Die Studienlage und die Untersuchungen zur Zahlbegriffsentwicklung zeigen, dass Personen mit Trisomie 21 gehäuft mathematische Lernschwierigkeiten aufweisen. Unbeantwortet bleibt die Frage, worin diese Lernschwierigkeiten begründet liegen. Angesichts des Verständnisses von Neurodiversität wäre die Begründung, eine Trisomie 21 würde regelmäßig mit einer Beeinträchtigung aller kognitiven Prozesse einhergehen, zu kurz gefasst.

Im folgenden Kapitel soll die Frage behandelt werden, warum eine Simultandysgnosie zu mathematischen Lernschwierigkeiten führen kann. Zu diesem Zweck werden Modelle, die das numerische Denken im menschlichen Gehirn verorten, vorgestellt und Forschungsergebnisse zu den Ursprüngen von Dyskalkulien rezipiert.

Im Anschluss wird ein im deutschsprachigen Raum weitverbreitetes Darstellungsmittel von Mengen, die Kraft der Fünf, vorgestellt. Die didaktische Wirkungsweise der Kraft der Fünf wird unter Berücksichtigung der Forschungslage zur Dyskalkulie diskutiert.

3.1 Simultanerfassung als neuronaler Prozess

Neben den kognitiven Voraussetzungen für den Umgang mit Zahlen und der Zahlbegriffsentwicklung, die initial und bis heute bedeutend von Piaget beforscht wurde (vgl. Unterkapitel 2.2.2.1), stehen die neuronalen Prozesse in der Verarbeitung von Zahlen, Mengen und mathematischen Berechnungen ebenfalls im Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Mit dem Anspruch, kognitive Prozesse des Zählens, Rechnens und weiteren Formen des mathematischen Handelns im Gehirn zu verorten, entstanden zahlreiche Modelle, die insbesondere im Fall des Modells von Deheane (1992) kontrovers diskutiert, korrigiert und erweitert wurden. Die Fähigkeit der Simultanerfassung spielt in den Theorien zur Zahlenverarbeitung häufig eine prominente Rolle und wird direkt mit der Fähigkeit zum Umgang mit Zahlen in einen Zusammenhang gebracht. Gallistel und Gelman (1992) zeigen, dass die Simultanerfassung als Form der Mengenbestimmung selbst Tieren möglich ist. Sie stellen auf Grundlage von Studienergebnissen zu diesen präverbalen Zählmechanismen von Tieren einen Zusammenhang zwischen präverbalen numerischen Kompetenzen und der Zahlbegriffsentwicklung her. Ihre Bidirectional Mapping Hypothesis besagt, dass beim Zählenlernen eine Verknüpfung der präverbalen Mengenvorstellung eines Menschen und den Zahlwörtern stattfindet (ebd., S. 55). Ihrer Einschätzung nach wird diese Verknüpfung bei der Simultanerfassung deutlich, in der nach der Erfassung einer Menge, ohne diese aktiv zählen zu müssen, das entsprechende Zahlwort sofort genannt werden kann (ebd., S. 58).

Stanislas Dehaene (1992) stellte zeitgleich zur Publikation der Überlegungen von Gallistel und Gelman das Triple-Code-Modell vor. Laut diesem Modell verteilt sich die Verarbeitung mathematischer Inhalte in drei separate Komponente, sog. Codes:

  1. 1.

    Visuell-arabischer Zahlencode: Beinhaltet das Lesen und Schreiben arabischer Zahlen. Dieses System ermöglicht u. a. Operationen mit mehrstelligen Zahlen und die Unterscheidung von geraden und ungeraden Zahlen.

  2. 2.

    Verbal-phonologischer Zahlencode: Universelle Module der Sprachverarbeitung, die schriftliche und auditive Eindrücke verarbeiten sowie schriftliche und gesprochene Ausgaben ermöglichen. Sie befähigen u. a. zur Beantwortung auswendig gelernter Additions- und Multiplikationsaufgaben.

  3. 3.

    Analoge Größenrepräsentation: Präverbales System des arithmetischen Denkens, das die Simultanerfassung, das Schätzen und mentale Zahlenvorstellungen beinhaltet. Es ermöglicht u. a. Vergleiche und ungefähres Rechnen.

    (Dehaene, 1992, S. 31; Landerl, 2020)

Diese Codes stehen im Austausch miteinander: So kann beispielsweise eine Übersetzung von verbal-phonologischen zu visuell-arabischen Zahlen stattfinden oder auf Grundlage einer arabischen Zahl auf eine Mengenvorstellung geschlossen werden (Dehaene, 1992, S. 32). Dehaene betont allerdings, dass das Ideal eines einheitlichen Zahlbegriffs, das von Piaget (1975) und Frege (1987) postuliert wurde, zugunsten dieses modularen Konzepts verworfen werden müsse (Dehaene, 1992, S. 34). Das Modul der analogen Größenrepräsentation, das die Simultanerfassung ermöglicht, bezeichnet Dehaene in Anlehnung an Dantzig als Number Sense bzw. Zahlensinn (Dantzig, 2005; Dehaene, 2011).

Gemeinsam mit Cohen nimmt Dehaene (1995) eine Verortung des Triple-Code-Modells im menschlichen Gehirn vor. Demnach wird die analoge Größenrepräsentation in beiden Hemisphären im parietalen Kortex verortet; der verbal-phonologische Zahlencode in der sylvischen Furche der linken Großhirnrinde und der visuell-arabische Zahlencode bilateral im Gyrus fusiformis (Dehaene & Cohen, 1995, S. 88 f.; Landerl, 2020).

Das funktionalanatomische Triple-Code-Modell zur Zahlverarbeitung gilt bis heute als Standard und ist Gegenstand aktueller Forschung, die zu dessen Präzisierung und Weiterentwicklung führte (Dehaene, 2011, S. 237; Nuerk, Klein & Willmes, 2013, S. 444). Beispielsweise wurde das Modell um die Vorstellung eines Zahlenstrahls erweitert, der in beiden Hemisphären im superior parietalen Bereich lokalisiert ist (Dehaene, Piazza, Pinel & Cohen, 2003, S. 501; Nuerk et al., 2013, S. 444).

Auch Butterworths Modell des mathematical brains (1999, S. 8) ist modular aufgebaut: Das Number Module, das den Zahlensinn bzw. die Fähigkeit der Simultanerfassung beinhaltet, bildet in diesem Modell das Zentrum allen mathematischen Denkens: Als Kern der numerischen Fähigkeiten verarbeitet es die Anzahlen bis 4 oder 5. Um über die Anzahl 5 hinaus zu gehen, muss indes auf konzeptionelle Werkzeuge zurückgegriffen werden, die kulturell entwickelt wurden und zur Verfügung gestellt werden. Butterworth bezieht sich dabei auf die Forschungsergebnisse von Wynn (1992), die den Zahlensinn bereits bei fünf Monate alten Säuglingen nachweisen konnte.

