Die Bearbeitung der zuvor dargelegten Problemstellung erfordert die Wahl eines geeigneten Forschungsdesigns, das der Praxisorientierung des Projekts gerecht wird. Im Folgenden werden die Anforderungen formuliert, die ein solches Forschungsdesign erfüllen sollte. Darauf folgen eine Darstellung der Forschungsmethode Educational Design Research und eine begründete Auswahl des Forschungsdesigns.

5.1 Anforderungen

Ein Forschungsdesign, das diese Forschungsfrage befriedigend beantwortet, sollte folgende Anforderungen erfüllen:

  • Ergebnisorientierung: Mit Abschluss des Forschungsprojekts sollte ein nutzbares Unterrichtsmaterial zur Verfügung stehen.

  • Kooperation mit der Zielgruppe: Es sollte Lernende mit Simultandysgnosie ermöglichen, sich aktiv am Entwicklungsprozess des Unterrichtmaterials zu beteiligen, um die Barrierefreiheit und Eignung zu gewährleisten.

  • Evidenzbasierte Einordnung des Lernmaterials: Es sollte die Eignung des Unterrichtsmaterials für die Zielgruppe und den formulierten Zweck belegen können.

  • Nachhaltigkeit: Der Entwicklungsprozess sollte transparent beschrieben werden, um grundlegende Erkenntnisse zur Entwicklung barrierefreier Lernmaterialien für ähnliche Projekte nutzen zu können.

Befragungen, Fallstudien, Experimente, Evaluationsstudien und korrelative Studien beschreiben, vergleichen oder messen. Damit erfüllen sie diese Anforderungen nur partiell. Die Entwicklung eines Unterrichtmaterials, das die Antwort auf einen komplexen pädagogischen Missstand darstellt, erfordert hingegen die offene Entwicklung eines Konzepts, dessen Wirksamkeit prozessbegleitend gemessen wird. Ein Forschungsdesign, das diese Anforderungen erfüllt und genügend Flexibilität einräumt, um Charakteristika anderer Forschungsdesigns bei Bedarf zu implementieren, ist das Educational Design Research. Dieses versucht, komplexe pädagogische Probleme zu lösen, indem eine Intervention in Form eines Lernprogramms, von Lernmaterialien oder eines Produktsystems konzipiert und entwickelt wird. Es ermöglicht ebenfalls den Entwurf und die Entwicklung von Interventionen (z. B. Veränderungen von Lernumgebung und -prozessen), mit dem Ziel, Theorien zu entwickeln oder zu validieren (Plomp, 2013, S. 14–15).

5.2 Educational Design Research

5.2.1 Begriffliche Klärung

Der Begriff Design ist in der deutschen Sprache häufig mit der äußeren Erscheinung und kreativen Gestaltung eines Gegenstandes konnotiert. In der Definition des Dudens wird allerdings deutlich, dass mit dem Wort darüber hinaus auch die technische Gestaltung und allgemeine Konzeption eines Gegenstandes beschrieben werden kann. Design wird definiert als „formgerechte u. funktionale Gestaltgebung u. daraus sich ergebende Form eines Gebrauchsgegenstandes o. Ä.“ (Duden, 2007). Im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojekts soll der Begriff Design nicht als Synonym für kreative Gestaltung verstanden werden, sondern vielmehr als Beschreibung von Konzeption und funktionaler Gestaltgebung einer pädagogischen Intervention, die in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten kann.

In der Entwicklungsgeschichte des Educational Design Research sind verschiedene Forschungsmethoden aufgekommen, die rückblickend als Vorgänger oder artverwandte Methoden bezeichnet werden können. Weskamp (2019) bietet eine ausführliche Darstellung der Zusammenhänge dieser Methoden in deutscher Sprache. Die Forschungsmethoden sind untereinander nicht immer trennscharf zu unterscheiden und ihre Bezeichnungen werden gelegentlich synonym verwendet. Richey und Nelson (1996, S. 1240) stellen beispielsweise fest, dass der Begriff Developmental Research regelmäßig missverstanden wird. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Educational Design Research gemäß McKenney und Reeves (2012, S. 17) verwendet, die hierunter eine enge Artverwandtschaft zu den Forschungsmethoden Design-based Research, Development Research und Design Experiments verstehen. Den Begriff Educational Design Research wählten sie bewusst, um ihn deutlicher von Design-research-Methoden anderer Forschungsfelder abzugrenzen und um einer Verwechslung mit Research-informed Design vorzubeugen (ebd.).

