Die Problemstellung, der Missstand in der schulischen Praxis und damit die Ziele des vorliegenden Forschungsprojekts sind bereits formuliert. Darüber hinaus sollten vor der Entwicklung eines neuen Systems zur Darstellung von Mengen Kriterien formuliert werden, die dieses zu erfüllen hat. Nach erfolgter Erarbeitung der Kriterien findet im Folgenden eine Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Lernmaterialien statt, die eine ähnliche Problemstellung adressieren. Im Anschluss wird die Fragestellung der vorliegenden Arbeit formuliert.

6.1 Kriterien für die Gestaltung von Lernmaterialien

Neben allgemeinen Kriterien zur Gestaltung von Unterrichtsmaterialien sind solche Anforderungen von Interesse, die an Lernmaterialien gestellt werden, die spezifische geistige Operation erlernbar machen sollen. Darüber hinaus werden im Folgenden Anforderungen herausgearbeitet, die ein System zur Darstellung von Mengen erfüllen sollte, wenn es als Alternative zum Zwanzigerfeld mit Fünferbündelung fungieren soll.

6.1.1 Allgemeine Kriterien

Schulunterricht wird nicht nur mit Hilfe von Arbeitsblättern, Arbeitsheften und Schulbüchern bewältigt, sondern vielmehr mit Hilfe konkreter Materialien. Zweifellos stehen in der Gestaltung solcher Lernmaterialien das zu erreichende Lernziel und die Aktivitäten, die zu diesem Lernziel führen sollen, im Vordergrund. Dass es lohnend ist, spezifischeren Kriterien Beachtung zu schenken, zeigen die Entwicklungsmaterialien von Maria Montessori. Montessori, die sich in der Auswahl und Entwicklung ihrer Lernmaterialien ausdrücklich an den Überlegungen und Entwicklungen von Itard und Séguin orientierte (2012a, S. 120), legte großen Wert darauf, dass ihr Sinnesmaterial Eigenschaften isoliert hervorhebt und in Abstufungen wiedergibt. Dabei kann es sich beispielsweise um eine Gruppe von Farbtäfelchen mit unterschiedlicher Schattierung oder eine Gruppe Glocken mit unterschiedlichen Tönen handeln. Die verschiedenen Objekte eine Gruppe unterscheiden sich lediglich in der Abstufung einer bestimmten, auf diese Weise isolierten Eigenschaft (ebd., S. 122). Hieraus ergibt sich ein erstes Kriterium zur Gestaltung des Lernmaterials dieser Arbeit:

  1. a)

    Isolation von Eigenschaften

    Die zu erarbeitenden Eigenschaften des Materials sind isoliert hervorgehoben und nach Möglichkeit in Abstufungen wiedergegeben.

    Darüber hinaus beschreibt Montessori weitere Merkmale, die das Entwicklungsmaterial sowie andere Objekte, die sich in der vorbereiteten Umgebung befinden, idealerweise aufweisen sollten:

  2. b)

    Fehlerkontrolle

    Damit Kinder lernen, Übungen kritisch und sorgfältig durchzuführen, Fehler zu erkennen und zu korrigieren, sollte eine sachliche Fehleranalyse möglich sein. Dabei sollte nicht nur das Aufkommen eines Fehlers an sich, sondern der tatsächlich begangene Fehler anhand der Erscheinung des Materials verdeutlicht werden.

  3. c)

    Ästhetik

    Montessori legt Wert darauf, dass die Materialien dank harmonisch abgestimmter Form- und Farbgebung eine Anziehungskraft und einen Aufforderungscharakter haben, die ein Tätigkeitsbedürfnis beim Kind auslösen und zu einer sorgfältigen Behandlung anregen.

  4. d)

    Kindgerechte Handhabung

    Das Material sollte die Möglichkeit von Aktivitäten bieten, die dem kindlichen Tätigkeitsdrang entsprechen. So sollten zum Beispiel kleine Elemente zum Verrücken oder Neu-Ordnen zur Verfügung stehen. Das Material sollte so konzipiert werden, dass es Freude bereitet, wenn solche Aktivitäten mehrfach wiederholt werden.

    (Montessori, 2012a, S. 124–127)

Die Überlegungen Montessoris, die aus den Ergebnissen einer jahrzehntelangen handlungsforschenden Tätigkeit resultieren, zeigen, welche Sorgfalt bei der Entwicklung von Lernmaterialien aufgewendet werden sollte, um die gewünschten Entwicklungseffekte zu erreichen und unerwünschte Nebeneffekte zu vermeiden. Sie fanden bereits in der Entwicklung (heilpädagogischer) adaptierter Materialien Anwendung (Gunkel, 2000, S. 136) und werden in der Praxis auch zur Bewertung digitaler Lernmaterialien herangezogen (Valle, 2019, S. 77). Die Kriterien bilden die allgemeinen Anforderungen an die Entwicklung eines neuen Systems zur Darstellung von Mengen im Rahmen dieser Arbeit.