Bei Prüfungen zur Reproduktion und Spezifizierung solcher neurokognitiven Modelle zur Zahlverarbeitung wurde unter Zuhilfenahme bildgebender Verfahren (u. a. Positronen-Emissions-Tomographie und Funktionelle Magnetresonanztomographie) vermehrt versucht, eine Lokalisation des Zahlensinns bzw. der Simultanerfassung vorzunehmen. Piazza, Mechelly, Butterworth et al. (2002, S. 444) kamen zu dem Ergebnis, dass für die Simultanerfassung und das Zählen keine trennbaren neuronalen Systeme identifiziert werden können. Allerdings identifizierten sie ein Aktivitätenmuster, das beim Zählen von Mengen im Bereich 6 bis 9 deutlich aktiver ist als bei der Erfassung von bis zu vier Einheiten.

Kaufmann, Wood, Rubinsten et al. (2011) versuchten in einer Metastudie, eine einheitliche Lokalisation abstrakter Zahlenvorstellungen bei Kindern vorzunehmen. Sie stellten grundsätzliche Unterschiede zwischen entwickelten und sich entwickelnden Gehirnen fest und konnten keine eindeutige Verortung der analogen Größenrepräsentation identifizieren (ebd., S. 783 f.).

Eine Einigung auf eine eindeutige Lokalisierung der Simultanerfassung zwischen den Wissenschaftler*innen, die dieses Gebiet beforschen, steht bisher aus. Dennoch wird die Bedeutung der Simultanerfassung als wesentlicher Teil der präverbalen numerischen Fähigkeiten des Menschen deutlich.

3.2 Simultanerfassung als Ursache einer Dyskalkulie

Die o. g. Forschungsarbeiten zeugen von der Bedeutung abstrakter Zahlenrepräsentationen für das mathematische Denken. Es stellt sich die Frage, ob eine veränderte Simultanerfassung, beispielsweise im Zusammenhang mit einer Simultandysgnosie, zu einer Dyskalkulie führen kann.

Der Begriff Dyskalkulie bezeichnet eine Rechenschwäche, die in Form einer isolierten Teilleistungsstörung auftreten, aber auch ein Begleitsymptom neuronaler Besonderheiten darstellen kann. Da unterschiedliche Ursachen zu einer Dyskalkulie führen können, handelt es sich nicht um ein homogenes Syndrom (Kaufmann, Handl, Margarete & Pixner, 2013, S. 231).

Laut Butterworth (2005, S. 455) liegt die Prävalenz (Verbreitung in der Bevölkerung) einer Dyskalkulie schätzungsweise zwischen 3,6 und 6,5 %. Er erklärt, dass die Gründe des Auftretens und die spezifischen Merkmale einer Dyskalkulie in der Wissenschaft kontrovers diskutiert würden. Einigkeit würde indes dahingehend bestehen, dass Kinder mit Dyskalkulie Schwierigkeiten hätten, arithmetische Fakten zu lernen und zu erinnern (ebd., S. 458). Ergebnisse neuerer Forschungen würden außerdem nahelegen, dass das Number Module seines Modells, also der Zahlensinn, ebenfalls eine erhebliche Rolle für das Auftreten von Rechenschwierigkeiten spiele (ebd., S. 460).

Kaufmann et al. (2013, S. 232) bestätigen diese Beobachtung und postulieren, dass im Wesentlichen zwei Formen der Dyskalkulie unterschieden werden sollten:

  1. 1.

    Schwierigkeiten hinsichtlich der Zahlenverarbeitung im engeren Sinne

  2. 2.

    Schwierigkeiten in der Durchführung von Rechenoperationen

Dabei handelt es sich gleichwohl nicht um einen wissenschaftlichen Konsens. Landerl, Bevan und Butterworth (2004, S. 102 f.) stellen die Studienlage zu den Ursprüngen einer Dyskalkulie dar und zeigen, dass diese teils widersprüchliche Befunde liefert. Sie erkennen allerdings die Tendenz, dass allgemeine Schwierigkeiten bei der grundlegenden Zahlenverarbeitung ein Merkmal von Dyskalkulie sein können. In ihren Untersuchungen gingen sie der Frage nach, ob die Ursache einer Dyskalkulie mit einer Funktionsstörung des Number Modules zusammenhängt (ebd., S. 106). Da auch bei einer Dyslexie (Leseschwäche) Verarbeitungsbesonderheiten vorliegen können, unterschieden sie Teilnehmende, bei denen eine Dyskalkulie vorlag, von solchen, bei denen eine Dyslexie oder eine Kombination beider Entwicklungsstörungen vorlag. Untersucht wurden zehn Schüler*innen mit Dyslexie, zehn Schüler*innen mit Dyskalkulie und elf Schüler*innen, bei denen beide Entwicklungsstörungen diagnostiziert worden waren. Das Durchschnittsalter der Gruppen lag zwischen 8;8 und 9;2 Jahren, im Intelligenztest Coloured Progressive Matrices (CPM) erhielten sie jeweils zwischen 27 und 29,7 Rohwert-Punkte (ebd., S. 110). Im Rahmen dieser Untersuchung wurden mehrere Experimente durchgeführt, die das Benennen, Schreiben und Vergleichen von Zahlen sowie das Zählen abfragten. In einem Experiment wurden den Untersuchungspersonen zufällige Punktmuster gezeigt. Die Teilnehmenden wurden darum gebeten, schnellstmöglich die dargestellte Anzahl zu benennen. Ihre Reaktionszeit wurde durch Sprachsteuerung, etwaige Fehler wurden durch die/den Versuchsleiter*in aufgezeichnet (ebd., S. 113). In den Zahlenräumen 1 bis 3 und 4 bis 10 benötigten die Versuchspersonen mit Dyskalkulie oder einer Kombination aus Dyskalkulie und Dyslexie mehr Zeit zur Benennung der Mengen als die Kontrollgruppe oder die Versuchsgruppe mit Dyslexie. Eine (marginale) Signifikanz lag allerdings nur für den Zahlenbereich 4 bis 10 vor (ebd., S. 120).

Fischer, Gebhardt und Hartnegg (2008) führten eine Studie mit 375 Untersuchungspersonen im Alter von sieben bis 17 Jahren durch, die mindestens einen IQ von 80 aufwiesen. 156 dieser Untersuchungspersonen zeigten eine Rechenschwäche und bildeten die Versuchsgruppe. Den Untersuchungspersonen wurde auf einem kleinen LC-Display in einem Raster von 4 × 4 Einheiten für 100 ms ein Punktmuster gezeigt. Die Untersuchungspersonen waren angehalten, schnellstmöglich die Anzahl der Punkte (1 bis 8) über ein Tastenfeld einzugeben (Fischer et al., 2008, S. 25 f.). Im Vergleich zur Kontrollgruppe unterliefen den Untersuchungspersonen der Versuchsgruppe häufiger Fehler bei gleichzeitig längerer Antwortzeit (ebd., S. 26 f.). Fischer et al. gehen davon aus, dass Kinder mit diagnostizierter Dyskalkulie in 40 bis 79 % der Fälle Schwierigkeiten bei der Simultanerfassung und dem Zählen aufweisen (ebd., S. 28).