5.2.2 Erscheinungsformen und Charakteristik

In der Regel werden zwei verschiedene Forschungszwecke von Educational Design Research unterschieden: Development Studies und Validation Studies.

Development Studies haben zum Ziel, eine evidenzbasierte Lösung für komplexe pädagogische Probleme zu entwickeln. Dabei stellen Erkenntnisse zu Charakteristika sowie zum Prozess der Gestaltung dieser Lösungen bzw. pädagogischen Interventionen ein weiteres Ziel dar (Plomp, 2013, S. 16). Validation Studies verfolgen hingegen das Ziel, eine Theorie zu entwickeln oder zu validieren. Hierzu werden pädagogische Interventionen entwickelt, die zur Entwicklung bzw. Validierung von Theorien führen (Plomp, 2013, S. 16).

Forschungsprojekte, die ihr Design an Educational Design Research anlehnen, können aber auch eine Kombination beider Ansätze darstellen. Werden im Rahmen von Development Studies bei der Entwicklung einer pädagogischen Intervention (externe) Theorien zu Grunde gelegt, können diese ebenfalls validiert werden (Plomp, 2013, S. 26).

Beide Erscheinungsformen haben den zyklischen Charakter gemein, der mehrere Iterationen des Designs hervorbringt, bis es eine Form erreicht, die das pädagogische Problem zufriedenstellend löst bzw. die zugrunde liegende Theorie validiert oder falsifiziert.

Van den Akker, Gravemeijker, McKenney und Nieven (2007, S. 5) fassen fünf wesentliche Charakteristika von Educational Design Research zusammen:

  1. 1.

    Interventionistisch: Die Forschung zielt darauf ab, eine Intervention in einem realen Umfeld zu entwickeln.

  2. 2.

    Iterativ: Die Forschung umfasst Zyklen von Design, Bewertung und Überarbeitung.

  3. 3.

    Prozessorientiert: Ein Black-Box-Modell der Input-Output-Messung wird vermieden; der Schwerpunkt liegt auf dem Verständnis und der Verbesserung von Interventionen.

  4. 4.

    Nutzungsorientiert: Der Nutzen eines Designs wird anhand seiner Praktikabilität in realen Kontexten gemessen.

  5. 5.

    Theorieorientiert: Das Design basiert (zumindest teilweise) auf Thesen und die Felderprobung trägt zur Theoriebildung bei.

Plomp (2013, S. 20) fügt ein sechstes Charakteristikum hinzu:

  1. 6.

    Einbindung von Anwender*innen: Die Forschung beinhaltet eine aktive Beteiligung oder Zusammenarbeit mit Anwender*innen in den verschiedenen Phasen und Aktivitäten der Forschung. Dies erhöht die Chance, dass die Intervention tatsächlich für den Bildungskontext relevant und praktikabel wird, was wiederum die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Umsetzung erhöht.

5.2.3 Abgrenzung zur Handlungsforschung

Die Anwendung zyklischer Forschungsprozesse unter Einbindung von Betroffenen ist aus der Handlungsforschung bekannt. Kurt Lewin führte den Begriff Action Research ein (1953, S. 280), der im deutschsprachigen Raum u. a. mit Tat-Forschung, Aktionsforschung oder Handlungsforschung übersetzt wird. In der Handlungsforschung stehen handlungstheoretische Überlegungen im Vordergrund: „Wie gehen PraktikerInnen mit ihren komplexen Berufsaufgaben um und wie können sie jene Kompetenzen erlernen, um diese Aufgaben in qualitätsvoller Weise zu bewältigen?“ (Altrichter, Aichner, Soukup-Altrichter & Welte, 2010, S. 804). Damit stellt sich die Handlungsforschung als partizipatorischer Ansatz dar, der darauf abzielt, die Ausgangssituation einer Gruppe zu verbessern. Hierbei wird ein liberalerer Zustand angestrebt, der mehr Selbstverwaltung zulässt (Greenwood & Levin, 1998, S. 8).