6.1.2 Kriterien für Anschauungsmaterialien

Für die Unterrichtsplanung und -gestaltung ist die Berücksichtigung unterschiedlicher Aneignungs- und Wahrnehmungsebenen aus zwei Gründen bedeutend: Erstens zur Differenzierung eines gemeinschaftlichen Unterrichts, in dem Schüler*innen mit unterschiedlicher kognitiver Entwicklung zusammen lernen, und zweitens zum gezielten Erlernen mentaler Operationen. Aus diesem Grund ist die Differenzierung verschiedener Ebenen Gegenstand der erziehungswissenschaftlichen Diskussion (eine empfehlenswerte Übersicht bietet Ziemen, 2018, S. 125 f.). In den Fachdidaktiken wird in diesem Zusammenhang das sog. EIS-Prinzip regelmäßig zitiert. Dabei handelt es sich um ein Akronym für die Differenzierung von Darstellungsweisen nach enaktiver (Handlungs-), ikonischer (Bild-) und symbolischer (abstrakter) Ebene. Das EIS-Prinzip geht auf Überlegungen Bruners zurück, der es als „nicht unwahrscheinlich“ bezeichnet, dass diese „drei Medien der modellhaften Abbildung“ bedeutend in der Konstruktion eines Modell der Wirklichkeit und damit in der Entwicklung von Wissen sind (Bruner, 1971, S. 377). In der deutschsprachigen mathematikdidaktischen Diskussion finden Bruners Überlegungen rege Berücksichtigung, es wird allerdings zunehmend davor gewarnt, diese allzu formalistisch umzusetzen. Krauthausen (2018, S. 325) beschreibt das Phänomen, dass Kinder, die das Rechnen mit konkretem Material als schwierig empfinden, auf fehleranfälligere Alternativmethoden zurückgreifen; „Es gilt daher stets darauf zu achten, ob in einer Situation das Handeln mit konkretem Material auch sachlich geboten ist“ (ebd.). Scherer (1996, S. 55) berichtet von Schüler*innen, in denen eine Ablösung vom konkreten Material zu früh erfolgt sei und sich negativ auf den Lernerfolg ausgewirkt habe. Eine Auseinandersetzung rund um die Ablösung und geplante Redundanz von Anschauungs- und Lernmaterialien kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend geführt werden. Es wird aber deutlich, dass bei der Entwicklung eines neuen Lernmaterials berücksichtigt werden sollte, dass dieses zu seiner eigenen Redundanz beiträgt. Sobald sich ein*e Schüler*in mit dessen Hilfe das zu lernende Wissen angeeignet hat, soll ein weiterer Rückgriff auf das Material nicht mehr forciert werden. Stattdessen sollte die Lehrperson dazu motivieren, zuvor konkret veranschaulichte Aufgaben auf mentaler Ebene zu lösen. Hieraus ergibt sich das erste Kriterium zur Entwicklung eines Lernmaterials, das die Herbeiführung geistiger Handlungen forciert:

  1. a)

    Angestrebte Redundanz

    Das Lernmaterial unterstützt die Lernenden darin, ein inneres Bild des Materials zu entwickeln, das anstelle des gegenständlichen Materials verwendet werden kann.

    Bevor dieser erwünschte Zustand allerdings erreicht ist, werden Phasen der konkreten Arbeit und Verbalisierung der Arbeit mit dem Material durchlaufen. Dieser mehrstufige Handlungsvorgang wird von Klafki (2007, S. 193) in Anlehnung an die Theorien Piagets (1947, 1973), Roses (1953) sowie Galperins und Leontjews (1972) wie folgt formuliert:

    1. 1.

      Konkrete Aneignungs- bzw. Handlungsebene

    2. 2.

      Explizit-sprachliche Aneignungs- bzw. Handlungsebene

    3. 3.

      Rein gedankliche Aneignungs- bzw. Handlungsebene

(Klafki, 2007, S. 188)

Bei diesem Dreischritt handelt es sich laut Klafki um eine Vereinfachung des idealtypischen Denkmodells, das zur Aneignung eines Lerngegenstands durchlaufen wird. Auf der ersten Ebene, der konkreten Aneignungs- bzw. Handlungsebene, arbeiten die Schüler*innen mit konkreten Gegenständen oder mit gegenständlichen respektive bildhaften Repräsentationen konkreter Gegenstände. Dabei kann es sich z. B. um „Klötze statt realer Dinge, Bilder, modellhafte Veranschaulichungen, Skizzen oder ähnliches“ handeln. Auf der zweiten Ebene, der explizit-sprachlichen Aneignungs- bzw. Handlungsebene, werden die Vollzüge der ersten Ebene erst durch hörbare Äußerungen und später durch eine innere Sprache „dargestellt, analysiert, strukturiert, begründet, erörtert“, wodurch ein erster Abstraktionsschritt vollzogen wird. Die dritte Ebene, die rein gedankliche Aneignungs- bzw. Handlungsebene, zeichnet sich dadurch aus, dass die Schüler*innen auf die Verbalisierung verzichten können und die Handlungen der ersten Ebene als geistige Handlungen, also Operationen, rein gedanklich und abstrakt vollziehen (Klafki, 2007, S. 193 f.).

Klafkis mehrstufiger Handlungsvorgang orientiert sich an den Überlegungen Pjotr Galperins, der in seinem Modell zur etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen von einem mehrstufigen Verfahren zur Aneignung von Internalisierungen ausgeht. Als Vertreter der Kulturhistorischen Schule und Mitarbeiter Leontjews bedient sich Galperin inhaltlich wie begrifflich der Tätigkeitstheorie Leontjews, die eine strenge Unterscheidung dreier aufeinander aufbauender Ebenen vorsieht: Operation, Handlung und Tätigkeit (Abbildung 6.1).

