die Kirschen in der zweiten Reihe zählte, bevor er solche in der dritten Reihe zählte, wurde zum Anlass genommen, den Zeilensprung im Aufbau der Mengenbilder in Frage zu stellen. Infolgedessen entstanden alternative Mengenbilder der Anzahlen 5 bis 9 (Abbildung 7.14).

Abbildung 7.14
figure 14

Alternative Mengenbilder des zweiten Entwurfs

Erprobung des zweiten Entwurfs

Teresa Knopp begann ihr Praktikum zum Zeitpunkt der Fertigstellung des zweiten Entwurfs und der alternativen Mengenbilder. In einem Versuch wurden vor ihr Karten mit den ihr noch unbekannten Mengenbildern des zweiten Entwurfs auf dem Tisch aufgedeckt. Ihre Aufgabe bestand darin, die Anzahl der Kirschen schnellstmöglich zu benennen. Nachdem ihr für einen kurzen Moment das Mengenbild der 9 gezeigt wurde, benannte sie dieses sofort korrekt. Auf die Frage, woran sie die Anzahl erkannt habe, äußerte sie: „Das sind vier Gruppen im Quadrat und einer in der Mitte“. Als der Versuch am nächsten Tag wiederholt wurde, beantwortete sie die gleiche Frage folgendermaßen: „Weil einer fehlt bis 10“. Ihr Wissen um die Struktur der Mengenbilder ermöglichte ihr die Anzahlbestimmung, ohne die einzelnen Kirschen zu zählen oder die Zahlzerlegung aus Bündeln und einzelnen Kirschen zu berechnen.

Dass das Zehnerfeld der Mengenbilder entgegen der Leserichtung von oben links nach unten rechts die mittlere Zeile vorerst überspringt, bezeichnete Frau Knopp als „komisch“. Die alternativen Mengenbilder bewertete sie als „auch ok“, gab aber an, dass ihr der ursprüngliche Aufbau besser gefalle, da die 8 dem Würfelpunktbild der 4 ähneln würde und sie deshalb die Anzahlen schneller bestimmen könnte.

Frau Knopp verglich außerdem die ersten beiden Entwürfe miteinander. Mit der Begründung, dass die Elemente im zweiten Entwurf (mit Kirschstängeln) nicht gezählt werden müssten und dass die Kirschen besser aussähen als die Punkte, sprach sie sich für den zweiten Entwurf aus.

Dieser wurde ebenfalls durch Leen begutachtet. Eine Verwechslung von aufeinanderfolgenden Mengen kam nun nicht mehr vor, die Kirschstängel erfüllten ihren Zweck. Die hinzugefügten Platzhalter für Kirschen ermöglichten ein Gespräch darüber, wie viele Kirschen bis zur 10 fehlen. Das Mengenbild der 0 interpretierte Leen auf Anhieb korrekt.

Während sich Leen mit den alternativen Mengenbildern 5 bis 9 beschäftigte, entstand der Eindruck, er käme besser mit den ursprünglichen Mengenbildern zurecht, da ihm beim Benennen der neuen Bilder ohne Nachzählen häufig Fehler unterliefen. Diese Beobachtung könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass er sich die ursprüngliche Anordnung der Mengenbilder bereits eingeprägt hatte. Die Tatsache, dass nun zwei mögliche Konstellationen für Mengenbilder angeboten wurden, verwirrte ihn offenkundig. Bei dieser Form der Mengendarstellung scheint es von Bedeutung zu sein, dass ein spezifisches Mengenbild repräsentativ für eine Anzahl steht. Zugunsten der Anlehnung des Mengenbilds der 8 an das Würfelpunktbild der 4 und auf Anraten von Frau Knopp wurden die alternativen Mengenbilder verworfen.

7.1.2.3 Entwicklung des ersten Prototyps des Lernmaterials

Um die Mengenbilder handelnd nachvollziehen und sich u. a. erschließen zu können, dass ein Kirschpaar in den Mengenbildern immer aus zwei Kirschen besteht, wurde der Prototyp eines konkreten Lernmaterials entwickelt.

Als Basis wurde ein Zehnerfeld hergestellt, das aus zwei aufeinander geleimten Spanplatten in der Größe von 24 × 30 cm besteht. In die obere Spanplatte wurden vor dem Verleimen Löcher mit einem Durchmesser von ca. 1,8 cm gefräst, die die Struktur des Mengenbildes der 0 vorgeben (Abbildung 7.15).

Abbildung 7.15
figure 15

Leeres Zehnerfeld des ersten Prototyps des neuen Lernmaterials

Die stilisierten Kirschen dieses ersten Prototyps bestehen jeweils aus einer rot lackierten Holzperle, die mit einem grün lackierten Rundstab, ebenfalls aus Holz, verleimt ist (Gesamtlänge: 7,5 cm). Am Ende des Rundstabs wurde mit Hilfe von grünem Klebeband eine Magnetkugel angebracht, damit zwei Kirschen miteinander gebündelt werden können (Abbildung 7.16).

Abbildung 7.16
figure 16

Holzkirsche mit Magnet am Ende des Stängels

Es wurden zehn Holzkirschen hergestellt, um die Mengen 0 bis 10 darstellen zu können. Hierzu werden die Holzkirschen auf das Brett in die Löcher gelegt. In Abbildung 7.17 wird auf diese Weise das Mengenbild der 7 angezeigt.

Abbildung 7.17
figure 17

Das Mengenbild der 7 im ersten Prototyp des neuen Lernmaterials

7.1.2.4 Erprobung und Begutachtung des ersten Prototyps

Leen zeigte Freude bei der Arbeit mit dem Material. Die zuvor nur von Karten bekannten Mengenbilder legte er nun mit Holzkirschen nach (Abbildung 7.18).

Abbildung 7.18
figure 18

Leen legt das Mengenbild der 6 mit Hilfe des Prototyps nach

Der Autor entwickelte gemeinsam mit Leen verschiedene spielerische Ansätze, die ihn darin unterstützen sollten, sich die Mengenbilder einzuprägen und sie ad hoc zu benennen. In einem dieser Spiele wurde abwechselnd das Zehnerfeld mit einem Zeichenblock überdeckt und ein Mengenbild mithilfe der Holzkirschen gelegt. Für einen kurzen Moment wurde der Zeichenblock angehoben. Die Aufgabe der Person gegenüber bestand darin, die angezeigte Menge an Kirschen so schnell wie möglich zu benennen (Abbildung 7.19).

Abbildung 7.19
figure 19

Spiel zum Einprägen der Mengenbilder durch Kurzzeitdarbietung des Zehnerfeldes

Auf spielerische Weise lernte Leen die Mengenbilder binnen weniger Sitzungen. Um zu verstehen, wie er sich die Mengenbilder erschloss, wurde ihm regelmäßig die Frage gestellt, woran er bestimmte Mengenbilder habe erkennen können. Im Fall der Mengenbilder bis 7 beantwortete er die Frage, indem er auf die Kirschen deutete und die Anzahl wiederholte. Auf die Frage „Woher wusstest du, dass das vier Kirschen sind?“ zeigte er beispielsweise auf die Kirschen und sagte: „Das sind vier!“. Bei den Mengen 8 und 9 deutete er hingegen gelegentlich auf die nicht besetzten Plätze. Beispielsweise beantwortete er die Frage, woran er die 9 erkannt habe, indem er auf das zehnte freie Feld zeigte und sagte: „Hier ist 10!“.

Mutmaßlich erkannte Leen auch anhand der freigebliebenen Plätze das dargestellte Mengenbild, indem er auf die Anzahl der Kirschen schloss. Diese Strategie erinnert eher an einen Mess- als an einen Zählvorgang. Tatsächlich kann das Zehnerfeld als ein Hohlmaß verstanden werden, das sich füllen lässt. Jeder einzelne freie Platz, auf den eine Kirsche gelegt werden kann, lässt sich als ein ungefülltes Gefäß interpretieren. Die Null wird als „Nichts zum Anfassen“ begreifbar (vgl. Zimpel, 2010b).

Frau Knopp bezeichnete den Prototyp des Zehnerfeldes als „schön bunt, aber ehrlich gesagt nicht so praktisch“. Auch Leen offenbarte in der konkreten Handhabung der Holzkirschen und des Zehnerfeldes Schwierigkeiten. Als Grund hierfür könnte die Muskelhypotonie in Betracht kommen, die grundsätzlich mit einer Trisomie 21 einhergeht (vgl. Unterkapitel 2.1). Hinzu kommen Schwächen in der materiellen Konstruktion des Prototyps, wie etwa eine zu geringe Tiefe der Aussparungen und zu starke Magnete. Das Hadern mit den Unzulänglichkeiten des Materials verlangte viel Aufmerksamkeit und lenkte den Fokus häufig von der eigentlichen, mathematisch motivierten Handlung am Material ab. Ein weiteres Problem ergab sich im schrittweise erfolgenden Aufbau der Mengenbilder. Bei der Aufgabe, eine Anzahl an Kirschen in das Zehnerfeld zu legen, vergaßen Frau Knopp und Leen regelmäßig das Überspringen der mittleren Zeile vor dem Setzen der fünften Kirsche. Dies führte dazu, dass sie ständig korrigiert werden mussten, was sich wiederum negativ auf ihre Motivation auswirkte.

Der Prototyp des Zehnerfeldes erwies sich als verbesserungswürdig. Insbesondere die schlechte Handhabbarkeit und die fehlende Unterstützung beim Setzen der Mengenbilder wirkten sich negativ auf die Arbeit mit dem Material aus. Der Prototyp bürgte zu viele Freiheitsgrade, um den Vorteil der speziellen Mengenbilder nachvollziehen zu können.

7.1.3 Umsetzung der Kriterien

Im Folgenden wird der Prototyp des Lernmaterials auf die Erfüllung der zuvor aufgestellten Kriterien (vgl. Anhang, S. 5 im elektronischen Zusatzmaterial) überprüft.

Allgemeine Kriterien

In Hinblick auf die geforderte Isolation von Eigenschaften kann festgestellt werden, dass maßgebliche Eigenschaften der Mengenbilder, wie die Zweierbündelung und die spezifische Verteilung dieser Zweierbündel durch die Struktur des Zehnerfeldes, isoliert vorgegeben sind. Die korrekte Legereihenfolge der stilisierten Kirschen und damit die spezifische Anordnung der Mengenbilder werden nicht abgebildet, was sich negativ auf die selbständige Erarbeitung des Materials auswirkt.

Eine Prüfung, ob ein Mengenbild korrekt erkannt wurde, ist nicht möglich. Das Kriterium der Fehlerkontrolle ist daher nicht erfüllt.

Das Material wurde von Frau Knopp zwar als „schön bunt“ bezeichnet, von einer abgestimmten Form- und Farbgebung kann in diesem Prototypstadium allerdings noch nicht die Rede sein. Weder das Kriterium der Ästhetik noch das der kindgerechten Handhabung ist erfüllt; das Material ist nicht leicht zu händeln, einzelne Operationen erfordern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.

Letztlich erfüllt dieser erste Prototyp keines der allgemeinen Kriterien.

Kriterien für Anschauungsmaterialien

Die angestrebte Redundanz des Materials wird bereits in diesem Stadium der Entwicklung deutlich. Die verwendeten Mengenbilder basieren auf Ergebnissen und Ideen der Trisomie-21-Forschung und sind mutmaßlich mental abbildbar.

Das Lernmaterial bietet bisher noch keine Orientierungsgrundlage, die ein selbständiges Erschließen der Handlung ermöglicht. Das Kriterium des Angebots wesentlicher Operationen ist ebenfalls noch nicht erfüllt. Zwar ist das Zählen von Elementen bereits möglich, aber Zahlzerlegungen sowie Additions- und Subtraktionsaufgaben sind noch nicht durchführbar. Die Handlung mit dem Material kann verbalisiert werden, eine geeignete Form der Verbalisierung wurde allerdings noch nicht herausgearbeitet. Das Kriterium der Möglichkeit der Materialisierung stellt das einzige in dieser Kategorie dar, das erfüllt wurde: Die Mengenbilder, die mit dem Prototyp des Lernmaterials gelegt werden, können als Abbildungen auf Karten materialisiert werden.

Kriterien für Mengendarstellungen

Das neu entwickelte System zur Darstellung von Mengen bietet eine aufbauende Struktur. Dank der Darstellung der Mengenbilder im Zehnerfeld ist die Zehnerzerlegung in jedem Mengenbild ersichtlich. Eine (quasi-)simultane Erfassbarkeit jedes Mengenbildes ist auch unter den Bedingungen einer Simultandysgnosie gegeben. Das Spiel zur Kurzzeitdarstellung, das gemeinsam mit einer der Untersuchungspersonen entwickelt wurde, ist ein Hinweis darauf, dass automatisierende Rechenübungen mithilfe der Mengendarstellungen durchführbar sind.

Die Kriterien für Mengendarstellungen können damit (unter Vorbehalt) als erfüllt bezeichnet werden.