Auch Moeller, Neuburger, Kaufmann et al. (2009) beschäftigten sich mit der Frage, ob eine Dyskalkulie mit einem Defizit in der Fähigkeit der Simultanerfassung zurückzuführen ist. Hierzu führten sie ein Quasi-Experiment mit zwei Untersuchungspersonen im Alter von 10;7 und 10;10 Jahren mit Dyskalkulie und einer Kontrollgruppe, bestehend aus acht Kindern ohne Dyskalkulie im gleichen Alter, durch. Mit jeder Untersuchungsperson wurde einzeln ein Versuch durchgeführt, bei dem die Blickpunkte, sog. Fixationen, durch ein Eye-Tracking-Verfahren aufgezeichnet wurden. Der Untersuchungsperson wurde auf einem Bildschirm jeweils ein Punktmuster präsentiert. Ihre Aufgabe bestand nun darin, so schnell wie möglich die Anzahl der Punkte zu benennen und mit dem Drücken einer Taste das Bild wieder auszublenden (ebd., S. 375 f.).

Die erste Untersuchungsperson der Versuchsgruppe zeigte bei den Anzahlen 1 bis 3 deutlich mehr Fixationen als die Kontrollgruppe. Mit steigender Anzahl der Punkte erhöhte sich allerdings nicht die Anzahl der Fixationen, sondern vielmehr die Blickdauer. Die zweite Untersuchungsperson der Versuchsgruppe zeigte bei den Anzahlen 1 bis 3 ebenfalls deutlich mehr Fixationen als die Kontrollgruppe. In ihrem Fall steigerte sich die Anzahl der Fixationen bei steigender Anzahl der Punkte im Punktmuster (ebd., S. 378 ff.). Die Forschenden schließen daraus, dass die beiden Untersuchungspersonen in der Simultanerfassung beeinträchtigt sind und deshalb bereits bei kleinen Anzahlen das Zählen als Back-Up-Strategie einsetzen (ebd., S. 380).

Schleifer und Landerl (2011) führten eine Studie mit 52 Schüler*innen durch, die unter den Bedingungen einer Dyskalkulie leben und die Klassenstufen 2 bis 4 besuchten. Die Kontrollgruppe bildeten 52 Schüler*innen im gleichen Alter ohne diagnostizierte Entwicklungsstörung, die mithilfe standardisierter Intelligenztestverfahren gematcht wurden (Schleifer & Landerl, 2011, S. 285). Den Untersuchungspersonen wurden im Einzelexperiment Punktmuster in Zufallsanordnung gezeigt. Ihre Aufgabe bestand darin, schnellstmöglich eine Taste zu drücken und die Anzahl der Punkte (1 bis 8) zu benennen. Nach Tastendruck verschwanden die Punkte und ein Störbild wurde eingeblendet (ebd., S. 286). In allen Klassenstufen gelang der Kontrollgruppe die Benennung der Anzahl schneller als der jeweiligen Versuchsgruppe. Im Zahlenbereich 1 bis 3 sind diese Unterschiede signifikant, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Untersuchungspersonen mit Dyskalkulie lediglich die Mengen 1 und 2 simultan erfassen können (ebd., S. 287 f.).

Die Gesamtheit der o. g. Studien lässt erkennen, dass sich unter den Personen mit einer Dyskalkulie auch solche befinden, die eine verminderte Fähigkeit der Simultanerfassung aufweisen. Eine Simultandysgnosie ist demnach kein Effekt, der lediglich bei Personen mit Trisomie 21 auftritt. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich insbesondere unter Schüler*innen mit Dyskalkulie ein Anteil mit Simultandysgnosie befindet. Welche Konsequenzen sich daraus für den Erwerb numerischer Fähigkeiten und für die Pädagogik ergeben, wird im folgenden Abschnitt behandelt.

3.3 Die Kraft der Fünf

Der mathematische Anfangsunterricht im deutschsprachigen Raum ist von einer Mengendarstellung geprägt, die auf einer Bündelung von fünf Einheiten basiert. Sie wird als Kraft der Fünf bezeichnet und findet sich in der überwiegenden Zahl der Lehrwerke wieder. Die Kraft der Fünf liegt darin, dass eine Fünferbündelung von Mengen für die meisten Menschen die Übersichtlichkeit erhöht und dass das Kopfrechnen mit abstrakten Mengen ermöglicht wird.

Das folgende Unterkapitel behandelt die Geschichte und die Vorteile von Fünferbündelungen. Die Verbreitung der Kraft der Fünf im mathematischen Anfangsunterricht wird anhand ausgewählter Beispiele illustriert und die Theorie, die ihr zugrunde liegt, wird wiedergegeben. Zuletzt wird die Eignung der Kraft der Fünf für Personen mit Simultandysgnosie in Frage gestellt wird und die Problemstellung dieser Arbeit formuliert.

3.3.1 Fünferbündelungen in der Geschichte der Zahl

Die Fünferbündelung ist von Strichlisten aus dem Alltag bekannt: Während die ersten vier Striche noch parallel aneinandergereiht werden, wird der fünfte Strich diagonal über die vier Senkrechten geschrieben. Auch in einem beträchtlichen Teil der antiken Kulturen wurden die Zahlen ab 5 anders dargestellt als die Zahlen zuvor. Ifrah (2010, S. 170 f.) stellte in einem umfassenden Nachschlagewerk zur Geschichte der Zahl antike Zahlensysteme zusammen und zeigt in diesem Zusammenhang, dass im Falle der antiken Zahlensysteme der Ägypter, Kreter, Hethiter und Inder einzelne Ziffern, die Einsen darstellen, aneinandergereiht und ab der Zahl 5 gebündelt werden (Abbildung 3.1)

Abbildung 3.1
figure 1

Antike Zahldarstellungen der Ägypter, Kreter, Hethiter und Inder (vgl. Ifrah, 2010, S. 172)

Neben bloßer Bündelung kann auch mithilfe von Superzeichen (vgl. Unterkapitel 2.7.4) die Kraft der Fünf genutzt werden. Die Zahlensysteme aus dem antiken Griechenland, Südarabien, Kleinasien oder der Maya haben gemein, dass auf eine Aneinanderreihung von fünf Einsen verzichtet und stattdessen ein Superzeichen verwendet wird (Ifrah, 2010, S. 171 f.). Im Punkt-Balken-System der Maya, das ab dem fünften Jahrhundert v. Chr. in Mittelamerika für die Darstellung der Zahlen 1 bis 19 verwendet wurde, wird die 1 beispielsweise durch einen Punkt dargestellt. Die Darstellung der Zahlen 2 bis 4 erfolgt durch eine Aneinanderreihung dieses Zeichens. Die 5 wird entgegen dieser Systematik allerdings nicht durch fünf Punkte, sondern durch einen Balken dargestellt (Cauty, 2006, S. 17) (Abbildung 3.2).