Abbildung 6.1
figure 1

Euler-Diagramm des Strukturmodells der Tätigkeit (Rieckmann, 2014, S. 5)

Die Tätigkeit ist im Strukturmodell der Tätigkeit grundsätzlich auf einen Gegenstand gerichtet. Ein Gegenstand kann dabei „sowohl stofflich als auch ideell sein, sowohl in der Wahrnehmung gegeben sein als nur in der Phantasie, nur in Gedanken existieren. Die Hauptsache ist, dass dahinter immer ein Bedürfnis steht, dass er immer dem einen oder anderen Bedürfnis entspricht“ (Leont’ev, 2012, S. 95 f.). Beispiele für stoffliche Gegenstände sind ein Haus, eine Fotografie oder Nahrung. Ideelle Gegenstände können z. B. die Schriftsprache, Mathematik oder philosophische Überlegungen sein. Der Gegenstand bildet grundsätzlich das Motiv der Tätigkeit, weil er dem Bedürfnis der Person entspricht, die dieser Tätigkeit nachgeht. Leontjew führt ein Beispiel an, in dem jemand der Tätigkeit des Jagens nachgeht. Da diese Person das Bedürfnis hat, etwas zu essen, bildet die Nahrungsbeschaffung das Motiv der Tätigkeit. Um erfolgreich zu jagen, ist der Mensch häufig dazu gezwungen, Handlungen durchführen, die nicht unmittelbar auf das Motiv gerichtet sind. Um z. B. Fische als Nahrung zu erhalten, ist der Gebrauch eines Fanggeräts, beispielsweise einer Angelrute, von Nöten. Mit dem Ziel, eine Angelrute zu besitzen, könnte er der Handlung nachgehen, eine solche zu bauen. Das Ziel steht in einer ebenso konstitutionellen Beziehung zur Handlung wie das Motiv zur Tätigkeit. Über diese Kategorien hinaus unterscheidet Leontjew die sogenannten Operationen. Dabei handelt es sich um die Verfahren, die zur Verwirklichung einer Handlung beitragen. Das Beispiel des Jagens weiterführend könnten mehrere Operationen identifiziert werden, wie etwa das Abtrennen eines geeigneten Astes von einem Baum, die Suche nach einer reißfesten Schnur und das Sammeln von Ködern. Operationen sind grundsätzlich von mehreren spezifischen Bedingungen abhängig. Sie sind durch die Fähigkeiten der operierenden Person und die Umwelt, in der sich diese befindet, geprägt. Sie können beispielsweise durch Maschinenkraft automatisiert oder ersetzt werden (vgl. ebd., S. 99 f.). Eine Operation bezeichnet im Gegensatz zur Terminologie Piagets (vgl. Unterkapitel 2.2.2.1) nicht zwangsläufig das Phänomen der mentalen Operation. In einem solchen Fall wird stattdessen von einer „geistigen Handlung“ gesprochen, die im Modell von Galperin erreicht wird (Gal’perin, 2004). Je nach Interpretation des Modells Galperins wird von bis zu sechs Etappen zur Ausbildung geistiger Handlung ausgegangen (Jantzen, 2004). Die folgende Auflistung beschreibt Galperins Darstellung von fünf Etappen:

  1. 1.

    Bildung einer vorläufigen Vorstellung von der Aufgabe

    Damit sich die lernende Person mit der Handlung bekannt machen kann, wird eine Orientierungsgrundlage geschaffen, die an ihre Kenntnisse und Fähigkeiten angepasst ist. Für den zu erwartenden Lernerfolg ist dabei entscheidend, welchen Detailgrad und welche Struktur diese Orientierungsgrundlage bietet und ob die lernende Person darin unterstützt wird, diese Orientierungsgrundlage selbst zu schaffen und sich die Handlung selbst zu erschließen (Galperin, 1967a, S. 376, 1967b, S. 36). „Die Schüler sollen von Anfang an wissen, was in diesem Bereich wesentlich ist, worauf es ankommt, und sie sollen das Instrumentarium erhalten, um diesen Bereich selbst analysieren und die Orientierungsgrundlage für konkrete Handlungen selbst aufbauen zu können“ (Lompscher, 1973).

  2. 2.

    Eigentlicher Handlungsverlauf

    Die lernende Person vollzieht die Handlung am Material und erschließt sich diese vollständig mithilfe von Entfaltung und Verallgemeinerung. Die Lehrperson unterstützt sie dabei, die Handlung in einzelne nachvollziehbare Operationen zu gliedern. In der Verallgemeinerung einer Handlung werden „aus den vielfältigen Eigenschaften ihres Objekts gerade die [ausgegliedert], die einzig und allein für ihre Ausführung notwendig sind“ (Galperin, 1967a, S. 380). Laut Galperin tragen „[d]iese beiden Verfahren … dazu bei, daß sich im Bewußstsein des Schülers die für die Handlung wesentlichen Eigenschaften, Zusammenhänge und objektiven Bedingungen widerspiegeln und daß er die Handlung auf Grund einer solchen Widerspiegelung zu steuern vermag“ (1967b, S. 38).

  3. 3.