Die Kriterien für die Mengendarstellung hat die erste Iteration des Materials bereits erfüllt. Den anderen Kriterien wird der erste Prototyp des Lernmaterials allerdings nicht gerecht. Er weist insbesondere massive Mängel in der Handhabung und der Vermittlung einer Orientierungsgrundlage auf. In der Entwicklung der zweiten Iteration des Lernmaterials sollte eine Erscheinungsform des Materials gewählt werden, die diese Mängel adressiert.

7.2 Iteration 2: Zehnerfeld in der App mathildr

Die zweite Iteration des Lernmaterials hat die Gestalt einer Tablet-App. Sie wurde von Oktober 2015 bis September 2016 entwickelt und durch drei Kinder mit Trisomie 21 im Alter von sieben bis elf Jahren erprobt.

Mit der Entwicklung der zweiten Iteration des Lernmaterials sollten die Lücken, die der erste Prototyp in der Erfüllung der aufgestellten Kriterien aufgezeigt hatte, geschlossen werden. In Beratungsgesprächen an der Universität Hamburg wurde deutlich, dass seitens der Eltern und Pädagog*innen von Kindern bzw. Schüler*innen mit Trisomie 21 Interesse bestand, das Lernmaterial einzusetzen und zu erproben. Deshalb wurde als weitere Zielsetzung das Finden einer Möglichkeit definiert, das Lernmaterial für Interessierte zugänglich zu machen.

7.2.1 Untersuchungspersonen und Methodik

Erneut unterstützte Leen (mittlerweile 11;2 Jahre) die Entwicklung des Materials. Außerdem war die Schülerin Noa (6;11 Jahre) an der Entwicklung des Materials beteiligt. Sie lebt unter den Bedingungen einer Trisomie 21 und wies zum Zeitpunkt der Entwicklung keinen entwickelten Zahlbegriff auf. Michel, der zu Beginn der Entwicklung des Materials 7;4 Jahre alt war, hat ebenfalls eine Trisomie 21. In der Untersuchung zur Zahlbegriffsentwicklung löste er alle Aufgaben korrekt.

Alle Untersuchungspersonen erhielten einmal wöchentlich eine mathematische Förderung beim Autor. Der Förderzeitraum variierte; teilweise konnte mit der Schule der Untersuchungspersonen zusammengearbeitet werden. Auch in diesem Teil der Entwicklungsphase wurden alle Fördereinheiten aufgezeichnet. Von Interesse waren erneut Beobachtungen zum Umgang mit dem neuen Material und die Einschätzung der Untersuchungspersonen.

7.2.2 Entwicklung einer App

7.2.2.1 Vorüberlegungen

Im Zuge der Erprobung der ersten Iteration des Lernmaterials wurde deutlich, dass sich die Mengenbilder (zweiter Entwurf) dazu eignen, auch unter der Bedingung einer Simultandysgnosie auf einen Blick erfasst zu werden. Die einzelnen stilisierten Kirschen dürfen dazu allerdings nicht willkürlich auf dem Zehnerfeld verteilt werden, sondern müssen in der erarbeiteten Struktur auftreten. Bei der Arbeit mit dem Zehnerfeld aus Holz erfuhren die Lernenden seitens des Materials keine Hinweise zum korrekten Aufbau des Mengenbildes. Ihnen fehlte also die Orientierungsgrundlage, um sich die Kerneigenschaften der Mengenbilder zu vergegenwärtigen. Der Aufbau der Mengenbilder hat sich außerdem als nicht vollständig intuitiv erwiesen. Lernende, die mit dem Holz-Prototyp arbeiteten, hätten zur selbständigen Erarbeitung des Materials geeignete Mengenbilder selbst erfinden müssen. Unter der Bedingung, dass das Mengenverständnis der Lernenden noch weiterentwickelt werden sollte, stellt dies eine nicht erfüllbare Anforderung dar. Eine Weiterentwicklung des Holzprototyps sollte daher möglichst den Lernenden nicht nur zeigen, an welcher Stelle Kirschen platziert werden sollten, um dem Schema der Mengenbilder zu folgen, sondern auch eine fehlerhafte Darstellung der Mengenbilder vermeiden. Auf diese Weise würden sie sich den speziellen Aufbau der Mengenbilder vergegenwärtigen und voraussichtlich einprägen können.

Bei der neuen Iteration des Lernmaterials sollte es sich folglich nicht nur um ein passives Werkzeug zur Darstellung handeln, sondern vielmehr um eine Maschine, die gewissen Restriktionen unterliegt und nur auf ein bestimmte Art und Weise bedient werden kann. Es lag nahe, die Verwirklichung dieser Maschine mithilfe einer Software zu realisieren. Der Autor entwickelte im Rahmen seiner Masterarbeit eine Tablet-App, die Schüler*innen mit Muskelhypotonie eine Alternative zum Schreiben von Zahlen und Rechenaufgaben mit Stift und Papier bot. Dabei spielte insbesondere die Erkenntnis eine Rolle, dass die Motivation an der Arbeit mit Zahlen darin getrübt sein kann, dass ein feinmotorisch herausforderndes Aufschreiben von Zahlenreihen oder Rechenaufgaben die volle Aufmerksamkeit der lernenden Person bedarf und den Mathematikunterricht bremst (Rieckmann, 2014, S. 47). Darüber hinaus bestehen weitere gute Gründe, das Lernmaterial als App umzusetzen. So ermöglichte die Entwicklung des hier vorgestellten Lernmaterials als Tablet-App

  • die Schaffung einer Orientierungsgrundlage durch unterstützende und restriktive Mechanismen beim Erstellen von Mengenbildern,

  • die vereinfachte Bedienung unter den Bedingungen einer Muskelhypotonie,

  • eine einfache und kostengünstige Verbreitungsform des Lernmaterials (vorausgesetzt, ein Tablet-PC und ein Internetanschluss sind verfügbar),

  • die Möglichkeit der Erweiterung und Verbesserung des Lernmaterials durch Updates und

  • ein individualisiertes Lernen, das sich am Entwicklungsstand der Schüler*innen orientiert und zur Verbesserung der Barrierefreiheit beiträgt.

Die benötigte Unterstützung zur Entwicklung einer Tablet-App erhielt der Autor durch Rolf Rieckmann, der die App entwickelte, und Dennis Krohn, der sich für die grafische Gestaltung verantwortlich zeigte.

7.2.2.2 Technische und grafische Realisierung

Die App wurde durch Rolf Rieckmann mithilfe der objektorientierten Skriptsprache JavaScript sowie HTML5 und CSS entwickelt. Da diese in jedem Internetbrowser aufgerufen werden kann, lässt sie sich plattformunabhängig auf nahezu allen aktuellen Tablets und Smartphones verwenden. Dies erlaubt den Einsatz und Wechsel verschiedener Prototypen in der Mathematikförderung.

Darüber hinaus ist über diesem Wege auch eine Verbreitung möglich: Die App kann als sog. Progressive Web App angeboten werden, die über den Internetbrowser des Tablets auf dem Home Screen installiert wird. Auf Seiten der Entwickler*innen bietet dies die Möglichkeit, die App unabhängig von den App Stores der Gerätehersteller zur Verfügung zu stellen und instand zu halten. (Petereit, 2020).

Die grafische Gestaltung der App wurde durch Dennis Krohn realisiert. Dieser nutzte das vektorbasierte Programm Adobe Illustrator, um sämtliche Grafiken der App zu erstellen (vgl. Adobe, 2020). Die Grafiken werden in der App im SVG-Format ausgegeben und können daher ohne Qualitätsverlust an die Bildschirmgrößen sämtlicher Endgeräte angepasst werden. Bei der grafischen Gestaltung legte Krohn Wert darauf, den Aufforderungscharakter der App durch ein attraktives Erscheinungsbild zu gewährleisten.

7.2.2.3 Kernfunktionalität Zehnerfeld

Das technische wie auch didaktische Herzstück der App bildet das Zehnerfeld, in dem die Mengenbilder 0 bis 10 dargestellt werden können. Durch spezifische Funktionen und Restriktionen sollte eine Auseinandersetzung mit den Mengenbildern ermöglicht werden, die zu den gewünschten Lernzielen führen kann. Im Folgenden wird das Konzept des Zehnerfeldes vorgestellt. In einem Proof of Concept wurde eine erste technische Realisierung vorgenommen.

7.2.2.3.1 Konzept

Das Zehnerfeld wird rund dargestellt, um dem Charakter eines Hohlmaßes zu entsprechen, beispielsweise einer Schale, die gefüllt werden kann. Zum korrekten Aufbau der Mengenbilder sollte innerhalb der App eine Restriktion der Reihenfolge des Befüllens durch Kirschen realisiert werden, die in Abbildung 7.20 schematisch dargestellt wird.

Abbildung 7.20
figure 20

Konzeptzeichnung leeres Zehnerfeld mit Nummerierung der Reihenfolge zur Befüllung mit stilisierten Kirschen

Zur Darstellung der Bedienung des Zehnerfeldes wurde ein Storyboard erstellt, das in Abbildung 7.21 auszugsweise wiedergegeben wird. Das komplette Storyboard befindet sich in Form einer Bildfolge im Anhang auf S. 7 im elektronischen Zusatzmaterial.

Abbildung 7.21
figure 21figure 21

Ausschnitte des Storyboards zur Funktionalität des Zehnerfeldes in der App mit Erklärung

Um die Nutzer*innen der App darin zu unterstützen, die Mengenbilder in der richtigen Reihenfolge zu legen und eine mögliche Frustration beim wiederholten Antippen der falschen freien Plätze zu vermeiden, sollten die korrekten Plätze markiert werden. Da die Kirschen auch paarweise gelegt werden können, sollten je nach Ausgangslage ein oder zwei Felder markiert werden. Im Mengenbild der 0 wären die ersten beiden Plätze markiert, im Mengenbild der 1 wäre lediglich der zweite markiert. Im Mengenbild der 2 wären wiederum die Plätze 3 und 4 markiert, beim Mengenbild der 3 lediglich der Platz 4 usw. Weiterhin war die Integration eines Schalters vorgesehen, der auf Berührung das Zehnerfeld in seinen Ursprungszustand bringt, also alle Kirschen aus dem Zehnerfeld entfernt, sodass das Mengenbild der 0 gezeigt wird. Die gesamte Mechanik des Zehnerfeldes wurde in Form eines Flussdiagrams dargestellt (siehe Anhang, S. 9 im elektronischen Zusatzmaterial).

Das Konzept des Zehnerfeldes wurde Rolf Rieckmann und Dennis Krohn vorgelegt, die dieses in einem Proof of Concept umsetzten, das eine technische und gestalterische Machbarkeit bestätigen und die Möglichkeit zur Erprobung der Bedienung ermöglichen sollte.

7.2.2.3.2 Proof of Concept

Der erste Prototyp der App zeigte eine erste Version der neuen grafischen Darstellung der Mengenbilder, die von Dennis Krohn stammt. Der Schalter zum Farbwechsel wurde als stilisierter Farbtropfen umgesetzt, der entweder rot oder gelb erscheint. Zum Zurücksetzen des Feldes wurde ein Schalter in Form eines roten Xs integriert (Abbildung 7.22).

Abbildung 7.22
figure 22

Screenshot Proof of Concept. Deutliche Markierungen zeigen, auf welche Positionen folgende Kirschen gelegt werden können. Auf der rechten Bildschirmseite befinden sich die Buttons zum Verändern der Kirschfarbe und Zurücksetzen des Zehnerfeldes

Dieser Prototyp wurde gemeinsam mit Leen erprobt (Abbildung 7.23), der sehr interessiert war, allerdings einige Schwierigkeiten im Umgang mit der App zeigte. Folgende Beobachtungen wurden getätigt:

  • Die farbenfrohe Erscheinung der App besitzt einen hohen Aufforderungscharakter.

  • Die Markierungen, die darauf hinweisen, an welcher Stelle die nächsten Kirschen platziert werden können, führen beim schrittweisen Hinzufügen einzelner Kirschen zu Irritationen, da im Wechsel eines oder zwei Felder markiert werden.

  • Die weiteren Bedienelemente sind verständlich, aber zu klein.

  • Wenn freie Felder zu lang berührt werden, erscheinen keine Kirschen.

Abbildung 7.23
figure 23

Leen erprobt den Prototyp des Zehnerfeldes auf dem Tablet

Eine Optimierung der Touch-Steuerung und der grafischen Darstellung wurde in der ersten Version der App vorgenommen, über die im Folgenden berichtet wird.

7.2.2.4 mathildr-App

Neben dem Zehnerfeld, das bereits als Proof of Concept vorlag, mussten weitere Elemente der App realisiert werden, damit sie den Kriterien des zu gestaltenden Lernmaterials entspricht. Bei der Namensgebung der App (und damit auch des Lernmaterials und des Systems zur Darstellung von Mengen) wurde Wert darauf gelegt, dass analog zur grafischen Gestaltung ein modernes Erscheinungsbild erzeugt wird. Dabei wurde berücksichtigt, dass die App nicht nur von Kindern, sondern auch von Jugendlichen und Erwachsenen mit Simultandysgnosie verwendet werden kann, weshalb ein Name vermieden werden sollte, der allzu kindlich oder verspielt wirkt. Die Wahl fiel auf das Kunstwort mathildr, das wie der Vorname Matilda ausgesprochen wird. Am Anfang des Namens steht math, die amerikanisch-englische Kurzform von mathematics. Die Endung r steht ersatzweiße für a und wird in App-Namen wie flickr oder tumblr verwendet, damit diese als modern empfunden werden (Kershner, 2016). Die Kleinschreibung des Namens soll ebenfalls zur modernen Wirkung des Wortes sowie zu einer harmonischen Wirkung des Wortbildes beitragen.