Typischerweise findet sie in der Fortbildung von Lehrkräften, der Schulentwicklung, der Entwicklung von Schulsystemen und der Didaktik Anwendung (Altrichter et al., 2010, S. 811–813). Sie soll Lehrpersonen dazu befähigen, „Probleme der Praxis selbst zu bewältigen, Innovationen durchzuführen und selbst zu überprüfen“ (Altrichter & Posch, 2007, S. 13).

Ein aktuelles Beispiel für den Einsatz von Handlungsforschung sind Literacy-Projekte, die beispielsweise im Rahmen der Entwicklungshilfe durchgeführt werden. Durch die Entwicklung von Curricula und die Ausbildung von Trainer*innen sollen sie die schriftsprachlichen Fähigkeiten von Jugendlichen und Erwachsenen fördern, um die gesellschaftliche und politische Teilhabe zu begünstigen (Alidou & Glanz, 2015).

Handlungsforschung ist deshalb von Educational Design Research zu unterscheiden, da sie primär darauf abzielt, die pädagogische Arbeit in einem spezifischen Praxisfeld zu verbessern. Educational Design Research hingegen verfolgt das Ziel, Designprinzipien (Design Principles) zu entwickeln, die in ähnlichen Praxisfeldern übernommen werden können (Plomp, 2013, S. 44).

5.2.4 Designprinzipien

Das Ziel von Educational Design Research besteht nicht nur darin, eine pädagogische Intervention zu konzipieren, sondern durch die Beantwortung einer Forschungsfrage substanzielles Wissen zu kreieren. Außerdem werden die gesammelten Erfahrungen zum Prozess der Entwicklung der Intervention aufgezeichnet. Beide Aspekte finden sich in den Designprinzipien wieder, deren Formulierung aus dem Forschungsprozess hervorgeht. Van der Akker (1999, S. 9) definiert Designprinzipien als heuristische Aussagen im Format „Wenn man Intervention X [für den Zweck oder die Funktion Y im Kontext Z] designen möchte, dann sollte man dieser Intervention die Charakteristik A, B und C geben und die Verfahren K, L und M anwenden, aufgrund der Argumente P, Q und R“. Das substanzielle Wissen findet sich in diesem Formatvorschlag in den Charakteristika A, B und C der Intervention wieder. Die Erfahrungen zum Entwicklungsprozess werden in den Verfahren K, L und M formuliert.

5.2.5 Phasen

Der Forschungsprozess nach Educational Design Research wird üblicherweise in drei Phasen unterteilt:

  1. 1.

    Vorbereitende Forschungsphase (Preliminary Research Phase)

  2. 2.

    Entwicklungs- oder Prototypingphase (Development or Prototyping Phase)

  3. 3.

    Abschließende Evaluierungsphase (Summative Evaluation Phase)

In der vorbereitenden Forschungsphase wird die Forschungsfrage konkretisiert, um die Lücke zwischen der aktuellen und der gewünschten Situation zu identifizieren. Dazu wird das pädagogische Problem durch Praxisanalyse und unter Berücksichtigung bisheriger Forschungsergebnisse formuliert. An dieser Stelle des Forschungsprozesses werden außerdem bereits bestehende Projekte in den Blick genommen, die ähnliche pädagogische Probleme adressieren (Nieveen & Folmer, 2013, S. 154).