    Verbalisierung der Handlung

    Die dritte Etappe zeichnet sich dadurch aus, dass alle relevanten Operationen der Handlung in Worte gefasst werden. Die lernende Person begleitet ihre Handlung mittels „äußerer Sprache“, d. h., dass sie für andere nachvollziehbar spricht und ihr eigenes Handeln erläutert. Damit findet eine erste Abstraktion statt, „der gegenständliche Inhalt [wird] bereits zum Gedanken, zum Inhalt des Denkens“ (ebd., S. 39).

  4. 4.

    Verkürzte Verbalisierung

    In der vierten Etappe verkürzt die lernende Person die Handlung und führt sie bereits in Teilen gedanklich durch. Als Unterstützung verwendet sie die äußere Sprache „für sich“. Die Sprache, mit der sie ihre Handlung begleitet, wird „vom Kommunikationsmittel zum Mittel des Denkens“ (ebd., S. 40).

  5. 5.

    Internalisierung

    Zuletzt verkürzt die lernende Person diese zu einer gedanklichen, „inneren Sprache“. Sie ist nun in der Lage, die Handlung ohne unterstützendes Material oder Lautsprache durchzuführen (ebd.). Der ursprünglich gegenständliche Inhalt erscheint nun als gedankliches Abbild, das den ursprünglichen Handlungsprozess und die Orientierung in diesem widerspiegelt (Galperin, 1973, S. 88).

Aus den fünf Etappen lassen sich weitere Merkmale ableiten, die Lernmaterialien beinhalten sollten, um die Internalisierung einer Handlung zu fördern:

  1. b)

    Beitrag zur Orientierungsgrundlage

    Das Lernmaterial ermöglicht den Aufbau einer Lernumgebung, in der sich die lernende Person so weit wie möglich selbständig orientieren und den Lerngegenstand handelnd erschließen kann.

  2. c)

    Angebot wesentlicher Operationen

    Zentrale Operationen der Handlung sind mit dem Lernmaterial durchführbar.

  3. d)

    Möglichkeit der Verbalisierung

    Zentrale Operationen der Handlung am Lernmaterial können verbalisiert werden.

Galperin unterscheidet, ob materielle oder materialisierte Handlungen vollzogen werden. Materielle Handlungen, wie z. B. erste Rechenoperationen mithilfe von Gegenständen, würden in der Anfangsphase des Lernens ihren Zweck erfüllen. Sie hätten aber den Nachteil, dass sie zum Aufbau tiefergehender Kenntnisse an ihre Grenzen geraten würden. In materialisierten Handlungen arbeiten die Lernenden mit Kopien, Darstellungen, Schriften oder gegenständlichen Modellen des Objekts. Laut Galperin ermöglichen es diese, wesentliche Charakteristika des Objekts für die Lernenden erkennbar zu machen (Galperin, 1967b, S. 36 f.). „Mit Hilfe des Materialisierens (gedachter Eigenschaften und Beziehungen) nehmen die objektiven Eigenschaften und Beziehungen, die uns in ihrer wirklichen materiellen Form nicht unmittelbar zugänglich sind, dennoch eine materialisierte Form an und können von uns wahrgenommen werden“ (ebd. S. 37). Für das zu entwickelnde Lernmaterial ergibt sich hieraus ein weiteres Merkmal:

  1. e)

    Möglichkeit der Materialisierung

    Das Lernmaterial kann sinnvoll in eine andere Form aufbereitet werden, die wesentliche Eigenschaften und Beziehungen widerspiegelt.

6.1.3 Kriterien für Mengendarstellungen

Neben der Fragestellung, welche allgemeinen Kriterien Lernmaterialien und welche Merkmale Materialien erfüllen sollten, damit sie sich zur Internalisierung eignen, sollen im Folgenden Kriterien ausgearbeitet werden, die ein neues System zur Darstellung von Mengen erfüllen sollte, damit es als Alternative zur Fünferbündelung eingesetzt werden kann. Hierfür werden die Motive, die Fünferbündelung im Unterricht einzusetzen, aus Unterkapitel 3.3.2 antizipiert.

Kühnel (1922, S. 29) sieht Darstellungen im Vorteil, bei denen die spezifische Darstellungsweise kleinerer Anzahlen in größeren abgebildet ist: „Allgemein bekannt sind die Zahlbilder auf Würfeln und Dominosteinen. Diese zeigen jedoch die psychologische Schwäche, dass die 5 nicht unmittelbar in der 6 wiedererkannt werden kann, und ebenso die 9 nicht in der 10 usw. Zahlbilder, die für den Unterricht verwendbar sein sollten, wünschte man daher nach dem Grundsatz aufgebaut, daß jedes Zahlbild im folgenden enthalten sein sollte“(ebd.).

Hieraus ergibt sich das Kriterium

  1. a)

    Aufbauende Struktur

    Die Mengenbilder bauen aufeinander auf, sodass jedes Mengenbild im nachfolgenden enthalten ist.

    Thompson und Van de Walle (1984) nutzten den 10 Frame zur Darstellung von Zahlzerlegungen der Menge 10. Durch freibleibende Felder des 10 Frames sollte deutlich sein, wie Felder gefüllt werden müssen, um die Anzahl 10 zu erhalten. Hieraus ergibt sich das Kriterium

  2. b)

    Darstellung der Zehnerzerlegung

    Die Mengenbilder werden in einem Zehnerfeld dargestellt, das durch freie Felder jederzeit einen Überblick darüber ermöglicht, wie viele Einheiten ergänzt werden müssen, um die Menge 10 zu erhalten.