7.2.2.4.1 Konzept

Die App bestand in ihrer ersten Version aus vier möglichen Ansichten: dem Zehnerfeld, dem Einstellungsmenü (Abbildung 7.24), dem Hauptmenü und dem Hilfe-Menü. Ein Flussdiagramm der Navigation zwischen diesen Bildschirmen findet sich im Anhang, S. 10 im elektronischen Zusatzmaterial.

Abbildung 7.24
figure 24

Konzeptzeichnungen der Ansichten Zehnerfeld und Einstellungen

Das Hauptmenü ermöglichte die Auswahl zwischen den Optionen Spielen, Hilfe und Einstellungen. Hinter der Auswahl Spielen verbarg sich die Darstellung des Zehnerfeldes inklusive Buttons zum Wechseln der Kirschfarbe und zum Zurücksetzen des Feldes. Weiterhin sollte im Term-Feld unter dem Zehnerfeld in Echtzeit die Zusammensetzung der Kirschen im Zehnerfeld in Zahlenform wiedergegeben werden. Diese Zahlen sollten die Farbe der entsprechenden Kirschen tragen und ggf. vorhandene Zahlzerlegungen anzeigen. In dieser Ansicht sollte sich außerdem ein Button befinden, der zurück zum Hauptmenü führt.

Für gewisse Lernsituationen wurden der Button zum Wechsel der Kirschen oder die Anzeige des Terms als störend eingeschätzt. Daher sollte im Einstellungsmenü das Ausblenden von optionalen Elementen in der Ansicht des Zehnerfeldes ermöglicht werden.

7.2.2.4.2 Umsetzung

Es wurden mehrere Versionen der App entwickelt und technisch erprobt, bevor mit der Version 1.1 eine App vorlag, die alle Aspekte des Konzepts erfüllte. Das Interfacedesign wurde im Vergleich zum Proof of Concept des Zehnerfeldes und zum Konzept der App verbessert. Bei der Gestaltung des Hauptmenüs wurde berücksichtigt, dass die Buttons, die zur Hilfe oder den Einstellungen leiten, einen geringeren Aufforderungscharakter aufweisen als der Button Spielen, der zur Ansicht des Zehnerfeldes führt (Abbildung 7.25).

Abbildung 7.25
figure 25

Screenshots des Hauptmenüs in mathildr 1.1

Im Einstellungsmenü wurde eine Echtzeitvorschau des Zehnerfeldes eingeblendet, sodass die Nutzer*innen die Auswirkungen der Optionen im Blick haben konnten. Durch Antippen der Elemente auf der rechten Seite konnten diese im Zehnerfeld deaktiviert und bei erneutem Antippen wieder aktiviert werden. Deaktivierte Elemente wurden grau dargestellt. Das Hilfemenü wies auf die Website der App hin, die Informationen zur pädagogischen Arbeit mit der App bereitstellte (Abbildung 7.26).

Abbildung 7.26
figure 26

Screenshots des Einstellungs- und des Hilfemenüs. Der Farbwechsel-Button und das Term-Element sind deaktiviert und damit ausgeblendet

Die Ansicht des Zehnerfeldes wurde optimiert, indem die Bedienelemente auf die linke Seite gerückt sind und Rechtshänder*innen nicht an den Elementen vorbeigreifen müssen, um die Kirschen im Zehnerfeld zu platzieren. Außerdem wurden die Form- und Farbgebung sowie die Größen der Elemente verbessert und das Term-Element wurde integriert (Abbildung 7.27).

Abbildung 7.27
figure 27

Screenshots des Zehnerfeldes in mathildr 1.1

Die Markierung zur weiteren Platzierung von Kirschen wurde im Vergleich zum Prototyp im Proof of Concept angepasst. Nun wird lediglich ein Feld markiert und nicht die zwei Felder, die mithilfe einer Multitouch-Geste gleichzeitig mit Kirschen gefüllt werden können.

Zur Darstellung der Zahlen und des Textes im Hilfemenü wurde die GrundschriftFootnote 1 von Christian Urff verwendet.

Neben der Verbesserung des Interfacedesigns wurde ebenso das zugrundeliegende Script angepasst, um die Bedienbarkeit zu verbessern. Ob ein Button als gedrückt gilt oder eine Kirsche platziert wurde, war nun nicht mehr von der Dauer der Berührung abhängig. Darüber hinaus wurden weitere Optimierungen vorgenommen, die die Funktion der App gewährleisteten.

Die App wurde erstmals im Januar 2016 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

7.2.3 Erprobung

Die Lernmaterialien wurden im Rahmen der Mathematikförderung dreier Kinder mit Trisomie 21 an der Beratungsstelle der Universität Hamburg erprobt. Diese Förderungen resultierten in einer Erweiterung des Materials durch Materialisierungen, einer Herausarbeitung von didaktischen Einsatzmöglichkeiten der Lernmaterialien und in Hinweisen, die zum Update der App und damit zur dritten Iteration des Lernmaterials führten. Im Folgenden werden wesentliche Erkenntnisse aus den Erprobungen dargestellt.

7.2.3.1 Noa lernt zählen

Im Alter von 6;11 Jahren besuchte Noa, ein Mädchen mit Trisomie 21, erstmals die Beratungsstelle. An knapp 30 Terminen, die ein- bis zweimal wöchentlich stattfanden und in den Ferien pausierten, wurde Noa nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Schriftsprache gefördert. Noa zeigte anfangs nur wenig Interesse an Zahlen. Die Zahlwortreihenfolge fiel ihr schwer, häufig vermischte sie die 2 und die 3 und zählte „Eins, zwrei, vier, fünf, sechs …“. Beim Ermitteln einer Menge zählte sie einzelne Elemente gelegentlich mehrfach und legte sich nicht auf eine Zahl zur Bezeichnung der Menge fest. Ihr großes Interesse galt dem Sujet- und Rollenspiel (vgl. Zimpel, 2011), in dessen Rahmen einige Aktivitäten initiiert werden konnten, die das Zählen beinhalteten. So wurde beispielsweise ein Tisch mit Puppengeschirr für drei Personen gedeckt oder Noa schlüpfte in die Rolle einer Lehrerin, die dem Autor, der die Rolle des Schülers einnahm, das Zählen erklärte.

Ein besonderes Spiel, bei dem die mathildr-App eine zentrale Rolle spielte, konnte bereits in einer der ersten Sitzungen entwickelt werden und wurde in der Folge häufig wiederholt. Noa hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen kleinen Ball mit einigen Metern Abstand in eine offene Aufbewahrungsbox zu werfen. Der Autor schlug ihr vor, ein Tablet mit der mathildr-App neben diese Box zu stellen und bei jedem Treffer eine Kirsche im Zehnerfeld zu platzieren (Abbildung 7.28).

Abbildung 7.28
figure 28

Noas Ballspiel. Die Straßenschuhe markieren den Abstand zur Box, der eingehalten werden muss

Diese Vorgehensweise entzerrte den Zählprozess stark, da nicht jeder Wurf zu einem Treffer führte und das Einsammeln des Balls sowie das Einnehmen der Wurfposition Zeit in Anspruch nahmen. Von größerer Bedeutung schien allerdings, dass das Zählen für Noa einen persönlichen Sinn ergab (vgl. Leont’ev, 2012, S. 249 ff.). Freute sie sich zuvor über jeden Treffer, konnte sie nun anhand der Kirschen nachvollziehen, wie häufig sie getroffen hatte. Als sie am Ende des Termins von ihrem Vater abgeholt wurde, berichtete sie ihm freudestrahlend: „Ich habe zehnmal getroffen!“.

Das Zählen und gleichzeitige Platzieren von Kirschen im Zehnerfeld fiel ihr leichter als das Zählen von bereits bestehenden Objekten. Vorausgesetzt, die korrekte Reihenfolge des Legens der Mengenbilder wird eingehalten, erscheint mit jedem Fingerdruck eine Kirsche. Dieses grafische Feedback ist beim Zählen von analogen Objekten indes nicht vorhanden. Durch die Möglichkeit der Einblendung der Zahlen konnte sich Noa außerdem rückversichern, wie viele Kirschen bereits in dem Feld zu sehen sind, und eine Verknüpfung zwischen Mengenbild, Zahlwort und Ziffer vornehmen.

Um die Mengenbilder in weiteren Spielsituationen einsetzen zu können, wurde eine Materialisierung vorgenommen: Die Mengenbilder 0 bis 10 wurden auf Karten in Skatblattgröße gedruckt. Dabei wurde das Mengenbild der 0 zweimal gedruckt und die Mengenbilder 1 bis 10 wurden jeweils einmal mit roten Kirschen und einmal mit gelben Kirschen gedruckt. Dies erlaubte Memory- oder einfache Zuordnungsspiele. Noa nutzte den Kartenstapel meistens im Spiel: Vom gemischten Stapel wurde eine Karte gezogen, die zeigt, wie häufig eine zuvor vereinbarte Handlung durchgeführt wird (Abbildung 7.29).

Abbildung 7.29
figure 29

Noa präsentiert die Mengenkarte 5 während einer Spielsituation

Nach den knapp 30 Terminen zählte Noa sicher bis 10 und konnte alle Mengenbilder bis 10 sicher (quasi-)simultan erfassen. Die Förderung von Noa wurde daraufhin fortgesetzt; sie ist unter den Untersuchungspersonen der dritten und vierten Iteration vertreten.

7.2.3.2 Michel verinnerlicht die Mengenbilder

Michel war zu Beginn der Entwicklung der zweiten Iteration 7;4 Jahre alt. An sechs Terminen innerhalb eines Jahres arbeitete er gemeinsam mit dem Autor mit der App im Rahmen einer Mathematikförderung. Parallel hierzu arbeitete er mit seinen Eltern und später mit seinen Lehrpersonen und Schulbegleiter*innen mit der App. Michel, der bereits sicher bis 10 zählen konnte, erschloss sich die Funktionen des Zehnerfeldes in kurzer Zeit durch Trial-and-Error. Er fand heraus, wie er eine einzelne Kirsche erzeugen und wieder entfernen kann und welche Bedeutung die Markierung des nächsten freien Platzes hat. Bereits beim ersten Versuch, mehr als vier Kirschen zu legen, übersprang er, der Markierung folgend, die mittlere Reihe und legte die Kirschen in der richtigen Reihenfolge bis 10.

Michel prägte sich die Mengenbilder spielerisch ein, indem er sie in der App erzeugte. Abwechselnd mit dem Autor deckte er eine Zahlenkarte (0 bis 10) vom Tisch auf und legte sie laut zählend im Zehnerfeld der App nach. Anfangs bestand er darauf, die Anzeige der Anzahl der Kirschen im Zehnerfeld eingeblendet zu lassen. Später verzichtete er auf die Anzeige und zählte im Kopf (Abbildung 7.30).

Abbildung 7.30
figure 30

Der Autor reproduziert acht Kirschen im Zehnerfeld der App. Michel prüft ihn dabei auf Fehler

Im Term-Element der App korrespondieren die Zahlen grundsätzlich farblich mit den dazugehörigen Kirschen. Eine rote Zahl steht dabei für eine bestimmte Anzahl roter Kirschen, eine gelbe für eine bestimmte Anzahl gelber Kirschen. Um vielseitiger einsetzbar zu sein, zeigten die Zahlenkarten weiße Ziffern auf grünem Grund. Die Zahlen waren ebenfalls in der Grundschriftart gehalten, die auch in der App Verwendung fand. Sie wurden in dieser Form auf der Website zum Download angeboten (siehe Druckvorlage im Anhang, S. 11 im elektronischen Zusatzmaterial). Zur besseren Unterscheidung der Zahlenkarten 6 und 9 weisen diese einen Unterstrich auf. Diesbezüglich gab eine Lehrerin die Rückmeldung, dass eine Schülerin, die sich noch im Lernprozess der Zahlen befand, den Unterstrich als Element der Ziffer missverstanden habe.

Michel prägte sich die meisten Mengenbilder bereits nach kurzer Übungszeit ein. Für das eindeutige Erkennen des Mengenbildes der 7 benötigte er allerdings etwas mehr Zeit. Ab dem fünften Termin gelang es ihm, alle Mengenbilder auf Anhieb zu identifizieren. Seine Mathematik-Förderung wurde in einem anderen Rahmen fortgesetzt; er ist unter den Untersuchungspersonen der dritten Iteration vertreten.

7.2.3.3 Leen rechnet im Kopf

Leen war zu Beginn der zweiten Iteration 11;2 Jahre alt. Er entwickelte und erprobte mit dem Autor Aufgabenformate, die das Einprägen der Mengenbilder und das Rechnen mit der App ermöglichen sollten und zum Nachahmen auf der Internetseite der App veröffentlicht wurden.