Die Entwicklungsphase zeichnet sich durch die Entwicklung, Evaluierung und Überarbeitung von Prototypen aus. Designprinzipien und die pädagogische Intervention durchlaufen einen iterativen Prozess, der im Idealfall mit jedem Durchlauf zu einer Verbesserung des Endergebnisses führt (Nieveen & Folmer, 2013, S. 157). Während der Entwicklungsphase werden Daten typischerweise mithilfe formativer Evaluation gewonnen. Im Gegensatz zur Anwendung eines Pre- und eines Post-Tests werden regelmäßig Fragen zur Anwendung des Materials gestellt. Diese generieren solche Informationen, die im zyklischen Prozess zu einer neuen Iteration führen, und sollten daher im Forschungsdesign verankert sein (van den Akker, 1999, S. 10).

Die abschließende Evaluierungsphase tritt dann ein, wenn die pädagogische Intervention eine Form erreicht hat, die sich als praxistauglich erwiesen hat und das Potential birgt, sich in der Evaluation zu bewähren. Sie hat zum Ziel, die tatsächliche Wirksamkeit der Intervention zu belegen. Im Falle kleiner Projekte mit geringem Impact kann auf diese abschließende Evaluierungsphase verzichtet werden. Bei Projekten mit großem Impact, wie beispielsweise der Entwicklung eines neuen national anzuwendenden Curriculums, sollte eine gründliche Evaluierung stattfinden (Nieveen & Folmer, 2013, S. 155). Die Wahl der Forschungsmethode in der abschließenden Evaluierungsphase sollte laut Nieveen und Folmer (2013, S. 155) unter Berücksichtigung des zu erwartenden Impacts der pädagogischen Intervention getroffen werden, da Evaluierungen kostspielig und aufwändig sein können. Die größte Aussagekraft geht von (Quasi-)Experimenten aus (Nieveen & Folmer, 2013, S. 155). Allerdings ist es fraglich, ob auf die abschließende Evaluierungsphase und auf den Einsatz eines aufwändigen (Quasi-)Experiments verzichtet werden kann. Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking hebt die Bedeutung des Experiments hervor, indem er den Dreischritt wissenschaftlicher Aktivitäten formuliert: Auf eine Spekulation, die das gesammelte Hintergrundwissen und die Problemstellung zu einer These ausarbeitet, folgt eine Kalkulation, die in einem letzten Schritt, dem Experiment, validiert oder falsifiziert wird (Hacking, 1983, S. 212 ff.). In der vorliegenden Arbeit wird eine Kompatibilität zwischen den Anforderungen Hackings und der Forschungsmethode Educational Design Research hergestellt. Mit der Ausformulierung des pädagogischen Problems und der Entwicklung der Forschungsfrage in der ersten, vorbereitenden Forschungsphase entsteht eine deduktive Spekulation zu dem spezifischen Sachverhalt. Im Laufe der Entwicklungsphase werden Designprinzipien formuliert, die diese Spekulation induktiv verändern. In der abschließenden Evaluierungsphase wird eine Kalkulation aufgestellt und mit Hilfe eines Quasi-Experiments validiert.

5.3 Begründete Auswahl von Design und Methodik

Für das vorliegende Forschungsprojekt wurde als Forschungsdesign das Educational Design Research gewählt, um zu vermeiden, dass die Entwicklung eines alternativen Unterrichtsmaterials am grünen Tisch stattfindet. Der Einbezug der Anwender*innen soll die Qualität und Wirksamkeit des Materials gewährleisten und entspricht einer zeitgemäßen Vorstellung von Pädagogik, in der Lernende und Lehrende kooperativ und dialogisch miteinander agieren, also voneinander und aneinander lernen (vgl. Ruf & Gallin, 2014; Zimpel, 2012b). Da das Ziel in der Entwicklung eines Konzepts besteht, das nicht nur lokal, sondern für die beschriebene Zielgruppe auch andernorts von Interesse sein könnte, spielt die Nutzungsorientierung dabei eine besondere Rolle. Die Formulierung von gesammelten Erkenntnissen zum Prozess der Entwicklung des Materials als Designprinzipien könnte außerdem bei der Entwicklung anderer barrierefreier Lernmaterialien herangezogen werden.