Flexer (1986) und Krauthausen (1995) sehen einen Vorteil der Fünferbündelung darin, dass Mengen nicht gezählt werden müssen und quasi-simultan erfassbar sind. Auch das neue Lernmaterial sollte diese Möglichkeit bieten, dabei jedoch auch für Personen mit Simultandysgnosie verwendbar sein:

  1. c)

    (Quasi-)simultane Erfassbarkeit

    Die Mengenbilder von 0 bis 20 können von Personen mit Simultandysgnosie quasi-simultan erfasst werden.

Mit dem Blitzrechnen führen Wittmann und Müller in ihrem Projekt mathe 2000 eine Form des automatisierenden Übens ein, die den allgemeinen Mathematikunterricht ergänzt (Wittmann & Müller, 2015). Auch das neuentwickelte Lernmaterial soll solche Übungen ermöglichen:

  1. d)

    Eignung für Rechenübungen

    Das Material bietet die Möglichkeit, automatisierende Übungsformate zur Orientierung im Zahlenraum 20 durchzuführen.

6.1.4 Resümee

Die herausgearbeiteten Kriterien stammen aus bedeutenden Theorien verschiedener Wissenschaftler*innen aus dem Bereich der Psychologie und Pädagogik. Sie zeigen, dass bei der Entwicklung eines zweckerfüllenden Lernmaterials idealerweise eine große Zahl an Faktoren berücksichtigt werden muss, und bilden eine Zielvorstellung zur Entwicklung einer Alternative zum Zwanzigerfeld mit Fünferbündelung. Eine Übersicht der herausgearbeiteten Kriterien findet sich im Anhang auf Seite 5 im elektronischen Zusatzmaterial.

6.2 Verfügbare Lösungen

Vor der Konzeption eines neuen Unterrichtsmaterials wurden bereits vorhandene Alternativen zum Zwanzigerfeld mit Fünferbündelung in den Blick genommen. In diesem Unterkapitel werden nun Lernmaterialien vorgestellt, die die Mengenvorstellung fördern und arithmetische Fertigkeiten vermitteln sollen. Dabei werden neben Lernmaterialien, die für Regelschüler*innen konzipiert worden sind, insbesondere solche vorgestellt, die Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten einen barrierefreien Mathematikunterricht ermöglichen sollen.

6.2.1 Zehnerbündelung

Die Zehnerbündelung stellt eine naheliegende Bündelungsform von Mengen in mathematischen Anschauungsmaterialien zum Dezimalsystem dar. Das mutmaßlich bekannteste Lernmaterial, das auf einer Zehnerbündelung basiert, ist das Perlenmaterial Montessoris. Lose, goldenen Perlen repräsentieren hier die Einer, Stäbchen, die aus zehn aufgefädelten Perlen bestehen, die Zehner. Hunderter werden durch Perlenquadrate dargestellt, die aus zehn nebeneinanderliegenden Stäbchen bestehen. Zehn aufeinander gestapelte Perlenquadrate bilden wiederum einen Würfel, der die Menge 1000 repräsentiert (Montessori, 2012b, S. 19).

Dieses Lernmaterial und seine dazugehörigen Übungen erfüllen die in dieser Arbeit zuvor erarbeiteten allgemeinen Kriterien für Lern- und Anschauungsmaterialien. Die aufgestellten Kriterien für Mengendarstellungen werden hingegen nicht vollständig erfüllt: Weder werden die Mengen in Zehnerfeldern dargestellt, die das Erfassen freier Plätze zulassen, noch können alle Mengen von 0 bis 20 quasi-simultan erfasst oder automatisierte Übungsformate zur Orientierung im Zwanzigerraum durchgeführt werden. Dies war auch nicht die Intention Montessoris bei der Entwicklung des Materials. Tatsächlich lag ihr Ziel darin, bereits Kinder im Vorschulalter dazu zu befähigen, mit Zahlen jenseits der 100 zu arbeiten. Das Perlenmaterial lässt neben den vier Grundrechenarten sogar weitere mathematische Tätigkeiten zu, wie etwa das Wurzelziehen oder die Darstellung algebraischer Zusammenhänge (Montessori, 2012a, S. 321 f.). Für die Arbeit im kleineren Zahlenraum sind u. a. numerische Stangen vorgesehen, die die Mengen 1 bis 10 darstellen, sowie Spindelkästen, die Fächer mit jeweils null bis zehn Spindeln enthalten. Dieses Material ermöglicht die Mengendarstellung bis 10 sowie Additionen und Subtraktionen (Montessori, 2012b, S. 9 ff.), bietet aber keine Unterstützung in der quasi-simultanen Erfassung für Lernende mit Simultandysgnosie.

Ein Lernmaterial, das der Struktur des Perlenmaterials ähnelt, sind Dienes Multibase Arithmetic Blocks, die anstelle aufgefädelter Perlen aus aneinandergereihten Würfeln bestehen. Ein einzelner Würfel wird als Unit bezeichnet, eine Reihe von Würfeln als Long, eine Fläche als Flat und die übereinandergestapelten Flächen als Block. Neben dem Material, das dem Montessori-Material stark ähnelt und auf der Basis 10 gründet, existieren die gleichen Einheiten mit den Basen 3, 4, 5 und 6 (Dienes, 1967, S. 55 ff.). Dieses Material, das Schüler*innen das Rechnen in Zahlensystemen jenseits des Dezimalsystems näherbringen soll, erfüllt ebenfalls nicht die Kriterien der Darstellung im Zehnerfeld und der Quasi-Simultanerfassung der Mengen 0 bis 20.

