Die Kraft der Fünf bezeichnet eine weitverbreitete Form der Mengendarstellung, die mentale Mengenbilder erzeugen und zur Fähigkeit, mit diesen geistig zu operieren, beitragen soll. Im Unterricht Lernender mit Simultandysgnosie entfaltet diese Darstellungsform nicht ihr volles Potential. Demnach bietet es sich an, eine alternative und barriereärmere Variante der Mengendarstellung zu entwickeln und im Unterricht einzusetzen.

4.1 Pluralisierung der Lernwege im mehrdimensionalen System Schule

Alternatives Lernmaterial im Unterricht einzusetzen, führt unweigerlich dazu, dass Teile des herkömmlichen Lernmaterials mangels Kompatibilität nicht verwendet werden können. Die Darstellungsweise der Kraft der Fünf findet in den Lehrwerken des mathematischen Anfangsunterrichts im deutschsprachigen Raum in verschiedensten Aufgabenformaten Verwendung. Würde für ausgewählte Schüler*innen eine alternative Darstellungsweise verwendet, könnten diese nicht in gleicher Weise und Regelmäßigkeit mit den Lernmaterialien arbeiten, mit denen ihre Mitschüler*innen lernen. Dies führt zu der Frage, ob der Einsatz von Sondermaterialien die Inklusion von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten erschwert.

Kerstin Ziemen (2017a, S. 108) entwickelte auf Grundlage von Forschungsergebnissen zu den Kompetenzen von Akteur*innen im schulischen Kontext (2013) mit Bezugnahme auf die Entwicklungslogische Didaktik (Feuser, 1995, 2011) das Modell der Mehrdimensionalen reflexiven Didaktik. Dieses Modell versteht Didaktik nicht nur als Begriff zur Bezeichnung der Auswahl des Lerngegenstandes und des Lernmaterials, sondern berücksichtigt darüberhinausgehend Strukturen, die zum Gelingen eines inklusiven Unterrichts beitragen. Es wurde als Grundlage einer Didaktik entwickelt, „die der Vielfalt und Differenz der Menschen offen gegenübersteht“ (Ziemen, 2018, S. 51). Den Begriff Reflexivität verwendet Ziemen (ebd., S. 91) im Sinne Wacquants, der diesen nicht nur in Bezug auf das Individuum, sondern auch auf das „soziale und intellektuelle Unbewusste“ anwendet (1996, S. 63). Ziemen wirbt für eine Didaktik, die sich die Reflexion zu eigen macht, um auf vorhandene Kompetenzen, Erkenntnisse und Informationen aufzubauen. Die Reflexion könne sich dabei „auf sich selbst beziehen (Selbstreflexion); auf Theorien und Erkenntnisse, z. B. humanwissenschaftliche Diskurse; auf den Menschen in seinem So-Sein und seine Grundbedürfnisse; auf gesellschaftliche, organisatorische, kulturelle, sprachliche Bedingungen; auf Normen und Werte; auf die Planung, Gestaltung und Evaluation von Unterricht; auf die Gestaltung des Möglichkeitsraum für Lernen und Entwicklung u. a. m.“ (Ziemen, 2018, S. 91).

Insgesamt arbeitet Ziemen fünf Dimensionen einer inklusiven Didaktik heraus, die in einem Zusammenhang der gegenseitigen Bezugnahme und Reflexion stehen (Ziemen, 2018, S. 9 f.) (Abbildung 4.1).

Abbildung 4.1
figure 1

Dimensionen der Mehrdimensionalen reflexiven Didaktik (Ziemen, 2018, S. 93)

Die erste Dimension umfasst makrostrukturelle Aspekte, die u. a. die Gestaltung des Systems Schule beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist die Behindertenrechtskonvention der UN, die die rechtliche Grundlage für einen inklusiven Unterricht darstellt. Die Rolle der Akteur*innen und die Kooperation bilden die zweite Dimension. Zur Umsetzung der inklusiven Idee müssen Verantwortungsbereiche definiert und Kooperationen geschaffen werden. Die dritte Dimension umfasst das pädagogische Team, dem eine besondere Bedeutung zukommt, weil es den Gesamtprozess gestaltet und reflektiert (ebd., S. 109). Darüber hinaus trägt es durch eine regelmäßige Selbstreflexion zum Gelingen des inklusiven Unterrichts bei. Die vierte Dimension des Modells behandelt das Verhältnis der Schüler*innen mit dem Lerngegenstand. Bei der Auswahl von Lerngegenständen sollten u. a. humanwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden (ebd., S. 111). Der konkrete Aufbau der Lernumgebung und die Auswahl didaktischer Konzepte sind in der fünften Dimension verortet.