Die Bearbeitung von Additionsaufgaben führte Leen bereits nach kurzer Zeit routiniert durch. Im Text auf der Website wurde die Durchführung von Additionsaufgaben folgendermaßen beschrieben:

Plusaufgaben im Zahlenbereich 0 bis 10 können mit mathildr auf die gleiche Weise wie Zahlzerlegungen dargestellt werden. Lautet die Rechenaufgabe beispielsweise 3 + 5 = ?, legt das Kind drei rote und fünf gelbe Kirschen. Durch die Anzeige unter dem Zehnerfeld kann sich das Kind vergewissern, dass die Aufgabe korrekt gelegt wurde. Das Ergebnis (8) erkennt es ohne Nachzählen und schreibt es auf.

Subtraktionsaufgaben wurden durch schrittweises Abbauen des Mengenbildes des Minuenden durchgeführt. Zur Bearbeitung der Aufgabe 5 – 3 wurden demnach fünf Kirschen platziert, um dann die Kirschen auf Position 5, 4 und 3 nacheinander durch Antippen zu entfernen. Die App zeigt dann nur noch zwei Kirschen an. Ist das Term-Element eingeblendet, zeigt dies ebenfalls nur 2. Der Minuend ist nicht erkennbar, eine nachträgliche Überprüfung, ob die Rechnung korrekt durchgeführt wurde, ist nicht möglich.

Leen gelangen Subtraktionsaufgaben, diese forderten aufgrund des komplizierten Abbaus der Mengenbilder und der mangelnden Fehlerkontrolle allerdings äußert viel Konzentration und eine hohe Frustrationstoleranz (Abbildung 7.31).

Abbildung 7.31
figure 31

Leen führt Additions- und Subtraktionsaufgaben mit Hilfe der App durch

Bei der Auseinandersetzung mit Additionsaufgaben wurde deutlich, dass eine Möglichkeit der standardisierten Verbalisierung von Mengenbildern von Nöten ist, um sich über den Aufbau von Mengenbildern auszutauschen. Leen und der Autor einigten sich darauf, zusammenhängende Kirschen als Paar zu bezeichnen und eine einzelne Kirsche als Kirsche. Das Mengenbild der 5 setzt sich demnach aus zwei Paaren und einer Kirsche zusammen, das der 6 aus drei Paaren. Leen bevorzugte allerdings, die Mengenbilder aufbauend zu verbalisieren. Das Mengenbild der 7 bezeichnete er beispielsweise als Paar, Paar, Paar, Kirsche. In einer späteren Iteration der Entwicklung des Lernmaterials wurde anhand des Verhaltens eines anderen Jungen deutlich, dass auf diese Weise der Aufbau der Mengenbilder vor dem inneren Auge begünstigt werden kann. Auch Leen gelang es, die Mengenbilder ohne Vorlage aus dem Gedächtnis zu verbalisieren.

Durch das regelmäßige Üben mit der App lernte Leen Aufgaben des Kleinen 1 + 1, also Additionsaufgaben im Zehnerraum, auswendig: Wurden ihm Aufgaben gestellt, beantwortete er diese in vielen Fällen schnell und korrekt. War ihm die Beantwortung der Aufgabe aus dem Gedächtnis nicht möglich, versuchte er, die Aufgaben im Kopf zu berechnen. Dies gelang ihm im Fall von Aufgaben, bei denen der erste Summand größer war als der zweite Summand und die Summe nicht größer als 10. Auch Leen unterstützte die Weiterentwicklung des Lernmaterials in der folgenden Iteration.

7.2.3.4 Einsatz des Materials an einer Förderschule

Nach der Veröffentlichung der App begann eine Hamburger Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, diese im Mathematikunterricht in den Klassen und im mathematischen Kursunterricht einzusetzen. Die Erprobung im Schulalltag lieferte einige praktische Hinweise, die für die Weiterentwicklung der App von Relevanz waren. Insbesondere die Installation der App auf verschiedenen Endgeräten brachte einige Erkenntnisse zu Tage:

  • Die App lässt sich – ein kompatibles Eye-Tracking-Gerät vorausgesetzt – mit den Augen steuern (Abbildung 7.32).

  • Auf einigen älteren Android-Tablets bestehen Darstellungsfehler, die App ist außerdem sehr verlangsamt.

  • Auf interaktiven Whiteboards, die auf Projektionstechnologie (Beamer) basieren, verschwimmen die Farben der App, weil sie zu kontrastarm sind.

Abbildung 7.32
figure 32

Die App ließ sich mit dem Computer eines Kindes verwenden, das diesen mit den Augen steuerte

Weiterhin bewährte sich auch in diesem Rahmen das Zehnerfeld in der App aufgrund des visuellen Feedbacks der erscheinenden Kirsche und der Möglichkeit zum Einblenden der Anzahl zum Zählenüben.

Darüber hinaus entstanden im Kursunterricht der Schule Lernideen, die zur ertragreichen Arbeit mit mathildr in der Gruppe beitragen können. Besonders beliebt war der Einsatz der App zur Darstellung einer Handlungsfolge, im Speziellen im Zusammenhang mit der Motorik:

Die Bewegungsphase im Tagesablauf wird mit einer kleinen Lerngruppe in Form eines Rundenlaufs gestaltet. Ein Schüler übernimmt mit der mathildr-App das Zählen der Runden: Jedes Überschreiten der Ziellinie wird durch das Setzen einer Kirsche in der App markiert. Das Endergebnis wird schriftlich festgehalten, indem die Zahl aus der App abgeschrieben wird. Alternativ wird eine zu erreichende Rundenzahl mit einer Zahlenkarte zuvor festgelegt. Mit Hilfe der App wird der Moment ermittelt, in dem die rundenlaufende Schülerin ihre Rundenzahl erreicht hat. (Hoffmann & Rieckmann, 2019, S. 55)

Das Lernmaterial wird in seiner aktuellen Iteration weiterhin an der Schule eingesetzt.

7.2.4 Umsetzung der Kriterien

Erneut wird die Umsetzung der zuvor aufgestellten Kriterien (vgl. Anhang, S. 5 im elektronischen Zusatzmaterial) überprüft.

Allgemeine Kriterien

Die App, die die zweite Iteration des Lernmaterials darstellt, hebt die Eigenschaften der Mengenbilder isoliert hervor. Selbst die korrekte Legereihenfolge der Mengenbilder ist vorgegeben und ermöglicht ein selbständiges Erschließen des Lernmaterials.

Das Term-Element ermöglicht die Kontrolle, ob ein Mengenbild korrekt erkannt wurde. Eine Fehlerkontrolle ist auch bei Additionsaufgaben möglich: Die Aufgabe wird im Term-Element wiedergegeben, das Ergebnis (die Summe) in Form des zusammengesetzten Mengenbildes.

Subtraktionsaufgaben können nicht kontrolliert werden.

Die Ästhetik und die kindgerechte Handhabung wurden im Vergleich zur ersten Iteration deutlich gesteigert. Lediglich als Bildprojektion ist das Lernmaterial noch nicht geeignet.

Kriterien für Anschauungsmaterialien

Dass das Lernmaterial redundant wird, indem es Lernende befähigt, eingeübte Operationen mental durchzuführen, zeigen die Beobachtungen in der Förderung von Leen. Eine Evidenz, dass Lernende mit Simultandysgnosie tatsächlich ein inneres Bild der Mengenbilder entwickeln, lag an dieser Stelle aber noch nicht vor.

Die zugrundeliegende Mechanik des Zehnerfeldes der App stellt einen Beitrag zur Orientierungsgrundlage dar. Lernende können sich selbständig mit dem Material auseinandersetzen und dieses handelnd erschließen. Mit dem Zählen sowie der Darstellung von Mengen und von Zahlzerlegungen bzw. Additionsaufgaben werden bereits wesentliche Operationen der Handlung möglich. Die Subtraktion wird allerdings noch nicht eindeutig dargestellt. Eine Verbalisierungsmöglichkeit ist durch die Beschreibung der Struktur der Mengenbilder durch Paar und Kirsche gegeben. Die Mengenbilder können als Abbildungen auf Karten materialisiert werden und sinnvoll zum Lernprozess beitragen.

Die Kriterien für die Darstellung von Mengen wurden bereits in der ersten Iteration nahezu vollständig erfüllt. Allerdings ist in der zweiten Iteration nach wie vor die quasi-simultane Erfassbarkeit von Mengen im Zahlenraum 11 bis 20 noch nicht möglich. Insgesamt erfüllt die neue Form des Lernmaterials als App deutlich mehr Kriterien als die erste Iteration aus Holz.

7.3 Iteration 3: Erweiterung der App, Entwicklung von Materialisierungen

In der dritten Iteration des Lernmaterials wurden der Umfang, die Gestaltung und die Individualisierungsmöglichkeiten der App angepasst. Mithilfe von Kompetenzrastern wurden die Lernfortschritte von 30 Lernenden im Alter von 4 bis 17 Jahren nachgezeichnet.

In dieser Entwicklungsphase wurden mehrere Ziele verfolgt. Einerseits sollten Lücken, die sich in der vorherigen Iteration zeigten, geschlossen werden. Andererseits sollte die App erstmals systematisch anhand von mehreren Lernenden evaluiert werden. In den Iterationen zuvor wurden Entscheidungen zur Gestaltung des Lernmaterials anhand der Beobachtungen weniger Untersuchungspersonen getroffen. Die dritte Iteration der App sollte mit mehr Lernenden erprobt werden, um die getroffenen Entscheidungen zu validieren.

7.3.1 Weiterentwicklung der App

Die dritte Iteration des Lernmaterials wurde erstmals als mathildr Version 1.2 veröffentlicht. Es folgten weitere Updates bis hin zur Version 1.2.9, deren Erscheinungsbild und Funktionsumfang im Folgenden dargestellt werden. Dieses Update der App erhöhte die Kompatibilität mit älteren Android-Tablets und iPads.

7.3.1.1 Gestaltung und Einstellungsmöglichkeiten

Die neue Version der App ermöglicht neben der Arbeit mit dem Zehnerfeld auch das Arbeiten mit dem Vierer- und Zwanzigerfeld. Um zu den Feldern zu gelangen, wurde die Navigation im Hauptmenü überarbeitet. Außerdem wurde ein Rabe als Maskottchen hinzugefügt, um die Attraktivität der App zu steigern und neben dem Kirschpaar im Logo ein weiteres Erkennungsmerkmal für das Lernmaterial und die Materialisierungen zur Verfügung zu haben. Das Einstellungsmenü erlaubte fortan die Auswahl alternativer Darstellungen der Ziffern 1, 4 und 7, die so an regionale Üblichkeiten angepasst werden können. Dennis Krohn gestaltete für diesen Zweck alle Ziffern neu (Abbildung 7.33).

Abbildung 7.33
figure 33

Hauptmenü und Einstellungsmenü von mathildr 1.2.9

Eine weitere neue Einstellungsmöglichkeit ist der kontrastreichere Farbmodus, der Hintergründe weiß färbt und grafische Details entfernt, die nicht zur Funktionalität der App beitragen.

Das Herzstück der App, das Zehnerfeld, wurde auch in der Standardfarbgebung grafisch überarbeitet. Eine neue Farbgebung des runden Feldes ermöglicht einen stärkeren Kontrast zwischen dem Feldhintergrund und den Kirschen. Die freien Plätze im Zehnerfeld werden nun nicht mehr als Punkte, sondern als Ringe dargestellt (Abbildung 7.34). Auf diese Weise wird aus zweierlei Sicht ihre Bedeutung als 0 besser fassbar. Einerseits ähneln sie in ihrer Form der Ziffer 0, andererseits erinnern sie an ein leeres Gefäß, das durch eine Kirsche gefüllt werden kann. Kirsche und Ring stehen nun deutlicher für 1 und 0. Eine Übersicht der neu gestalteten Mengenbilder findet sich im Anhang auf Seite 12 im elektronischen Zusatzmaterial.

Abbildung 7.34
figure 34

Die Aufgabe 6 + 1 wird im Zehnerfeld von mathildr 1.2.9 dargestellt. Links: Standardeinstellung, rechts: kontrastreicher Farbmodus

Das Ein- und Ausblenden verschiedener Elemente ist nun in einem aufklappbaren Menü direkt in der Ansicht des Feldes möglich. Dieses öffnet sich nach Berührung des sog. Hamburger-Icons oben rechts in der Ecke. Dieses Icon wird häufig in mobilen Anwendungen verwendet, um das Öffnen von Menüs zu ermöglichen. Es wird als Hamburger-Icon bezeichnet, weil die Linien an zwei Brötchenhälften mit einem Patty in der Mitte erinnern (Campbell-Dollaghan, 2014). Der Farbwechsel-Button, das X und das Term-Element können im Menü durch Berührung aus- und wieder eingeblendet werden (Abbildung 7.35). Eine Berührung des Haus-Icons führt zurück zum Hauptmenü.