Abbildung 3.2
figure 2

Die Zahlen 1 bis 10 des Punkt-Balken-Systems der Maya (Cauty, 2006, S. 17)

Dass ausgerechnet bei der Zahl 5 eine Bündelung erfolgt oder anstelle fünf gleicher Ziffern ein Superzeichen verwendet wird, liegt mutmaßlich in der Tatsache begründet, dass die meisten Menschen fünf Finger an einer Hand haben. Darüber hinaus wirkt sich diese Darstellungsform aber auch entlastend auf die Aufmerksamkeit aus: Anzahlen wie III oder IIII lassen sich für viele Menschen auf dem ersten Blick simultan erfassen. Anzahlen wie IIIIII oder IIIII können die meisten Menschen hingegen nur durch Nachzählen voneinander unterscheiden, da die Aneinanderreihung von fünf oder sechs Zeichen zu einer größeren Gestalt verschwimmt (Zimpel, 2012a, S. 33 ff.). In Darstellungen wie III-III oder 6 können die Anzahlen ad hoc identifiziert werden, weil Bündelungen und Superzeichen unterstützend wirken. Sie beugen einer Überforderung der Aufmerksamkeit vor und ermöglichen die Simultanerfassung.

3.3.2 Die Kraft der Fünf im mathematischen Anfangsunterricht

Im Folgenden wird der fachdidaktische Einsatz von Fünferbündelungen im mathematischen Anfangsunterricht behandelt. Nach einer Beschreibung des Aufkommens der Kraft der Fünf in Lernmaterialien werden verschiedene Funktionen dieser Bündelungsform beleuchtet. Die Kraft der Fünf wird in der Veranschaulichung von Mengen verwendet, zur Verdeutlichung von Zahlzerlegungen und zur Anregung der Entwicklung mentaler Mengenbilder. Zuletzt wird das Konzept des Blitzrechnens illustriert. Das Konzept der Kraft der Fünf und die Möglichkeiten der Arbeit mit Lernmaterialen, die darauf basieren, können gewiss nicht erschöpfend behandelt werden. Stattdessen werden die für die Problemstellung dieser Arbeit relevanten Aspekte des Themas ausgearbeitet.

3.3.2.1 Lernmaterialien mit Fünferbündelung

Im mathematischen Anfangsunterricht an deutschsprachigen Schulen ist die Fünferbündelung allgegenwärtig. Selbst an Schulen, die nicht mit Lehrwerken arbeiten, die auf Mengendarstellungen durch Fünferbündelung aufbauen, finden sich erfahrungsgemäß Abaki, also Rechenrahmen, die zur erleichterten Handhabung pro Reihe jeweils fünf blaue und fünf rote Perlen aufweisen. In Abbildung 3.3 wird die Zahl 428 mit Hilfe eines Abakus dargestellt.

Abbildung 3.3
figure 3

Rechenrahmen, der die Zahl 428 zeigt. Hersteller: Gollnest & Kiesel

Der Abakus ermöglicht Rechenoperationen, die über die eigenen Kopfrechenmöglichkeiten hinausgehen. Dazu können den verschiedenen Reihen von unten nach oben Stellenwerte zugeordnet werden. Die untere Reihe kann z. B. für die Einer, die nächste für den Zehner und die dritte Reihe von unten für den Hunderter stehen. Um Zahlen darzustellen, wird die entsprechende Anzahl an Perlen nach rechts verschoben. In diesem Beispiel stehen vier Perlen im Hunderter, zwei im Zehner und acht im Einer. Die vier Perlen im Hunderter können simultan erfasst werden. Ebenso verhält es sich mit den zwei Perlen im Zehner. Die Perlen des Einers können quasi-simultan und damit ebenfalls auf einen Blick erfasst werden: Eine vollständige Reihe blauer Perlen stellt den Wert 5 dar, die drei weiteren roten Perlen werden simultan verarbeitet und können dazu addiert werden.

Auch in den Lehrwerken, Arbeitsheften und Lern-Apps des mathematischen Anfangsunterrichts wird die Fünferbündelung häufig eingesetzt. Im Rahmen seiner Bachelorarbeit an der Universität Hamburg beschäftigte sich der Student Matthias Heine (2015) mit den Lernmitteln im Mathematikunterricht des ersten Schuljahres an Regel- und Förderschulen in Deutschland. Dabei konzentrierte er sich auf Bundesländer, die die Arbeit mit bestimmten Lehrwerken vorgeben. Er fand heraus, dass alle gesichteten Schulbücher und Rechenhefte zur Veranschaulichung von Mengen die Fünferbündelung und das sog. Zwanzigerfeld nutzen (Heine, 2015, S. 34). Die Fünferbündelung findet sich in konventionellen Lehrwerken zum mathematischen Anfangsunterricht, aber auch in solchen, die sich als inklusiv bezeichnen (eine Ausnahme bildet beispielsweise Raab, 2016). Abbildung 3.4 zeigt die Mengendarstellung der Zahl 8 im Arbeitsheft Mathematik 1/2 – Zahlenraum bis 10 der Reihe Klick! inklusiv des Cornelsen-Verlags.

Abbildung 3.4
figure 4

Mengendarstellungen zur Zahl 8 (Weisse, Burkhart & Franz, 2019, S. 40)

Die Zahl 8 wird mithilfe eines Zehnerfeldes dargestellt, das aus zehn Kreisen in einer Reihe, unterbrochen durch eine Lücke, besteht. Acht dieser Kreise sind rot dargestellt, zwei weiß. Daneben wird die Zahl 8 durch zwei Würfel dargestellt, die die Würfelbilder 5 und 3 zeigen, durch zwei Hände, die jeweils fünf und drei Finger zeigen, und durch Striche, die im zuvor beschriebenen Format einer Strichliste angeordnet sind. Diese vier Darstellungsweisen der Zahlen finden in diesem Arbeitsheft für alle Zahlen Anwendung. Lediglich die Darstellung der Zahl 6 durch Würfelbilder variiert: Während sie bei der Einführung der Zahl als Würfelbild 6 dargestellt wird (Weisse et al., 2019, S. 20), wird sie in einer Übersicht auf der Innenseite des Rückdeckels mithilfe zweier Würfel dargestellt, die die Würfelbilder 5 und 1 zeigen.