Die Auswahl geeigneter Lernmaterialien stellt nur einen kleinen Teil der gesamtdidaktischen Bestrebungen im Lehrbetrieb dar: Die vorliegende Forschungsarbeit bezieht sich hauptsächlich auf die Dimensionen IV und V und soll Akteur*innen aus der Dimension III Hinweise und Werkzeuge für die didaktische Gestaltung des Unterrichts liefern. Sie bezieht sich konkret in der Berücksichtigung des Aufmerksamkeitsumfangs der Schüler*innen auf die Dimension IV. Als einen Teil dieser Dimension führt Ziemen die pädagogische Diagnostik an, die auf verfügbare Kompetenzen, Bedürfnisse und Interessen der Schüler*innen abziele (ebd., S. 114 f.). Neben weiteren Persönlichkeits- und Entwicklungsbereichen betont Ziemen die Berücksichtigung von Aufmerksamkeitsbesonderheiten (ebd., S. 19, 57, 117). Letztere ist in der Problemstellung dieser Arbeit immanent. Die vorliegende Forschungsarbeit nimmt weiterhin Bezug auf die Dimension V, die die didaktische Gestaltung des Unterrichts betrifft. Diese Dimension beinhaltet u. a. didaktische Konzepte, Methoden, Medien, Lehr- und Lernmaterialien sowie innere Differenzierungen (ebd., S. 124). Neben der Differenzierung nach Medien und Materialien, Arten der Präsentation und der Art und Weise der Unterstützung anderer (Ziemen, 2018, S. 124) wird in diesem Forschungsprojekt der Differenzierung nach Aneignungs- und Wahrnehmungsebene eine hohe Bedeutung beigemessen.

Das Modell der Mehrdimensionalen reflexiven Didaktik zeigt, dass die bloße Auswahl der Lernmaterialien allein die Herstellung eines inklusiven Unterrichts weder garantieren noch torpedieren kann. Zur Ermöglichung eines inklusiven Unterrichts müssen in allen Dimensionen spezifische Voraussetzungen geschaffen werden. Bietet bereits die Dimension I als Rahmenbedingung die Schulform Montessori-Schule, kann dies im Idealfall einen inklusiven wie individuellen Unterricht ermöglichen. Im idealerweise jahrgangsübergreifenden Unterricht an Montessori-Schulen wird mit unterschiedlichen Lernmaterialien gearbeitet, die verschiedene Entwicklungsniveaus und Interessen der Schüler*innen abdecken (Hammerer, 2004). In der Freiarbeit arbeiten Schüler*innen interessengeleitet in einer pädagogisch vorbereiteten Umgebung mit nach wissenschaftlichen Kriterien hergestelltem und ausgewähltem Lernmaterial – wahlweise in Gruppen oder allein. Die Lehrpersonen nehmen in der Freiarbeit eine zurückhaltende und begleitende Funktion ein. Die Freiarbeit bietet den Schüler*innen die Möglichkeit, eigene Lernwege zu bestreiten (Zimpel, 2012b, S. 84 f, 167). In der Freiarbeit in einer vorbereiteten Umgebung, die den o. g. Kriterien entspricht, arbeiten die Schüler*innen einer Lerngruppe zur selben Zeit an völlig unterschiedlichen Lernmaterialien. Dies ermöglicht einen gemeinsamen Unterricht, dem eine individuelle Förderung immanent ist und der damit eine Pluralisierung der Lernwege fördert.

Ist durch die Rahmenbedingungen der Schule ein individueller Unterricht möglich und wird dieser von den entscheidenden Akteur*innen als wünschenswert erachtet, können Freiarbeitsphasen eine diversifizierte Didaktik ermöglichen, in der es keine Ausnahme, sondern die Regel ist, wenn Schüler*innen an unterschiedlichen Materialien arbeiten.