Abbildung 7.35
figure 35

Nach einer Berührung des Hamburger-Icons wird ein Menü geöffnet, mit dessen Hilfe der Farbwechsel-Button und das Term-Element ausgeblendet werden

Zehnerfeld in mathildr 1.2.9.

Um das Menü wieder einzuklappen, wird erneut das Hamburger-Icon oder der Bildschirm außerhalb des Menüs berührt.

7.3.1.2 Erweiterung des Zahlenraums

Aufgrund der Erfahrung, dass die mathildr-App das Zählenlernen unterstützen kann, wurde der App ein Viererfeld hinzugefügt. Dieses Feld entspricht der ersten Zeile des Zehnerfeldes. Lernende können im Zahlenraum 0 bis 4 zählen und sich dabei erstmals mit der Zweierbündelung und der Mechanik der App vertraut machen. Außerdem wurde ein Zwanzigerfeld hinzugefügt, das aus zwei nebeneinanderstehenden Zehnerfeldern besteht und die Darstellung von Mengen von 0 bis 20 sowie Additionsaufgaben mit Zehnerübergang ermöglicht (Abbildung 7.36).

Abbildung 7.36
figure 36

Vierer- und Zwanzigerfeld in mathildr 1.2.9

Das Vierer- und das Zwanzigerfeld unterstützen alle Funktionen des Zehnerfeldes: Es können Additionsaufgaben dargestellt werden und einzelne Elemente, die zur Bearbeitung bestimmter Aufgaben nicht benötigt werden, können ausgeblendet werden.

7.3.2 Update der Internetseite

Neben allgemeinen Informationen zur mathildr-App wurden auf der Internetseite erstmals auch Lernideen vorgestellt. Da sich in der Arbeit mit Noa, Leen und Michel herausstellte, dass es lohnenswert ist, den Unterricht zu individualisieren, um bei den Lernenden einen persönlichen Sinn in der Arbeit mit dem Material zu erzeugen, sollte auf diese Weise dazu angeregt werden, diese spielerischen Aktivitäten mit der App nicht als Aufgabe zu verstehen, sondern als anpassbaren Vorschlag. Zur Arbeit mit dem Viererfeld wurden folgende Vorschläge unterbreitet (Abbildung 7.37).

Abbildung 7.37
figure 37

Lernideen für die Arbeit mit dem Viererfeld

Die Lernideen zum Zehner- und Zwanzigerfeld umfassten neben ähnlichen Vorschlägen zur Orientierung im entsprechenden Feld und zum Lernen der Mengenbilder Additions- und Subtraktionsaufgaben sowie Spiele zur Kurzzeitdarbietung. Beispielsweise wurde das Spiel erklärt, das bereits während der Entwicklung der Iteration 2 gespielt wurde:

Blenden Sie den Farbtropfen und die Zahlanzeige (Grasbüschel) aus. Ziehe Sie verdeckt eine Zahlenkarte und legen Sie die entsprechende Anzahl an Kirschen verdeckt in das Zehnerfeld. Zeigen Sie dem Kind für einen kurzen Augenblick das Tablet und fragen Sie, um wie viele Kirschen es sich handelt. Ist die Antwort korrekt, zeigen Sie dem Kind die zuvor verdeckt gezogene Karte. Tauschen Sie nun die Rollen.

7.3.3 Materialisierungen

Die dritte Iteration von mathildr beinhaltet neben dem Update der App zwei Materialisierungen, die in Kombination mit der App, aber auch einzeln verwendet werden können.

7.3.3.1 mathildr-Karten 0–10

Während der Entwicklung und Erprobung der zweiten Iteration wurden bereits Karten, die die Zahlen 0 bis 10 abbilden, und Karten mit den mathildr-Mengenbildern im Rahmen der Mathematikförderung von Noa, Leen und Michel eingesetzt. Diese Erfahrungen sowie Rückmeldungen zur downloadbaren Druckvorlage der Zahlenkarten flossen in die Entwicklung der mathildr-Karten 0–10 ein. Dabei handelt es sich um eine Sammlung aus 33 Karten mit folgendem Inhalt: Zahlenkarten von 0 bis 10, zwei Karten mit dem Mengenbild der 0, Karten mit den Mengenbildern von 1 bis 10 mit roten Kirschen und Karten mit den Mengenbildern von 1 bis 10 mit gelben Kirschen (Abbildung 7.38).

Abbildung 7.38
figure 38

Foto der mathildr-Karten 0–10. Die Vorderseite der Pappschachtel ziert den Raben, der aus dem Hauptmenü der App bekannt ist. Karten mit den Werten 4 bis 10 sind nicht im Bild erkennbar, aber ebenfalls vorhanden

Die Zahlenkarten zeigen weiße Ziffern vor einer Wiese und einem Himmel. Dank dieser Darstellung kann auf einen Unterstrich zur Unterscheidung der 6 und der 9 verzichtet werden. Die Vermeidung unbeabsichtigt verdrehter Karten sollte sich auch beim Erlernen anderer Ziffern positiv bemerkbar machen. Eine um 180° gedrehte 2 erinnert beispielsweise stark an eine horizontal gespiegelte 5 und kann beim Erlernen der Ziffern ebenfalls für Verwechslung sorgen.

Für den Einsatz der Karten in der pädagogischen Arbeit wurden auf der Website von mathildr verschiedene Lernideen formuliert, die auf gleiche Weise umgesetzt oder als Vorbild für eigene Übungsformate eingesetzt werden können (Abbildung 7.39).

Abbildung 7.39
figure 39

Lernideen für die Arbeit mit den mathildr-Karten 0–10 oder selbst hergestellten Zahlen- und Mengenkarten

7.3.3.2 mathildr-Würfel XL

Das Einprägen der Mengenbilder erwies sich in der pädagogischen Arbeit mit mathildr als essenziell. Um neben der Arbeit mit der App und den Karten eine weitere Möglichkeit zu schaffen, sich die Mengenbilder einzuprägen, wurden Holzwürfel mit Mengenbildern entwickelt. Diese lassen sich in Kombination mit der App, aber auch eigenständig verwenden. Insbesondere der Einsatz in Würfelspielen bietet sich an. Es handelt sich um zwei Holzwürfel mit einer Seitenlänge von 5 cm. Ein Würfel zeigt die Mengen 0, 1, 3, 5, 7 und 9, der andere 0, 2, 4, 6, 8 und 10 (Abbildung 7.40).

Abbildung 7.40
figure 40

mathildr-Würfel XL

Die Würfel wurden nach den Vorstellungen des Autors durch Sabine Weiskopf umgesetzt. Auf der Internetseite von mathildr wurden Lernideen zur Arbeit mit den Würfeln veröffentlicht (Abbildung 7.41).

Abbildung 7.41
figure 41

Lernideen zu den mathildr-Würfeln

Diese Lernideen eignen sich auch für selbst hergestellte Würfel. Abbildung 7.42 zeigt zwei Würfel in Standardgröße, die händisch mit den mathildr-Mengenbildern bemalt wurden.

Abbildung 7.42
figure 42

Kleine mathildr-Würfel. Urheberin: Susanne Lipps

7.3.4 Erprobung

Die Erprobung der zweiten Iteration des Lernmaterials mit Hilfe von drei Schüler*innen und der zuvor aufgestellten Kriterien zur Entwicklung des Lernmaterials führten zu den Änderungen der dritten Iteration. Da die meisten Kriterien mit dieser Änderung erfüllt sind und Noa, Leen und Michel bereits Lernfortschritte am Material zeigten, sollte daraufhin der Frage nachgegangen werden, ob auch andere Lernende mit Simultandysgnosie mit Hilfe von mathildr Lernfortschritte erzielen können. Hierzu sollte nicht nur die Stichprobengröße deutlich erhöht, sondern auch ein einheitliches System zur Darstellung des Lernfortschrittes gefunden werden.

Bewusst wurde von der Entwicklung einer künstlichen pädagogischen Intervention Abstand genommen, die durch standardisierte Pre- und Post-Tests Lernfortschritte dokumentiert hätte. Die Aussagekraft der Ergebnisse wäre bei einer Stichprobengröße, die im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit möglich gewesen wäre, stark limitiert.

Hätten die Untersuchungspersonen im Post-Test besser abgeschnitten als im Pretest, wäre damit nicht die Wirksamkeit des Lernmaterials belegt. Es würde nicht dokumentieren, dass die jeweiligen Untersuchungspersonen aufgrund des Einsatzes des Lernmaterials Fortschritte in der mathematischen Entwicklung erzielen, sondern trotz des Einsatzes des Materials. Aus diesem Grund wurde stattdessen ein Vorgehen gewählt, bei dem die Lernfortschritte der Untersuchungspersonen anhand des Lernmaterials dokumentiert werden.

7.3.4.1 Stichprobe

Die Stichprobe bilden 30 Lernende (elf weiblich, 19 männlich) mit Simultandysgnosie, davon 24 Schüler*innen mit Trisomie 21 und sechs, denen der Förderschwerpunkt geistige Entwicklung diagnostiziert worden ist und bei denen eine Simultandysgnosie festgestellt wurde. Die Stichprobe entspringt zwei grundsätzlichen Quellen: Der Autor setzte das Lernmaterial im Rahmen seiner entwicklungstherapeutischen Arbeit an der Beratungsstelle der Universität Hamburg sowie einer Hamburger Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis ein. Mit dem Ziel der Begleitung und Förderung der kognitiven Entwicklung fanden in der Regel zweimal monatlich 45-minütige Einheiten statt, in denen spielerisch u. a. die (Schrift-)Sprache und Mathematik individuell abgestimmt thematisiert wurden. Darüber hinaus beriet der Autor Lehrkräfte der Schüler*innen aus der Entwicklungstherapie zum Einsatz des Lernmaterials in ihrem Unterricht. Ob und in welchem Umfang das Lernmaterial in der Schule eingesetzt wurde oder ob Eltern mit ihren Kindern zuhause am Material übten, variierte stark.

Weitere Untersuchungspersonen der Stichprobe sind auf Arbeiten von Studierenden zurückzuführen, die im Projektstudium gemeinsam mit Schüler*innen mit dem Lernmaterial arbeiteten und eine Dokumentation der Lernfortschritte im Rahmen ihrer Masterarbeiten vornahmen (Boll, 2017; Buschfeld, 2017; Grüttner, 2019; Held, 2020; Mohr, 2019; Nehls, 2017; Nimz, 2018; Rawohl, 2019; Röhrs, 2019). Für diese Stichprobe wurden aus den Arbeiten ausschließlich Daten von Lernenden mit Trisomie 21 entnommen, die mithilfe eines Kompetenzrasters aufgezeichnet wurden und ein gleiches oder übertragbares Format wie in Unterkapitel 7.3.4.2.1 dargestellt aufweisen.

Lediglich zwei Voraussetzungen mussten erfüllt sein, um Teil der Stichprobe zu werden:

  1. 1.

    Die Untersuchungsperson lebt unter den Bedingungen einer Simultandysgnosie.

  2. 2.

    Die Untersuchungsperson erhält mindestens vier Wochen im regelmäßigen Rhythmus einen Unterricht, in dem mathildr verwendet wird.

Aus diesem Grund ist die Stichprobe sehr heterogen: Der Lernzeitraum, die Ausgangsvoraussetzungen, die Lernumgebung, die Häufigkeit des Unterrichts und das Alter variieren. Die Lernfortschritte von 30 Untersuchungspersonen im Alter von vier bis 15 Jahren (Durchschnittsalter 10;9 Jahre) wurden in einem Lernzeitraum von einem bis sechs Monaten, durchschnittlich 14 Wochen, beobachtet.

7.3.4.2 Methodik

Die Heterogenität der Stichprobe erlaubt keinen Vergleich der Untersuchungspersonen. Stattdessen wurde die Entscheidung getroffen, die Fähigkeiten der Untersuchungspersonen an zwei Messzeitpunkten, zu Beginn und zum Ende des beobachteten Zeitraums, zu vergleichen. So können etwaige Lernzuwächse für jede Person individuell bestimmt werden.

Da ein standardisierter Test keine Rückschlüsse darauf zulässt, ob eine Untersuchungsperson ein bestimmtes Wissen oder bestimmte Fähigkeiten aufgrund des Unterrichts mit mathildr erlangt hat, wird der Umgang mit dem Lernmaterial selbst beobachtet. Gelingen einer Untersuchungsperson zum zweiten Messzeitpunkt Handlungen mit dem Lernmaterial, die beim ersten Messzeitpunkt noch nicht möglich waren, kann von einem Lernzuwachs ausgegangen werden, der wahrscheinlich auf die Arbeit mit dem Material zurückzuführen ist. Lassen sich zum zweiten Messzeitpunkt keine Fähigkeiten erkennen, die beim ersten Messzeitpunkt nicht zu beobachten waren, kann indes kein Lernzuwachs belegt werden.