In den Lehrwerken, die sich vornehmlich an Schüler*innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu richten scheinen, wird das Zehnerfeld in der Regel frühzeitig vom Zwanzigerfeld abgelöst. Abbildung 3.5 enthält eine Beispielaufgabe im Arbeitsheft zum Zahlenbuch 1 (Wittmann & Müller, 2012), in der die vorgegebenen roten Kreise gezählt werden sollen und die angegebene Anzahl als blaue Kreise hinzugemalt werden soll. Im Anschluss soll die Summe der Kreise eingetragen werden.

Abbildung 3.5
figure 5

Vorausgefüllte Beispielaufgabe zur Addition im Zwanzigerfeld (Wittmann & Müller, 2012, S. 26)

Die Kreise im Zwanzigerfeld werden als Plättchen bezeichnet, weil das Zwanzigerfeld nicht nur in Abbildungen, sondern auch in Form eines analogen Lernmaterials verwendet wird. Dabei werden Wendeplättchen, die auf einer Seite rot, auf der anderen blau sind, auf einen Ausdruck des (leeren) Zwanzigerfeldes gelegt (Wittmann & Müller, 2019, S. 49 f.). Im Beispiel in Abbildung 3.5 wird die Fünferbündelung durch einen größeren Zeilenabstand und einen größeren Abstand zwischen dem fünften und sechsten Wendeplättchen (bei Zählweise von links oben nach rechts unten) erzielt.

Das Zwanzigerfeld ist auch aus Holz oder als App verfügbar. In der App Zwanzigerfeld für iPad können Mengen von 0 bis 20 sowie Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum 20 dargestellt werden (Abbildung 3.6)

Abbildung 3.6
figure 6

Screenshot der App Zwanzigerfeld für iPad (Urff, 2017)

In diesem Beispiel wird die Fünferbündelung durch einen Rahmen um jeweils fünf virtuelle Wendeplättchen erzielt.

Um Mengen in den Zahlenräumen 100 und 1000 darzustellen, können Hunderterfelder oder Tausenderbücher verwendet werden (Krauthausen, 2018, S. 327). Diese werden ebenfalls mit Fünferbündelungen angeboten. Abbildung 3.7 enthält ein Hunderterfeld, das in den Lehrwerken von Wittmann und Müller Verwendung findet und u. a. zum „produktiven Üben“ des Einmaleins verwendet wird (Wittmann & Müller, 2008, S. 59).

Abbildung 3.7
figure 7

Hunderterfeld mit Fünferbündelung (Wittmann & Müller, 2019, S. 146)

Die Fünferbündelung erfolgt in diesem Beispiel subtiler: Es besteht kein größerer Abstand zwischen den Plättchen – weder auf Zeilen- noch auf Spaltenebene. Die Linie nach jeweils fünf Spalten und fünf Zeilen ist allerdings stärker hervorgehoben.

Tausenderbücher bestehen aus zehn Hunderterfeldern, die als Leporello aneinandergefügt sind. Auf der einen Seite des Leporellos befinden sich gedruckte Ziffern, auf der anderen Plättchen mit Fünferbündelung. Im folgenden Beispiel erfolgt die Fünferbündelung durch eine gestrichelte Linie und einen deutlichen Abstand nach jeweils fünf waagerechten und fünf senkrechten Punkten (Abbildung 3.8).

Abbildung 3.8
figure 8

Zwei teilweise entfaltete Tausenderbücher (Wittmann & Müller, 1997)

3.3.2.2 Mengen veranschaulichen

Zur Verbreitung der Fünferbündelung im Volksschulunterricht der 1920er-Jahre im deutschsprachigen Raum hat der Reformpädagoge Johannes Kühnel beigetragen. In Vorträgen und Publikationen machte er seinen Neubau des Rechenunterrichts bekannt und vertrieb Lernmaterial, das Mengen bis zu 10.000 unter Zuhilfenahme der Fünferbündelung veranschaulichte (Kühnel, 1922). Kühnel begründet die Entwicklung seines Lehrwerkes vielfach mit eigenen Lehrerfahrungen und buchstäblicher anekdotischer Evidenz. So berichtete er über einen Dialog mit seinem Neffen, der die dritte Klasse besuchte:

Der Knabe hat also keinen Schimmer vom System, obwohl er das Einmaleins hat lernen müssen. Nun versuche ich es anders:

Ich kann die Augen zumachen, und kann dann 4 Kaffeetassen sehen (weil solche auf dem Tische standen), kannst du das auch? (lachend:) Nein! Versuche es doch! Er kneift die Augen zu, es dauert eine ganze Weile dann ruft er erfreut und erstaunt: Ja, ich bring’s auch, an einer steht Marie, an der anderen Elisabeth . . . Oder kannst du jetzt mit zuen (geschlossenen) Augen 4 Pferde sehen? (Abwesende Dinge!) Er kneift wieder stark zu. Nach einer Weile: Jetzt sehe ich ein, nun noch eins, noch eins, noch eins! Sag‘ mal, sind deine Pferde angespannt? (Ich will möglichste Klarheit der Vorstellung erzwingen.) Nein! Spanne sie doch vor den Wagen! Erst sehe ich da zwei und davor noch zwei. Kannst du dir die Kaffeetassen auch so vorstellen? (Der Wechsel zu dem vorherigen Bild soll die Anordnung zum Bewußtsein bringen.) Verwundert fragt er: egale? Ja freilich, sage ich. Ach, ich denke, sie sollen verschieden sein. Also 4 egale Kaffeetassen! Ja, jetzt geht es. Zeige einmal, wo sie stehen! Hier eine, hier eine, hier eine, hier eine. In einer Reihe? Ja. Stelle sie doch einmal hübsch zusammen, daß sie auf ein kleines Tablett gehen! Es dauert immer eine Weile, bis das Bild vor die geschlossenen Augen tritt, dann sagt er: Hier zwei und da zwei. So, nun versuche es einmal mit 6 Kaffeetassen! Das gelingt. Auch mit 8 noch. Da beschreibt er: Erst 4 beieinander, dann noch 4. (Kühnel, 1922, S. 13)

Kühnel motivierte seinen Neffen dazu, gedanklich mit Viererbündeln zu arbeiten. Dieses Beispiel zeigt, dass Kühnel bereits von der Fähigkeit zur simultanen Verarbeitung von vier Chunks ausging. Der Pferdewagen mit vier angespannten Pferden und das Tablett, auf dem jeweils vier Tassen stehen, sind Superzeichen. Sie ermöglichen, sich auch sechs oder acht zählbare Elemente vorzustellen. Um Schüler*innen bei der Erschließung des Dezimalsystems zu unterstützen, schlägt Kühnel allerdings die Arbeit mit „Zahlbildern“ vor. Diese bauen auf der Mengendarstellung nach Born auf, die dem Wesen des Zwanzigerfeldes bereits sehr nahe war (Kühnel, 1922, S. 29) (Abbildung 3.9).