Der belgische Mathematiklehrer Georges Cuisenaire entwickelte 1954 ebenfalls ein Lernmaterial, das Zahlen als Stäbe darstellt (Association of Teachers of Mathematics, 2017, S. 4). Die Zahl 10 wird als orangefarbener Stab dargestellt, 9 als blauer Stab, mit einer Länge von 90 % des Zehnerstabes, 8 als roter Stab mit einer Länge von 80 % des Zehnerstabes usw. Jeder Stab ist in einer eigenen Farbe gehalten und bei einer Kombination aus Stäben entspricht die Gesamtlänge der Länge des Stabes der Summe der zugrundeliegenden Addition (ebd., S. 10). Da die mit den Zahlen korrespondierenden Farben sehr schnell erlernt werden können, entsteht der Eindruck der Simultanerfassung, wenn Kinder die Stäbe korrekt benennen. Diese geht allerdings auf die Farbe der Stäbe zurück, nicht auf die dargestellte Menge. Es bleibt ungewiss, ob die Vorstellung der Farbe dabei unterstützt, mental mit Mengen zu operieren. Aber auch in diesem Fall scheint das Kopfrechnen nicht die Intention des Entwicklers des Materials gewesen zu sein. Als Musiklehrer schätzte Cuisenaire die Möglichkeit, Intervalle (Abstände zwischen zwei Tönen) anhand einer Klaviatur veranschaulichen und begreifbar machen zu können. Die Beziehungen zwischen Zahlen wollte er auf ähnliche Weise anhand der unterschiedlich langen Stäbe darstellen (ebd., S. 4).

Die vorgestellten Lernmaterialien mit Zehnerbündelung verfolgen andere Zielsetzungen als solche, die in den aufgestellten Kriterien zur Entwicklung eines neuen Lernmaterials im Rahmen dieser Arbeit formuliert worden sind. Sie eignen sich daher nicht zur Schließung der herausgearbeiteten Lücke im Lernmaterialangebot. Ihre didaktische Eignung soll aber keineswegs in Frage gestellt werden. Dank der Zehnerstruktur und der Kompatibilität zum Dezimalsystem lassen sie sich mutmaßlich im Mathematikunterricht bereichernd einsetzen.

6.2.2 Mengendarstellungen mit Fünferbündelung

Die Erfahrung, dass Lernende mit Trisomie 21 vom Einsatz des üblichen mathematischen Lernmaterials nicht immer profitieren, veranlasst Pädagog*innen schon seit Längerem dazu, zu Alternativen zu greifen. Ein häufig anzutreffendes Lernmaterial sind die Rechenzüge. Dabei handelt es sich um ein spielerisches Lernmaterial aus dem Unterrichtswerk Kutzers. Kutzer reagierte mit seinem Lehrwerk auf Missstände, die er im Mathematikunterricht der frühen 1980er-Jahre an Grund- und Sonderschulen erkannte: Schüler*innen zeigten sich im stark standardisierten Mathematikunterricht häufig über- und unterfordert, Lernerfolge blieben aus und auch das „traditionelle didaktische Konzept der Schule für Lernbehinderte“ schien überholt (Kutzer, 1983, S. 8 f.). Der Rechenzug besteht aus einer Lok und verschiedenen angekoppelten Wagen. Diese können mit Blöcken unterschiedlich beladen und untereinander verglichen werden. Additionen und Subtraktionen können auf der enaktiven Ebene durchgeführt werden (Kutzer, 1985, S. 68 f.). Ein Wagen kann mit bis zu 2 · 5 Blöcken beladen werden (Abbildung 6.2).

Abbildung 6.2
figure 2

Schematische Zeichnung eines Wagens des Rechenzugs (Kutzer, 1985, S. 86)

Der Rechenzug nach Kutzer bildet damit die gleiche Struktur ab, die vom Zehnerfeld bekannt ist. Er basiert auf der Kraft der Fünf und ist daher für Lernende mit Simultandysgnosie nicht barrierefrei.

Ein weiteres Lernmaterial zur Veranschaulichung von Mengen, das häufig im Unterricht von Schüler*innen mit Trisomie 21 eingesetzt wird, ist Numicon. Das Lernmaterial besteht aus zehn Plastikschablonen, die mithilfe von Aussparungen die Zahlen 1 bis 10 darstellen (Abbildung 6.3).