Es stellte sich die Frage, auf welche Weise die Messung dieser Fähigkeiten konkret erfolgen sollte. An Regelschulen wird Leistungszuwachs fast ausschließlich durch Notengebung bewertet, obgleich Alternativen vorhanden sind (Osburg & Schütt, 2015, S. 139). Osburg (1998, S. 195) plädiert stattdessen für eine Orientierung an den Fähigkeiten der Schüler*innen, die durch die Analyse des konkreten Unterrichts verwirklicht wird. Laut Ziemen sollte sich die Bewertung „an der individuellen Bezugsnorm orientieren, an der Entwicklung, den Potenzialen und Möglichkeiten des Einzelnen“ (2018, S. 170). In der Vergangenheit wurde insbesondere Behinderung mit Defiziten und Inkompetenzen verknüpft, eine Orientierung an den Kompetenzen der Schüler*innen erfolgte erst mit Ablehnung des dominanten medizinisch tradierten Denkens (Ziemen, 2017b, S. 151). Der Begriff „Kompetenz“ wird „mit Fähigkeit bzw. Können, Befugnis und Zuständigkeit übersetzt. Sie ist keine individuelle Eigenschaft, sondern ein Bewertungskonstrukt“ (ebd.). Als solches kann sie im Unterricht zur transparenten Einschätzung des Lernzuwachses verwendet werden. Durch Beobachtungen oder Selbsteinschätzung der Schüler*innen können Kompetenzraster erstellt werden, die unterschiedliche Kompetenzbereiche umfassen, die im Rahmen eines Unterrichtsgenstandes erworben werden können. Neben einfachen „Ich kann“-Formulierungen kann die Formulierung „Ich kann mit Unterstützung“ dazu beitragen, auch die Zone der nächsten Entwicklung abzubilden (Ziemen, 2018, S. 171 f.). Zimpel (2012b, S. 187) empfiehlt, eine Abstufung im Kompetenzraster vorzunehmen, die er als „Grundstruktur menschlichen Lernens“ bezeichnet (Abbildung 7.43).

Abbildung 7.43
figure 43

Kompetenzraster nach Zimpel (2012b, S. 187)

Die Berücksichtigung des Interesses hat sich laut Zimpel besonders bei Lernenden, die unter den Bedingungen einer Schwerstbehinderung leben, als bedeutend erwiesen (ebd.). Auch basales Lernen kann auf diese Weise abgebildet und reflektiert werden.

Weiterhin ist das Helfen als wesentlicher Aspekt in Zimpels Kompetenzraster zu finden. Das Helfen anderer ist besonders für Schüler*innen bedeutend, die sich aufgrund einer Behinderung meistens als Hilfeempfangende wahrnehmen. Sich selbst als helfende Person wahrzunehmen, befördert außerdem den Abruf des Gelernten besser als negative Erinnerungen (ebd., S. 156). Letztlich sollen Schüler*innen dazu befähigt werden, neben anderen auch sich selbst zu helfen und unbekannte, schwierigere Aufgaben mithilfe ihrer bereits erworbenen Kompetenzen eigenständig zu lösen. Zimpel bezieht sich hierbei auf das zentrale Motto der Montessori-Pädagogik „Hilf mir, es selbst zu tun!“ (ebd., S. 42 f.). Dieser Punkt bildet die höchste Stufe in der Grundstruktur menschlichen Lernens.

7.3.4.2.1 Kompetenzraster

In der Arbeit mit den bisherigen Iterationen von mathildr haben sich drei Kompetenzbereiche herauskristallisiert, die mithilfe des Materials sinnbringend bearbeitet werden können: das Zählen, das quasi-simultane Erfassen und das Addieren. Mit dem Ziel, den Lernfortschritt in der Arbeit mit dem Lernmaterial zu dokumentieren, wurde ein Kompetenzraster erstellt, das das Kompetenzraster Zimpels mit den möglichen Aktivitäten am Lernmaterial verknüpft:

Dieses Kompetenzraster wurde zur Beobachtung des Lernfortschrittes aller Schüler*innen verwendet, unabhängig von dem Zahlenraum, in dem sie arbeiteten. Wenn sie im Zahlenraum 4 gearbeitet haben, wurde die Spalte Addieren ausgelassen, da die Darstellung einer Addition im Viererfeld als sehr kleinschrittig und pädagogisch nicht sinnvoll erscheint. Stattdessen empfiehlt es sich, möglichst früh vom Vierer- zum Zehnerfeld zu wechseln.

Nach jeder Unterrichtseinheit wurden die Kompetenzraster von der Lehrperson ausgefüllt. Mindestens sollte ein Kreuz gesetzt werden, wenn eine Stufe erreicht worden ist, häufig wurden aber auch Beobachtungen, die diese Stufenwahl begründeten, verschriftlicht. Ob eine bestimmte Stufe in einem bestimmten Kompetenzbereich erreicht wurde, ist von zuvor festgelegten Kriterien abhängig. Tabelle 7.1 und 7.2 enthält die Kriterien im Kompetenzbereich Zählen. Die Beispiele wurden aus Sicht der Lehrperson formuliert, der/die Schüler*in wird als Untersuchungsperson bezeichnet (Tabelle 7.3 und 7.4).

Tabelle 7.1 Kompetenzraster zur Eintragung von Beobachtungen, die Rückschlüsse auf Kompetenzen einzelner Schüler*innen ermöglichen
Tabelle 7.2 Kriterien und Beispiele zur Erreichung von Stufen im Kompetenzbereich Zählen
Tabelle 7.3 Kriterien und Beispiele zur Erreichung von Stufen im Kompetenzbereich quasi-simultane Erfassung
Tabelle 7.4 Kriterien und Beispiele zur Erreichung von Stufen im Kompetenzbereich Addieren

Die Stufe 3 im Kompetenzbereich Zählen gilt erst dann als erreicht, wenn die Untersuchungsperson alle Anzahlen, die in dem Feld, in dem gearbeitet wird, fehlerfrei nachzählen kann. Um zu überprüfen, ob bereits die Stufe 4 erreicht ist, wurden im Unterricht Situationen geschaffen, die die Lernenden dazu animieren, die Lehrperson zu korrigieren oder anderen zu helfen. Da die Lernenden selbständig mit dem Lernmaterial arbeiteten, konnten sie jederzeit zwischen den verschiedenen Feldern wechseln. Beobachtungen, die die Stufe 5 betreffen, waren daher möglich. Die Stufe 5 kann formal bei der Arbeit mit dem Zwanzigerfeld nicht erreicht werden, weil mathildr bisher kein nächstgrößeres Feld beinhaltet.

Die Kriterien im Kompetenzbereich der quasi-simultanen Erfassung gestalten sich analog zum Kompetenzbereich Zählen. Ziel war es hier, Mengen, ohne nachzuzählen, spontan korrekt zu benennen.

Für die Reflexion des eigentlichen Unterrichts kann das Kompetenzraster noch weiter differenziert werden. In den Masterarbeiten der Studierenden wurde beispielsweise präzise aufgezeichnet, welche Mengenbilder bereits ad hoc erkannt werden können und welche noch nachgezählt werden müssen. In der Gesamtauswertung dieser Erprobung gilt der Punkt 3 allerdings nur dann als erfüllt, wenn alle Mengenbilder des Zahlenraums quasi-simultan erfasst werden, also nach sehr kurzer Darbietungszeit korrekt benannt werden können.

Der Kompetenzbereich Addieren zielt darauf ab, dass mit Hilfe der App Additionsaufgaben in den Zahlenräumen 10 oder 20 routiniert durchgeführt werden können.

Um die Stufe 3 zu erreichen, war es nicht notwendig, sämtliche Additionsaufgaben im entsprechenden Zahlenraum mit natürlichen Zahlen durchzuführen. Von Bedeutung war vielmehr, dass die Lehrperson den Eindruck gewann, dass beliebige Aufgaben fehlerfrei bearbeitet werden können.

7.3.4.3 Ergebnisse

Das erste Kompetenzraster jeder Untersuchungsperson wurde mit ihrem letzten Kompetenzraster des Beobachtungszeitraums verglichen. Tabelle 7.5 zeigt die Ergebnisse in der Übersicht.

Tabelle 7.5 Zusammenfassung der Ergebnisse sämtlicher Erprobungen der dritten Iteration des Lernmaterials. Angegeben ist das Alter sämtlicher Untersuchungspersonen zu Beginn des Unterrichts mit mathildr

Zahlenraum 4

Mit vier Untersuchungspersonen wurde im Zahlenraum 4 gearbeitet. Drei Schüler*innen erreichten zum Ende des Unterrichts eine höhere Stufe im Kompetenzbereich Zählen. Die Untersuchungsperson S4 (15 Jahre alt) hatte beispielsweise zu Beginn kein Interesse am Zählen mit der App, zählte aber nach 17 Wochen regelmäßigen Unterrichts alleine die Mengen von 1 bis 4 Kirschen nach und erreichte damit die Stufe 3. Die drei weiteren Untersuchungspersonen befanden sich zum Zeitpunkt der zweiten Messung auf Stufe 2 in diesem Kompetenzbereich. Im Kompetenzbereich des quasi-simultanen Erfassens erreichten drei Schüler*innen eine höhere Stufe als zuvor. Stufe 1 wurde von zwei von ihnen erreicht, Stufe 2 von einer Person.

Zahlenraum 10

Im Zahlenraum 10 wurde mit 23 Untersuchungspersonen gearbeitet. In Abbildung 7.44 sind die Beobachtungsergebnisse im Kompetenzbereich Zählen zusammengefasst. Im Balkendiagramm werden die absoluten Zahlen der erreichten Stufen wiedergegeben, wobei zwischen den Werten im ersten Kompetenzraster und jenen im letzten Kompetenzraster unterschieden wird.

Abbildung 7.44
figure 44

Zusammenfassung der Beobachtungsergebnisse im Kompetenzbereich Zählen. Abszisse: Erreichte Kompetenzstufe. Ordinate: Absolute Anzahl an Untersuchungspersonen. n = 23

Während in den ersten Kompetenzrastern in Einzelfällen die Stufen 0 und 1 markiert wurden, ist dies in den letzten Kompetenzrastern nicht mehr der Fall. Hier wurde außerdem die Stufe 2 weniger markiert, dafür ist ein Zuwachs von 1 bei Stufe 3 und 2 bei Stufe 4 ersichtlich. Drei Untersuchungspersonen erreichten Stufe 5. Insgesamt erreichten 13 der 23 Untersuchungspersonen, die in diesem Zahlenraum gearbeitet hatten, eine höhere Stufe.

Im Kompetenzbereich des quasi-simultanen Erfassens dominierten in den ersten Kompetenzrastern die Stufen 1 und 2. Am Ende der Beobachtungsphase erreichten acht Untersuchungspersonen Stufe 2. 14 Untersuchungspersonen konnten alle Mengenbilder ohne Hilfe und ohne zu zählen ad hoc benennen. Fünf von ihnen konnten andere dabei unterstützen, die Mengenbilder zu erkennen, zwei konnten ihre Kompetenz anwenden, um sich selbständig die Mengenbilder im Zwanzigerfeld zu erschließen (Abbildung 7.45).

Abbildung 7.45
figure 45

Zusammenfassung der Beobachtungsergebnisse im Kompetenzbereich quasi-simultanes Erfassen. Abszisse: Erreichte Kompetenzstufe. Ordinate: Absolute Anzahl an Untersuchungspersonen. n = 23

Von den 23 Untersuchungspersonen erreichten 19 zum Ende des Beobachtungszeitraums in diesem Kompetenzbereich eine höhere Stufe.

Im Kompetenzbereich Addieren wurden zu Beginn des Untersuchungszeitraums lediglich die Stufen 0 bis 2 markiert. Am Ende des Untersuchungszeitraums gelang es zehn Untersuchungspersonen, selbständig mit der App zu rechnen. Eine Person konnte anderen dabei helfen, eine weitere erreichte sogar Stufe 5, indem sie sich die Addition im Zwanzigerfeld selbständig aneignete (Abbildung 7.46).

Abbildung 7.46
figure 46

Zusammenfassung der Beobachtungsergebnisse im Kompetenzbereich Addieren. X-Achse: Erreichte Kompetenzstufe. Y-Achse: Absolute Anzahl an Untersuchungspersonen. n = 23

15 Untersuchungspersonen, die im Zehnerraum mit mathildr arbeiteten, erreichten während des Beobachtungszeitraums im Kompetenzbereich Addieren eine höhere Stufe.

Zahlenraum 20

Im Zahlenraum 20 arbeiteten drei Untersuchungspersonen, die allesamt bereits zuvor mit mathildr im Zehnerraum gearbeitet hatten. Im ersten Kompetenzraster erreichten sie im Kompetenzbereich Zählen bereits Stufe 3. Zum Ende des Beobachtungszeitraums erreichten zwei von ihnen Stufe 4. Im Kompetenzbereich quasi-simultanes Erfassen erreichten alle zu Beginn Stufe 2. Nach dem Beobachtungszeitraum erreichte eine Person Stufe 3, die anderen beiden Stufe 4. Im Kompetenzbereich Addieren rückten alle Untersuchungspersonen von Stufe 2 auf Stufe 3.

Gesamtauswertung

Aufgrund der Heterogenität der Daten wurde von einer deskriptiven Datenanalyse abgesehen. Stattdessen soll lediglich die Frage beantwortet werden, wie viele Untersuchungspersonen mit Hilfe des Lernmaterials Lernfortschritte in den ausgewählten Kompetenzbereichen erzielen konnten (Abbildung 7.47).