Abbildung 3.9
figure 9

Mengendarstellungen nach Born (Kühnel, 1922, S. 29)

Einerseits liegt nach Kühnel der Vorteil dieser Zahlbilder darin, dass im Gegensatz zu vielen anderen Mengendarstellungen, wie etwa Würfelpunktbildern, kleine Zahlen unmittelbar in größeren Zahlen wiedererkannt werden. Andererseits lobt er ihre Erscheinung „als Produkt der Faktoren 2 und 5, der kleinsten möglichen und größten möglichen psychologischen Mehrheit, anatomisch überdies vorgebildet durch die 5 Finger an jeder Hand“ (ebd.).

Seine eigene Leistung bestehe nun darin, dass er dieses Prinzip auf den Zahlenraum 100 und 1000 übertragen hätte. Die Hundertertafel besteht dabei aus fünf Zwanzigerdarstellungen, das Zehntausenderblatt aus 100 Hundertertafeln (ebd., S. 31 f.) (Abbildung 3.10).

Abbildung 3.10
figure 10

Rollplakat „Kühnels Hundertertafel für die Hand des Lehrers“ (keine Jahresangabe vorhanden)

3.3.2.3 Zahlen zerlegen

Mengendarstellungen mit Fünferbündelung werden im Mathematikunterricht üblicherweise nicht nur mit dem Ziel eingesetzt, Mengen zu veranschaulichen und quasi-simultan erfassbar zu machen, sondern auch, um Zahlzerlegungen zu veranschaulichen.

Thompson und Van de Walle (1984) stellen den sog. 10 Frame von Wirtz (1978) vor und demonstrieren die Power of 10. Das Zehnerfeld ist ein Gitter, das sich in 2 × 5 Felder aufgliedert. Als alternative Darstellungsweise werden Eierkartons, die zehn Eier fassen können, vorgeschlagen. Um die Zahlen 1 bis 10 darzustellen, wird das Zehnerfeld in Leserichtung mit Zählsteinen (beispielsweise getrocknete Limabohnen) belegt. Auf diese Weise werden 10 Facts ersichtlich: Durch die unbelegten Felder wird deutlich, welche Zahl addiert werden muss, um 10 zu erreichen. Und bei Zahlen über 5 wird deutlich, wie sich diese im Sinne x = 5 + y zerlegen lassen (Thompson & Van de Walle, 1984, S. 6) (Abbildung 3.11).

Abbildung 3.11
figure 11

Karten mit den Mengenbildern 0 bis 10 (Thompson & Van de Walle, 1984, S. 7)

Thompson und Van de Walle (1984, S. 7 ff.) schlagen außerdem vor, mit Karten zu arbeiten, die die Mengen 0 bis 10 des Zehnerfeldes beinhalten. Den Kindern werden die Karten für einen kurzen Moment gezeigt. Ihre Aufgabe besteht nun darin, sie auf einen Blick zu erkennen und zu benennen. Die Autoren schlagen weitere spielerische Aktivitäten vor, die darauf abzielen, dass Schüler*innen die 10 Facts lernen und sich im Zehnerfeld orientieren. Außerdem sollten Kinder mit Hilfe von Zählsteinen und des Zehnerfeldrasters Additionsaufgaben vornehmen, die speziell den Zehnerübergang enthalten: Die Strategie Making 10 soll angewandt werden, wenn ein Summand nah an der 10 ist und die Summe 10 übersteigen wird. Als Beispiel wird die Aufgabe 8 + 5 genannt, bei der zwei Zählsteine der Menge 5 genommen werden, um das Zehnerfeld vollständig zu belegen. Die weiteren drei Zählsteine werden zur 10 addiert, um das Ergebnis 13 zu erhalten (Thompson & Van de Walle, 1984, S. 8 f.).

3.3.2.4 Mentale Bilder zur Ausführung arithmetischer Operationen entwickeln

Flexer (1986) konstatierte in Bezug auf die didaktischen Vorschläge von Thompson und Van de Walle, dass es neben der Power of Ten eine Power of Five zu beobachten gebe, und prägte damit die Begrifflichkeit, die im deutschsprachigen Raum als Kraft der Fünf geführt wird. Die Kraft der Fünf liegt ihrer Ansicht nach darin begründet, dass Kindern der Übergang von konkreten Materialien zu mentalen Bildern von Rechnungen ermöglicht wird. Flexer schlägt vor, die Fünferstruktur nicht nur zur Veranschaulichung zu verwenden, sondern den Schüler*innen mit ihrer Hilfe auch eine Form des Kopfrechnens zu ermöglichen. Sie bezieht sich dabei auf das Konzept des Mental Regroupings (Ginbayashi, 1984; Hatano, 1980), das gezeigt habe, dass bereits junge Kinder Anzahlen von 1 bis 4 ohne Nachzählen erkennen könnten. Dieses System arbeitet mit Kacheln, die jeweils den Wert 1 haben und von unten nach oben gestapelt werden. Eine volle Reihe Fünferkacheln wird durch einen Fünferstab ersetzt, sodass auch Anzahlen von 5 bis 10 auf einen Blick erkannt werden können (Flexer, 1986, S. 6 f.) (Abbildung 3.12).

Abbildung 3.12
figure 12

Mengenbilder des Mental Regroupings, die simultan erfasst werden können (Flexer, 1986, S. 6)

Um Operationen mithilfe der Kraft der Fünf zu ermöglichen, schlägt Flexer die Arbeit mit einem vertikal verlaufenden Fünferfeld vor, das aus einer Spalte aus fünf untereinanderstehenden Feldern besteht, die von unten nach oben belegt werden. Auf diese Weise sind Additionen möglich, die erst physisch mit den Fünferfeldern vorgenommen und später mental vollzogen werden. Bei der Addition zweier Zahlen unter 5 werden diese als Zählsteine in Fünferfeldern nebeneinander dargestellt und in Folge kombiniert (Flexer, 1986, S. 7) (Abbildung 3.13).

Abbildung 3.13
figure 13

Darstellung der Additionsaufgabe 4 + 3 im System der Power of Five (Flexer, 1986, S. 7)

Im abgebildeten Beispiel der Aufgabe 4 + 3 wird ein Stein des Fünferfeldes, das die 3 enthält, entnommen und zum ersten Fünferfeld mit den vier Steinen hinzugefügt. Beide Fünferfelder werden dann kombiniert, um dem Zehnerfeld das Ergebnis 7 zu entnehmen. Auch Subtraktionsaufgaben sind hier möglich. Dazu wird lediglich die Anzahl der kleineren Zahl aus dem Fünferfeld der größeren Zahl entnommen (ebd., S. 7 f.).