Abbildung 6.3
figure 3

Numicon-Schablonen

Die Anzahl kann anhand der Form und durch Nachzählen bestimmt werden. Darüber hinaus lässt sie sich anhand der Einfärbung erkennen, da jede Schablone eine eigene Farbe darstellt und Zahl und Farbe korrespondieren (Rinaldi, Smees, Alvarez & Simner, 2020, S. 3). Im Vergleich zu einem zweizeiligen Zehnerfeld erscheinen die Numicon-Schablonen in einem Winkel von 90° gedreht, weshalb auch von einer Zweierbündelung gesprochen werden kann. Die Probleme der Quasi-Simultanerfassung bleiben bei einer Simultandysgnosie allerdings bestehen: Eine Unterscheidung der Schablonen 6 und 8, 7 und 9 oder 8 und 10 lässt sich unter den Bedingungen einer Simultandysgnosie mutmaßlich nur anhand der Farbe oder durch Nachzählen bestimmen. In einer Studie mit 3236 neurotypischen Schüler*innen im Alter von sechs bis zehn Jahren schnitten Untersuchungspersonen, die die Numicon-Farben verinnerlicht hatten, in einem Test zum Mengenverständnis besser ab als solche, die diese Farben nicht auswendig wussten. Die Effektstärke von Numicon auf den Ausgang dieses Tests wird als klein bis mäßig angegeben. Ein überdurchschnittliches Abschneiden in einem Mathematiktest ließ sich allerdings nicht nachweisen (ebd.).

Ein Lernansatz, der auf der Fünferbündelung basiert und die enaktive Ebene betont, ist Yes we can. Diese Materialsammlung wurde speziell für Schüler*innen mit Trisomie 21 entwickelt und nimmt das Rechnen mit den Fingern in den Fokus. Der kleine Finger der linken Hand symbolisiert dabei die 1, der Ringfinger die 2, der Mittelfinger die 3, der Zeigefinger die 4 und der Daumen die 5. An der rechten Hand wird im umgekehrten Sinne weitergezählt: der Daumen symbolisiert die 6, der Zeigefinger die 7 usw. Zur Darstellung der Zehner werden als konkretes Material anfangs Stäbchen und später die Fingerknöchel verwendet. Additionen erfolgen durch aufbauendes Zählen, Subtraktionen durch abbauendes Zählen (Wieser & Hotter, 2011, S. 17). Die Entwickler*innen erhoffen sich, dass der Einsatz der Finger die Eigenwahrnehmung steigert, „welche eine entscheidende Voraussetzung für die Raumwahrnehmung und damit für die Erfassung des mathematischen Zahlenraums ist“ (ebd., S. 21). Weiterhin schreiben die Autorinnen: „Die Fingerbewegungen beim Zählen können jederzeit visuell kontrolliert werden und die Simultanerfassung einzelner Fingerbilder unterstützt die Mengenwahrnehmung“ (ebd.). Das Ziel sei, dass durch die „konkret ausgeführte Tätigkeit mit dem Fingermaterial allmählich ein Denken in Bildern auf[gebaut werde]“ (ebd., S. 23).

Auch dieser Lernansatz basiert auf der der Kraft der Fünf: Einzelne Finger stellen Einer dar, eine ganze Hand bildet einen Fünfer. Eine quasi-simultane Erfassung, die neurotypischen Personen dank der der Fünferbündelung möglich ist, ist Personen mit Trisomie 21 nicht im gleichen Maße möglich (vgl. Unterkapitel 3.3.3, S. 56). Dass Lernende die Lösung einer mit den Fingern berechneten Aufgabe sofort benennen können, ist mutmaßlich darauf zurückzuführen, dass jeder Finger einer Zahl zugeordnet ist und Finger mit Hilfe des Tastsinns differenziert und in Folge benannt werden können. Spürt die lernende Person nach dem Durchführen einer Rechnung mit Hilfe dieses Systems den rechten Ringfinger, weiß sie, dass das Ergebnis 9 lautet. Die Zahlen werden so zu Synonymen einzelner Finger.

Wird in dieser Art mit den Fingern gerechnet, sind die Lernenden dazu angehalten, mit zählbasierten Rechenstrategien zu arbeiten. Bei der Counting All Strategy erfolgt das Rechnen durch das Zählen der gesamten Zahlenreihe. Im Fall von 4 + 3 zählt die lernende Person „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7“, um das Ergebnis 7 zu ermitteln. Auch die Counting Min Strategy, bei der für die gleiche Aufgabe lediglich „4, 5, 6, 7“ gezählt wird, gilt als Zählstrategie, die Kindern möglich ist, aber bald durch weniger fehleranfällige Alternativen abgelöst werden sollte (Dehaene, 1992, S. 8). Das forcierte Fingerrechnen birgt demnach die Gefahr der Manifestierung des zählenden Rechnens.

Die hier dargestellten Methoden zur Fünferbündelung stellen zum Teil ästhetische Lerngegenstände dar, mit denen sich kindgerechte Aktivitäten durchführen lassen. Aufgrund der Nutzung der Fünferstruktur stellen sie dennoch keine befriedigende Alternative zum Zwanzigerfeld dar und sind für Lernende mit Simultandysgnosie nicht vollumfänglich zu empfehlen.

6.2.3 Superzeichen

In der sonderpädagogischen Mathematikdidaktik scheint der Einsatz von Superzeichen weit verbreitet zu sein. Insbesondere Würfelbilder können zur Veranschaulichung von Zahlen an Förderschulen oder im inklusiven Unterricht vermehrt gefunden werden. Dies ist nicht verwunderlich, da Würfelpunktbilder aufgrund ihrer Struktur leicht wiederzuerkennen und zu benennen (vgl. Unterkapitel 2.7.3) und darüber hinaus den meisten Schüler*innen aus dem Lebensalltag bekannt sind. Die aus Brettspielen bekannten Würfelpunktbilder weisen allerdings die Schwäche auf, dass sie lediglich die Zahlen 1 bis 6 darstellen. Zur Darstellung des Zahlenraums 10 fehlen die 0 sowie die Mengen 7 bis 10.