Abbildung 7.47
figure 47

Blau: Relativer Anteil der Untersuchungspersonen, die sich in einem Kompetenzbereich während des Beobachtungszeitraums verbesserten. Magenta: Relativer Anteil der Untersuchungspersonen, die im Beobachtungszeitraum auf der gleichen Kompetenzstufe verblieben. n (Zählen; quasi-simultanes Erfassen) = 30, n (Addieren) = 26

Im Bereich Zählen haben 18 der 30 Untersuchungspersonen im letzten Kompetenzraster einen höheren Wert erreicht als im ersten. Im Bereich quasi-simultanes Erfassen konnten 25 der Untersuchungspersonen ihre Kompetenz erweitern. Im Bereich Addieren wurde bei 18 von 26 Untersuchungspersonen eine positive Entwicklung beobachtet.

Bis auf Untersuchungsperson S12 erzielten alle Untersuchungspersonen in mindestens einem Kompetenzbereich einen Lernzuwachs. Doch auch die Schülerin S12 entwickelte sich in den neun Wochen Unterricht weiter: Vor dem Unterricht zählte sie Mengen bis 3 korrekt. Am Ende des Beobachtungszeitraums zählte sie Mengen bis 7 korrekt nach. Da im Unterricht mit ihr im Zehnerfeld gearbeitet wurde und sie nicht bis 10 zählte, verblieb sie im Bereich Zählen formal auf Stufe 2 – obwohl sie einen eindeutigen Lernerfolg zu verzeichnen hat.

Die Ergebnisse zeigen, dass eine im Vergleich zu den vorherigen Iterationen erheblich größere Stichprobe von 30 Schüler*innen Lernfortschritte mit der dritten Iteration des Lernmaterials erzielen konnte.

7.3.5 Umsetzung der Kriterien

Erneut wurde die Umsetzung der zuvor aufgestellten Kriterien (vgl. Anhang, S. 5 im elektronischen Zusatzmaterial) überprüft. Im Vergleich zur zweiten Iteration eignete sich die App nun für den Einsatz auf dem interaktiven Whiteboard. Im Standard-Farbmodus wurde der Kontrast zwischen den verschiedenen Elementen verstärkt. Darüber hinaus konnte nun ein kontrastreicher Farbmodus ausgewählt werden, der den App-Inhalt auch bei schlechteren Lichtverhältnissen auf Projektionen erkennen ließ. Weiterhin ließen sich Subtraktionsaufgaben nicht in einem Bild darstellen. Eine Fehlerkontrolle, ob Subtraktionen korrekt durchgeführt wurden, war daher noch nicht möglich.

Aufgrund der fehlenden Darstellung von Subtraktionsaufgaben gilt das Kriterium Angebot wesentlicher Operationen als nicht erfüllt.

Mit dem Hinzufügen des Zwanzigerfeldes wurde das quasi-simultane Erfassen der Mengen 11 bis 20 möglich. Weiterhin besteht keine Evidenz darüber, dass sich das mathildr-System zur Entwicklung mentaler Bilder eignet.

7.4 Iteration 4: Subtraktion in der App, materialisiertes Zehnerfeld

Mit der vierten Iteration des Lernmaterials sollte insbesondere eine Lücke der bisherigen Iterationen geschlossen werden: Es sollte eine geeignete Darstellungsform von Subtraktionsaufgaben gefunden werden. Parallel hierzu wurde an einer Materialisierung des Lernmaterials gearbeitet, die einen haptischen Umgang mit dem Zehnerfeld ermöglicht.

7.4.1 Ermöglichen von Subtraktionen in der App

Die vierte Iteration des Lernmaterials wurde erstmals am 29.01.2019 als Version 2.0.0 veröffentlicht. Zuletzt erschien die Version 2.0.2, die im Folgenden dargestellt wird.

Zur Darstellung der Subtraktion wurden mehrere Konzepte entworfen, bis eine Lösung gefunden wurde, die einerseits mit den der App immanenten Regeln vereinbar ist und andererseits von den Lernenden auf unkomplizierte und intuitive Weise verwendet werden kann.

Eine erste Idee war das Sammeln von Kirschen in einem stilisierten Korb, der neben dem Feld dargestellt wird. Nach diesem Konzept hätten die Nutzer*innen die Mengenbilder rückwärts abbauen müssen, um sicherzustellen, dass im Feld die übliche Darstellungsweise von Anzahlen gegeben ist. Kirschen hätten einzeln oder in Paaren aus dem Feld entnommen und dem Korb zugeführt werden können. Diese Idee birgt zwei Schwächen: Erstens müsste das Mengenbild rückwärts abgebaut werden, was eine hohe Konzentration auf das korrekte Abbauen bedeutet hätte). Zweitens wären auf diese Weise lediglich die Differenz (im Feld) und der Subtrahend (im Korb) sichtbar. Das ursprüngliche Mengenbild, der Minuend, wäre hingegen nicht mehr sichtbar.

Eine andere Idee sah vor, eine Darstellungsweise zu übernehmen, die häufig in der Mengendarstellung der Kraft der Fünf zu finden ist: das Durchstreichen von Elementen (Abbildung 7.48).

Abbildung 7.48
figure 48

Die Subtraktionsaufgabe 9 – 3 im Zehnerfeld mit Fünferbündelung

Dieses Konzept ermöglicht die simultane Darstellung des Subtrahenden (durchgestrichene Kreise), der Differenz (nicht durchgestrichene Kreise) und des Minuenden (alle Kreise) im Zehnerfeld. Übertragen auf die Mengenbilder von mathildr würden durchgestrichene Kirschen den Subtrahenden darstellen. Diese Darstellungsweise fügt sich jedoch nur mäßig in die bisherige Darstellung von Rechenoperationen in der App ein. Die Additionsfunktion in mathildr erklärt das Wesen einer Addition: Einer Anzahl wird eine weitere Anzahl hinzugefügt. Beide Anzahlen bilden eine neue Anzahl. Um auf ähnliche Weise die Subtraktion erklärend darzustellen, reicht es nicht aus, Elemente lediglich durchzustreichen. Um durchgestrichene Elemente als Subtrahenden identifizieren zu können, muss das Konzept der Subtraktion mutmaßlich bereits gelernt worden sein. Als Alternative bot sich die Darstellung einer Handlung an: Der Rabe, der aus dem Hauptmenü bekannt ist, frisst Kirschen. Zurück bleiben Kirschkern und -stängel. Sie zeigen, an welcher Stelle zuvor Kirschen zu sehen waren, und symbolisieren den Subtrahenden (Abbildung 7.49).

Abbildung 7.49
figure 49

Kirschkern und -stängel im Ring

Auch in dieser Variante der Subtraktionsdarstellung muss das Mengenbild rückwärts abgebaut werden, damit die Differenz als korrektes Mengenbild abgebildet wird. Um den Nutzer*innen diese Aufgabe zu erleichtern, wurde ein Subtraktionsbutton entwickelt, der nach Berührung einen automatisierten Prozess initiiert: Nach kurzer Zeit wird automatisch die Kirsche mit der höchsten Ordnungszahl in einen Kirschkern umgewandelt. Wird ein weiteres Mal der Button berührt, wird die Kirsche mit der zweithöchsten Ordnungszahl umgewandelt usw. In Abbildung 7.50 ist der Ablauf der Subtraktion schrittweise dargestellt.

Abbildung 7.50
figure 50

Ablauf der Subtraktionsfunktion

Durch mehrfaches schnelles Antippen des Raben in der Timer-Phase erhöht sich der Subtrahend entsprechend der Häufigkeit. Wird der Rabe häufiger angetippt, als Kirschen im Feld vorhanden sind, werden lediglich die vorhandenen Kirschen in Kerne umgewandelt. Negative Zahlen werden in der App nicht dargestellt. Wurden die Animationen der App im Einstellungsmenü deaktiviert, fliegt der Rabe nicht über das Feld. Stattdessen wird mit jeder Berührung des Subtraktionsbuttons sofort die Kirsche mit der höchsten Ordnungszahl in einen Kern umgewandelt.

Rechenaufgaben, die aus verketteten Additionen und Subtraktionen bestehen, werden nicht dargestellt. Wurde beispielsweise mithilfe von roten und gelben Kirschen 4 + 4 dargestellt, und daraufhin zweimal auf den Raben getippt, wird im Term-Element lediglich 8 – 2 in weißen Ziffern angezeigt (Abbildung 7.51).

Abbildung 7.51
figure 51

Links: Die Addition 4 + 4 wird dargestellt. Rechts: Die Subtraktion 8 – 2 wird nach zweimaligem Tippen auf den Subtraktionsbutton dargestellt

Der Grund für diese Design-Entscheidung ist, dass die App-Mechanik der Regel unterworfen ist, dass im Term-Element immer nur der Inhalt des Feldes in Symbolen dargestellt ist. Eine Darstellung von Kettenaufgaben wie 4 + 4 – 8 + 10 – 5 ist in den Mengenbildern nicht darstellbar, eine Implementierung wäre daher nicht sinnvoll.

7.4.2 Gestaltung und Einstellungsmöglichkeiten

Eine Rückmeldung, die gelegentlich von Nutzer*innen der App an den Autor gerichtet wurde, war, dass sich nach der Installation der App nicht erschlossen hätte, wie diese zu bedienen sei. Außerdem war laut Rückmeldungen einigen Nutzer*innen nicht bewusst, dass sich die App im Einstellungsmenü individualisieren lässt.

Als Lösung dieses Problems wurde ein Assistent entwickelt, der beim ersten Starten der App in verschiedenen Dialogfenstern auf die Website hinweist und die Nutzer*innen alle Einstellungen vornehmen lässt (Abbildung 7.52). Diese werden gespeichert und können im Nachhinein jederzeit im Einstellungsmenü verändert werden.

Abbildung 7.52
figure 52

Begrüßung durch ein Dialogfenster des Assistenten in mathildr 2.0.2

Eine Darstellung aller deutschsprachigen Dialogfenster des Assistenten findet sich im Anhang auf Seite 13 im elektronischen Zusatzmaterial.

Einige grafische Elemente der App wurden optimiert und die App wurde insgesamt interaktiver gestaltet. Der Rabe im Hauptmenü wurde grafisch überarbeitet und erhielt eine Funktion (Abbildung 7.53): Nach Berührung läuft eine kurze Animation ab, in der er den Schnabel öffnet und wieder schließt. Parallel dazu wird als Soundeffekt ein gekrähtes „mathildr!“ abgespielt, das von dem Schauspieler, Hörspiel- und Synchronsprecher Helmut Krauss († 2019) eingesprochen wurde.

Abbildung 7.53
figure 53

Screenshot des Hauptmenüs in mathildr 2.0.2

Diese Funktion lässt sich nur einmalig ausführen. Das Hauptmenü muss verlassen und wieder aufgerufen werden, um den Raben erneut krähen zu lassen. Auf diese Weise sollte vermieden werden, dass Schüler*innen im Unterricht in der Klassengemeinschaft mit repetitivem Auslösen der Funktion die Mitschüler*innen stören.

Die Buttons zum Ein- und Ausblenden verschiedenster Elemente wurden leicht überarbeitet und damit eindeutiger gestaltet. Im neuen Einstellungsmenü können nun neben der 4 und der 7 auch alternative Darstellungen der 1 und 9 eingestellt werden. Diese Alternativformen basieren auf Wünschen von Anwender*innen außerhalb Deutschlands (Abbildung 7.54).

Abbildung 7.54
figure 54

Screenshot Zehnerfeld mit ausgeklapptem Menü zum Ausblenden verschiedener Elemente und Screenshot Einstellungsmenü in mathildr 2.0.2

Außerdem wurden einige Animationen hinzugefügt, die das Agieren mit der App schlüssiger und natürlicher wirken lassen sollten. Wird die erste Kirsche eines Kirschpaares platziert, erscheint diese nicht unmittelbar, sondern wird binnen kurzer Zeit eingeblendet. Dies ist ebenfalls der Fall, wenn ein Kirschpaar per Multitouch-Geste eingegeben wird. Ist bereits die erste Kirsche eines Kirschpaares vorhanden und wird die zweite durch Berührung hinzugefügt (z. B. beim Zählen), so wird die Bündelung der Kirschen verdeutlicht, indem sich die Kirschen zuneigen (Abbildung 7.55).

Abbildung 7.55
figure 55

Ausschnitt aus der Animation beim Platzieren der zweiten Kirsche eines Kirschpaars

Der Subtraktionsbutton zeigt gelegentliche sog. Idle-Animationen, wenn er nicht genutzt wird. Per Zufall zwinkert der Vogel mit beiden Augen oder schaut für einen kurzen Moment nach vorn. Auch diese Animationen sollten dazu beitragen, dass die App natürlicher wirkt (Abbildung 7.56).

Abbildung 7.56
figure 56

Darstellungen des Subtraktionsbuttons: Standard, Idle-Animation 1 und Idle-Animation 2

Sämtliche Animationen können im Einstellungsmenü bei Bedarf deaktiviert werden.