Wittman (1994, S. 45) präferiert die Arbeit mit dem Zwanzigerfeld (vgl. Abbildung 3.5), das er als ein „Handlungsfeld, auf dem die Kinder frei schalten und walten können“, beschreibt, das sich insbesondere zur Ablösung vom zählenden Rechnen eigne. So biete es mehrere Möglichkeiten, Anzahlen strukturiert darzustellen. Durch eigene Erfahrungen und die ihrer Mitschüler*innen würden Schüler*innen selbst feststellen, welche Legemöglichkeiten gedanklich besser nachvollziehbar seien (ebd.). Krauthausen (1995, S. 92) betont die Möglichkeit, mentale Bilder mit Fünferbündelung zu entwickeln:

Die entscheidende Funktion konkreter Materialien besteht darin, den Kindern durch vielfältiges Tun die Möglichkeit zu geben, tragfähige Vorstellungsbilder zu konstruieren, d. h. eine Zahldarstellung oder die konkrete Repräsentation einer Rechenoperation nicht nur direkt vor sich auf dem Tisch zu sehen, sondern auch vor dem inneren, geistigen Auge – ohne konkret vorliegendes Material.

Unter Bezugnahme auf Wittmann (1994, S. 44) sieht er den Vorteil in der Arbeit mit Wendeplättchen darin, dass diese „amphibischen Charakter“ hätten: „Sie sind einerseits konkret, so daß sich leicht mit ihnen hantieren läßt, andererseits aber sind sie so abstrakt, daß sie als Repräsentanten für unterschiedlichste Konkretionen stehen können“ (Krauthausen, 1995, S. 92).

Krauthausen (ebd., S. 98) erklärt, wie die Kraft der Fünf die Simultanerfassung von Vierermengen nutzt, um größere Mengen zu erfassen. Sobald eine Anzahl gezählt werden müsse, weil sie mindestens 5 betrage, könne man auf eine „neue Einheit“ zurückgreifen, die als solche wiederum simultan erfassbar sei:

Einer-Zahlen größer als 5 lassen sich somit in ihrem Bezug zur 5 darstellen (\(n\) = 5 + \(x\)): 6 = 5 + 1, 7 = 5 + 2, 8 = 5 + 3, 9 = 5 + 4; jeder der Summanden rechts der Gleichheitszeichen ist simultan erfaßbar und macht damit ein Zählen überflüssig; die Zahl kann unmittelbar „gelesen“ werden (ebd.)

Abbildung 3.14 verdeutlich schematisch, wie diese Form der Quasi-Simultanerfassung erfolgt: Fünferreihen werden als ganze Reihe und nicht anhand ihrer einzelnen Elemente verarbeitet.

Abbildung 3.14
figure 14

Schematische Darstellung der Kraft der Fünf (Krauthausen, 1995, S. 98)

3.3.2.5 Blitzrechnen

Erich Wittmann und Gerd Müller gründeten 1987 das Projekt mathe 2000, das sich inhaltlich von der zuvor verbreiteten Mengenlehre abgrenzte und sich in der Tradition Kühnels verstand (Wittmann, 2012, S. 268). Aus dem Projekt gingen u. a. ein zweibändiger Leitfaden für Lehrende mit dem Titel Handbuch produktiver Rechenübung und das Lehrwerk Zahlenbuch hervor (Wittmann & Müller, 2012, 2019). Neben dem „produktiven Üben“, das inhaltliche und allgemeine Lernziele gleichermaßen berücksichtigen soll, wird dem „Blitzrechnen“, einer Form des automatisierenden Übens, in diesem didaktischen Konzept viel Raum gegeben (Wittmann, 2012, S. 271). Konkret handelt es sich dabei um Übungen, die in Kleingruppen oder als Einzelaufgabe regelmäßig neben dem regulären Mathematikunterricht ausdauernd und gründlich durchgeführt werden sollten (Wittmann & Müller, 2019, S. 108 f.). Laut Wittmann und Müller (ebd.) stellen sie eine „Verständnisbasis dar, die man zu Recht als Gerüst (oder Skelett) des Rechenunterrichts bezeichnen kann“ (ebd., S. 108). Sechs der Blitzrechenübungen des Zwanzigerraums werden mithilfe des Zehner- oder Zwanzigerfeldes bearbeitet:

  1. 1.

    Kraft der Fünf: Zahlendarstellungen im Zwanzigerfeld werden in ihrer Struktur untersucht und benannt. Bestimmt werden soll, aus wie vielen Fünfern und Einern sich eine Zahl zusammensetzt.

  2. 2.

    Ergänzen bis 10: Eine Zahl unter 10 wird im Zehnerfeld dargestellt. Die Aufgabe besteht darin, sie bis 10 zu ergänzen (Alternativ auch als Ergänzen bis 20 im Zwanzigerfeld möglich).

  3. 3.

    Verdoppeln: Eine Zahl unter 10 wird im Zwanzigerfeld dargestellt. Sie soll verdoppelt werden. Das Ergebnis wird genannt.

  4. 4.

    Einspluseins: Eine Plusaufgabe wird mithilfe des Zwanzigerfeldes dargestellt. Sie soll benannt und gelöst werden.

  5. 5.

    Einsminuseins: Eine Minusaufgabe wird mithilfe des Zwanzigerfeldes dargestellt. Sie soll benannt und gelöst werden.

  6. 6.

    Halbieren: Im Zwanzigerfeld wird eine gerade Zahl dargestellt. Sie soll halbiert werden und das Ergebnis soll genannt werden.

    (ebd., S. 110 ff.)

Die Blitzrechenübungen gliedern sich jeweils in zwei Phasen. In der Grundlegungsphase wird mit konkretem Material, wie etwa Wendeplättchen und dem Zwanzigerfeld, gearbeitet. Darauf folgt eine Automatisierungsphase, die darauf abzielt, dass Schüler*innen die zuvor konkret durchgeführten Operationen mental durchführen (ebd.).

Zur Durchführung der Blitzrechenübung sind diverse analoge Lernmaterialien wie Arbeitshefte, Handreichungen mit Materialsammlung, Kartenspiele und Rechenkarteien sowie PC-Software und Tablet-Apps verfügbar (ebd., S. 109).

Beispielhaft werden im Folgenden zwei Blitzrechenübungen aus der Handreichung Fördern und Diagnose mit dem Blitzrechenkurs (Wittmann & Müller, 2015) vorgestellt. Für die Übung Kraft der Fünf können Wendekarten verwendet werden, die der Handreichung beigelegt sind. Diese zeigen auf der Vorderseite eine Zahl zwischen 1 und 20 und auf der Rückseite ihre Darstellung mit Fünferbündelung. In Abbildung 3.15 ist die Wendekarte 14 erkennbar.