4.2 Partizipation der Zielgruppe durch formative Evaluation

Das Prinzip der Kraft der Fünf wurde augenscheinlich in die Didaktik des mathematischen Anfangsunterrichts aufgenommen, ohne Lernende mit Simultandysgnosie zu berücksichtigen. Dies mochte dem Zeitgeist und dem Unwissen über Aufmerksamkeitsbesonderheiten geschuldet sein. Um die Eignung der im Rahmen dieses Forschungsprojekts entwickelten Alternative für Lernende einer Simultandysgnosie zu gewährleisten, sollten diese von Beginn an die Entwicklung begleiten: Prototypen sollten getestet und durch die Aufzeichnung von Lernfortschritten evaluiert werden.

Im Schulunterricht hat es sich bewährt, Lernende in die Reflexion der eigenen Lernfortschritte miteinzubeziehen: In seiner Metaanalyse von 736 Metaanalysen, die auf über 50.000 Studien mit den Daten von mindestens 80 Millionen Lernenden zurückgreift (Beywl & Zierer, 2013, S. XI), arbeitet Hattie die formative Evaluation als eine Variable heraus, die zum Schulerfolg beiträgt, und stellt sie 137 weiteren Faktoren gegenüber (2013, S. 215). Bei einer Effektstärke von d = 0,90 belegt sie Rang 3 der Einflussfaktoren für den Schulerfolg. Laut Hattie kann mithilfe der formativen Evaluation ergründet werden, ob die für die Lernenden gesetzten Lernintentionen erreicht werden, indem die Frage „Wie komme ich voran?“ gestellt wird. Die Antwort auf diese Frage würde dann das „Wohin geht es als Nächstes?“ für die Lernenden entscheiden (ebd.). Im Schulkontext hat sich die formative Evaluation demnach bewährt. Eine Forschungsmethode, die in der Regel ebenfalls auf die formative Evaluation zurückgreift, ist das Educational Design Research. Dort gilt die formative Evaluation als Schlüsselaktivität, da sie einen induktiven Ansatz zur Entwicklung von Lernprogrammen ermöglicht (van den Akker, 1999, S. 10; Fuchs & Fuchs, 1986, S. 200). Laut Maslowski und Visscher (1999, S. 141) eignet sich die formative Evaluation besonders für die Arbeit mit Prototypen, bei deren Entwicklung im Vorfeld noch nicht alle Bedingungen bekannt sind, die erfüllt sein sollten, um den Bedürfnissen der Lernenden und Lehrenden gerecht zu werden. Dazu würden vorläufige Versionen des Lernprogramms in Kooperation mit Schüler*innen und Lehrkräften evaluiert werden, um weitere Spezifikationen des Designs auszuarbeiten sowie den Nutzen und die Effektivität des Programms zu steigern (ebd.).

4.3 Problemstellung

Ein Missstand im mathematischen Anfangsunterricht an Schulen im deutschsprachigen Raum bildet den Forschungsanlass der vorliegenden Arbeit: Schüler*innen mit Trisomie 21 sowie andere Lernende mit Simultandysgnosie erhalten im mathematischen Anfangsunterricht Lernmaterialien, die auf der Kraft der Fünf basieren. Dass diese Form der Fünferbündelung ihre ursprüngliche Intention und damit ihren Zweck bei Lernenden mit Simultandysgnosie nicht erfüllt, ist vielen Pädagog*innen gewiss nicht bewusst oder wird von ihnen aufgrund mangelnder Alternativen in Kauf genommen.

Das vorliegende Forschungsprojekt hat zum Ziel, ein Lernmaterial zu entwickeln, das eine Form der Mengendarstellung aufweist, die den Intentionen der Fünferbündelung gerecht wird, im Gegensatz zu dieser aber für Lernende mit Simultandysgnosie geeignet ist. Als Alternative zum Zehner- und Zwanzigerfeld soll es die Möglichkeit zur Darstellung von Anzahlen und Rechenoperationen sowie zur Entwicklung mentaler Bilder berücksichtigen, damit es sich zum Kopfrechnenlernen eignet.