7.4.3 Materialisierung: Zehnerfeld aus Holz

Parallel zur vierten Iteration des Lernmaterials wurde ein Zehnerfeld aus Holz entwickelt. Zuvor mehrten sich die Anfragen von Lehrpersonen und Eltern, die im Unterricht und beim Lernen zuhause die mathildr-Mengenbilder mit konkretem Material nachbilden wollten. Sie entwickelten eigene Materialisierungen, darunter einen stilisierten Baum aus Holz mit Einsparungen, in die farbige Perlen als Kirschen gelegt werden können (Abbildung 7.57).

Abbildung 7.57
figure 57

Materialisierung des Zehnerfeldes als Zehnerbaum. Die Kirschen bestehen aus roten Perlen, die Ziffer ist aus Modelliermasse hergestellt. Uhrheberin: Sabine Hubben-Thöni

Für den Mathematikunterricht an einer Förderschule klebte eine Lehrerin kleine Plastikbecher auf die Innenseite eines Pappdeckels. Anstelle der Kirschen konnten hier kleine Bälle hineingelegt werden. Diese Materialisierungen erlaubten es, die Mengenbilder mit konkreten Materialien nachzubilden. Eine Kombination zweifarbiger Materialien ermöglichte die Darstellung von Additionen, Subtraktionen konnten durch Wegnehmen dargestellt werden.

Das mathildr-Zehnerfeld plante der Autor gemeinsam mit Albrecht Koch, der sich auch für die Herstellung des Feldes verantwortlich zeigte. Es besteht aus einer runden Holzplatte mit Ahornfurnier und Einbuchtungen, in die Kirschen aus Holz gelegt werden können. An den Einbuchtungen befinden sich längliche Aussparungen für die Kirschstängel. Die Holzkirschen liegen demnach nicht plan auf dem Feld, sondern stehen in einem spitzen Winkel von diesem ab. Dies ermöglicht das Greifen der Kirschen am Stängel bei gleichzeitig gutem Sitz im Feld (Abbildung 7.58).

Abbildung 7.58
figure 58

mathildr-Zehnerfeld: Materialisierung des mathildr-Zehnerfeldes aus Holz

An jeder Einbuchtung befinden sich zwei Aussparung, die es ermöglichen, jede Kirsche senkrecht hineinzulegen und zwei Kirschen zu einem Paar zusammenzuführen. Auf diese Weise kann die Paarbildung aus der App nachgeahmt werden (Abbildung 7.59).

Abbildung 7.59
figure 59

Jede einzelne Kirsche kann senkrecht in das Feld gelegt werden

Das Zehnerfeld aus Holz ist ausgereifter als die erste Iteration des Lernmaterials. Die Handhabung verbleibt gleichwohl feinmotorisch herausfordernder als die der App. Vorgaben zum korrekten Aufbau der Mengenbilder werden in dieser Materialisierung nicht gegeben, da die maschinelle Funktion der App nicht komplett abgebildet ist. Durch die fehlende Restriktion im Aufbau der Mengenbilder haben Lernende die Möglichkeit, eigene Mengenanordnungen zu entwerfen und zu untersuchen: So können beispielsweise vier Kirschen gezählt und in die Ecken des Feldes gelegt werden. Werden diese dann zum Mengenbild der 4 umgeordnet, wird damit verdeutlicht, dass vier einzelne Kirschen zwei Paaren entsprechen.

Für die Arbeit mit dem Zehnerfeld aus Holz wurden Lernideen formuliert, die vielen Lernideen zum Zehnerfeld der App entsprechen.

Beispielsweise wird die Lernidee Mengenbild nachlegen folgendermaßen beschrieben:

Benötigt werden Karten, die die Mengenbilder 0 bis 10 zeigen. Die Karten werden gemischt und verdeckt auf den Tisch gelegt. Eine Karte wird gezogen. Das Mengenbild auf der gezogenen Karte wird auf dem Zehnerfeld nachgelegt. Danach wird gesagt, um welche Zahl es sich handelt und wie das Mengenbild aussieht: Für jedes gelegte Kirschpaar wird Paar gesagt, für jede gelegte Kirsche Kirsche. Die 4 wird demnach als Paar, Paar bezeichnet. Nun wird die nächste Karte gezogen.

7.4.4 Update der Website

Mit Veröffentlichung der mathildr-App 2.0 erhielt die Website eine Aktualisierung. In kurzen Videoclips wurden nun die Funktionalität der App und der Umgang mit den Materialien erklärt. Die Lernideen wurden erweitert und größtenteils durch kurze Videoclips ergänzt (Abbildung 7.60).

Abbildung 7.60
figure 60

Ausschnitt der Lernideen zur Arbeit mit der mathildr-App auf der Website www.mathildr.de, Stand: 28.06.2020

Eine Darstellung aller Lernideen findet sich im Anhang ab S. 16 im elektronischen Zusatzmaterial.

7.4.5 Erprobung

Die vierte und vorerst finale Iteration des Lernmaterials wird nach Wissen des Autors an Regel- und Förderschulen, beim Lernen zuhause, in der Lern- und Ergotherapie und in der Nachhilfe eingesetzt. Er selbst verwendet das Lernmaterial in der Entwicklungstherapie mehrerer Lernender mit Simultandysgnosie. Im Folgenden werden die Beobachtungen zur Entwicklung und zur Arbeit mit der Subtraktionsfunktion und dem Zehnerfeld aus Holz zusammengefasst.

7.4.5.1 Subtraktionsfunktion

Vor der Veröffentlichung des Updates der App, das die Subtraktionsfunktion hinzufügte, arbeitete Noa (9;8 Jahre) mit dem Autor intensiv mit verschiedenen Prototypen der Subtraktionsfunktion. Dabei wurde großen Wert darauf gelegt, dass sie die Handlung „Der Rabe frisst Kirschen“ ohne weitere Unterstützung versteht. Die Animation wurde hierauf abgestimmt. Weiterhin wurde der Timer, der nach Berührung des Subtraktionsbuttons abläuft, an Noas Tippgeschwindigkeit angepasst. Einerseits sollte ihr genügend Zeit gegeben werden, um erneut den Button zu betätigen, um den Subtrahenden zu erhöhen, andererseits sollte aber auch nicht zu viel Zeit vergehen, um den Subtraktionsvorgang nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Noa probierte verschiedene Versionen aus, bis eine optimale Dauer gefunden wurde. Den Raben bezeichnete sie als „sehr lustig“. Später rechnete Noa Subtraktionsaufgaben im Zwanzigerfeld. Die Animationen waren dabei ausgeschaltet, damit der Subtraktionsvorgang zügig vonstattengeht.

Abbildung 7.61
figure 61

Hendrik berechnet Subtraktionsaufgaben mit Hilfe der mathildr-App

Hendrik (7;9 Jahre) fürchtete sich ein wenig vor dem Raben, den er in einem Prototyp der App sah. Grund hierfür war, dass die Fluganimation anfangs in sehr hoher Geschwindigkeit abgespielt wurde und er den Raben als Gespenst interpretierte. Die Geschwindigkeit der Animation wurde daraufhin angepasst und das Missverständnis damit geklärt. Hendrik nutzte fortan gerne die Subtraktionsfunktion und löste anfangs Aufgaben im Zahlenraum 10, später im Zahlenraum 20 (Abbildung 7.61).

7.4.5.2 mathildr-Zehnerfeld

In der Entwicklung des Zehnerfeldes aus Holz wurde darauf Wert gelegt, dass der Einsatz von Holzkirschen feinmotorisch nicht zu herausfordernd wird. Daher wurden die Prototypen von Beginn an mit drei- und vierjährigen Kindern mit Trisomie 21 erprobt, obwohl der Autor die Zielgruppe des Zehnerfeldes eher im Schulalter angesiedelt hatte (Abbildung 7.62).

Abbildung 7.62
figure 62

Zwei Vorschüler*innen mit Trisomie 21 legen Holzkirschen in Zehnerfelder

Beim Erproben des Materials stellte sich heraus, dass diese Materialisierung für Kinder attraktiv und händelbar ist. Die Kirschstängel konnten von den Lernenden gut gegriffen werden, das Setzen der Kirschen und das Zusammenführen von Kirschstängeln bereiteten keine Schwierigkeiten. Der Autor setzt die Materialisierung daher weiterhin zum Zählenlernen mit Vorschüler*innen ein.

Es erwies sich als empfehlenswert, das Zehnerfeld im Unterricht als Alternative zum Tablet anzubieten. Der Schüler Paul (12;2 Jahre) bevorzugte die Arbeit mit dem haptischen Material anstelle der Arbeit mit dem Tablet. Additionen und Subtraktionen im Zahlenraum 10 löste er anfangs mit Hilfe der Holzkirschen, später ließ er die Kirschen weg und zeigte lediglich auf die Stellen des Zehnerfeldes, auf die er Kirschen legen würde (Abbildung 7.63).

Abbildung 7.63
figure 63

Paul deutet mit Zeige- und Mittelfinger auf das zweite Kirschpaar

Später genügte es Paul, den Blick über das Zehnerfeld schweifen zu lassen, um die Aufgaben zu lösen. Einige Aufgaben des Kleinen 1 + 1 löste er im Kopf ohne Zuhilfenahme des Zehnerfeldes.

7.4.6 Umsetzung der Kriterien

Mit der Implementierung der Subtraktionsfunktion wird nun dem Kriterium der Fehlerkontrolle Rechnung getragen. Eingegebene Subtraktionsaufgaben können anhand des Term-Elements auf Eingabefehler überprüft werden. Weiterhin ist das Kriterium Angebot wesentlicher Operationen erfüllt. Damit ist allen zuvor aufgestellten Anforderungen zur Entwicklung eines neuen Lernmaterials zur Mengendarstellung nachgekommen worden.

Das Kriterium 2a, die angestrebte Redundanz, wurde folgendermaßen beschrieben: „Das Lernmaterial unterstützt die Lernenden darin, ein inneres Bild des Materials zu entwickeln, das anstelle des gegenständlichen Materials verwendet werden kann“. An dieser Stelle des Entwicklungsprozesses lag noch keine Evidenz darüber vor, dass die Mengenbilder tatsächlich mental nachgebildet werden können.

7.5 Designprinzipien

Im Folgenden werden die Designprinzipien, die sich während der Entwicklung des Lernmaterials ergaben, wiedergegeben (vgl. Unterkapitel 5.2.4). In Anlehnung an Van der Akker (1999, S. 9) werden die Designprinzipien als heuristische Aussage definiert:

Um ein Lernmaterial zu designen, das

  • Personen mit Aufmerksamkeitsbesonderheiten darin unterstützt, das Zählen zu üben und für sie erfassbare und mental nachbildbare Mengenbilder zu erlernen,

  • Additionen, Subtraktionen und Zahlzerlegungen darstellt und

  • allgemeinen sowie für Anschauungsmaterialien und Mengendarstellungen spezifischen Kriterien zur Entwicklung von Lernmaterialien entspricht,

sollte insbesondere berücksichtigt werden, dass

  • die Mengenbilder Bündelungsformen und Superzeichen zur Entlastung der Aufmerksamkeit nutzen,

  • seine Handhabung barrierefrei ist,

  • ein individueller Umgang und eine Differenzierung durch Auswahl des Zahlenraumes möglich sind,

  • grundsätzliche Aspekte des Lernmaterials in Materialisierungen überführt werden können, die den Lernenden alternative Lösungswege bieten

und folgende Verfahren zum Einsatz kommen:

  • Computertachistoskopie oder andere geeignete Verfahren zur Messung der Aufmerksamkeit einer spezifischen Person oder Personengruppe, um die optimale Bündelungsgröße zu ermitteln,

  • Erprobung der Prototypen des Lernmaterials durch Personen der Zielgruppe, um erste Verbesserungen vorzunehmen,

  • Entwicklung einer digitalen Lösung, um den Aufbau der Mengenbilder abzubilden und die Entsprechung der aufgestellten Kriterien zu gewährleisten,

  • Erprobung der digitalen Lösung im Unterricht mit einer größeren Anzahl an Schüler*innen mithilfe von Kompetenzrastern,

  • Erweiterung der digitalen Lösung unter permanenter Erprobung durch Schüler*innen,

  • Entwicklung von Materialisierungen unter permanenter Erprobung durch Schüler*innen.

Diese Designprinzipien geben nicht nur das gewonnene inhaltliche Wissen wieder, sondern zeichnen auch den Entstehungsprozess und die angewandten Methoden nach. Sie zeigen, dass die Entwicklung barrierefreier Lernmaterialien nicht trivial ist und einer eingehenden Erprobung bedarf. Dabei ist das Verwerfen von Ideen, die sich als ungeeignet erweisen, ebenso notwendig wie die Optimierung von Lösungen, die bereits Anklang finden.

Der iterative Charakter der Entwicklung des Lernmaterials erlaubt es, auch über bestehende Forschungszeiträume hinaus Optimierungen und Aktualisierungen vorzunehmen. Das vorliegende Lernmaterial kann als App jederzeit aktualisiert werden und es lassen sich weitere Materialisierungen und Lernideen nach positiver Erprobung der Materialauswahl und der Website hinzufügen.