Abbildung 3.15
figure 15

Vorder- und Rückseite der Wendekarte zur Zahl 14 (Wittmann & Müller, 2015)

In der Grundlegungsphase wird den Schüler*innen das Mengenbild auf der Rückseite präsentiert. Ihre Aufgabe besteht darin, die Zerlegung der Zahl in Fünfer und Einser anzugeben. Die Zahl 18 kann beispielsweise als 3 Fünfer und 3 Einer bezeichnet werden. Alternative Verbalisierungen, die beispielsweise die beiden Fünfer als einen Zehner zusammenfassen, sind ebenfalls möglich (Wittmann & Müller, 2015, S. 22 f.). Dementsprechend könnte das Beispiel in Abbildung 3.15 etwa als 2 Fünfer und 4 Einer oder 1 Zehner und 4 Einer bezeichnet werden. In der Automatisierungsphase liegen die Wendekarten (oder ein Zwanzigerfeld mit Fünferstreifen und Wendeplättchen) vor, werden aber nach Möglichkeit nicht verwendet. Den Schüler*innen wird eine Zahl lediglich genannt. Ihre Aufgabe ist es, die Zahlzerlegung aus Fünfern und Einern anzugeben (ebd., S. 23).

Bei der Blitzrechenübung Einspluseins bzw. Plusaufgaben wird im Zwanzigerfeld eine Additionsaufgabe dargestellt. Die Aufgabe der Schüler*innen besteht darin, die Aufgabe und ihre Lösung zu benennen (Wittmann & Müller, 2019, S. 111). Abbildung 3.16 zeigt eine Möglichkeit, die Additionsaufgabe 6 + 7 mit Hilfe eines Zwanzigerfeldes und Wendeplättchen darzustellen.

Abbildung 3.16
figure 16

Darstellung der Aufgabe 6 + 7 auf dem Zwanzigerfeld mit austrennbaren Wendeplättchen aus Pappe (Wittmann & Müller, 2015)

In der Automatisierungsphase werden die Additionsaufgaben schließlich mündlich genannt. Die Schüler*innen bearbeiten sie im Kopf (Wittmann & Müller, 2019, S. 111).

3.3.3 Die Kraft der Fünf bei Simultandysgnosie

Krauthausens Darstellung zur Erfassung der Mengenbilder, die auf der Kraft der Fünf basieren, verdeutlichen, dass eine volle Reihe von fünf Wendeplättchen als ein Element verarbeitet wird (siehe Abbildung 3.14, S. 54). Dies ist dann möglich, wenn der Person, die das Mengenbild betrachtet, bekannt ist, dass eine volle Reihe immer aus fünf Elementen besteht. Eine Reihe Wendeplättchen steht demnach für die Menge 5 und stellt ein Superzeichen dar. Bezogen auf die Chunks, die verarbeitet werden müssen, bedeutet dies, dass bei der Darstellung der Zahl 5 lediglich ein Chunk verarbeitet werden muss (ein Fünfer). Beim Mengenbild der 6 müssen zwei Chunks verarbeitet werden (ein Fünfer und ein Einer), bei der 7 drei Chunks (ein Fünfer und zwei Einer) und bei der 8 vier Chunks (ein Fünfer und drei Einer). Das Mengenbild der 9 enthält, wenn es analog zu den anderen Mengenbildern beschrieben wird, fünf Chunks (ein Fünfer, vier Einer), während das Mengenbild der 10 lediglich zwei Chunks (zwei Fünfer) oder einen Chunk (ein Zehner) enthält.

Mit Ausnahme des Mengenbildes der 9, das aus fünf Chunks besteht, können die Mengenbilder 0 bis 10 anhand der Wendeplättchen mit einem neurotypischen Aufmerksamkeitsumfang erfasst werden, da dieser die simultane Verarbeitung von vier Chunks ermöglicht.

Obwohl das Mengenbild der 9 aus fünf Chunks besteht, kann es dennoch auf einen Blick identifiziert werden. Ist die Zahlzerlegung 10 – 1 = 9 oder schlichtweg die Regelung bekannt, dass ein Leerfeld im Zehnerfeld die Menge 9 darstellt (vgl. Abbildung 3.17), muss lediglich ein Chunk verarbeitet werden.

Abbildung 3.17
figure 17

Neun Wendeplättchen im Zehnerfeld. Die Menge 9 kann anhand des leeren Feldes identifiziert werden

Nach diesem Verfahren müssten für das Mengenbild der 8 zwei Chunks (zwei leere Felder) und dem Mengenbild der 7 drei Chunks (drei leere Felder) verarbeitet werden. Die Verarbeitung von bis zu vier Chunks zur Identifizierung der Mengenbilder ist also nicht zwingend notwendig. Die augenblickliche Identifizierung einzelner Mengenbilder im Zehnerfeld setzt demnach die Fähigkeit voraus, drei Chunks simultan zu verarbeiten. Zur gedanklichen Nachbildung von Mengenbildern und zum Verändern dieser Mengenbilder vor dem geistigen Auge (Addition, Subtraktion) wird allerdings die Verarbeitung von mehr als drei Chunks vorausgesetzt, da die Vorstellung der Mengenbilder anhand der Leerfelder hier nicht greift. Ein Beispiel ist die Aufgabe 6 + 2: Sind die Regeln der Kraft der Fünf bekannt, kann der erste Summand als ein Fünfer und ein Einer vor dem inneren Auge dargestellt werden. Nun werden 2 Einer hinzugefügt. Daraus ergeben sich ein Fünfer und drei Einer. Zur Verarbeitung dieses Bildes sind vier Chunks notwendig.

Die Anzahl von Chunks, die Personen mit Trisomie 21 verarbeiten können, liegt zwischen zwei und drei (vgl. Unterkapitel 2.7.5). Mengendarstellungen, die auf der Kraft der Fünf basieren, bieten sich für Schüler*innen mit Trisomie 21 demnach nicht an. Dies kann ebenfalls für andere Schüler*innen mit Simultandysgnosie angenommen werden (vgl. Unterkapitel 3.2). Arbeiten sie mit Anschauungsmaterialien, die nach diesem System arbeiten, sind sie zum zählenden Rechnen gezwungen, weil ihnen die Simultanerfassung von Mengen mit Fünferbündelung nicht in dem Maße möglich ist wie neurotypischen Schüler*innen.

In den o. g. Übungen zum Blitzrechnen wird in der Automatisierungsphase das mentale Operieren mit Zwanzigerfeldern erforderlich. Dieser Vorgang, der für viele neurotypische Schüler*innen kein Problem darstellt, ist für Schüler*innen mit einer Fähigkeit zur Simultanerfassung unter drei Chunks nicht möglich. Für sie bleibt das Zwanzigerfeld ein Anschauungsmaterial, das zum Nachlegen und Nachzählen von Rechenaufgaben und Zahlzerlegungen anregt – nicht aber zur Bildung von mentalen Vorstellungen, die manipuliert werden können.