Im Fall der Kieler Zahlenbilder wurde dieses Problem gelöst, indem zu den bereits bestehenden Würfelpunktbildern Zahlenbilder von 7 bis 10 hinzugefügt wurden (Rosenkranz, 2001, S. 31) (Abbildung 6.4).

Abbildung 6.4
figure 4

Die Kieler Zahlenbilder stellen die Würfelpunktbilder in einem stilisierten Haus dar und erweitern sie durch die Zahlenbilder 7, 8, 9 und 10 (Rosenkranz, 2001, S. 30)

Die Kieler Zahlenbilder wurden für Schülerinnen mit Dyskalkulie entwickelt (ebd., S. 8) und können auf einem Steckbrett aus Holz mit Hilfe von Klötzen, genannt Steckern, nachempfunden werden (ebd., S. 32). Additionen und Subtraktionen im Zahlenraum 1 bis 20 sind möglich. Da die Zahlenbilder aber nicht konsequent aufeinander aufbauen, müssen sie regelmäßig umgesteckt werden, um das Endergebnis als Zahlenbild sichtbar zu machen (ebd., S. 61). Zur Darstellung der Zahlen 11 bis 20 wird ein weiteres stilisiertes Haus neben dem vollen Zehner abgebildet (ebd., S. 77).

Ein ähnliches Prinzip wird mit dem Würfelhaus-Konzept verfolgt. In der Mengendarstellung, die u. a. in Arbeitsheften und einer App Verwendung findet, werden zwei Würfelpunktbilder übereinander dargestellt. Dabei wird auf die klassische Darstellung der Zahl 6 verzichtet. Diese setzt sich aus dem Würfelpunktbild der 5 und der 1 zusammen (Abbildung 6.5).

Abbildung 6.5
figure 5

Mengenbilder des Lehrwerks Würfelhäuser entnommen aus der App Würfelhaus – Rechnen lernen (Strauß-Ehret, 2017)

Würfelpunktbilder, die Kieler Zahlenbilder und die Würfelhäuser haben gemein, dass sie das gleiche konzeptionelle Problem aufweisen. Sie entsprechen nicht dem Kriterium der aufbauenden Struktur; ein Mengenbild ist nicht ohne Weiteres im nachfolgenden zu erkennen. Bei Additionen müssen die Mengenbilder demnach regelmäßig umarrangiert werden, eine Besonderheit, die auf der konkreten Ebene mit genügend Übung zu bewältigen ist, aber auf der gedanklichen Ebene – insbesondere unter der Bedingung einer Simultandysgnosie – mutmaßlich schwerfällt.

6.2.4 Resümee und Ausblick

Über die hier vorgestellten Lösungen hinaus existieren noch viele weitere Lernmaterialien, die Schüler*innen ein Mengenverständnis und einen Eindruck von Zahlzerlegungen, Additionen und Subtraktionen verschaffen sollen. Nicht jede dieser Lösungen hat die mentale Operation zum Ziel. Zur Veranschaulichung von Zahlzerlegungen können beispielsweise Holzzahlen verwendet werden, die sich in der Größe unterscheiden und ähnlich wie die Cuisenaire-Stäbe in Kombination die Höhe der Summe ergeben (Abbildung 6.6).

Abbildung 6.6
figure 6

Zahlenbausteine, die sich in der Höhe unterscheiden. Die Kombination der Zahlen 1 und 9 entspricht in der Höhe der Kombination der Zahlen 4 und 6. In diesem Beispiel handelt es sich um die Rechenbausteine aus Holz von Eichhorn

Der Mangel an einem Lernmaterial für Lernende mit Simultandysgnosie als Alternative zum Zwanzigerfeld mit Fünferbündelung ist dennoch vorhanden. Die hier vorgestellten Lösungen, die teilweise andere Ziele als die mentale Operation verfolgen oder eine andere Zielgruppe ansprechen sollen, schließen diese Lücke im Lehrmittelangebot nicht.

6.3 Fragestellung

Die vorangegangene Auseinandersetzung mit den Kriterien für die Gestaltung von Lernmaterialien und den bereits verfügbaren Alternativen zur klassischen Darstellungsweise der Kraft der Fünf offenbart, dass die wissenschaftlich gestützte Entwicklung eines neuen Lernmaterials eine dezidierte Fragestellung erfordert, die das Anwendungsgebiet, wissenschaftliche Vorerkenntnisse und die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Prüfung berücksichtigt.

Die Fragestellung lautet:

Ist es möglich, ein Unterrichtsmaterial mit Hilfe von Educational Design Research zu entwickeln, das

  1. a)

    Kriterien zur allgemeinen Gestaltung von Unterrichtsmaterialien nach Montessori, zu Anschauungsmaterialien nach Klafki und Galperin sowie zur Mengendarstellung nach Kühnel erfüllt,

  2. b)

    Darstellungen von Mengen und Rechenoperationen beinhaltet, die Menschen mit Simultandysgnosie erfolgreich anwenden, und

  3. c)

    empirische Hinweise zulässt, dass Menschen mit Simultandysgnosie tatsächlich mentale Bilder entwickeln?